Neferu

Havena 1 (Neferu)

Zeit vergeht wie im Flug. Manchmal erscheint sie einem wie eine Flüssigkeit, die man nicht festhalten, nicht aufhalten und nicht verlangsamen kann. Oder wie Wind. Einmal hatte Satinav für Rahja die Zeit gefrieren lassen. Erstarrt wie ein Fluss, der kurzweilig gebändigt wird durch Winterkälte. Aber nichts kann in ihrem Lauf dauerhaft angehalten werden.
Oder doch?
Und wenn ein Mensch, ein Spross der Mutter des Lebens höchstselbst, eine Tochter Satuarias unverändert blieb, in der Zeit innehielt – war er dann überhaupt noch ein Mensch?

Neferu beobachtete die Wassertropfen, die von außen gegen die Schweinsblase prasselten und perlten, in Rinnsalen ihren Weg nach unten fanden.
Die Sicht durch die dünne Membran war vergilbt und milchig gleichermaßen. Die graue Menschenmasse wogte gekrümmt über den Markt der Hafenstadt. Winter war auf Sommer gefolgt, es war wieder kälter geworden, nur um von der Hitze Praios’ abgelöst zu werden. Aber wie es zu erwarten gewesen war, hatte die Zeit der wohligen Wärme nicht angehalten. Sie hielt nie an. Sie lief und rannte gehetzt wie ein Tier bei der Treibjagd. Und wie die Regentropfen am Fenster, die der Spätherbst mit sich brachte.

Sie hatte in den letzten Jahren mehr Herbergsfenster gesehen, als sie zählen mochte. Unterschiedlich wie der Schlag von Menschen, der in der jeweiligen Stadt gelebt hatte: Luftige Spitzbögen im Süden. Geviertelte Butzenfensterchen in Greifenfurt. Und solche mit breiten Simsen und gemütlichen Vorhängen wie die in Weiden.
Herbergsfenster, Herbergen waren gekommen und gegangen wie die Menschen in ihrem Leben. Einige luftig, nie ganz zu greifen und trotz aller Nähe uneinschätzbar wie der Phexhochgeweihte oder der Grandenbastard. Andere regenverhangen und in ihren Augen voll Schwermut wie der Bornländer oder der Inquisitor – die man tröstend berühren wollte, um gleichzeitig den Blick abzuwenden, weil man die ansteckende Traurigkeit nicht ertragen konnte.

Ihre langen Finger strichen langsam über die alte Oberfläche der verregneten Schweinsblase, die ihr Tor nach draußen war. Ledrig, unregelmäßig. Irgendwann einmal lebendig… Und irgendwann würde der Schutz gegen Kälte und Nässe reißen. Den Regen einlassen, ausgetauscht werden.
Der Phexhochgeweihte, der Grandenbastard, der Inquisitor und der Bornländer – sie alle würden abblättern, reißen, sterben.
Wie die Fenster der Herbergen wären sie alle und weitere irgendwann nur noch Erinnerungen.
Bis auf das weit offene Fenster. Durch das man klare Sicht hatte. Es war dunkel, groß und man drohte durch seinen Rahmen ins tiefe Innere zu fallen, aber es war da. Auch in Jahrhunderten noch. Sie würde dafür sorgen, dass es nie wieder jemand zuschlug.

Als hätte sie einen Schlag bekommen, zuckte ihre Hand fort von der Membran.
Sie wandte den Kopf ab vom nassen, herbstlichen Havena, über das sich die Nacht zu senken begann.

Grangor 20 (Neferu)

Als die Morgensonne durch das Fenster in den unordentlichen Raum des Phexhochgeweihten in der Offenen Hand drang, fielen ihre Strahlen auf die zwei Menschen, die auf geflochtenen Matten und Decken auf dem Fußboden gebettet waren und noch tief und fest schliefen. Auch wenn beide am Vorabend jeder unter je einer Decke gelegen hatte, war die Distanz an diesem Herbstmorgen aufgehoben. Wie magnetisiert waren beide Körper im Schlafe aneinandergerückt, bis sie den Weg in seine Arme gefunden hatte.

Auch wenn die Praiosscheibe sich an diesem Tag bemühte, dauerte es noch eine ganze Weile – bis kurz vor Mittag – ehe Neferu wagte das Aufwachen langsam und mit Widerwillen zu akzeptieren.

Blinzelnd betrachtete sie das nahe Gesicht. Phexdan… Er war unweigerlich schön, wie er friedlich und voll Ruhe in Borons Armen weilte. Unrasiert, aber durchweg attraktiv – vielleicht gerade deshalb? Immerhin hatte er noch am gestrigen Abend den Verband von der Nase genommen und zugegeben, dass er ihn nur noch aus Mitleidszwecken getragen hatte.
Sie musste leise lächeln und schmiegte ihr Gesicht innig und von Sanftheit an das seine.
Neferu hatte sehr lange auf einen Moment wie diesen warten müssen.
Ihr war als sei in jener Sekunde, in dem sie Phexdan das erste Mal auf dieser Brücke in Grangor hatte sitzen sehen, eine Prophezeiung gesponnen worden, die sie beide füreinander bestimmt hatte.
Der Fuchs und die Füchsin mit den gleichfarbenen Augen.

Sie sann wortlos vor sich hin und schloss noch einmal die Lider. Genießend spürte sie seine direkte Nähe und Wärme. War ihr das Glück wirklich hold geworden? Hatte sie den Mann wahrhaftig bekommen, den sie von der ersten Sekunde an begehrt hatte? War es ihr gelungen den kleinen Phexje vor seinem tödlichen Schicksal zu bewahren…? Eng kuschelte sie sich auf den bekleidet Schlafenden.
Sie durfte trotz allem… ihre Weggefährten nicht vergessen. Richard war bei den Hortemanns untergebracht – gut. Trotz der beiden pubertierenden, roten Klopse sollte es dem bukanischen Schönling dort gut ergehen. Garion… im Kerker. Sie musste nach ihm sehen aus zweierlei Grund: Sie wollte ihm vorwerfen ihren Fuchs angefallen zu haben und… sie wollte sich vergewissern, dass er dennoch gut oder zumindest angemessen behandelt wurde.

„Phexdan…“ flüsterte sie dem Schwarzhaarigen leise zu, der nicht zu schnarchen pflegte.
Angesprochen kam leichte, schlaftrunkene Regung in ihn. Er zog Neferu mit unbeholfenen Bewegungen und ohne Warnung dicht an seinen Körper.
„Das ist der… schönste Morgen meines Lebens..“ raunte der Bettler Grangors leise und mit noch träger Stimme.
„Es ist nicht einmal mehr Morgen…“ lachte die Umarmte leise, ließ es sich aber nicht nehmen, seine Annäherung zu erwidern.
Ruhig begann sie ihm ihre Pläne zuzuflüstern: „Ich muss gehen… Ich will sehen, ob es Garion gut geht.“

Nun öffnete der Fuchs endgültig die Augen und der dunkelgrüne Blick huschte zu ihrem nahen Antlitz.
Er setzte eine Leidensmiene auf und zog sie mit noch ärgerer, sanfter Gewalt an seinen Leib, dem eine morgendliche Erregung innezuwohnen schien.
„Bleib… Es ist doch so gemütlich…“ maunzte er ihr leisem Protest zu und ließ sie mit seinen Lippen wissen, dass Vergangenes überholt war, dass er berühren durfte was er wollte, wann immer er wollte…
Arm in Arm ließen sie einander nicht los. Nicht einmal ein Haar hätte man zwischen ihre verkeilten, aneinandergeschmiegten Körper schieben können. Er schien willentlich und hungrig aufzusaugen, was sie ihm gab: Nähe, das Streicheln ihrer Finger. Wohlig warf er sich katzengleich einer jeden Zärtlichkeit entgegen, ehe er sie ähnlich erwiderte.

„Ich muss…“ hauchte sie verheißungsvoll in sein Ohr…
… ehe sie sich unvermittelt von ihm löste und sich gnadenlos erhob, das schlafwarme Nest verlassend.
„..nach Garion sehen! Wir sehen uns später!“
Die Tür schloss sich hinter ihr.

Rasch trugen ihre Füße sie zu dem Gardegebäude, welches auch die Kerkerkammern beinhaltete. Der herbstliche Mittag in Grangor war sonnig, kühl und vor allem windig. Immerhin war Phexdans königsblaue Kleidung, die sie auf ihre Größe hatte umnähen lassen ein grober Schutz gegen dieses Wetter.
Ein Soldat saß an einem Tisch über einen Haufen Schreibkram gebeugt und sah auf, als sie eintrat. Er war noch recht jung und in Grangorer Gardeuniform gekleidet, ganz wie man es erwartet hatte.
Neferu grüßte ihn und verlangte den Rondriten zu sehen.

Nach einigem Wortgeplänkel und der Einwirkung von Gewalt – sie hob ihn an seiner Uniform an und drückte ihren Unterarm gegen seine Kehle, natürlich nicht ohne zu erwähnen, dass sie die zweifache Retterin Grangors war – bekam sie endlich Antworten und die Zelle des Ardariten zu sehen. Leer, ganz wie der Soldat es vorhergesagt hatte.
Die großgewachsene Frau stand steinern vor dem siffigen, ungezieferbehafteten Anblick. Ihre Fäuste zitterten vor Wut und auch vor Angst, auch wenn Letzteres in diesem Moment einem unbändigen Zorn über die Misshandlung ihres Gefährten unterlag.
Unter der Androhung der Schmerzen hatte der Soldat zugegeben, dass das Überschütten des Rondriten mit Exkrementen kein Zufall gewesen war: Ein Mann hatte dafür gesorgt, dass Garion Rondrior von Arivor so schmählich erniedrigt worden war. Ein Mann, der ihr exakt wie Phexdan beschrieben wurde.

Die Geweihten des Rondratempels der Stadt hatten ihren Glaubensbruder aus dem Dilemma errettet. Garion war krank geworden. Ohne ein weiteres Wort verließ Neferu das Gardehaus und machte sich auf das rote Gebäude und den Arrestierten aufzusuchen.

Grangor 18 (Neferu)

Zwei volle Wochen noch gingen ins Land, ehe Neferu ihr Reiseziel erreichte: Grangor, die Inselstadt an der Westküste.
Sie trug die zweite Gestalt, die boronsweiße Schönheit mit dem schwarzen Haar und den Eisaugen, an deren Körper sie sich beinahe gewöhnt hatte, da er ihr die letzte Zeit gute Dienste erwies. Der Hexenleib, der ihr vom magischen Armband verliehen wurde, war nicht nur durchweg charismatisch – er bewahrte sie auch davor, dass die Dämonenpaktierer, mit denen sie den Handel um Phexjes Leben eingegangen war, ihr Antlitz je wiedererkennen konnten. Zudem hatte sie ihre schwarze Robe wohlweislich eingepackt und ihren ansehnlichen Leib unter der bodenlangen Boronskutte verborgen.

Ob alles gut gegangen war? Ob Phexje wirklich wieder lebte? Sie biss sich auf die blutrote Unterlippe, die eigentlich nicht die Ihrige war. Natürlich vertraute sie den düsteren Gestalten aus Tobrien nicht, denen sie die dreitausend Dukaten überlassen hatte. Sie war sich aber auch nicht vollends darüber bewusst, was sie tun sollte, wenn die Paktierer aus dem Osten sie über den Tisch gezogen hatten.

Schnell schüttelte die dunkelhaarige Schöne die grimmigen Gedanken ab. Nur nicht daran denken… Keinen Gedanken an den schlechtesten Ausgang ihrer Einzelmission verschwenden. Sie musste sich vergewissern. Sie musste Phexdan aufsuchen… Und gleichzeitig konnte sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Es brauchte nicht lang den Bettlerkönig zu finden. Mittlerweile hatte sie vom Hörensagen herausgefunden, dass es tatsächlich so war, wie sie es sich erhofft hatte: Ein totgeglaubter Junge war in Grangor wiederauferstanden. Ein Wunder Tsas!
Phexdan saß unrasiert und mit abgespanntem Gesicht auf seinem Stammplatz – auf der Brücke beim Schneider. Während die Menschenmassen den Übergang von beiden Richtungen passierten, nutzte Neferu deren Bewegungen, um für einen Moment ungesehen zu verharren. Der stehengebliebenen vermeintlichen Boroni wurde kommentarlos ausgewichen.
Die jetzt blauen Augen der Halb-Tulamidin-Halb-Thorwalerin wanderten über die sitzende Gestalt. Ein ganz normaler Bettler unter vielen, oder nicht? Zerzaustes, ungebändigtes Haar, fahle Haut, übernächtige Augenringe, zerlumpte Kleidung, ein Verband über dem Nasenbein – Phexdan reihte sich an diesem hellen, wolkenlosen, aber doch kühlen Herbsttag besser als sonst in die Reihen der bettelnden Hilfsbedürftigen ein.

Die fremde Schwarzhaarige hielt auf den jungen Mann zu, der im Schneidersitz auf seiner Matte hockte und ein Loch in die Luft starrte. In eleganter Manier ging sie vor ihm auf ein Knie und grüßte ihn samtig, während sie ihm einige Silber spendete. Er hob den Blick… als sähe er durch sie hindurch.
Säuselnde Worte entkamen den sinnlichen Lippen der Frau. Versprechende, lockende Töne erzählten von Nahrung, Wärme und Gold. Nährten seine Eitelkeit und sprachen zu ihm von seinem anziehenden Äußeren. Phexdan gab ihr einen Handkuss.
Raureif legte sich frostig klirrend um Neferus Herzregion, während sie sich gleichermaßen innerlich gut zuredete, dass der Mann, den sie vom ersten Augenblick ins Auge gefasst hatte, lediglich seine Höflichkeit spielen ließ.
Oder würde er die außergewöhnlich hübsche Fremde tatsächlich an sich heranlassen? Jetzt, wo sein Versprechen Phexje gegenüber eingelöst war, wo sein Leib frei war zu tun, wonach auch immer ihm Sinn und Lust standen. Sie schluckte knapp den bitteren Geschmack herunter und der Drang zu prüfen woran sie war, nahm stetig zu und ließ sie die Kiefer aufeinanderbeißen.

Der Strom der Pilger ebbte nicht ab, der die zwei umsäumte.
Phexdan erhob sich – er willigte ein mit ihr in eine Taverne zu gehen und sich ein gutes Essen ausgeben zu lassen. Neferu riet sich zur Vorsicht. Ihr einstiger Goldsegen war für das Leben des kleinen Jungen so dermaßen geschrumpft, dass sie acht geben musste nicht selbst zu verhungern. Ein äußerst unglücklicher und leidlicher Umstand, den sie besonders in diesem Moment verfluchte. Sie spielte eine Rolle, deren Mittel sie nicht länger zur Verfügung hatte. Ein Faktum, an das zu gewöhnen sie sich nun stärker einzuprägen gedachte.
Aus dem Augenwinkel sah sie zu dem Bettler, der ihr gefolgt war. Was hatte er vor? Würde er mit der Fremden mitgehen und geradewegs in Neferus aufgestellte Falle laufen? Seine Mimik wirkte alles andere als begeistert. Entweder ein gutes Zeichen oder lediglich ein Merkmal seiner offensichtlichen Müdigkeit oder was auch immer es war, das an seiner Erscheinung genagt hatte.
Da… noch dreißig Meter. Die Taverne näherte sich rasant.
Neferu entschied sich, alles auf eine Karte zu setzen und machte dem Gauklerbettler eindeutig unzweideutige, unmoralische Angebote:
„Bist du dir sicher, dass du nach dem reichlichen Mahl, das ich dir bezahlen werde nicht doch noch Nachtisch willst? Ich nehme dich mit auf mein Zimmer… Es ist sehr bequem dort. Natürlich werde ich dich reich für diese Unannehmlichkeit bezahlen…“
Er verneinte. Phexdan lehnte strikt ab – trotz der Aussicht auf Gewinn, hatte er nicht vor mit der atemberaubenden Schönheit in ihr Bett zu steigen. Die blasshäutige Frau atmete tief durch und bog in eine etwas minder belebte Seitengasse der Kanalstadt ein.
Phexdan folgte ihr – möglichweise mit einem Stirnrunzeln.
„Ich darf dich also nicht berühren?“ entkam es der Borongläubigen sanftmütig, als sie ihm den Rücken zuwandte. Schwarzes, glattes Haar fiel gesund und dicht bis auf den Ansatz ihres wohlgerundeten Pos, der sich nur angedeutet unter der Robe abzeichnete.
„Nein…“ raunte Phexdan.
Neferu konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, welches er aufgrund ihrer Abgewandtheit glücklicherweise nicht wahrnehmen konnte.
„Ach… Ich rettete deinen kleinen Phexje, indem ich Onkel Boron bat, ihn mir zurückzugeben und als Dank darf ich dich immer noch nicht berühren?“ schmunzelte sie gewitzt, während sie im Innern ihrer weiten schwarzen Ärmel das Armband dreimal zurückdrehte, dass der Spuk vor Phexdans grünen Augen ein Ende nahm und das lange, gepflegte schwarze Haar sich direkt eine Armlänge von ihm entfernt in die vielen rotbraunen Zöpfe Neferus verwandelten, die nur bis zu ihren Schulterblättern reichten.

„Neferu?“ wisperte der Verwirrte mit weit geöffneten Augen.
Langsam drehte sie ihm ihr Gesicht zu, gefolgt von ihren Schultern und dem Rest ihres Leibes, der zwar immernoch in der schwarzen Robe steckte, aber jetzt durch und durch das Original war.
Ihre geschwungenen Lippen zierte ein neckisches Lächeln.
„Wer sonst?“ grinste sie ihn an, wohl wissend, dass ihr Auftritt allerlei Fragen mit sich brachte. Was hätte sie alles dafür gegeben in diesem Moment seine Gedanken lesen zu können.
Noch während sie dieser verlockenden, aber unmöglichen Vorstellung nachhing, wurde sie aufs Heftigste von dem nur einen Finger größeren Fuchs umarmt. Seine kräftigen Arme schlangen sich um sie und drückten ihren Körper an sich, in der sehnigen Kraft geschult durch lange Jahre als Gaukler.
Phexdan… Sie nutzte augenblicklich die Gunst der Stunde und vergrub ihre Nase an seinem Hals. Sein Duft… Wie hatte sie ihn vermisst. Ihre Hände strichen besitzend über den groben Stoff der Bettlerkleidung seines Rückens.
„Wo warst du…? Wie hast du das alles gemacht? Bist du eine Magierin? Oder… eine Hexe?“ huschten die ersten verwirrten Fragen an ihr Ohr.
„Nein, ich… bin keine Magierin… und auch keine Hexe.“ Flüsterte sie lachend, „…bitte..frag nicht weiter.“

Er ging ihrer Bitte ohne das kleinste Murren nach und stellte ebenfalls eine stumme Bitte, als sein Mund sich ihren Lippen näherte, sich zögerlich herantastete, um sie dann zu küssen.
Ihr erster Kuss mit dem Füchschen raubte ihr den Atem. All die Jahre der fleischlichen Entbehrung durch ein willensstark eingehaltenes Versprechen und die plötzliche, innige Nähe der lang Vermissten veranlassten ihn dazu, sie mit einer Leidenschaft und Tobsucht zu küssen, dass ihr schwindelig wurde. Immer wieder pressten die Muskeln seiner Arme den Körper des geliebten Menschen an den seinen, während er Küsse an ihren warmen Lippen in erkundender Neugier und gleichzeitiger innerer Hitze probierte und das erste Mal erfuhr.
Sein Mund streichelte, liebkoste, küsste, schmiegte sich an und öffnete sich leicht, um seiner Zunge freies Geleit zu verschaffen. Mehrere Minuten standen sie so in der Seitengasse Grangors und liebten sich mit Zärtlichkeiten durch Hände und Lippen. Neferu ließ ihre Finger in sein schwarzes Haar gleiten. Sie liebte die vielen Wirbel und Drehungen, die es immer und überall unordentlich und wild aussehen ließen.
Endlich durften sie sich berühren und ihre ersten Berührungen prägten sich verheißungsvoll auf Haut und Seele des anderen und schienen nachholen zu wollen, was schon im ersten Moment leise und noch ungehört in beiden geflüstert hatte, als sich die gleichfarbenen Augen das erste Mal mit Blicken begegnet waren.

Beide waren müde von den vergangenen Tagen und Wochen. Beide sehnten sich nach Schlaf, so dass ihre Schritte sie in die nicht weit entfernte „Offene Hand“ lenkten. Noch war Neferu das Bett zu schmal für sie beide, so dass Phexdan zwei Matratzen auf dem Boden aneinanderschob. Endlich wurde sie diese schwarze Boronsrobe los unter der sie die blaue Kleidung Phexdans trug, die sie sich in Trallop auf den Leib hatte schneidern lassen. Königsblaue Kleider. Wie sie sich doch ähnelten, die smaragdäugigen, fast gleichgroßen Phexdiener, die beide in dieselbe Farbe gewandet waren. Königsblau.
Stirn an Stirn gelehnt schliefen sie ein, jeder unter seiner Decke. Lediglich hier ein Streicheln und dort eine Hand, die zu der nahen anderen Person herüber tastete.
„Sind Richard und Garion in der Stadt?“ wisperte Neferu leise beim Einschlafen, sich über den Verbleib ihrer Gefährten vergewissernd.
„Ja, Richard schläft bei den Hortemanns, soweit ich weiß und Garion…. Ist im Kerker. Er hat mich geschlagen… Deswegen auch der Verband…“ Phexdan tippte sich mit leidender, müder Miene an die Nase.
Neferu seufzte resigniert. Die hinter sich gelassene Odyssee saß noch zu tief in ihren Knochen, um sie zu einem weiteren Nachfragen hinreißen zu lassen. Sie ließ sich in Borons Arme sinken und empfing süßen Schlaf.

Donnerbach 2 (Neferu)

Die Tage waren rasend schnell vergangen.
Der Abschied aus Grangor bei dem sie Phexje in den Arm genommen und er ihr versprochen hatte, dass sie sich in zwei Monden wiedersehen würden.
Die Reise nach Donnerbach über Trallop und der kurze Aufenthalt während der namenlosen Tage in dieser Rondrahochburg. Garion hatte sich den Tempel seiner Löwengottheit angesehen, Neferu war mit ihren Gedanken wieder lange bei Phexdan – Zwei Monate war er fort. Irgendwo… Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sich der dunkelhaarige Halbmaraskaner aufhielt. Alles, was er hatte durchblicken lassen war die Tatsache, dass es nicht gefährlich werden würde.

Dann der Brief Phexdans: Phexje war einer langen Krankheit gegenüber der endgültige Verlierer geworden. Endgültig? Nein… Das wollte sie nicht glauben, nicht einsehen. Es musste eine Möglichkeit geben… Der Tempel des Phex würde dem grangorischen Hochgeweihten Bescheid geben. Sie würde einen Weg finden…
Es war wenig los gewesen in Donnerbach. Nach zwei Tagen hatten sie sich entschieden zu gehen – eine Kutsche fuhr nicht. Immerhin saß Phexdans blaue Kleidung an ihrem Leib jetzt besser, seit der Schneider Hand angelegt hatte.
Sie strich über den eng anliegenden Stoff, während sie durch die Nacht stiefelte. Tobrien… Ein ihr völlig unbekanntes Land befand sich unter ihren Füßen. Hier würde sie jemanden Treffen. 3000 Dukaten… Ein kleines Vermögen, aber Phexjes Leben war dieser Mammon alle mal wert. Sie fasste sich ein Herz als sein Klopfen sich verschnellte. Sie war allein… Allein und einsam des Nachtens unterwegs zu Dämonenpaktierern. Schweigend schluckte sie den Gedanken fort und konzentrierte sich auf ihre Gedanken.
Kaum hatten sie Donnerbach zu Fuß verlassen, hatte eine alte Frau sie auf einen Waldpfad in den Blautann aufmerksam gemacht. Eine Abkürzung? Der Wald lag in der Düsternis gespenstisch, aber lockend da. Sie spürte das angenehme Kribbeln in der Magengegend, als sie die Tannenzweige zur Seite bog und gefolgt von Garion dem schmalen Waldpfad dem Finsterkamm entgegen folgte.
Ein schwarzer Hund. Seltsam… Er führte sie zu einer wunderschönen Frau. Eine Hexe? Glitt es Neferu sofort durch die Gedanken, ehe sie sie schnellstens stoppte – man sagte, Hexen seien in der Lage Gedanken zu lesen.
Zehn Dukaten für jeden, um Instrumente zu spielen, die immer die schönsten Melodien anstimmten. Neferu war der Meinung selten einfacher Gold verdient zu haben.
Ohne es zu ahnen waren sie auf ein Treffen der Hexen Aventuriens gestoßen – gemeinsam brauten sie bei Tanz, Festessen und Musik hier zu dieser Jahreszeit ihre Flugsalbe. Etwas kutschüberfahren fühlte sich die Garetherin schon, aber sie hatte schon immer neugieriges Interesse für diese Frauen gehabt. Also, warum nicht? Ihr Blick huschte ab und an zum manchmal etwas verknöcherten und konservativen Rondriten, aber auch der hielt die Füße still. Ob es ihm eine der schönen Hexerinnen angetan hatte?
Überall Tiere, die mit ihnen Musik anstimmten, tanzende, sich im Wind wiegende Hexen – ein wenig hatte Neferu dann doch das beschämende Gefühl auf einem Mohacca-Trip zu sein, aber sie konzentrierte sich um Seriosität bemüht auf ihre Silberquerflöte.
Dann tauchte der verwundete Pallikratz auf, der Kater von Luzelin, der „Oberhexe“. Diese war von ihrer Gegenspielerin Achaz entführt worden. Neferu ahnte Fürchterliches – sie hatte besseres zu tun, aber andererseits… Hexen auf ihrer Seite? Das konnte sich in der Zukunft nur als Vorteil erweisen…
Als hätte sie es nicht geahnt.
Garion und sie selbst wurden für den Geiselabtausch gegen den Topf Flugsalbe auserwählt. Gesagt, getan. Dummerweise legte die alte Achaz sie widerlich lachend und in ihrem fliegenden Fass fliehend rein.
Aber so einfach ließen sich der Bornländer und die Halbtulamidin nicht abschütteln. Sie entdeckten zuerst Achaz‘ Haus, welches sich an den Finsterkamm schmiegte und durchsuchten es penibel, wobei sie einige Versuchstiere befreiten und die eigentümlichsten magischen Gegenstände entdeckten (und zum Teil mitnahmen).
Doch auch in diesem Haus keine Luzelin. War da nicht noch eine Hütte im Wald? Hütte Hühnerbein, eine laufende, kleine Behausung, die aufs Wort gehorchte – vorausgesetzt man reimte. Es dauerte nicht lange und die zwei Reisenden lauerten dem Hühnerbein auf. Sie kamen durch feines Reimen rein in Hühnerbein, aber… Drinnen erwartete sie neben einer eingesperrten Taube, die eine Nadel in der Brust stecken hatte auch der Dämon Nirraven in gigantischer Rabengestalt.
Sie besiegten den Raben, vertrieben die kurz hereinschneiende, aber anscheinend überforderte Achaz und verliehen Luzelin (der weißen Taube) wieder ihre ursprüngliche Gestalt.

Der Dank der Hexen war nicht nur für Neferus Seele Balsam, auch ihr Zweckdenken war hocherfreut, als sie die silberne Querflöte behalten durfte und ihr erklärt wurde, wie sie das Armband der Gestaltwandlung würde verwenden können. Wunderbar.
Und Hexenfreunde… So durfte sie sich fortan nennen. Praktisch, wirklich überaus praktisch.
Kaum wieder in Gareth war auch Richard, hergelockt durch einen Schrieb Neferus anzutreffen. Sie warfen all ihr Gold zusammen, verkauften Ketten und Wertgegenstände, nahmen tausend Dukaten von der Nordlandbank auf, bis sie eine beträchtliche Summe zusammen hatten – 3000 Dukaten. In Worten dreitausend.
Von jetzt an ging es allein weiter. Sie wollte Richard und Garion ihre Pläne weder wissen lassen, noch sie hinein ziehen.
Dämonenpaktierer… Dämonen… Asfaloth.
Sie kannte das Risiko. Mit klappernden Zähnen kam sie an die alte Hütte, die als Treffpunkt diente. Wenigstens gab es kein Wiedererkennungsrisiko. Das Armband mit dem blauen Stein leistete gute Dienste und hatte sie in eine schwarzhaarige Schönheit mit blauen Augen verwandelt.

Warum rettete sie Phexje? Warum nahm sie soviel Risiko, soviel Gefahr für ihre eigene Seele auf sich für einen kleinen Jungen? Sie wusste, dass es mehrere Gründe gab. Er war vom selben Schlage wie sie selbst, er gehörte zu Phexdan und… sie war sich bewusst geworden dass, was das Kind für sie empfand auch andersherum galt: Sie liebte Phexje wie einen Bruder.

Grangor 11 (Neferu)

Sie fühlte sich gelähmt wie das Kaninchen vor der Schlange und starrte beirrt und wie die Personifikation der Konfusion geradeaus. Noch hatte sie nicht gewagt den Blick zu Phexdan zu wenden, der sich lächelnd neben ihr an das Brückengeländer gelehnt hatte.
Ihre Zunge fühlte sich an wie ein trockener Lappen, der am Gaumen klebte und die intensiv grünen Augen begannen zu brennen, da sie vergessen hatte sie auch ab und zu schließen zu müssen. Nie zuvor hatte sie so viele Stimmen gleichzeitig in ihrem Kopf gehabt, so dass sie vollkommen weggetreten in der Welt ihrer wirren und schnellen Gedanken gefangen war. Wo kam Phexdan so plötzlich her? Hatte er gelauscht? Wo war Maran? Hatte Maran Phexdan zu ihr geschickt? War Phexdan Maran? Wie konnte das sein? Fast gleichzeitig schlich sich ein Wort in ihr Unterbewusstsein. …Schattenlarve… Leise geflüstert übertönte der Begriff in einem Bruchteil von Sekunden alle anderen Spekulationen und Ideen, die sie in der Zeit des letzten Atemzuges innerlich im Zeitraffer ausgesprochen hatte.
Mit Hintern und Rücken lehnte sie gegen das steinerne Brückengeländer. Sie hatte sich mit nach hinten geführten Armen abgestützt, mittlerweile drückte sich jeder einzelne Finger schmerzhaft gegen das harte Material, so dass jegliche Farbe aus ihm wich.
Mühsam trennte sie ihre Zunge von ihrem Gaumen und schluckte schwer herunter. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sie es geschafft hatte in ihrer Entrückung den Kopf zu ihm zu wenden. Mit sanfter Leichtigkeit lächelte er ihr wissend entgegen.
„Wo… kommst du her..?“ wisperte sie schließlich heiser und hoffte inständig auf eine Antwort, die sie zufrieden stellen konnte. Doch seine Antwort, die sie angstvoll vorhergesehen hatte, traf sie wie ein weiterer Schlag mitten ins Gesicht:
„Ich war doch die ganze Zeit da…“

Ihr Blut wallte heiß und unkontrolliert in die Richtung ihres Kopfes und wurde in Schüben abgelöst von kalter Gänsehaut. Sie erwartete, dass ihr jeden Moment schwarz vor Augen werden würde, doch es kam anders. Ihr Fluchtinstinkt war ob dieser unvergleichlichen Verlegenheit, nein…Scham, oder besser noch angstvollen Panik angeschlagen. Und ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und rannte blindlings über die menschenbefüllte Brücke. Sie schob und stieß, und bahnte sich wie ein fliehendes Tier, das keinerlei Rücksicht mehr nehmen konnte, ihren Weg. Fort. Sie wollte einfach nur fort. Welchem Spott hatte sie sich ausgesetzt! Sie hatte ihm in Unwissenheit ihr Inneres nach außen gekrempelt, sich einmalig verletztbar gemacht und nun musste sie… weg. Weit weg, ehe sie sich weiter der Lächerlichkeit preisgeben konnte.

Natürlich hatte sie ihn unterschätzt. Sie musste zugeben, sie hatte in keinem Fall damit gerechnet, dass er ihr nachkommen würde. Er war nicht der Typ, der anderen nachlief – jemand der vor Phexdan davonlief hatte selbst Schuld.
Am Ende der etwa 50 Schritt langen Brücke hielt sie inne und sah zurück mit der absoluten Gewissheit, dass er nicht länger in Sichtweite sein würde, aber schon stand er neben ihr.
Er war ihr nachgekommen.
Ihr Kopf ruckte zur Seite und der letzte Ausweg schien das Wasser des Kanals. Sie sprang. Wieder hatte sie ihn verkannt… Er sprang hinterher.

Sie schwamm wie um ihr Seelenheil, aber unter einer der Brücken holte er sie ein, da sich ihre Kleidung an einem Nagel verfangen hatte, der aus einem der hölzernen Pfeiler ragte. Zu spät. Er schwamm ihr Gegenüber, dass er Neferus bleiches (trotz Bräune) Gesicht sehen konnte und sah sie an, während seine Schwimmbewegungen ihn auf der Stelle hielten. Sie war außer Atem und rang nach Luft – er hingegen hatte sich anscheinend nicht einmal abmühen müssen ihr hinterherzukommen, sein Atem ging fast normal schnell.
Ihr Haar lag nass an ihrem Kopf an, ebenso wie seines, während sie sich im Schlagschatten der Brücke begegneten. Ihre flammenden grünen Augen starrten ihm entgeistert und vollkommen perplex entgegen, während ihr verschnellter Atem den offenen Lippen entkam. Sie sagte nichts. Das plätschern des Wassers, wie es rhythmisch ans Kanalufer schlug dominierte ebenso wie der Lärm der Menschen über ihnen die Akkustik.
„Warum musstest du auch in den Kanal springen? Das kann gefährlich sein… So musste ich dir wohl oder übel hinterher.“ sprach er ruhig, die Stille zwischen beiden durchbrechend. Außer ihren stetigen Schwimmbewegungen, die sie über Wasser hielten, war an Neferu kein Lebenszeichen zu bemerken.
Er kam ihr näher und schlang den rechten Arm um ihre Hüfte. Ihre Steifheit übertraf die eines Brettes bei weitem. Ihrer Kleidung wurde ein Loch gerissen, wo sich der Nagel verwickelt hatte, als er sie an sich zog. Sie hielt endgültig den bereits flach gehaltenen Atem an.
Behutsam hob er die verstörte junge Frau aus dem Wasser.

Tropfnass saß sie auf dem Stein, mit angezogenen Beinen. Phexdan hob sich ebenfalls aus dem Nass und wieder wurde sie seines athletischen, schönen Körpers gewahr, der sich deutlich unter der tropfenden Bettlerkleidung abzeichnete, die zuvor Maran getragen hatte und setzte sich unmittelbar neben sie, ohne sie jedoch weiter zu berühren.
Noch immer fiel ihr das Blinzeln schwer und entrücktes Starren und Ausdruckslosigkeit dominierten ein nichtvorhandenes Mienenspiel.
Nach mehreren Minuten öffnete sie dann doch die mittlerweile vor Kälte lila gefärbten Lippen.
„Wie… geht es deinem Garten?“ raunte sie weit weg.
„Gut. Er gedeiht prächtig… Und, was sagst du zum Wetter heute?“
Schnell wie ein Pfeil, der von der Sehne gelassen wurde antwortete die Streunerin aus Gareth, noch immer ohne zu seiner nahen Gestalt herüberzusehen.
„Der Himmel ist blau und die Sonne scheint, aber… es ist dennoch recht kühl.“
Er lachte erheitert auf: „Eigentlich meinte ich nur… dass das eine ähnlich peinliche Frage sei wie die nach meinem Garten.“

Neferu runzelte matt die Stirn und wagte nun einen Blick zur Seite. Da saß er. Phexdan, zum Greifen nahe. Phexdan, der nun praktisch jedes Gefühl kannte, das ihr Geist und ihr Körper im geheimsten Inneren beherbergten.
„Wieviel lächerlicher kann ich mich denn heute noch machen… Ich habe mir die ultimative Blöße gegeben.“ Sprach sie bitter und brachte damit ihre verworrenen Gedanken auf den Punkt. Mittlerweile begann sie zu zittern. Die nasse Kleidung entzog ihrem Körper die Wärme und ließ sie beben wie Espenlaub. Als er ihres Zustandes bewusst wurde, legte er wärmend einen Arm um ihre Schulter. Die Bettler, die überall die Wege der nähe säumten, wandten sich sichtlich von der Szenerie der beiden ab.
„Warum denkst du, es sei etwas Schlechtes, dass ich nun weiß, was du für mich empfindest?“ erklang seine sanfte Stimme an ihrem Ohr.
Sie verstand die Welt nicht mehr. Hatte sie sich so in ihm getäuscht? War sie ihm tatsächlich aufgefallen?
„Ich will… wie ich auch Maran bereits sagte… nicht nur ein einzelner Finger von vielen für dich sein, sondern… gleich beide Hände.“ wiederholte sie tonlos flüsternd, was ihr augenscheinlich viel Überwindung kostete.
„Was hindert dich daran?“ sprach die männliche Stimme ruhig.
„Du schläfst mit den Geweihten im Rahjatempel.“ entgegnete sie fast beklommen. Wieder schmunzelte er fast nachsichtig.
„Ich schlafe bei ihnen, das ist richtig, denn es ist warm dort. Aber sicher nicht mit ihnen.“
„Und was ist mit den halbnackten Tänzerinnen, die dich begleiten?“ wollte sie misstrauisch wissen.
„Sie ziehen lediglich die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich, mehr nicht.“
Verhöhnte er sie? Oder konnte es wirklich sein, dass… Sie blinzelte mehrfach und wagte nicht, den seligen Gedanken weiterfortzuführen, während ihre Lippen noch immer durch die Kälte in Bewegung waren. Sie beschloss seine Ernsthaftigkeit zu prüfen.
„Küss mich, Phexdan.“ provozierte sie ihn ernst und sah ihn fest an.
„Noch nicht…“ raunte er seine Antwort. „Ziehen wir dir erst einmal trockene Sachen an.“

Statt zu den Hortemanns zu gehen (Neferu sperrte sich dagegen), nahm er sie dann doch mit in die „Offne Hand“ in sein Zimmer, das ihr mittlerweile bekannt war.
Beide zogen sich um, während der andere wegguckte und sie musste unweigerlich lächeln, als seine nasse Kleidung an ihr vorbeiflog, an die Wand klatschte, herunterfiel und dort liegen gelassen wurde. Sie liebte ihn allein schon dafür, stellte sie innerlich in seltsamer Heiterkeit und Beschwingheit fest.
Blaue, sehr bequeme und gemütliche Kleidung hatte er ihr gegeben. Schnitt und Qualität waren recht bürgerlich und Hose, sowie Hemd passten ihr nur mäßig, da der Stoff um die Hüften herum etwas spannte und ihren gerundeten Po übermäßig betonte und widerrum um die Schultern und die Taille schlackerte.
„Man müsste es hier etwas enger machen…“ raunte sie und hielt mit den Fingern den Stoff an ihren Seiten fest, so dass er die weibliche Eieruhrfigur ihres Oberkörpers nachformte.
Als sie den Kopf hob und den Mann musterte, der mit ihr allein in diesem kleinen Zimmer stand, begann ihr das Herz wieder einmal bis zum Hals zu schlagen, bis sie das Blut in ihren Ohren rauschen hören konnte. Phexdan… Es war so ein Hochgenuss ihn einfach zu betrachten und selbst wenn sie die Augen schloss, konnte sie seine Präsenz weiterhin spüren, die ihr so angenehm war wie es nichts Vergleichbares auf Dere gab. Was hatte er nur mit ihr gemacht? Ohne wirkliche Kontrolle über ihr Handeln kam sie bedächtig auf den ebenfalls Blaugewandeten zu.
Er sah sie an und mit bebenden Gliedern, diesmal abern nicht mehr aus Kälte, kam sie vor ihm zum stehen.
Sie wollte ein für alle Mal wissen, was wahr und was falsch war. Sie hatte in den letzten Stunden und Tagen gelernt, dass sie sich auf ihre Spekulationen und Vermutungen alles andere als verlassen konnte, bei ihm hatte ihre hochgelobte Menschenkenntnis komplett versagt.

„Hast du.. das ernst gemeint?“
wisperte sie voll Festigkeit und Drängen in der sanften Stimme, während sie beide nur ein halber Schritt Abstand trennte.
„Was meinst du..?“ flüsterte er zurück.
„Den Traviabund…“ huschte es ihr schnell und gleitend über die wohlgeformten, roten Lippen.
„Ja, ich denke… ja.“ raunte er ihr mit weicher Stimme zu und der Blick seiner grünen Augen drang tief in die selbe Farbe der ihrigen.

Ihr wurde schwindelig und ein Hochgefühl bemannte sich ihrer. Eines, das ihr so fremd war, dass es sie fast von den Füßen warf. Sie bemühte sich hartnäckig um einen klaren Kopf.
„Seit wann? …Seit wann fühlst du etwas für mich?“ Setzte sie ihr zärtliches Gespräch fort, das bisher ohne Berühungen auszukommen schien. Sie war gehemmt und wollte sich nicht aufdrängen, denn er blieb auf Abstand.
„Seit wann… kennen wir uns?“ War seine leise Gegenfrage, die er ruhig stellte, nicht ohne das Grün ihrer beider Augen aus der Verschmelzung zu entlassen.
„Unsere erste Begegnung war vor.. vier Monaten. Auf der Brücke in der Nähe des Schneiders. Ich kam durch die Menschenmenge auf dich zu, auf der Suche nach Informationen.“ atmete sie schnell. Sie konnte ihrem Körper das Verlangen nach ihm nicht austreiben und ihr Leib reagierte auf seine Nähe und die leisen Worte.
„Von dem Moment an.“ beantwortete er ihre Frage dann ernst.

Wie auf Stichwort umarmte sie ihn innigst. Neferu vergrub ihr Gesicht in seiner Kleidung und drängte ihren warmen Körper an seinen. Auch er schlang für den Moment wie in Eile die kräftigen Arme um die etwa gleichgroße Frau und drückte sie so fest an sich, dass ihr beinahe die Luft wegblieb, doch das war ihr vollkommen gleich, im Gegenteil. Die Intensität seiner Nähe war Balsam für ihre Seele und sie fühlte sich in diesen wenigen Sekunden vollkommen wie nie: Sie hielt ihr Gegenstück, ihre Liebe in den Händen.
„Küss mich…“ bat sie erneut leise in die Richtung seines Ohres raunend.
Sogleich war der Spuk vorbei. Er beendete die Umarmung so abrupt wie sie entstanden war und alles in ihr setzte sich einem Trennen ihrer beiden Leiber entgegen, aber sie sagte nichts.
„Glaub mir.. Ich würde nichts lieber. Doch ich kann nicht…“ war seine niederschmetternde Antwort. Sie verstand die Welt von einer Sekunde auf die andere nicht mehr, als er seinen Blick von ihr fort zum Fenster wandte und ein melancholischer Glanz in seinen Augen beängstigende Überhand nahm.

Kurz blickte sie ihn fassungslos an und alles schrie in ihr in aufgebrachter Panik, dass die Liebe, die eben noch so sehr die ihre gewesen war schon wieder dabei war fortgerissen zu werden. Was hatte sie falsch gemacht? Warum konnte er sie nicht küssen…?
„Phexdan…“ flüsterte sie sanft seinen Namen und legte ihre Hand an seine Wange, die gleich darauf durch sein dunkles, zerzaustes, aber weiches Haare glitt. Sie hatte sich so oft vorgestellt eben das tun zu können.
„Warum kannst du mich nicht küssen…? Was ist los…?“ sprach sie mit Vorsicht und einem Hauch Angst in der Stimme.
Die Melancholie in seinem Blick nahm nicht ab. „Die Zeit wird es dir zeigen…“ raunte er eine mysteriöse Antwort, die sie alles andere als zufrieden stellte.
Neferu nahm seine Hand, sie zitterte. Mit vorsichtigen, samtigen Fingerspitzen streichelte sie Finger, Handfläche und Handrücken, ehe sie sie anhob und auch mit ihren Lippen streichelte, nicht küsste. Sie bemerkte, wie die Härchen seines Handrückens sich aufstellten und flüsterte ihm leise zu:
„Es ist… nicht schlimm, dass ich dich nicht küssen kann. Solange du nur bei mir bist.“

Er lächelte schwermütig. „Eigentlich… war die Umarmung schon zuviel..“
Sie ließ von seiner Hand ab und runzelte die Stirn.
„Ist es ein Fluch? Tut es dir weh? Wenn das so ist… werde ich dich nie wieder-„ mischte sich verwirrte Verzweiflung in ihre Worte. Sie durfte ihn also nicht berühren? Welche Art von bösem Zauber war das?

Mit immernoch traurigem Lächeln schüttelte der schwarzhaarige Gaukler den Kopf.
„Das ist es nicht… Aber.. ich muss jetzt gehen, Phexje und ich haben ein Treffen geplant.“
Sie nickte langsam und kam ihm sehr nahe und konnte sich nicht in soweit beherrschen, dass sie ihren Kopf hätte hindern können sich an den seinen zu schmiegen. Er reagierte nicht auf diese Annäherung.
„Kann ich nicht… mitkommen?“ bat sie leise, aber eindringlich.
„Ich fürchte Phexje hat soetwas wie einen Männerabend geplant.“ war die ernüchterne Antwort. Sie seufzte, wollte sie sich doch nicht von ihm lösen.
Doch die für die niederschlagenste Neuigkeit kam erst noch.

„Ich werde für einige Zeit weg sein.“ setzte er sie in Kenntnis. Langsam nickte sie. „Für wie lange…?“
„Etwa zwei Monate…“
„Zwei Monate?!“ Ihr zärtlicher Blick verwandelte sich wieder in ein fast entsetztes Starren.
Er schmunzelte sachte, die Melancholie hatte sich erbarmungslos und hartnäckig in seine grünen Augen gesät.
„Ja… zwei Monate. Ich muss gehen…“

Er drehte sich von ihr fort und schritt zur Tür. Schweigend sah sie ihm nach. Und einen Augenblick später… war Phexdan wieder wie aus ihrem Leben getreten.
Sie hatte geglaubt mittlerweile recht viel von ihm zu wissen. Aber in dem Moment, in dem sie wieder allein in seinem Zimmer stand, musste sie einsehen, dass sie eigentlich gar nichts wusste.

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