Kalas

Namenlose Nacht 1 (Kalas) (5NT 1013)

In seiner Kindheit auf den Straßen des Südquartiers waren die fünf Namenlosen Tage zwischen den Jahren eine Zeit voller Furcht und Schrecken ohne Unterlass gewesen. Er hatte sie in der Regel hungernd zusammengekauert mit anderen Straßenkindern verbracht. Seit Kalas seiner Heimatstadt als Gardist diente, war es seine Pflicht diesen Schrecken direkter entgegen zu treten und während dieser götterverlassenen Tage die Straßen zu patrouillieren. Doch niemals hätte er es für möglich gehalten sich am Morgen des 2ten NL in einer anzüglichen Aufmachung -angelehnt an das Garether Wappentier- vor der Bardo-Therme wiederzufinden, nachdem er dort die Nacht auf einer Orgie zugebracht hatte. „Veranstaltung“ wäre vermutlich eine bessere Wortwahl für den Bericht, den Großinquisitor Nemrod jetzt von ihm erwartete. Zumindest hielt er es für unklug eine der höchsten Autoritäten der Praios-Kirche unnötig daran zu erinnern, dass Kalas aus freien Stücken und ohne offiziellen Auftrag einer Eskalation von Dekadenz und Frevel beigewohnt hatte. Doch auch umgeben von Sonnenlegionären und Gardisten, die nun die vergangene Nacht aufarbeiteten, überkam den Mann in anrüchiger Fuchsverkleidung keine Reue. Er war einem verzweifelten Bürger beigestanden, der seine vermisste Tochter wiederfinden wollte und dessen Natur es noch weit mehr widersprach dieser Veranstaltung beizuwohnen als Kalas von sich behaupten konnte.

Zusammen mit Travian Korninger, Vater der vermissten Selinde Korninger, Neferu Banokborn, ebenfalls Korporal der Stadtgarde, und Rychard Lowanger-Greiber, der sich vor kurzem unerwarteterweise als Oberst der Armee herausgestellt hatte, hatte Kalas die Orgie infiltriert. Die vergleichsweise harmlosen sexuellen Eskapaden hatte er noch mit Neugier beobachtet, doch die zunehmend enthemmten Perversionen, die die Besucher der … Veranstaltung auslebten, eröffneten ihm Abgründe der menschlichen Natur, die ihn noch eine Weile verfolgen würden. Doch er und seine Begleiter waren darauf bedacht gewesen keinen Aufruhr zu verursachen bis die Sicherheit Fräulein Korningers gewährleistet war. Doch die Grenze des Erduldbaren war erreicht, als sie den Gastgeber der Veranstaltung, den sie bereits als Priester des Namenlosen identifiziert hatten, bei der Schändung einer jungen Frau ertappten. Mit wenig Finesse aber großer Entschlossenheit war er eingeschritten. Zunächst gelang es Zubaran -so hieß der Frevler- Kalas durch ungöttliches Wirken von seinem Vorhaben abzubringen. Doch nachdem seine Kameraden ihn vom Einfluss des Namenlosen befreit hatten, schlugen sie gemeinsam mit umso größerer Härte zurück, sodass sich Zubaran umgeben von den Leichen seiner Handlanger in den Ketten wiederfand, die ihm zuvor sein Opfer ausgeliefert hatten. Die junge Frau, Ditti, war verständlicherweise zutiefst verstört und lieferte dennoch den entscheidenden Hinweis auf den Verbleib Fräulein Korningers: ein Wasserturm nahe der Therme war ihr Kerker gewesen ehe sie in die Fänge Zubarans übergeben worden war.

Doch inmitten all der Dunkelheit gab es auch Lichtblicke zu entdecken. So auch den Vorsteher des Tempels der Rahja in Perricum. Kalas wusste nicht, ob er die Veranstaltung in der Hoffnung aufgesucht hatte fernab der Heimat in diesen schwierigen Tagen ein rahjagefälliges Lustfest vorzufinden, ob er inmitten der vielen fragwürdigen Praktiken selbst in ermittelnder Funktion zugegen war oder ob er andere Beweggründe hatte. Er wusste nur, dass der Elf jegliches anderweitige Vorhaben aufgegeben hatte als er von dem Verbrechen an Ditti erfuhr. Kalas empfand im Angesicht seiner eigenen Hilflosigkeit großen Respekt für die Bereitschaft und Fähigkeit Ditti, der unvorstellbarer Schaden angetan worden war, ein offenes Ohr und trostvolle Worte zu schenken. Auch Levaska hatte sich als positive Bekanntschaft erwiesen, auch wenn sie sich wie Neferu als Hexe entpuppt hatte. Sie hatte die Veranstaltung auf der Jagd nach einem Vampir infiltriert, dem inzwischen auch Neferu auf den Fersen war. Als er Levaska nach deren Kampf mit dem enttarnten Vampir begegnete und ihr in einem Anflug deplatziert anmutender Etikette die Hand bot, hatte er weder wissen können, dass sie beide sich Stunden später im verwaisten Park der Therme dem Liebesspiel hingeben würden, noch dass er sie jetzt bereits vermissen würde. Vage gehofft hatte er es vielleicht. Nicht nur war sie atemberaubend schön und dem offiziellen Anlass entsprechend nur in einen Hauch von Nichts gekleidet, sondern trug sowohl ihre Nacktheit als auch ihre Fähigkeiten mit einer Selbstsicherheit, die Kalas tief beeindruckte. Und offenbar hatte auch er einen guten Eindruck erweckt, war es doch sie, die in den Büschen den ersten Schritt getan und die Führung bei allen weiteren übernommen hatte… Sie hatte Kalas zugesichert, dass sie ihn wiederfinden würde. Doch ihm war in der vergangenen Nacht ein nie dagewesener Einblick in das wechselhafte, unberechenbare und ihm bisher nur aus Ammenmärchen bekannten Wesen der Hexen gewährt worden. Er konnte sich also nicht sicher sein, dass er sie wiedersehen würde und vorerst war es auch besser, dass sie nicht bei ihm war. Zwischen dem Großinquisitor, der Sonnenlegion und seinen Kameraden der Stadtgarde kam doch eine gehörige Menge an Leuten zusammen, die sie für ihre hexerische Natur dem Feuer übergeben würden. Folglich sollte er sie auch aus dem Bericht heraushalten. Neferu schien dagegen geübter darin zu sein ihre Wurzeln zu verbergen und war zur medizinischen Versorgung abtransportiert worden. Kalas konnte sich nicht erklären was sie bewegt hatte den Vampir noch einmal zu konfrontieren ehe Verstärkung aus der Stadt des Lichts vor Ort gewesen war. Doch er konnte nicht leugnen, dass sie bereits davor unter selbstlosem Einsatz von Leib und Leben um das Schicksal Fräulein Korningers und die Aufspürung dunklen Gezüchts bemüht war. Bei Rychard war sich Kalas bisweilen nicht sicher gewesen, ob er sich auf der Veranstaltung nicht in unangemessenem Maß wohl fühlte, beteiligte er sich doch recht freizügig am allgemeinen Treiben. Doch mit zunehmendem Ernst der Lage war auch auf ihn Verlass gewesen.

Unberechenbar war auch manch anderes gewesen, mit dem er es in der vergangenen Nacht zu tun gehabt hatte. Während Neferu im Alleingang Fräulein Korninger und zwei weitere Frauen aus dem Wasserturm befreite, hatten Rychard und Kalas einem magisch untermalten Schauspiel in eine der Grotten der Therme beigewohnt, wo Herr Korninger mit einer anonymen Informantin verabredet gewesen war, die sich als Bedienstete der Veranstaltung entpuppte. Sie konnte noch die Namen der Hintermänner des Menschenhändlerrings liefern. Im Austausch gegen Gold. Kalas konnte es ihr inmitten all der Verschwendungssucht nicht so recht verdenken, etwas Eigennutz zu praktizieren. Auch wenn es nicht ausschlaggebend für sein Engagement war, war auch ihm Bezahlung versprochen worden. Was sie alle nicht wussten war, dass das Schauspiel nur der Deckmantel für ein ausgefeiltes magisches Ritual gewesen war, um ihnen Lebensenergie zu entziehen. Sie waren stetig gealtert, während sie im Nachgang die Stadt des Lichts aufsuchten, um Hilfe zu erbitten. Doch der Großinquisitor und die ihm unterstellten Sonnenlegionäre konnten durch ihr schnelles und beeindruckend effizientes Eingreifen zumindest Rychards und Kalas‘ Leben retten und ihnen die meisten ihrer Lebensjahre zurückgeben. Doch für viele kam die Hilfe zu spät. Unter anderem dem traviatreuen Herrn Korninger, dem die Teilnahme an der Veranstaltung ohnehin schon einiges abverlangt hatte, kostete sie dann in dieser grausamen Wendung auch noch das Leben. Ein Versagen, mit dem auch Kalas würde leben müssen.

Auf den Treppen der Therme war ihm der Morgen nach der fordernden Nacht beinahe vorgekommen, als wären die Namenlosen Tage bereits überwunden. Die Kutschenfahrt durch die düsteren, verlassenen Straßen Gareths riefen ihm nun aber die bedrückenden Tage ins Gedächtnis, die noch vor ihm lagen. Doch für Kalas schienen sie etwas von ihrem mysteriösen Schrecken verloren zu haben. Er war tapfer in die Dunkelheit getreten und hatte konfrontiert, was dort auf ihn lauerte. Später würde er erfahren, dass ihm und seinen Kameraden Neferu und Rychard für ihren Einsatz die Kaiser-Rauls-Schwerter in Bronze verliehen werden sollten. Kalas war sich der damit verbundenen Ehre gewahr, doch empfand er die bemerkenswerte Erkenntnis, dass jeder noch so unvorstellbare Schrecken bezwungen werden konnte, wenn man nur die Kraft dafür aufbrachte, als weit wertvolleren Gewinn dieser Namenlosen Nacht.