Gareth 22 (Neferu)

Kategorien: 1013 BFDer Puls der StadtGarethNeferu
Zeitraum: TSA 1013

Katzen hatten dem Volksmund nach neun Leben. Neun, die heilige Zahl des Phex.
Und nicht nur das, es gab sie überall – auf dem Land, in der Stadt, in schmutzigen Gassen und auf prachtvollen Anwesen.
Suchet, dann werdet ihr finden, hieß es und Neferu war nach einigen Stunden fündig geworden: Eine kleine weiße Katze hatte den Mann, der die Leiche bei ihr abgelegt hatte, gesehen.
Das gepflegte Kätzchen war auf ihn aufmerksam geworden, weil die große rote Feder an seinem enormen Hut so lustig und verführerisch gewippt hatte. Wie gerne hätte die Samtpfote mit dem herrlich tanzenden Federchen getollt, aber leider war der Kerl, der das Ding auf dem Kopf getragen hatte, zu weit weg gewesen.

Nachdem die Hexe diese Bilder aus dem Kopf der Katze gesehen hatte, war sie nach Eschenrod gegangen.
Zwar wusste sie, dass Voltan Sprengler, der Weibel des Puniner Tors am kommenden Morgen mit ihrem Erscheinen rechnen würde, aber es war doch einiges wert, wenn sie eine Information dabei hatte, die er noch nicht kannte. Vielleicht würde er sich ihr dann irgendwann offenbaren – der Schein-Wachmann, als phexischer Hintermann. Sie schmunzelte genüsslich bei dem Gedanken, einen Jünger der Geheimnisse dazu zu bringen, sich ihr anzuvertrauen.
So früh am Tag war außer Knüppel-Golle, dem Festumer Goblin mit seinen stumpfen, schlichten Waffen fast noch niemand auf den Beinen. Einige Menschen lagen oder saßen herum, lungernd, hustend – aus leeren Augen starrend oder noch den Rausch der letzten Nacht ausschlafend. Aber fast niemand stand.
Rahjas Festung war ein altes Doppelhaus aus Holz. Es erinnerte Nef an die Häuser, die sie in Baliho gesehen hatte.

Sie klopfte hart.
„Hallo? Ich muss mit Euch reden!“
Ein zweites Mal.
Dann endlich eine Reaktion von innen: Ein Murren, eine Beleidigung, dann ein Verriegeln der Tür.
Verblüfft stand Nef vor dem Gebäude. Sie war es nicht mehr gewohnt, derart rüde abgefrühstückt zu werden. Aber vor der Mittagsstunde ging hier wohl gar nichts.
Sie war gekränkt und weigerte sich, so schnell auf eine Sackgasse zu stoßen.
Gleichzeitig hatte die in den Morgen gedehnte Nachtruhe des Etablissements vielleicht auch seine Vorteile: Sie könnte unbehelligt mit einem oder zweien der Mädchen sprechen, wenn sie sich reinschlich…
Die Tür war kein Hindernis. Der Dunkelheit im Inneren begegnete sie mit dem Zauber der Katzenaugen.
Auf leisen Sohlen durchquerte sie einen leeren, muffigen Schankraum mit runden Tischen. Sie drehte ihren Armreif in der Finsternis und ließ den Zauber wirken. So würden sie sie wenigstens nicht wiedererkennen, wenn sie einen dummen Fehler machte und gesehen werden würde.

Die Ereignisse im Bordell überschlugen sich mit einem Eifer, den Neferu nicht erwartet hatte. Sie hatte einige Informationen und Begriffe hinter einer verschlossenen Tür aufschnappen können. Namen, vielleicht Orte, aber dann schon, hatten sie nach ihr gesucht. Zehn Männer aus dem oberen Stockwerk, alle mit Floretten bewaffnet. Spitzenkrägen und Hüte waren bei diesen Kerlen offenbar in größter Mode. Sie sprachen mit einem Akzent – almadanisch?
Weitere fünfzehn kamen von unten. Es waren Schlagetots aus Eschenrod, sicher bezahlte Tagelöhner und gewalttätige Nichtsnutze.
Sie hielt sie mit einem Hexenknoten auf, einer Mauer, die das Schlimmste zeigte, die einem das Blut gefrieren ließ – der selbe Zauber mit dem sie vor Kurzem in der Kanalisation ein paar vermeintliche Schmuggler vertrieben hatte.
Niemand hatte die Hexe bisher gesehen – und das allein Dank eines Zaubers. In harmloser Gestalt floh sie in das Zimmer eines der Mädchen, fragte die Verängstigte nach Jelka. Die abgerissene junge Frau schluchzte, als sie von dem Schicksal der anderen erfuhr.
„Den Almadanern gehört hier alles…!“ gab sie leise flüsternd, zitternd vor Angst, zu verstehen.
Ihnen gehörte der Laden, gut zu wissen.
Die Zimmertüren wurden brachial aufgerissen, Frauen schrien und heulten – es hörte sich an, als würden sie auf den Flur des Obergeschosses, auf die Balustrade geschleift werden.
Neferu rettete sich unter das Bett, wo sie selbst fast geschrien hätte: Die Hinterlassenschaften von Ratten warteten da auf sich. Mit glasigem Blick starrte sie die Unterseite des durchgelegenen Bettes an, presste beide Hände auf den Mund. Ratten…! Das Mädchen, mit dem sie eben noch gesprochen hatte, wurde aus ihrem Zimmer gezerrt.
Fast sah Neferu rot. Beinahe hätte sie Laut gegeben. Doch das Schließen der Lider und das Konzentrieren auf die Atmung, retteten ihr Versteck.
Oh Schatten Alverans, aus dem Dunkel komme ich, ins Dunkel gehe ich…
„Wo bist du, Mäuslein…?“ Hörte sie eine melodiöse Stimme, bösartig fragen. Ihr Herz raste. Sie hielt sich beide Handflächen vors Gesicht.
Gewähre mir die Gnade, zu schwarzer Nacht zu werden…
Schritte kamen in die stickige, fensterlose Kammer. Seine Stiefel hatten hörbare Absätze. Er ließ sich Zeit, keine Eile war ihm anzumerken. Er fuchtelte mit seinem Degen herum.
Riss den Schrank auf, der sich halbhoch in eine staubige Nische kauerte. Es war, als würde es ihm Spaß machen, sie zu jagen.
…und im Grau untergehen. Wie der Neumond am Sternenhimmel.
Er kam auf das Bett zu, sie schob sich zeitgleich in bedächtigen Bewegungen darunter hervor.
Der Almadaner blickte an ihr vorbei, als sei sie gar nicht da.
Sie kniff die Augen zusammen, aber hielt in der befreienden Bewegung nicht inne, als seine Waffe mit der Spitze zuerst zu Boden sauste und das Bett durchstach. Halb war sie noch drunter!
Als er ein zweites Mal zustach, waren wie in Zeitlupe auch ihre Beine der Gefahr entronnen. Sie lag auf dem Boden, direkt neben ihm und hielt den Atem an. Sie betete inbrünstig, dass er ihr trockenes Schlucken nicht hörte.
Dieser Mensch hätte schön sein können, hätten seine harten Züge ihn nicht zu einem Scheusal gemacht, stellte sie beobachtend fest. Auch er trug einen großen Lederhut mit Feder – doch war sie weiß. Nicht rot wie in der Erinnerung des Kätzchens.
„Na gut…“ schnurrte er gespielt, „Wenn du nicht herauskommen willst, mein Mäuslein, dann muss ich eben ein Mädchen töten.“ Er wendete sich zum Gehen der offenen Tür zu.
Nef riss in Panik die Augen auf, starrte ihm nach. Nein!
Ihre nächste Entscheidung war nicht geplant, aber das Gefühl obsiegte, die Tat verhindern zu müssen.
Sie bat Phex um Kraft. Stärke ihres Körpers. Es war ungewöhnlich, aber nicht unmöglich.
Nach nicht einmal drei Sekunden sprang sie auf, hechtete den Mann um, dessen niedergerissener Körper die Tür zuwarf, die nach innen aufging.
„Du wirst sie nicht töten!“
Sprach sie aus dem Schatten des Neumondes und würgte ihn.
„Schlampe!“ krächzte er wütend. „Das wirst du büßen..!“
Er rang mit ihr, doch Phex hatte Rondra überzeugt, ihrem Körper die nötige Stärke zu geben, dem Schurken Einhalt zu gebieten.
Sie überwältigte ihn, doch hörte sie bereits seine Kumpanen auf der Treppe! Schnell spreizte die Phex-Hexe die Finger auf dem Boden, schob den bewusstlosen Körper aus dem Weg, warf den Türflügel auf und sprang die Brüstung der Balustrade an. Noch würden sie sie nicht sehen, höchstens hören – also hing sie am Geländer und verhielt sich still.
Sie musste irgendwie aus dieser Schnapsidee wieder rauskommen!!
„Hier ist niemand! Di Calmo regt sich nicht mehr!“ brüllte einer aus der Kammer, in der sie eben noch festgesteckt hatte.
„Findet den Eindringling!“ war der allgemeine Tenor der bewaffneten Männer. Sie sah keine einzige Frau unter ihnen… Nur die zehn Mädchen knieten leise oder laut wimmernd in der Mitte des Schankbereiches, als seien sie Geiseln. Oder Verurteilte vor ihrer Hinrichtung.
„SanRebra!“ kläffte eine Stimme – „Töte eines der Mädchen! Das Hässlichste! Dann zeigt sich die Schlampe!“
Dieser Idee schienen diese Almada-Hunde generell nicht abgeneigt. Und sie wussten, dass ihr ungewünschter Besuch eine Frau war. Natürlich – sie hatte gesprochen, als sie um Einlass gebeten hatte.
Ein bulliger Schrank von einem Mann schälte sich in die Raummitte, direkt unter ihr kam er her.
Phex, verlass mich jetzt nicht…
Was trieb sie da? Einem Alveranskommando gleich, sprang sie gezielt auf den Rücken des glatzköpfigen Bullen.
„Ihr alle seid verflucht!“ brüllte sie mit so tiefer, eindringlicher Stimme, wie sie es vermochte. Er versuchte sie abzuschütteln. „Die zwölf Götter werden euch für eure Sünden zerschmettern! Eure Seelen werden nicht mehr euch gehören, sondern als Spielzeuge für die grauenhaftesten Foltermeister der Niederhöllen dienen, wenn ihr euch nicht besinnt!“ orakelte sie kreischend.
SanRebra hatte seine Waffe gezogen, stach ungezielt nach ihr. Sie sah keinen anderen Weg… Die unsichtbare Angreiferin rammte ihrem wildgewordenen Gegner zwei Finger in die Augenhöhlen. Blut spritzte.
Zumindest die angeworbenen Schläger des Südquartiers zeigten Reaktion. Die Ermahnung, ihr Seelenheil zu verlieren, schlug einige wenige von ihnen in die Flucht.
Trotzdem war sie deutlich in der Unterzahl.
Und jemand anders aus ihren Reihen tötete das hässlichste Mädchen. Neferu sah zu, wie der verletzte Stiernacken in den hinteren Bereich gebracht wurde, eine Tür klappt.
Sie musste hier irgendwie raus!
„Da läuft sie! Sie ist eine Hexe, die unsere Sinne täuscht!“ Wenn sie wüssten, wie Recht sie hatten…
Ihre Schritte waren nicht zu überhören.
Sie hielt den Spinnenlauf aufrecht, rannte die Wand hoch, klebte dann in sicherem Abstand an der Decke. In diesem Augenblick, als ihr das Blut unangenehm in den Kopf floss, war sie heilfroh schwindelfrei zu sein. Die Decke des Schankraumes maß sicher vier Schritt Höhe, vielleicht sogar fünf, die umlaufende Balustrade war von Männern gespickt.
„Ihr habt ein Mädchen getötet! Jelka! Der Mann mit der Roten Feder hat ihren Körper beseitigt! Dafür werdet ihr bezahlen! Ich bin eine Geweihte der Zwölfe! Warum habt ihr das getan?!“
polterte Nef von ihrem Deckensicherheitsabstand aus. Noch immer war sie ungesehen. Aber sie war nicht gerade leise. Phex verbarg zwar ihre Gestalt, aber nicht die Geräusche, die sie von sich gab. Unbequem hing sie an der hölzernen Decke.
Sie versuchte, die Männer zu überzeugen, sprach von Phex, der Seele und den Versuchungen von Nicht-Phex. Sie appelierte an die Vernunft, an die Tugenden der Zwölfe, an Gerechtigkeit und Respekt. Und alles, was sie erhielt war Spott und Hohn. Dem Anschein nach waren die Männer keine Paktierer oder Erzbösewichte.
Ihre Argumente waren ernüchternd und erschütternd. Sie waren skrupellos, aber sie waren einfache Menschen.
Es gab Geld, es hielt sie am Leben, wenn nicht sie ein Bordell unter diesen Umständen führten, dann jemand anders.
Und was Jelka anging.. sie fand zumindest heraus, dass eine schön anzusehende Schlampe, die in der Weststadt baute, Ärger machte. Sie glaubte, sich darin zu erkennen… Aber welchen Ärger konnte sie diesen Gesellen machen? Sie hatte keine Ahnung. War es wegen des Waisenhauses? Wegen des Wunsches nach Bildung und einer Zukunft für die Alleingelassenen?
Die unsichtbare Götterdienerin, die an der Decke klebte, distanzierte sich von dieser Frau – erfand ein glaubhaftes Konstrukt, wer sie war: Eine im Schatten agierende Phexdienerin, die keinen Mord an einfachen Mädchen zulässt. Jemand, dem die Belange der gut situierten Bürger aus der Weststadt egal waren. Jemand, der für Eschenrod und seine Menschen kämpfte. Und für Hoffnung.
„Warum lässt du dann keine Feuerbrunnen bauen?“ patzte ein Almadaner verhöhend. „Und lässt uns in Ruhe? Niemand fragt nach einer toten Hure…“

Sie konnte nicht mehr.
Das Brennen in ihrem Leib nahm zu. Die Energie ihres Zaubers ging zur Neige – das qualvolle Gefühl, die letzte Astralmacht durch die Finger rinnen zu spüren, saugte sie aus – wie es sonst nur Zerwas vermocht hatte.
Vorsichtig entfernte sie sich von der Decke, überkletterte die Wände. Unter sich sah sie die Männer, die nach ihrem Blut gierten.
Jemand war vor der Tür postiert.
Mit dem letzten Rest an magischer Macht, überzeugte sie den Türsteher, für sie zu öffnen… Taumelnd rannte sie in die Hinterhöfe. Mehrfach krümmte sie sich zusammen.
Sie war leer und ausgelaugt. Der Kopfschmerz näherte sich der Unerträglichkeitsgrenze.
Durchhalten!
Sie würde wiederkommen…
Durch Gassen, die sie von Jugend an kannte, hielt sie auf den Tempel der Schatten zu, den nur Eingeweihte kannten.
Sie brauchte Ruhe! Musste meditieren!

Eine. Ganz. Miese. Idee.
Resümierte Neferu, während die Sehstörungen ihr den Weg nach Westen erschwerten.