Arivor

Arivor 1 (Garion)

Sein rechter Arm schmerzte noch immer, als er die kleine Kammer betrat, die ihm während seiner Zeit in der Ordensfestung in Arivor als Heim diente. Vor den Mauern der wehrhaften Anlage hatte sich die Dunkelheit schon vor Stunden über das Liebliche Feld gesenkt, aber das hatte keinesfalls das Ende der Kämpfe in der Übungshalle bedeutet. Ständig wechselnde Gegner machten es unmöglich sich auf einen bestimmten Kampfstil zu verlassen – genau wie es gedacht war. Kurz vor den offiziellen Schlafzeiten war einer der Ritter der Göttin zu seinem Gegenüber geworden und hatte ihm das Schwert mit einem Schlag aus der Hand geprellt, dessen Wucht er jetzt noch zu spüren glaubte. Vorsichtshalber schob er die Tür der Zelle mit seiner linken Hand in’s Schloss zurück, ehe er sich den rechten Oberarm noch einmal rieb und seine Waffenhand ein paar Mal öffnete und wieder schloss. Langsam begann das Gefühl der Taubheit sich zurück zu ziehen. Wie er dieses unangenehme Kribbeln hasste…

Schließlich ließ er seinen Blick über die Einrichtung der Kammer schweifen. Viel war es nicht, aber viel besaß er ja schließlich auch nicht. Sein Blick glitt über den großen Doppelkhunchomer, der nahe des Eingangs an der Wand lehnte. Er hatte sich angewöhnt ihn von innen an die Tür zu lehnen, seit er hier war. Zwar war nicht zu befürchten, dass jemand versuchen wurde gerade HIER einzubrechen, aber er hatte sich nun einmal dran gewöhnt die Türen seines Schlafplatzes auf diese Weise zu sichern.
Kurz rieb er sich über die Augen und das von Bartstoppeln übersäte Gesicht. Trotz der Anstrengung des Tages war ihm noch nicht danach sich in das kleine Bett in der Nordwestecke des Raumes zu legen. Stattdessen fand sein Blick den Weg hinüber zu dem niedrigen Waschtisch aus dunklem Holz. Er war ein Teil des spärlichen Luxus‘ der sich in dem kleinen Raum verbarg.
Warum sollte er die Zeit die er ohnehin nicht würde schlafen können nicht sinnvoll nutzen? Mit zwei langen Schritten überwand er die Distanz zu dem hölzernen Möbelstück und klappte es auf. Ein wenig verzogen, aber doch gut zu erkennen sah ihm sein eigenes Antlitz entgegen, reflektiert von der polierte Silberscheibe im Deckel des Tischchens. Ja – seine Hand hatte ihn nicht getrogen, eine Rasur konnte ihm durchaus nicht schaden. Ein Wunder, dass ihn niemand darauf angesprochen hatte…andererseits…vielleicht war das der Grund für diesen mächtigen Schlag?
Mit einem gezielten Griff fischte der junge Rondrit das zusammengeklappte Rasiermesser aus den „Tiefen“ des Tischchens und betrachtete es einen Moment. Der Griff, der zugleich als Schutz für die Klinge aus scharfem Stahl diente, war aus einfachem Holz, sogar ziemlich abgegriffen. Das Messer war schon in Gebrauch gewesen, ehe er es besessen hatte. Trotzdem und trotz des Umstandes, dass es gestohlen war, war es sein wertvollster Besitz. Mit einer vorsichtigen Bewegung zog er die Klinge aus dem Griff hervor und betrachtete sie einen Moment. Er hatte sie gesäubert und geschärft, bis sie ihrem Ruf als Rasiermesser alle Ehre machte, es begleitete ihn auf jede Reise und er war sich sicher, sollte es dereinst nicht mehr zu gebrauchen sein, würde er es eher ausbessern lassen, als sich ein neues zu kaufen.
Wieder glitt sein Blick auf die spiegelnde Fläche vor ihm. Er hatte keinen Rasierschaum, überflüssiger Luxus, den er sich weder leisten konnte, noch wollte – ein wenig Wasser reichte vollkommen.
Rasch stieß er die linke Hand in das Wasser der Schüssel am Grund des Waschtischs und benetzte seine Wangen, das Kinn und die Oberlippe. Dann atmete er noch einmal tief durch und setzte das Messer an um den Kampf gegen seinen Bart zu beginnen.
Während das leise, auf eine merkwürdige Art vertraute schaben des Messers in seine Ohren drang, begannen seine Sinne zu schweifen. Er fühlte das griffige Holz des Rasiermessergriffs unter seinen Fingern, spürte wie die scharfe Klinge seine Wangen striff und auf ihrem Weg jedes Haar mit sich riss, das hervor sprießte. Nur noch eine Woche würde er hier bleiben, dann würde er sich wieder auf den Weg machen müssen. Mit sorgenvoller Miene dachte er an seinen schwächlichen Goldbeutel. Das gute Stück hatte diesen Namen gar nicht verdient. Alles was sich darin befand waren vier Silbertaler und 4 Heller, von Gold war gar nicht zu reden. Und doch würde es reichen müssen, zumindest vorerst. Wie es ihm in Arivor anbefohlen worden war hatte er vor eine Reise zu unternehmen, eine Reise die ihm die großen Tempel der Herrin Rondra zeigen sollte.
Einen Moment hielt er in der Rasur inne. Vielleicht hatte er ja Glück? Sein Blick legte sich auf die Schneide des Rasiermessers in seiner Hand. Ein paar schwarze Barthaare hatten sich dort niedergelassen, die er rasch mit seinem Daumen abwischte. Vielleicht hatte er ja Glück und er würde auch diese Reise nicht alleine antreten müssen? Einen Moment lang sah er in die Spiegelung seiner eigenen Augen hinab und betrachtet sie nachdenklich. Dann aber wandte er sich der zweiten Wange zu, wobei er darauf achtete den Spitzbart an seinem Kinn nicht zu sehr auszudünnen. Er wollte nicht diese horasischen Bartstreifen, sondern einen richtigen Kinnbart.
Wieder begann das charakteristische Schaben der Rasur und befreite die Gedanken Garions von der Enge der Kammer um ihn herum. Er würde zuerst nach Gareth reisen – zu Fuß, die Kutschfahrt dorthin war viel zu teuer. Mit ein bisschen Glück würde er dort, im Südquartier, im Roten Hahn auf Neferu und Richard treffen.
Leise atmete er ein. Neferu, sie war es, die ihm das Rasiermesser geschenkt hatte. Sie war schön, ohne jeden Zweifel, aber das war es nicht, was ihn an ihr faszinierte, jedenfalls nicht das alleine. Vielmehr war es ein gewisses Funkeln in ihren grünen Augen, das ihn von Anfang an gebannt hatte, das ihn dazu gebracht hatte freche Spitzen zu ertragen und ihnen sogar eine lustige Seite abringen zu können. Sie waren schon Wochen lang unterwegs gewesen. Mit Richard und ohne Richard. Sie war sogar in sein Bett gekrochen…nur weil ihr kalt war natürlich. Er wagte sich nicht einzubilden, dass sie etwas für ihn empfinden mochte. Andersrum allerdings…

POCH,POCH – es klopfte. Mit gerunzelter Stirn wandte Garion sich zur Tür um:“Herein!“, wer mochte um diese Zeit noch stören? Die allgemeine Bettruhe hatte schon seit sicher einer halben Stunde Bestand. In der sich öffnenden Tür erblickte er einen jungen Novizen, sicher nicht älter als 12, vielleicht 13 Jahre. Er hielt ein gesiegeltes Stück Papier in der Hand.

„Herr, ein Beilunker Reiter brachte dies für euch. Er sagte der Absender hätte ihm aufgetragen auszurichten es sein dringend!“, das Gesicht des Jungen war ein wenig gerötet, er war offenbar gelaufen.
„Lies es vor, Junge.“, damit wandte er sich wieder der Silberscheibe zu. Es fehlte nur noch ein kleiner unnachgiebiger Flecken auf der rechten Seite, dann war er fertig. Dem lesenden Jungen hörte er nur mit halbem Ohr zu, die Details konnte er später noch einmal selbst lesen. Das wesentliche schien ihm, dass Richard und Neferu in Grangor waren. Offensichtlich hatten sie in Gareth ein recht lukratives Angebot bekommen und waren ihm nach Grangor gefolgt. Er setzte zur letzten Bewegung an.

„Ein armer Teufel schindet sich, das stadbekannte, garether Fräulein von etwa zwangzig Götterläufen seiner Engelsreinheit zu berauben. Seit Wochen schon stellt er ihr nach und sie ist nicht mehr in der Verfassung sich gegen den Halunken zu erheben.“, Garion spürte das bösartige Brennen einer glatten Wunde auf seiner Wange, ehe er realisierte, dass er zusammengezuckt war. Engelsreinheit rauben?! Er stellt ihr nach und sie kann sich nicht mehr gegen ihn erheben?!
Ohne auf das Blut zu achten, dass seine Wange hinunterfloss ließ er das Rasiermesser in die Waschschüssel fallen und wirbelte zu dem Novizen herum.
„Gib schon her!“, fuhr er ihn an und riss dem verdatterten Jungen das Pergament aus der Hand. Rasch überflog er die Zeilen um sich auch ganz sicher zu sein sich nicht verhört zu haben. Tatsächlich! Da stand es schwarz auf weiß. Er fasste einen Entschluss.

„Herr? Darf ich mich zurückziehen?“, entkam es den Lippen des Novizen leise.
„Nein, darfst du nicht. Pack meine Sachen zusammen und gib dem Ordensmeister Wort. Ich werde meine Kammer noch heute Nacht räumen, es gilt die Ehre einer jungen Frau zu retten, Rondra würde mir zürnen ließe ich auch nur eine Sekunde verstreichen. Na los! Lauf!“, die Gedanken kreisten in seinem Kopf. Beilunker Reiter waren schnell, aber der Bote hatte für den Weg von Grangor bis nach Arivor sicher anderthalb, eher zwei Tage gebraucht. Hoffentlich war es nicht bereits zu spät.

Schnell wischte er sich mit dem Handrücken das Blut von der Wange, mehr Zeit war nicht, die Wunde würde an der frischen Luft rasch verkrusten, es war unsinnig sich über diesen kleinen Schnitt aufzuregen. Er warf sich ein dunkelblaues Hemd tulamidischer Machart über und wandte sich dem Zimmer zu. Es war einer der wenigen Augenblicke wo er froh war kaum Besitztümer sein Eigen zu nennen, es würde kaum sehr lange dauern alles, was in der Kammer war zusammen zu räumen. Seine Rüstung würde der Noviz aus der Rüstkammer holen. Mit einem schnellen Griff fischte er das Rasiermesser aus der niedrigen Schüssel und wischte es oberflächlich an seiner Hose ab. Das musste reichen – er würde es in Grangor neu Ölen. Im Vorbeigehen griff er das Papier vom Schreibtisch, knüllte es zusammen und schob es in eine Tasche seiner Hose. Zuletzt packte er den Doppelkhunchomer knapp unter dem Heft an der Scheide und löschte die Kerze, die den Raum erhellt hatte, dann trat er auf den Flur hinaus.

Am Portal der Festung angekommen stand der Novize bereit:“Der Ordensmeister ist unterrichtet, Herr. Er versichert euch, dass ihr die rechte Entscheidung getroffen hat und, dass die Herrin es gut heißen würde, wenn ihr eure Fähigkeiten nutzt um Grangor schneller zu erreichen. Was er damit meinte wollte er mir nicht sagen Herr.“, Garion stutzte. Sicher, er hatte erwartet, dass der Ordensmeister gutheißen würde, was er tat…aber das…? Er nickte dem Jungen zu.
„Gut, danke. Hilf mir die Rüstung anzulegen, ich habe es eilig.“

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„Ärgerlich, das war absolut unnötig!“, huschte es Garion durch den Kopf. Er war ungehalten, er hatte den Weg nach Grangor schnell bestreiten wollen und jetzt das! Rasch warf er einen Blick durch die Äste des Gebüsches das ihn verbarg zu den drei Männern. Einer von ihnen war mit einem Netz bewaffnet, zu dem er nur einen Langdolch trug, die anderen Beiden mit langen Speeren. Sie suchten ihn, das war ihm klar, er hatte eben doch übertrieben. Wäre er doch nur nicht auf der Straße geblieben, aber der Weg war ihm so ungewohnt vorgekommen und die Angst Zeit zu verlieren, weil er sich verlaufen könnte hatte ihn getrieben! Er konzentrierte sich wieder auf die Männer. Er konnte sie von hier aus nur in schwarz-weiß sehen, aber es reichte doch sie auseinander halten zu können.Sie hatten sich aufgeteilt, die Männer mit den Speeren waren nach rechts und links, zu den Bäumen rübergegangen, aber der schmierige Kerl mit dem Netz hielt direkt auf sein Gebüsch zu. Das war seine Chance, dieser Kampf war ungleich, aber er hatte nicht vor ihn ernsthaft zu führen, er wollte nur durchbrechen und seinen Weg fortsetzen. Nicht, dass er dem Kampf ausweichen wollte, oder Angst davor gehabt hätte – nein, aber er durfte sich nicht aufhalten lassen, Rondra würde dafür Verständnis zeigen.
Als der Mann sich dem Gebüsch bis auf zwei Schritt genähert hatte, sprang Garion mit einem langen Satz auf ihn zu. „RONDRA!“, wollte er brüllen, was aber in die Nacht hinausschallte, war das wütende Gebrüll eines Löwen.
Die Wucht des Angriffes Riss den Mann mit den Netz von den Füßen, noch im Fall rief er panisch um Hilfe, ehe ihn die 160 Stein des Löwen unter sich begruben und verstummen ließen. Ohne einen Blick zu den Seiten zu werfen kam Garion wieder auf die Tatzen – der Weg war frei! Ohne weitere Zeit zu verlieren setzte er mit langen Sprüngen auf den Waldrand im Nordwesten zu. Die Narren würden es nicht wagen ihre Speere zu werfen und einholen würden sie ihn erst recht nicht…dafür waren sie viel zu langsam.