1013 BF

Gareth 25 (Rahjard) (5NT 1013)

Elendiger Blaufink“, murmelte der Al’Anfaner während sich das Buch in seinen Händen schloss und er sich dem Hund neben sich zuwandte und ihn sachte streichelte. So wie viele Garether hatte sich dieses Jahr auch Rahjard größtenteils verschanzt, wenn auch nicht im eigenen Heim. Als Unterkunft diente ihm der RAHja-Tempel der Stadt, in den ihn eine Einladung des Perricumer Hochgeweihten Talafeyar verschlagen hatte. Ein hinreißender Halbelf, den der Scheinbukanier im Moment jedoch weit mehr als Freund und offenes Ohr sehen wollte und weniger als Stück Fleisch. Die Kombination aus Elf und Rahjadiener hatte in jedem Fall eine gewisse Anziehung, das Elfische wahrscheinlich ob der Erlebnisse mit Phileasson. Wer vermochte das zu sagen, vielleicht hatte die Anwesenheit auf einer Orgie am ersten Namenlosen Tag auch schlicht die Entwicklung eines Fetischs begünstigt.

Tief durchatmend fuhr er dem Hund etwas fahriger durch das Fell. Ungerne dachte er an die Begebenheiten in den Bardo-und-Cella-Thermen zurück, förderten sie doch auch die Erinnerung an Rivera, die eigene Mutter und was ihm sonst widerfahren war. Einen halben Tag oder länger hatte er noch im Peraine- und später im Rahja-Tempel mit Talafeyar darüber gesprochen. Nahezu alles hatte er dem Elfen anvertraut, wohl auch um diesen Rahjafluch abzuschütteln, der ihm spätestens seit dem Vorfall in Trallop – eher früher – anhaftete. Der Gedanke leuchtete ihm ein, nachdem er das Treiben in den Thermen erst einmal verdaut, wenn auch nicht unmittelbar verarbeitet hatte.

Korninger“, raunte er leise.

Alles hatte mit Korninger seinen Anfang genommen. Neferu hatte erwähnt, dass die Tochter des Mannes entführt wurde, sie war durch einen Aushang am Puniner Tor darauf aufmerksam geworden. Eine Entführung. „Wenn es weiter nichts ist…“, ging es ihm durch den Kopf als er den Ausführungen der alten Freundin lauschte. Das erschien machbar.

Er hatte ja keine Ahnung …

Den Morgen darauf, am zweiten Namenlosen, saß ein als Säbeltänzer gewandeter Al’Anfaner tränenüberströmt an einer der Säulen der Thermen und war irgendwie froh; froh, Großinquisitor Nemrod und Sonnenlegionäre zu erblicken; froh, noch am Leben zu sein; froh, noch verhältnismäßig jung zu sein. Dennoch hatte ihn der Abend samt aller Konsequenzen bis ins Mark erschüttert, was jedwede Freude überstrahlte. Es war schließlich Voltan, der nach Neferu fragte, dem er sich nach einigem Zögern zunächst anvertraute nicht wirklich mit der Situation umgehen zu können, Überforderung zu verspüren, nicht zu wissen wie er weitermachen solle.

Ein seltener Moment, das erschloss sich auch dem Al‘Anfaner, in dem ihn all sein Heldenmut offenbar verlassen hatte. Er war plötzlich wieder ein kleiner Junge, er war wieder Rahji, der nach alldem nur von seiner Mutter in den Arm genommen werden wollte. Ein Junge der nur hören wollte, dass alles wieder gut werden würde. Ein Junge, der Angst und Ungewissheit verspürte. Mitten in den Namenlosen Tagen.

Rahji lauschte Voltan, dem Mann an der Seite seiner besten und einzigen, wirklichen Freundin und erinnerte sich, dass es ihm einmal zwar nicht genauso, doch ähnlich ging. Damals, als sie es in einer anderen Stadt mit anderen Mächten und einem anderen Vampir zu tun hatten und war froh, dass Inspektor Weibel Sprengler nicht in der Lage war einen Harmoniesegen zu sprechen und all das Vertrauen, das man ihm schenkte, auf diese Weise zu verspielen. Er nahm sich die Zeit, die der Möchtegern-Säbeltänzer brauchte, hörte sich auch das Klagen über die Namenlosen Tagen des Vorjahres an, über Rivera, seine Mutter und nun das. Zudem machte er die Situation mit einem Ausborgen des Inspektorenmantels sowie einem Schnupftuch deutlich angenehmer.

Ein Königreich für ein Schnupftuch.

Namenlose Nacht 1 (Kalas) (5NT 1013)

In seiner Kindheit auf den Straßen des Südquartiers waren die fünf Namenlosen Tage zwischen den Jahren eine Zeit voller Furcht und Schrecken ohne Unterlass gewesen. Er hatte sie in der Regel hungernd zusammengekauert mit anderen Straßenkindern verbracht. Seit Kalas seiner Heimatstadt als Gardist diente, war es seine Pflicht diesen Schrecken direkter entgegen zu treten und während dieser götterverlassenen Tage die Straßen zu patrouillieren. Doch niemals hätte er es für möglich gehalten sich am Morgen des 2ten NL in einer anzüglichen Aufmachung -angelehnt an das Garether Wappentier- vor der Bardo-Therme wiederzufinden, nachdem er dort die Nacht auf einer Orgie zugebracht hatte. „Veranstaltung“ wäre vermutlich eine bessere Wortwahl für den Bericht, den Großinquisitor Nemrod jetzt von ihm erwartete. Zumindest hielt er es für unklug eine der höchsten Autoritäten der Praios-Kirche unnötig daran zu erinnern, dass Kalas aus freien Stücken und ohne offiziellen Auftrag einer Eskalation von Dekadenz und Frevel beigewohnt hatte. Doch auch umgeben von Sonnenlegionären und Gardisten, die nun die vergangene Nacht aufarbeiteten, überkam den Mann in anrüchiger Fuchsverkleidung keine Reue. Er war einem verzweifelten Bürger beigestanden, der seine vermisste Tochter wiederfinden wollte und dessen Natur es noch weit mehr widersprach dieser Veranstaltung beizuwohnen als Kalas von sich behaupten konnte.

Zusammen mit Travian Korninger, Vater der vermissten Selinde Korninger, Neferu Banokborn, ebenfalls Korporal der Stadtgarde, und Rychard Lowanger-Greiber, der sich vor kurzem unerwarteterweise als Oberst der Armee herausgestellt hatte, hatte Kalas die Orgie infiltriert. Die vergleichsweise harmlosen sexuellen Eskapaden hatte er noch mit Neugier beobachtet, doch die zunehmend enthemmten Perversionen, die die Besucher der … Veranstaltung auslebten, eröffneten ihm Abgründe der menschlichen Natur, die ihn noch eine Weile verfolgen würden. Doch er und seine Begleiter waren darauf bedacht gewesen keinen Aufruhr zu verursachen bis die Sicherheit Fräulein Korningers gewährleistet war. Doch die Grenze des Erduldbaren war erreicht, als sie den Gastgeber der Veranstaltung, den sie bereits als Priester des Namenlosen identifiziert hatten, bei der Schändung einer jungen Frau ertappten. Mit wenig Finesse aber großer Entschlossenheit war er eingeschritten. Zunächst gelang es Zubaran -so hieß der Frevler- Kalas durch ungöttliches Wirken von seinem Vorhaben abzubringen. Doch nachdem seine Kameraden ihn vom Einfluss des Namenlosen befreit hatten, schlugen sie gemeinsam mit umso größerer Härte zurück, sodass sich Zubaran umgeben von den Leichen seiner Handlanger in den Ketten wiederfand, die ihm zuvor sein Opfer ausgeliefert hatten. Die junge Frau, Ditti, war verständlicherweise zutiefst verstört und lieferte dennoch den entscheidenden Hinweis auf den Verbleib Fräulein Korningers: ein Wasserturm nahe der Therme war ihr Kerker gewesen ehe sie in die Fänge Zubarans übergeben worden war.

Doch inmitten all der Dunkelheit gab es auch Lichtblicke zu entdecken. So auch den Vorsteher des Tempels der Rahja in Perricum. Kalas wusste nicht, ob er die Veranstaltung in der Hoffnung aufgesucht hatte fernab der Heimat in diesen schwierigen Tagen ein rahjagefälliges Lustfest vorzufinden, ob er inmitten der vielen fragwürdigen Praktiken selbst in ermittelnder Funktion zugegen war oder ob er andere Beweggründe hatte. Er wusste nur, dass der Elf jegliches anderweitige Vorhaben aufgegeben hatte als er von dem Verbrechen an Ditti erfuhr. Kalas empfand im Angesicht seiner eigenen Hilflosigkeit großen Respekt für die Bereitschaft und Fähigkeit Ditti, der unvorstellbarer Schaden angetan worden war, ein offenes Ohr und trostvolle Worte zu schenken. Auch Levaska hatte sich als positive Bekanntschaft erwiesen, auch wenn sie sich wie Neferu als Hexe entpuppt hatte. Sie hatte die Veranstaltung auf der Jagd nach einem Vampir infiltriert, dem inzwischen auch Neferu auf den Fersen war. Als er Levaska nach deren Kampf mit dem enttarnten Vampir begegnete und ihr in einem Anflug deplatziert anmutender Etikette die Hand bot, hatte er weder wissen können, dass sie beide sich Stunden später im verwaisten Park der Therme dem Liebesspiel hingeben würden, noch dass er sie jetzt bereits vermissen würde. Vage gehofft hatte er es vielleicht. Nicht nur war sie atemberaubend schön und dem offiziellen Anlass entsprechend nur in einen Hauch von Nichts gekleidet, sondern trug sowohl ihre Nacktheit als auch ihre Fähigkeiten mit einer Selbstsicherheit, die Kalas tief beeindruckte. Und offenbar hatte auch er einen guten Eindruck erweckt, war es doch sie, die in den Büschen den ersten Schritt getan und die Führung bei allen weiteren übernommen hatte… Sie hatte Kalas zugesichert, dass sie ihn wiederfinden würde. Doch ihm war in der vergangenen Nacht ein nie dagewesener Einblick in das wechselhafte, unberechenbare und ihm bisher nur aus Ammenmärchen bekannten Wesen der Hexen gewährt worden. Er konnte sich also nicht sicher sein, dass er sie wiedersehen würde und vorerst war es auch besser, dass sie nicht bei ihm war. Zwischen dem Großinquisitor, der Sonnenlegion und seinen Kameraden der Stadtgarde kam doch eine gehörige Menge an Leuten zusammen, die sie für ihre hexerische Natur dem Feuer übergeben würden. Folglich sollte er sie auch aus dem Bericht heraushalten. Neferu schien dagegen geübter darin zu sein ihre Wurzeln zu verbergen und war zur medizinischen Versorgung abtransportiert worden. Kalas konnte sich nicht erklären was sie bewegt hatte den Vampir noch einmal zu konfrontieren ehe Verstärkung aus der Stadt des Lichts vor Ort gewesen war. Doch er konnte nicht leugnen, dass sie bereits davor unter selbstlosem Einsatz von Leib und Leben um das Schicksal Fräulein Korningers und die Aufspürung dunklen Gezüchts bemüht war. Bei Rychard war sich Kalas bisweilen nicht sicher gewesen, ob er sich auf der Veranstaltung nicht in unangemessenem Maß wohl fühlte, beteiligte er sich doch recht freizügig am allgemeinen Treiben. Doch mit zunehmendem Ernst der Lage war auch auf ihn Verlass gewesen.

Unberechenbar war auch manch anderes gewesen, mit dem er es in der vergangenen Nacht zu tun gehabt hatte. Während Neferu im Alleingang Fräulein Korninger und zwei weitere Frauen aus dem Wasserturm befreite, hatten Rychard und Kalas einem magisch untermalten Schauspiel in eine der Grotten der Therme beigewohnt, wo Herr Korninger mit einer anonymen Informantin verabredet gewesen war, die sich als Bedienstete der Veranstaltung entpuppte. Sie konnte noch die Namen der Hintermänner des Menschenhändlerrings liefern. Im Austausch gegen Gold. Kalas konnte es ihr inmitten all der Verschwendungssucht nicht so recht verdenken, etwas Eigennutz zu praktizieren. Auch wenn es nicht ausschlaggebend für sein Engagement war, war auch ihm Bezahlung versprochen worden. Was sie alle nicht wussten war, dass das Schauspiel nur der Deckmantel für ein ausgefeiltes magisches Ritual gewesen war, um ihnen Lebensenergie zu entziehen. Sie waren stetig gealtert, während sie im Nachgang die Stadt des Lichts aufsuchten, um Hilfe zu erbitten. Doch der Großinquisitor und die ihm unterstellten Sonnenlegionäre konnten durch ihr schnelles und beeindruckend effizientes Eingreifen zumindest Rychards und Kalas‘ Leben retten und ihnen die meisten ihrer Lebensjahre zurückgeben. Doch für viele kam die Hilfe zu spät. Unter anderem dem traviatreuen Herrn Korninger, dem die Teilnahme an der Veranstaltung ohnehin schon einiges abverlangt hatte, kostete sie dann in dieser grausamen Wendung auch noch das Leben. Ein Versagen, mit dem auch Kalas würde leben müssen.

Auf den Treppen der Therme war ihm der Morgen nach der fordernden Nacht beinahe vorgekommen, als wären die Namenlosen Tage bereits überwunden. Die Kutschenfahrt durch die düsteren, verlassenen Straßen Gareths riefen ihm nun aber die bedrückenden Tage ins Gedächtnis, die noch vor ihm lagen. Doch für Kalas schienen sie etwas von ihrem mysteriösen Schrecken verloren zu haben. Er war tapfer in die Dunkelheit getreten und hatte konfrontiert, was dort auf ihn lauerte. Später würde er erfahren, dass ihm und seinen Kameraden Neferu und Rychard für ihren Einsatz die Kaiser-Rauls-Schwerter in Bronze verliehen werden sollten. Kalas war sich der damit verbundenen Ehre gewahr, doch empfand er die bemerkenswerte Erkenntnis, dass jeder noch so unvorstellbare Schrecken bezwungen werden konnte, wenn man nur die Kraft dafür aufbrachte, als weit wertvolleren Gewinn dieser Namenlosen Nacht.

Gareth 24 (Neferu) (PER 1013)

14. Peraine 20 Hal
Neferu strich ihm die Haare aus der Stirn. Dunkelblond oder hellbraun, wie Honig, wenn die Sonne sie erleuchtete. Ihre Hand glitt langsamer und länger durch die Strähnen, als es notwendig gewesen wäre. Sie kühlte Voltans Kopf mit einem feuchten Tuch, wischte ihm den Schweiß fort. Sie hatte ernsthafte Sorge um ihn, allerdings jetzt, wo sie bei ihm war, weniger als zuvor.

Die letzten Schritte vor seiner Tür hatte sie ein quälender Zwang schneller werden lassen. Sie hatte den Gedanken nicht ertragen, dass Dere diesen Mann verlor. Dass Gareth ihn verlor.
In unregelmäßigen Abständen erwachte er. Manchmal war er ansprechbar, dann wieder unruhig-fiebrig.
Mal erkannte er sie, dann fragte er wieder, wer da sei.

Sie verhielt sich so still, wie es ihre Selbstbeherrschung zuließ, erwärmte einen Stein für seine kalten Füße, kochte einen Tee, dessen Blätter sie vorsorglich mitgebracht hatte.
Und ironischerweise kam sie in diesem kleinen, schlicht eingerichteten Kasernenzimmerchen so zur Ruhe, wie schon seit Wochen nicht. Sie war ihm aus dem Weg gegangen, um diesem drängenden Gefühl, dass sie in ihrer Hexennatur nur zu gut kannte, keine Nahrung zu geben.
Aber sie hatte verloren, nachdem er ihr in der Schnittengasse im abendlichen Frühlingswind begegnet war. Er hatte sich umgedreht, ebenso wie sie und ihre Blicke waren sich begegnet. Kein höfliches, verabschiedendes Lächeln, sondern ein kurzer, unsicher-sehnender Blick traf sich von beiden Seiten in der Mitte, ehe sie sich hastig voneinander entfernten, jeder seinen eigenen Pflichten nachgehend.

Und jetzt saß sie hier, in der winzigen Offizierskammer, den Rücken an sein Bett gelehnt und las in dem neusten Schundroman von Autor Rosenkron.
Zuerst noch unruhig, schlief er weit nach Mitternacht einen tiefen Schlaf.
Sie zog sich auf den Stuhl zurück, den sie mit ihrem Umhang polsterte.
Was quälte diesen Mann? Warum zog er sich jeder Freundlichkeit, die über Höflichkeit hinausging so bestimmt zurück? Er ließ niemanden an sich heran. Wen hatte er verloren? Seine Schwester oder vielleicht.. eine Ehefrau?

Sie betrachtete im Kerzenlicht sein fieberfeuchtes Gesicht. Voltan war schon äußerlich zu ansehnlich, um so allein zu sein. Aber seine wohle optische Erscheinung war nicht gewesen, das sie beeindruckt und fasziniert hatte. Neferu drückte die Lippen sachte aufeinander.
Schöne Menschen gab es überall, zu Hauf. Nur leider verhielt sich ihr Inneres nicht immer gesund proportional zu ihrer hübschen Erscheinung. Bei Sprengler schien das anders, vielleicht lag es daran, dass er seinen eigenen Worten nach, und dem Spitznamen, den Torfstecher für ihn hatte, ein pummeliges Kind gewesen war. Voltans Geist schien ihr klar und gerecht, aber einsam. Er urteilte nicht vorschnell und gleichzeitig trieb der Aberglaube ihm die Furcht in die Knochen.

Ihre schlechte Laune hatte er mit Pilzbrot zu verbessern gesucht. Und auch als sie mitten in der Nacht zu ihm gekommen war, hatte er ihr voll Ruhe und Aufmerksamkeit im Schein der Kaminglut zugehört. Gut, es war um einen Paktierer gegangen, aber das hatte er nicht vom ersten Augenblick an gewusst. Er hatte ihr den nassen Umhang abgenommen, sie ans Feuer gesetzt und sie mit Wein und Brot verköstigt. Seine Gastfreundschaft und Geduld passte zu dem, was alte Nachbarn über eine jüngere Version gesagt hatten: „Ein so höflicher Junge!“
Torfstecher.., schnellte es durch ihre Gedanken, er kannte Sprengler von früher.. Er konnte vielleicht mehr sagen, über diese verschwundene Schwester und über ihn.
Zwar war ihr der Gedanke an den Nachtschatten unangenehm, hatte es doch erst wenige Wochen zuvor diesen beinahe-Unfall beim abendlichen Gezeche gegeben, aber was sollte es. Phexdan hatte Recht: Es war nichts, das sich nicht schnell aus der Welt schaffen ließ. Und sie musste wissen, ob der Vikar ein Quell neuer Erkenntnisse sein konnte.

15. Peraine 20 Hal
Ein steinerner, kurzer Schlaf hatte sie übermannt, ehe sie leise ihren Rucksack und den Umhang nahm und sich hinausstahl.
Hinaus ins erwachende Gareth. Der frische Wind vertrieb den Geruch von Krankheit, der ihr in der Nase lag.

Überall Bewegung. Wie hatte ihr der Geist Calamans während der Karmalqueste im menschenleeren Gareth vermittelt: Wir sind nichts ohne die Menschen, das Leben, den Trubel. Keine Herausforderungen, keine Interaktion, niemand, der einen anerkennen kann.
Sie bewegte sich durch den noch dürftigen, morgendlichen Strom von Leben. Auch wenn ihre Gedanken sich um den kranken Weibel rankten, gelangte sie wie von einem unsichtbaren Südweiser bewegt, zu Ahlemeyers alter Sattlerei.

Neferu weckte Phexdan vorsichtig, drückte ihm einen freundschaftlich-nassen Kuss auf die stachelige Wange, ehe sie ihm vom kranken Wachoffizier erzählte.
Der Halbmaraskaner war nicht glücklich darüber, sagte aber nichts gegen ihre Entscheidung, sich die letzte Nacht um ihn gekümmert zu haben.

Der Tag an der Weststadtmauer im Dienste der Spießbürger verging wie in einem Traum. Neferu war gedankenvoll, nicht bei der Sache. Wie durch einen Schleier ließ sie die Pflicht passieren, handelte wie ein Gerät.
Sie hasste und genoss ihren Zustand gleichermaßen. Sie kannte ihn, denn sie war und blieb ein Wesen des Gefühls, ganz gleich, ob sie in die graumagische Gilde eintreten oder einen Ratsposten in der Stadt erkämpfen würde. Sie hatte sich unglücklicherweise verliebt. Nicht das erste Mal. Es tat weh und zeitgleich war es erhebend und süß, wenn sie wenige Augenblicke in der Woche erlebte in denen es sich anfühlte, als würden diese zarten Bande von der anderen Seite erwidert werden.
Er hat sich umgesehen…
Neferu hatte sich vor Monaten damit abgefunden, dass traviaische Tugend nichts war, das ihr ins Blut gelegt worden war: Ein Geschöpf wie sie lebte Emotion und war geprägt von Phasen wankelmütigen Gefühlschaos‘.
Sie würde niemals etwas daran ändern können, auch wenn sie in unregelmäßigen Abständen ebenso daran litt, ihre Liebsten zu verletzen. So wie jetzt Phexdan. Sie liebte ihn mehr als jeden anderen Menschen und war sich sicher, dass sein Tod ihr irgendwann den Rest Verstand rauben würde (und sie meinte es nicht literarisch). Trotzdem hatte Voltan Sprenglers Ambivalenz ihren Geist verwirrt und eingenommen. Sie erinnerte sich an seine analytisch-scharfen Blicke mit denen er die Menschen am Tor geprüft hatte, wie ein Dieb, der seine Beute ermittelte und an den geheimnisvollen Anhänger, der ihn letztendlich als Inspektor der Criminal Cammer ausgewiesen hatte und ebenso an das von ihm geknackte Schloss ihres Grundstücks.
Er hatte durch all das mehr geöffnet als nur das Tor zu ihrem Garten.
Herb wehte eine Böe und verpasste ihr eine fröstelige Gänsehaut.

Am Rand ihrer Wahrnehmung wurde ihr bewusst, dass ihr heutiger Dienst zu Ende und sie auf dem Weg zur CriminalCammer war, um einen der Inspektoren schwer krank zu melden.
Sie war nicht in der Stimmung für Erledigungen. Im Grunde hatte es den Anschein, als sei ein stumpfer, lähmender Nebel über sie gekommen, kaum dass sie Voltans Krankenzimmer verlassen hatte.
Es hatte sie wirklich hart und unerwartet erwischt.
So wie sie hoffte, dass Sprengler sich bald von seinem Fieber erholte, so erhoffte ein Teil von ihr sehnsüchtig ihre eigene Erlösung, in welche Richtung die am Ende auch immer gehen würde.
Sie wanderte noch bis nach Sonnenuntergang durch Gareths Straßen. Und je mehr sie über sich selbst nachdachte, desto nüchterner und resignierter wurde sie. Es war nicht gerecht.
Nichts was ihr wiederfuhr empfand sie als Gerechtigkeit im größeren Sinne. Überall stieß sie auf schnelles Urteilen, Misstrauen und sogar offenen Hass. Hatte sie sich nicht ihr ganzes Leben bemüht, sich einzufügen, ihren göttergegebenen Platz zu finden? Pfeilschnell schossen die inneren Bilder von einem Extrem zum nächsten. Die Gedanken vom Ausbrennen ihrer Magie verschafften ihr keine Erleichterung, sondern einen trotzigen Zorn gegenüber der Menschen, die sie nicht akzeptieren konnten, wie Tsa sie auf diese Welt gelassen hatte, folgten solchen, es zu tun wie sonst auch: Einfach die Gegend zu verlassen. Ein Weiterziehen hatte ihr immer kurze Linderung verschafft. Es half mit Dingen abzuschließen oder sie wenigstens in eine tief vergrabene Kiste zu sperren. Gedanklich natürlich.

Um nicht als „Dunkles Gelichter“ zu gelten, entzündete sie in der aufkommenden Dunkelheit träge ihre Dienstlaterne.
Wegrennen, schon wieder? Fragte sie sich selbst und fand keine Antwort.
Wenn die Praioten meine Gedanken kennen würden… verfasste sie innerlich mit Unwohlsein. Es war nicht die Vorstellung, wie sie dann auf dem nächsten Scheiterhaufen lichterloh in Rauch aufgehen würde, vielmehr die Tatsache selbst, dass sie Gedanken hatte, die sie niemandem anvertrauen konnte, da sie sie selbst immer wieder zu der Entscheidung veranlassten, den Gefühlen eben nicht freien Lauf zu lassen. Sich dem entgegen zu stellen, was sie von Lucinda und auch Luzelin gelernt hatte. Die Frauen hatten sie gelehrt, dass jede Emotion von der Erdmutter herrührte und gelebt werden musste. Dass man sich ihr hingeben musste, im Großen wie auch im Kleinen.
Aber das konnte Neferu nicht. Sie wollte es nicht. Denn manche Gefühle erschienen ihr in Situationen, in denen sie aufgewühlt war, irrsinnig. Und sehr, sehr gefährlich.
Wenn sie an Tagen wie diesen litt, sah sie Gareth brennen. Sie sah ihre eigene Rache aus Feuer, Unheil und Zerstörung. Sie spürte diese Wut aufkeimen, die herrührte aus der Zurückweisung und dem Nichtverstehen aller.
Was auch immer in ihr steckte, es glich einem unberechenbaren Wesen, welches sich selbst als das Opfer sah und das durfte nicht heraus.
Vielleicht hatte sie es selbst erschaffen, indem sie von vornherein, bereits als Kind ihre sumugegebenen Emotionen heruntergeschluckt und versteckt hatte. Das war nicht unwahrscheinlich. Sie hatte sich selbst zu einem unter Druck stehenden Kessel gemacht, da sie nie gewagt hatte, den Deckel zu heben.

Aber das Kind war in den Brunnen gefallen, wie schon der Graumagier Salix so treffend bemerkt hatte.
Es half nur eines: Sich ganz ihrem Herren hinzugeben, listenreich, mit kühlem Kopf und voller Geheimnisse. Und einem Schmunzeln. Und wenn sie auch sonst nichts mit Bestimmtheit sagen konnte, dann doch, dass sie ihr Leben darauf verwettete, dass es Phex allein war, der ihr die Beherrschung lieh, dem Guten, dem Verstand in ihr stets Vorrang zu verschaffen.
Sie spürte trotz des Garether Windes die Wärme in sich aufsteigen, hörte im Kopf das samtige Lachen und mit einem Male fühlte sie sich geboren und auf dem richtigen Weg.
Wen auch immer sie liebte und in ihrem langen Leben lieben würde, Phex würde über ihnen allen thronen, als Stern ihres Innersten.
Die Erkenntnis gab ihr Trost.
Sie war müde. Nicht nur am heutigen Tag. Sie war es leid, wie schnell sich ihr Kopf verdrehte, wie schnell die Faszination eines ungewöhnlichen Charakters sie schonungslos packte.
Männer mussten sich keine Mühe geben.
Niemand hatte sie je erobert.
Sie selbst war diejenige, die dem Reiz erlegen war, sich in ihre Herzen zu stehlen. Nicht aus spielerischer Bosheit, sondern aus Neugier, Interesse und Verlangen. Ob es nun Garions verstockte Unschuld, Calfangs Verbissenheit, Zerwas‘ animalische Unberechenbarkeit oder Phexdans verspieltes Herumtreiben gewesen war: Sie alle hatten gemein, dass sie in ihr ins Auge gestochen waren.
Sie hatte sie absichtlich gereizt und mit aller Leidenschaft an ihrer Seite gewollt– nacheinander versteht sich.
Bei Garion war es hastig schnell gegangen, fast beängstigend schnell. Calfang und Zerwas waren härtere Brocken gewesen. Gelohnt hatte es sich nur bei Phexdan.

Wie eine Mirhamionette lief sie an den Fäden ihrer Hirngespinste. Ahlemeyers alte Sattlerei tauchte in der Dunkelheit auf. Immer wieder peitschte der beginnende Sturm Tropfen in ihr Gesicht.
Egal, wie ihr Leben bisher verlaufen war, sie war nicht zufrieden.
Immer nagte es an ihrer Seele. Ob es ein unstillbarer hexischer Wesenszug war oder schlicht die Tatsache, dass es ihr an einem Menschen fehlte, der ihr genau das gab, was sie brauchte und für den sie dasselbe tun konnte, vermochte sie nicht zu sagen.
Sie wollte nicht verbittern. Nicht schon jetzt, bei all der Zeit, die ihr blieb, hatte sie noch genug schlechte Jahrzehnte vor sich, davon war sie überzeugt. Sie wollte durchhalten, starrköpfig und geistesstark.
Ihr klarer werdender Blick offenbarte ihr Ahlemeyers Pension. Es brannte Licht, die Fenster vermittelten Wärme.
Augenblicke vergingen, in denen sie sich verhielt wie eine von Yol-Anas Steinstatuen.
Gehen? Bleiben? Einfach verschwinden?
Ein Ende mit Schrecken?
Ein tiefer Atemzug dehnte ihre Brust, als sie sich Phexdans süßes Lächeln vorstellte.
Nein. Nicht mehr. Nicht weglaufen.
Am Ende sah sie ihn nie wieder und das würde sie für immer bereuen. Für immer. Und das war lang.
Aber jetzt gerade konnte sie seine Anschmiegsamkeit nicht ertragen. Nicht ihretwillen, nicht seinetwillen. Sie verdiente seine Zuneigung nicht. Nicht jetzt.
Sich abwendend hielt sie schneller auf das Puniner Tor, den Weg ins Südquartier zu. Sie würde durch die Mannluke kommen, mit Hilfe des Ringes der Wache.
Der Tempel der Schatten war der einzige Ort, der sich wirklich nach Geborgenheit und Verständnis anfühlte. Sie konnte nicht anders und sprach die lautlosen Worte des Göttlichen Zeichens. Bitte, zeig mir, dass du bei mir bist, mein Herr, mein Liebster, mein Gott… Und sie erflehte heiß sinnend sein Lachen. Und Phex ließ es zu, gab ihr das Gefühl, beschützt zu sein und schmunzelte leise lachend in sie hinein. Doch auch Phex war nicht Satinav. Phex konnte nicht in die Zukunft sehen.

16. Peraine 20 Hal
Als Neferu die Augen öffnete, schmerzte es. Ein Lid war geschwollen und pochte unsäglich.
Wo war sie? Was war passiert? Die niedrige Morgensonne drang durch ein schäbiges, glasloses Fenster und flutete den kärglichen, aber sauberen Raum, den sie nicht kannte.
Ihre Fingerspitzen ertasteten das Bettgestell, auf dem sie lag. Die Wolldecke mit den gestopften Löchern kratzte auf ihrer nackten Haut.
Nackte Haut…
Sie fror.
Neferu versuchte sich zu erinnern, aber sie fand keinen Anhaltspunkt. Sie hatte Phexens Lachen gehört… Und dann? Wie war es weitergegangen?
Verwirrt versuchte sie sich aufzurichten. Ihr Körper fühlte sich steif an, sie fühlte Blessuren, als sie sich auf die Ellenbogen stützte.
Schritte kamen von links, gingen über Holz.
„Wie geht es Euch, Fräulein?“ eine verhärmte junge Frau lächelte matt und sah sie an.
War das nicht Tormans Mutter? Wie um alles in Dere…
Sie hatte zum Phextempel gewollt – mehr wollte ihre Erinnerung nicht preisgeben.
„Wie komme ich hier her..?“ Ihre Stimme klang überraschend funktional, wenn auch etwas heiser. Immerhin war sie nicht halbtot.
Die Miene der Mutter des kleinen Informanten wurde mitleidend.
„Die Jungs haben Euch schreien gehört und..“
„Schreien?“ Ungläubig starrte Nef sie aus einem großen und einem malträtierten Auge an. Sie stellte sich vor wie sie auf dem dreckigen Boden in Eschenrod lag und schrie. Es war nur ein konstruierter Gedanke, die Erinnerung an die Ereignisse blieb fern.
Behutsam und langsam ergänzte die Eschenroderin:
„Ihr seid hübsch, Fräulein – und habt diesen schönen Mantel getragen, sagt Fricken..“
Nef wurde übel. Eschenrod…
Genau, sie war nach Eschenrod gegangen, denn in einem Anflug von Euphorie hatte sie die kleine Hex (so der Name des Mädchens) und die zwei Jungen, die Anzeichen zeigten, sich dem Listenreichen dienlich erweisen zu können, mit in den Schattentempel nehmen wollen. Das Waisenhaus war ihr Ziel gewesen.
Sie hatte nicht an die Gefahren gedacht. Eschenrod war ihr immer vertraut gewesen. Sie hatte eine lange Zeit hier gelebt. Sie hatte sich sicher gefühlt, überlegen aller Gefahren der Straße, selbstbewusst gegenüber den Lungerern und Zerstörten. Und insgeheim musste sie sich eingestehen, dass sie unvorsichtig geworden war, ob all der Überheblichkeit, dem Gefühl, der Stadtteil würde irgendwie ihr gehören.
Und jetzt… Sie ahnte Schlimmes.
Ihre Finger schoben sich unter die Decke…
„Sie sind zu sechst gewesen, Fräulein.“ fuhr Frau Torman – so nannte Nef sie in Gedanken (denn sie war die Mutter von Torman, einem ihrer kleinen Spitzel) – fort.
„Sie haben euch den Umhang geklaut. Und was Ihr am Gürtel hattet. Und..“
Neferus Finger erreichten ihren Unterleib. Die kleinste Berührung dort trieb ihr Tränen in die Augen, als sie die Blutergüsse in den tieferen Regionen ertastete.
„Das… ist nur einer von Ihnen gewesen. Ihr hattet noch Glück, wahrscheinlich hätten die Euch umgebracht, aber die Jungs waren noch draußen und..“
Die Phexgeweihte erlag der Übelkeit und übergab sich.

19. Peraine 20 Hal
Seit drei Nächten war sie nun im Perainetempel und verschlief den halben Tag. Die Erinnerung an das Geschehene war nicht zurückgekehrt und würde es auch nie wieder. Salpico hatte seinen Zeigefinger auf ihre Stirn gelegt und die Bilder der Gewalttat mit Magie herausgerissen. Er hatte sie sich selbst einverleibt. Auch Phexdan hatte er sie gezeigt.
Nef befand sich in der ungewöhnlich seltsamen Situation, die einzige des Dreiergespanns zu sein, die sich nur aus Erzählung an die Schändung ihres eigenen Körpers erinnerte.
In den Händen von Dimione und Rohalides wollte sie genesen. Eine seltsam monotone Ruhe lag in ihr.
„Das ist der Schock.“ Hatte Dimione noch am ersten Tag erklärt.
Nef fühlte sich wie vor einigen Monaten, als Zerwas sie zur Ader gelassen hatte. Blass, kränklich und blutarm.
Die zwei Geweihten der lindernden Göttin hatten die Wunden bluten lassen. Erste Anzeichen einer schlimmeren Krankheit erforderten solche Maßnahmen.
Absurd. Hatte sie gedacht, als sie in einem warmen Bad aus Kräutern, Wasser und ihrem eigenen Blut gesessen hatte. Die bleierne Gefühllosigkeit irritierte sie.
Warum rastete sie nicht aus?
Phexdan und Salpico hatten wesentlich schwerer an der ganzen Sache zu tragen, hatten sie sich doch mit der Erinnerung belastet, die ihr erspart geblieben war.
Jeder der beiden ging auf seine Weise damit um. Phexdan ungewöhnlich still und sich abwendend, Salpico in sprühender Wut.
Sie konnte in dem Moment nur diese beiden um sich haben. Sie kannte sie am längsten, am Besten und auch wenn sie gute Freunde in Gareth gefunden hatte, wollte sie sich in diesen Tagen an das halten, was sie schon vorher gekannt hatte. Bevor sie zurück in die Hauptstadt gereist war.
So bat sie die Perainegeweihten, niemanden herein zu lassen, außer den tulamidischen Magier und den maraskanischen Wuschelkopf. Trotzdem hatte sie am Puniner Tor der blonden Wachfrau Helchtruta beim Durchkommen Bescheid gegeben, dass sie angegriffen worden war. Sprengler sollte wenigstens wissen, was los war.
„Wir müssen sie finden. Und wir müssen sie strafen.“ Hatte ihr Urteil über die sechs Männer gegenüber ihrer zwei engsten Freunde gelautet.
Selbst Phexdan stimmte diesem Maß an Selbstjustiz mit bitterer Miene zu.
„Aber lass es mich auf meine Art machen..“ hatte Salpico düster geschnarrt und unüberlicherweise hatte Neferu dem ihre Zustimmung gegeben.
„Auf deine Weise, Salpico.“

20. Peraine 20 Hal
Viel zu früh erwachte Neferu. Ihr Herz klopfte unregelmäßig und laut. Ihr war, als würde ihr Körper mit jedem Schlag in seiner Gesamtheit beben.
Ein Verfolgungstraum. Und mit diesem Traum kam der blanke Zorn. Sie ließ sich nicht in die Ecke drängen. Nicht verscheuchen noch schänden. Fremde, schäbige Männer hatten gewagt, sich ihrer mit roher Gewalt zu bemächtigen.
Sie wollte sie alle tot sehen.

Noch vor Mittag durfte sie gehen. Eigentlich hätte sie heute mit der Torman-Familie zu Mittagessen wollen, um einen Kontakt zur Alten Gilde herzustellen. Eigentlich. Statt dessen kleidete sie sich fast gänzlich in Schwarz, wie es selten war und Trug ihre rote Tuchrüstung dazu.
Sie wollte nicht noch einmal schutzlos in Eschenrod herumspazieren.
Gemeinsam mit Phexdan und Salpico, die – wie sie nebenbei bemerkte – beide zufälligerweise in Schwarz und Blau gekleidet waren, hielt sie auf das Puniner Tor zu, in der mittäglichen Perainesonne, die alles, jede Kontur, in klarer Deutlichkeit hervorhob und beleuchtete.
Sie wollte sich bedanken. Bei Tormans Eltern.
Und sie wollte sich nicht aufhalten lassen. Sie wollte stur tun, was sie heute ohnehin vorgehabt hatte. Sie wollte verbissen anknüpfen.
„Wo kommt ihr her und wo wollt ihr hin?“
„Wir sind aus dem Arena-Viertel und wir wollen nach Eschenrod, da wir gedenken dort in Kürze ein passables Bordell zu eröffnen. Wir haben vor zu diesem Zwecke eines der Häuser der Familie Bugenhoog aus der Weststadt abzukaufen.“ Ihre Antwort kam schnell und war nicht einmal gelogen.
Sie wurden durchgelassen.
Ihrer aller Finstermienen nach verwunderte es sie gar nicht, dass man das Grüppchen für eine Stichprobe auserwählt hatte. Phexdan und Salpico flankierten die Frau in ihrer Mitte und gemeinsam bogen sie in den Sonnenweg ein, die durch das Elendsviertel führende Ader.
Dutzende leere Augen beäugten sie missbilligend, ängstlich oder neugierig.
Die Wäscherin Hertwig Butterweck war bei der Arbeit und bekam von Neferu an diesem Tag keinen Kreutzer für eine Information, sondern nur ein knappes Nicken. Ein gutes Nicken. Ein Nicken bedeutete Verbundenheit, die locker oder fest sein mochte. Aber immerhin keine Abneigung.
Ihr Ziel war die Mietskaserne, in der Tormans Eltern lebten.

Die Mutter machte große Augen, als sie die fünf Dukaten bekam, die Neferu ihr in die Hand legte.
„Für meine Freunde will ich nur das Beste.“
Die Frau bedankte sich überschwellig und ihre Dankbarkeit nutzend, kam die Hexe zum Punkt.
„Und ich will Kontakt zur Alten Gilde.“

Als sie nach getaner Arbeit und ausgehandelter Abmachung wieder nach unten auf den Markt kam, schlug Salpico die Zeichnungen an, die Neferu von den sechs Männern gemacht hatte – immerhin die Gesichter hatte der Schwarzmagier sie sehen lassen.
Phexdan stellte sich auf einen Stuhl, während sich eine dreckige Menschentraube um ihn versammelte. Die Belohnung – Regenbogenstaub –war eine Verlockung für das Gesindel.
Huschenden Blickes bewegte sich Nef währenddessen über den Markt.
Sie wollte sich selbsttätig umsehen.
Und wider Erwarten war er da.
Nicht der Täter, der sie genommen hatte, einer von denen, die zu spät an der Reihe gewesen waren.
Er kauerte sich in den Schatten eines Hauses, maß seine Chance zu entkommen. Er hatte sie vielleicht noch nicht gesehen.
Sofort suchte sie Phexdans Augen. Sie gab ihm mit füchsischen Handzeichen zu verstehen. Die Nachricht wanderte weiter zu dem Magier. Und mit dessen Wut hatte niemand gerechnet.

Sie überwältigten ihn. Der Mann erhielt von ihr die Wahl: Den ungebremsten Zorn eines Dämonologen oder die Gerichtsbarkeit. Der Feigling entschied sich selbstverständlich für den zweiten der beiden Wege. So war er nur des Todes, wie er wohl vermutete.
Salpico und Phexdan hielten den Gefangenen, der aus vielen Körperöffnungen blutete, während Neferu sich am Puniner Tor bei Weibel Sprengler anmelden ließ. Sie warteten im Erdgeschoss des Wachturms, ehe der hochgewachsene Mann die Leiter hinabgestiegen kam.
Seine Verwunderung wich nach wenigen Augenblicken.

Neferu ließ den Gefangenen beschrieben, was er und seine Kumpanen getan hatten. Das Abpassen der Unvorsichtigen, das Vergewaltigen durch den Ersten, die Störung durch die Jungs und sogar die Absicht, sie anschließend zu beseitigen.
Aber das reichte ihr nicht.
„Zeig sie ihm! Zeig ihm die Erinnerung, Salpico! Ihr stimmt doch zu, es selber sehen zu wollen, Weibel?“
Voltan nickte. „Was muss er denn dafür-“
„Memorabia Falsifir.“ Unterbrach ihn die dunkle Stimme des tulamidischen Magiers.
Voltan Sprengler griff sich an den Kopf, seine grauen Augen weiteten sich.
„Macht, dass es aufhört!! Macht es weg!! Nehmt es fort!“
Salpico schnippte mit den Fingern und machte eine wegwischende Bewegung.
Soviel Macht in diesem Mann.. schlich es bewundernd durch Neferus Kopf. An diesen Tagen sah sie den Brabaker in einem anderen Licht. Die Hexe hatte die Oberhand in ihr. Und sie verlangte nach nichts als Rache.
„Macht ihn fertig für die Rabenstatt.“ Brach es außer Atem aus Sprengler hervor. Blass starrte er seine Gäste an.
„Weibel..?“ Die zwei anwesenden Wachen zögerten, „Meint Ihr nicht.. für das Gerichtsverfahren?“
Hastig nickte Voltan Sprengler.
„Für das Gerichtsverfahren. So ist es.“

22. Peraine 20 Hal
Gegen Mittag eilte Neferu bei Nieselregen durch Gareth. Der Weg war nur kurz, er führte sie von Ahlemeyers Unterkunft in der Schnittengasse zum Puniner Tor.
Sie brauchte dringend Rat. Einen verstandsbetonten Menschen, mit dem sie sich austauschen konnte. Sie musste reden, mit jemandem, der einen kühlen Kopf bewahren konnte oder von dem sie das wenigstens dachte! Zuerst Sprengler, dann Isenbrook und im Notfall auch Dexter Nemrod – so sah es ihr Plan vor.
Lamiadon war bei ihr gewesen. Auf Anraten Salpicos war der Elf gekommen und hatte einen Zauber gewirkt, der in der Lage war Sikaryan zu erspüren, die Lebenskraft, die einem Menschen und anderen lebendigen Wesen zuteilwurde, in der Sekunde, in der sie erschaffen wurden.
Und dieser harmlose Zauber hatte ihre Welt aus den Angeln gerissen.
Die Bastarde hatten sie geschwängert.
So unwahrscheinlich das auch gewesen war, so real war es jetzt.
Die Vergewaltigung hatte nicht nur ihren Körper geschunden und die Angst in ihr zum Vorschein gebracht, sie hatte auch deutlichere Spuren zurückgelassen. Male, die die Perainekirche nicht hatten heilen können. Ein Leben war in ihr erwacht und der Gedanke war so erdrückend, dass sie den Wunsch hatte, ihren Körper zu verlassen und in einem neuen und unbeschmutzen zu erwachen.
Der Weibel war zugegen.
Dieses Mal machte sie sich nicht den Spaß, sich an ihn heranzuschleichen. Sie wollte ihn nicht necken. Es schien ihr, als sah er die Panik und Abscheu in ihren Augen, er legte die Schreibfeder beiseite und stand von seinem Stuhl auf.
Er rückte ihn und einen weiteren an den Kamin der zugigen Wachstube.
„Setz dich.“ Bat er.
Sie setzte sich.
„Ich bin hier, weil ich jemanden brauche, der bodenständig ist und der mir einen guten Rat geben kann. Ich weiß, wir kennen uns nicht allzu lange, aber ich mag dich.“ Begann sie leise, ohne den Blick von seinen grauen Augen abzuwenden. Zwischen ihren Körpern lag Distanz auf zwei Ebenen. Die Stühle waren nicht sonderlich dicht aneinander geschoben. Diese weltliche Separation aber war verschwindend unwichtig neben dem zweiten Grund: Sie wollte ihren Körper für sich und er – vielleicht aus einer Höflichkeit, die ihn von Kindesbeinen an ausmachte heraus – schien es zu ahnen und ließ ihr Raum. Kein tröstendes Streicheln der Schulter, kein Rückenklopfen, nichts. Sie dankte es ihm zutiefst und ging auf in der körperlosen Verbindung ihrer Blicke.
„Es ist etwas passiert… Es ist fast schlimmer, als das, was in Eschenrod passierte, denn immerhin erinnere ich mich nicht mehr daran, dank Salpico. Lamiadon war bei mir. Er wirkte einen Zauber.“ Sie zitterte schwach und blickte ihn vielsagend an.
„Sie haben mir ein Kind gemacht. Und es wäre ein Tsafrevel, etwas dagegen zu unternehmen, oder nicht?“

Sie konnte nicht beschreiben, wie es passiert war, aber es war dem Inspektor gelungen, sie zu beruhigen. Kein oberflächliches Ruhigstellen, vielmehr eine innere Ruhe.
Vor Stunden hatte sie ihm mitgeteilt, wie es um ihren körperlichen Zustand bestellt war. Er war bestürzt gewesen, aber er hatte sie trotzdem gerettet.
Er hatte sie weder in den Arm genommen noch diverse Ratschläge erteilt.
All das hätte ihr nicht geholfen.
Stattdessen hatte er ihr Brot mit Pilzpastete gegeben und ihr zugesagt mit ihr in den Tsatempel zu gehen, um nachzufragen. Seine Präsenz nahm ihre Hemmung, diesen Gang zu gehen, denn sie musste ihn nicht alleine beschreiten.
Sprengler hatte sie für die paar Stunden in sein Leben aufgenommen und das hatte ihr wohlgetan. In eine Decke gewickelt lag sie vor dem Kamin, lachte leise über die Kiste, die er über die Bodenluke geschoben hatte und schmunzelte still über seine Reimgesänge mit denen er sich über die verhassten Akten ausließ. Sie wären danach quitt, sicherte er sich matt scherzend ab.
Und so hart der Boden der Wachstube auch sein mochte, ihr unruhiges Herz legte eine leichte, fast beschwingte Rast ein, verlangsamte, ließ sie tief atmen. Und sie schlief ein, begleitet vom sachten Kratzen von Feder auf Papier und dem Rascheln von Buchseiten.

23. Peraine 20 Hal
Schluchzend saß Neferu zusammengekauerte in ihrer Wohnung in Ahlemeyers Altstadthaus und nässte ihre Knie mit Tränen und Rotz.
Phexdan war die Nacht über weg gewesen, hatte sich volllaufen lassen. Und heute… hatte er Gareth und sie verlassen. Er hatte sein Zeug noch in der Nacht zusammengepackt und sich auf den Weg gemacht. Zwar hatte er sie gefragt, ob sie mit ihm kommen wollte, doch hatte er gewusst, dass sie nicht konnte. Zuviele unerledigte Aufgaben harrten in Gareth und hielten sie. Sie wollte nicht gehen, noch nicht. Doch der Maraskaner war am Ende. Er konnte nicht bleiben in dieser Stadt, die ihm in ihrer Größe und Grausamkeit alles abverlangt hatte.
Zwischen ihren Tränen und dem Gefühl allein gelassen worden zu sein, empfand sie Verständnis.
Trotzdem… Ohne Phexdan, ohne die Liebe ihres Lebens war sie dem schwarzen Loch ausgeliefert, das in ihr wartete. Zwar hatte sie Salpico, aber es dämmerte ihr, dass der Schwarzmagier das Schlechte ihres Wesens langfristig nährte, anstatt es mit Heiterkeit und Verständnis zu besänftigen.
Keinen Tag länger wollte sie in diesem Raum bleiben.
Während sie und Salpico ihre Zimmer räumten, herrschte tiefes Schweigen.
Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Und Nef spürte wie sich Kälte in ihr ausbreitete. Erst im Herzen und von da aus in die Zehen, Finger und jede Haarspitze.
Ihre Mimik wurde härter, der Schmerz nahm ab. Sie war wieder allein. Sie machte Phexdan keinen Vorwurf. Sie verstand ihn voll und ganz, war sie doch selbst oft genug vor Problemen davon gelaufen.
Als die Zimmer leer waren, das wenige Hab und Gut in einer Ecke stand, zog sie ihre besten Kleidungsstücke an, schnitt sich in den Fingern und verteilte das Blut auf ihren Wangen.
Satuarias Herrlichkeit.
Galant schob sie ihren Arm in den des Magiers.
„Gehen wir, Salpico. Wir werden ein Haus kaufen.“

Der Handel war gemacht, ihre Unterschrift getätigt. Die Bugenhoogs hatten nicht weiter gefeilscht, wie sie es erhofft hatte. Fünfhundert Dukaten hatten den Besitzer gewechselt und sie war jetzt die Besitzerin einer dreistöckigen Bruchbude in Eschenrod.
Während Salpico und sie das renovierungsbedürftige Gebäude besichtigten, trugen gut bezahlte Tagelöhner ihre Sachen hinein. Am Ende würde Salpico sie mit einem Zauber schützen. Niemand sollte je wieder Hand legen an die Dinge, die ihr gehörten.
Salpico konnte ihr das Versprechen abringen wenigstens die folgenden drei Tage noch in einer Herberge zu nächtigen in der auch das Fohlen Elster seinen Platz fand. Er mietete ein großes Doppelzimmer im „Schwert in Panzer“ und besorgte ihr Tollkirschensud.
Im Tsatempel (zu dem sie Sprengler am vorherigen Abend geleitet hatte) hatte sie erfahren, dass es nicht nur erlaubt, sondern sogar ratsam war, die Frucht einer Vergewaltigung zu beseitigen. Die Kinder, die daraus erwuchsen trugen nicht selten einen dämonischen Kern.
Sie schluckte den Sud. Zwei Stunden sollte es dauern, ehe er zu wirken begann.
Salpico war an ihrer Seite. Für seine Verhältnisse war er überraschend verständnisvoll.
Er nahm sie in den Arm und spendete ihr freundschaftlich Trost. Aber noch während er sie eng an sich gedrückt hielt, war ihr, als sei sie diejenige, die ihm den Halt gab, in der Welt zu bestehen und nicht anders herum.
Ihm war das Alleinsein ein solcher Graus, dass er sie brauchte.
Salpico war anschmiegsam. Wäre er ein Kater, er hätte geschnurrt, da war sie sich sicher.
Neferu sprach von ihrer Rache. Sie redete sich in Rage. Der Tod war nicht genug. Das Misshandeln durch einen Dämon – nicht genug. Sie spürte das schwarze Loch in sich größer werden, es verschluckte tsagefällige Farben und unauffälliges Grau.
Die Ereignisse hatten an ihrer Willenskraft geschabt, sie abgerieben, nach und nach.
Sie wollte die bezahlen lassen, die es gewagt hatten, sich an ihr zu vergreifen – und zwar in einem solchen Maße, dass es nie wieder jemand auch nur erwägen würde, die Hand gegen sie zu erheben! Sie sollten sie fürchten und in geflüsterter Hochachtung von ihr sprechen!
Ihre eigene Stimmlage schreckte sie auf. War das noch sie?
Salpicos pechfarbene Augen sahen sie besorgt an. Selbst er riet ihr ab, sah, was das Gefühl mit ihr tat.
„Ich muss nach draußen…“ Sie erhob sich hastig, zog sich an, verschloss die Fuchsfibel im roten Lodenstoff des Umhangs.
„Wir werden gehen.“ Salpico war zur Stelle, bereit ihr ein Freund zu sein. Doch sie wollte nicht nur um die Häuser streifen.
„Ich gehe allein.“
„Du wirst gehen.“ Gestand ihr Salpico schnarrend zu.

Sie wollte zu Voltan Sprengler. Abermals.
Der Wind hatte sie steifkalt geweht, als sie schnellschrittig durch die Kaserne in Nardesheim eilte, um dem zu begegnen, dessen Ruhe sie schon einmal zur Vernunft hatte  bringen können. Und es war nicht nur das – sie genoss jeden Augenblick, den sie teilten. Es war für sie jedes Mal schwer, zu gehen, wenn er zugegen war. Er zog sie an. Seine Worte waren klug und verständig.
Und er war ein Inspektor der CriminalCammer und sie eine Phexgeweihte, deren letzter Einbruch eine Woche her war.
Verphext. Verhext.
Voltan Sprengler gab ihr nicht das Gefühl, sie vor eine Herausforderung zu stellen. Da gab es nichts, was sie bei ihm durchdringen wollte. Natürlich war sie neugierig auf das Leben des Mannes. Eine gesunde Neugier, ein ehrliches Interesse. Aber ihr war nicht daran gelegen Langmut auf die Probe zu stellen oder Etikette zu brechen. Sie wollte seine Gesellschaft, ganz schlicht.
Sie klopfte. Dreimal rasch.
„Ist offen..“ Er klang müde, abgekämpft. Ein bisschen genervt sogar.
Andächtig langsam, als dringe sie in das Allerheiligste eines Tempels vor, öffnete sie die Tür.
Er saß auf einem Stuhl nahe dem Kamin und blätterte in einigen Akten, die auf seinem Schoß lagen.
Als er endlich aufsah, stand sie schon im Raum, schloss die Tür hinter sich.
Seine grauen Augen weiteten sich voll Überraschung.
„Du..!?“ mehr entkam seinen Lippen nicht, er erhob sich sofort, legte noch in derselben Bewegung die Pergamente auf den Tisch und schloss zu ihr auf.
Sie blickte ihm in dieses sprachlose Gesicht und die ambivalent vielsagenden Augen.
„Guten Abend, Voltan. Ich… wollte mit dir sprechen. Phexdan hat die Stadt verlassen und wir – Salpico und ich, haben unsere Zimmer geräumt.“
„Das habe ich gemerkt, ich bin da gewesen.“ Entgegnete er hastig.
„Wo seid ihr nun?“ fügte er eilig hinzu, schuf Distanz zwischen ihnen und schob einen zweiten Stuhl an den Kamin.
„Bitte setz dich!“
Sie fühlte sich durcheinander. Mehrere Male startete sie den Versuch zu formulieren, was ihr durch den Kopf schoss, doch ihre eigenen Gedanken unterbrachen sie ein ums andere Mal.
Immer wieder blickte sie ihm in die Augen, was sie ganz klassisch noch weiter aus der Bahn warf.
„Diese Ereignisse der letzten Zeit, sie hinterlassen Spuren. Ich fühle mich… geschädigt. Ich will ihnen wehtun, Voltan. Nicht nur Gewalt an sich, auch das, was sie…“
Plötzlich fiel ihr etwas ein. Das eingenommene Gift! Sie hatte es gänzlich vergessen.
Sie riss die Augen auf.
„Verflucht!“
Voltan starrte sie an: „Was ist los?!“
„Ich habe dieses Gift zu mir genommen und.. es wird bald wirken!“
„Gift?! Welches Gift? Wer hat es dir verabreicht!?“
„Salpico!“ Sie ahnte, dass dieses Gespräch in ein Missverständnis führen würde, wenn sie sich nicht konzentrierte.
„Er hat es mir besorgt, wegen…“ andeutend legt sie die Hand auf ihren Unterleib. „Ich hatte nur vergessen, dass ich es genommen habe! In etwa einem Stundenlauf wird es wirken!“
Sie biss die Kiefer aufeinander. Soetwas Dummes… Sie wollte nicht vor ihm bluten, heulen, stinken und leiden.
Das war nicht die Seite von sich, die sie diesem Mann so früh offenbaren wollte.
„Du kannst hier bleiben! Nimm das Bett, ich-“
„Nein, schon gut – ich werde in Kürze gehen.“ Sie bemühte sich um Gelassenheit. „Es ist nur so.. Ich habe heute dieses Haus in Eschenrod gekauft. Ich will dort hinziehen. Ich werde Eschenrod die Stirn bieten. Ich will mich wieder sicher fühlen…“

Sie schüttete ihm ihr Herz aus. Baute auf das Fundament des Vertrauens, das sie beide gelegt hatten. Sie erzählte ihm von ihren Gefühlen der Rache. Dem Gefühl der Angst. Sie gestand ihm, dass sie einen Zauber genutzt hatte, um von vornherein ein Feilschen zu unterbinden. Sie wollte ihm noch so vieles mehr von sich preisgeben, ohne eine Gegenleistung zu fordern oder nur zu erwarten.
Sie machte sich verletzbar. Und sie war sich darüber im Klaren. Aber es tat so furchtbar gut, diesem Mann zu offenbaren, wer sie war. Auch wenn er dann und wann mit Bestürzung reagierte. Nie wandte er die Augen ab. Und es beruhigte sie. Die Dunkelheit in ihr wurde kleiner.
Als die Schmerzen, die die Tollkirsche hervorrief nahezu unerträglich wurden, war sie bereits fast in der Herberge, geleitet von Voltan Sprengler.

Tobrien 1 (Cyruion) (5NT 1013)

Ein weiteres Mal blickte der Bergadler für einen Augenblick zurück, um sich ausbleibender Gefahr durch Blaufalken und ähnliche Feinde zu vergewissern. Das Federkleid des Tiers erschien selbst im Licht der aufgehenden Sonne eher matt denn glänzend und wenn ein genauerer Blick erhascht werden konnte, schienen die Flügel unter der Anstrengung einer mehrstündigen Etappe gen Warunk zu zittern. Obgleich keine Schweißperlen über die gefiederte Stirn liefen, das Tier segelte vorrangig und versuchte weitere Flügelschläge weitestgehend zu vermeiden.

Cyruion war mit seinen Kräften am Ende und konnte nur erahnen, wie es seinen Gefährten möglicherweise ging. Sie waren vielleicht tot, niedergestreckt von einer Feuersbrunst, kaum dass er sich in die Lüfte aufgeschwungen hatte. Angefangen hatte alles vor einigen Praiosläufen als sie die Trollzacken, einen Ogerangriff wie Geländerutsch gerade so überlebt und wieder zusammengefunden hatten. In der schwülen, beinahe schon unangenehmen Hitze des Rahjamondes setzten sie ihren Weg fort. Eines Abends bemerkte die Reisegruppe, dass der Himmel sich rötlich, fast schon übertrieben blutrot eingefärbt hatte und das Firmament klar war, wie nur einmal im Götterlauf. Sie waren inmitten der Wildnis in die Namenlosen Tage geraten, jene Zeit, in der sich die meisten Menschen in ihren Häusern verschanzten und die Straßen selbst in Gareth stets leerer gewirkt hatten.

Der Auelf erschauderte bei dem Gedanken jedes Mal wieder, denn nicht nur, dass er das Dunkle nicht besonders mochte, in diesen fünf Tagen war die Dunkelheit bedrohlich wie sonst nie, alles angetrieben vom Einfluss dessen, was für den Untergang der Kultur seiner Vorfahren verantwortlich war. Leise atmete er durch. Nicht aus der Fassung bringen lassen.

Wenige Zeit später riss ein Blitz den Elfenmagier aus seinen Gedanken und kurze Zeit später traf die berittene Gruppe um Garion einen am Boden befindlichen Reiter und sein Pferd. Die Sichtung des Geschehens ergab schnell, dass der unbekannte Reiter ein Geweihter des Götterfürsten gewesen und offenbar in einen Kampf verwickelt gewesen war. Verschlüsselte Nachrichten, Tand und eine undefinierbare, große magische Macht, die  offenbar von einer Statuette ausging, fanden sich in den Taschen des Mannes wieder. Dann wurden sie angegriffen, noch an Ort und Stelle, von Kultisten des Namenlosen und weiteren Schergen der Schlechtigkeit.

Unnötigerweise zusätzlich, trotz Verwundung oder gerade deshalb, gejagt und getrieben von Hetzern, die die Gruppe immer in eine bestimmte Richtung zu lenken schien, ohne dass dies zunächst zu erkennen war. Besonders absonderlich war jedoch ein Dorf, Salwynsfelden, dachte der Elf, das sie nach einigen Tagen erreicht hatten. Natürlich waren sie nicht Willkommen, alleine der Umstand, dass sie ein Spitzohr dabei hatten verschärfte die Situation. Genauso wie die Geburt eines Kalbes mit zwei Köpfen, der einen wütenden Mob aufziehen ließ und die vom Rondra-Geweihten angeführte Gruppe weiterziehen ließ. Ungeachtet dessen, dass die drückende Hitze mit jedem Tag schlimmer wurde.

Zumindest, wenn es nicht gerade Merkwürdigkeiten waren, die die Aufmerksamkeit auf sich zog. Denn wer hätte erwartet, dass an einem Sommertag plötzlich Eiseskälte vorherrschte, Nebel aufzog? Doch der Verstand wusste es zuzuordnen, denn überall dort machte das Wetter Firun vermeintlich alle Ehre, wo sich die Kreaturen des Dhaza aufhielten, wie die Hetzer, die sich nach und nach verstofflichten und wahrscheinlich am letzten Tag des Namenlosen zu ihrer vollen Kraft kommen und der Gruppe das Leben schwermachen würden. Noch waren sie nicht besonders gefährlich. Auf der anderen Seite war für den Elfen auch ein altes Kloster der Gütigen, Peraine, recht befremdlich. Er hatte es jedenfalls noch nicht gesehen, dass weibliche Geistergestalten mit Ghulen tanzen. Wenn er obskures sehen wollte, sollte er in den Tagen des Namenlosen des Öfteren vor die Türe, auch wenn immer die Frage nach der Gefahr bleibt und ob es das wert ist. 

Am wahrscheinlich dritten oder vierten Tag, was er schon nicht mehr recht zuordnen konnte ob der wirren Geschehnisse, als jeder Regentropfen weiter ein Segen gewesen wäre, passierten sie einen reichlich unheimlichen Boronanger, trafen wenig später auf eine Gauklertruppe mit ihren Wagen. Darunter befand sich auch Wilbur, ein alter Freund des Rondra-Geweihten aus Andergast, der seine Familie offenbar vor längerer Zeit verlassen hatte. Doch nicht alles am Zusammentreffen mit den Gauklern zog Positives nach sich. Schon bei der ersten Begegnung hatte eine Gauklerin versucht, den Elfen um einen Teil seiner Habe zu erleichtern. Abgesehen davon vergnügten sie sich jedoch rege in der illustren Runde und der Elf war sehr zufrieden, dass ihm eine Gauklerin recht schnell einen Schlafplatz bei sich feilbot. Endlich wieder in einem Bett schlafen. Womit er nicht gerechnet hatte war, dass das Schlimmste noch bevorstand an diesem Abend. Denn kaum, dass sie mit den Vagabunden gespeist und getrunken hatten, legte sich Müdigkeit über die Freunde des Elfen und ihn. So viel zum gemütlichen Schlafplatz. Waren sie vergiftet worden?

Dunkel.

Die Nacht war bereits über Dere und Tobrien hereingebrochen als der elfische Zauberer aus Donnerbach erwachte. Die Gauklerinnen waren fort, zumindest jene, die sich noch mit William vergnügen wollten. Doch der Pirat und der Heiler, Vitus, waren im Wagen. Ansonsten herrschte befremdliche Stille. Rasch, aber vorsichtig sah sich der Elf um und musste mit Erschrecken feststellen, dass das Feuer erloschen war und die Gaukler offenbar aufgebrochen waren. Zwei Wagen hatten sie zurückgelassen…

…und die Statuette war fort, wie auch alle Pferde bis auf zwei. Dieses offenbar mächtige, magische Artefakt, es war fort. Jenes, weshalb sie von Namenloskultisten angegriffen worden waren und für das ein Diener des Götterfürsten sein Leben gelassen hatte. Cyruion zog die Brauen zusammen und sah nach den Gefährten. Während er Garion und Tarambosch schnell erreichte und wecken konnte, schlugen sämtliche Versuche bei William und Vitus in diese Richtung fehl.

Sie wachten nicht auf. Doch, lebten sie überhaupt noch oder träumten sie selbst?

Obgleich die schiere Dunkelheit Unbehagen beim Elfen auslöste, versuchte er sich für einen BLICK IN DIE GEDANKEN zu konzentrieren. Auf diese Weise ließ sich zumindest herausfinden, ob Vitus nur ein Abbild des Heilers war und ansonsten so lebendig wie ein Stein oder ob er der Heiler war, der fest schlief, träumte. Zum Glück des Elfen gelang der Zauber und er konnte den Heiler aus seinen märchenhaften Träumereien reißen, während sich Garion und Tarambosch auf rabiatere Weise um William kümmerten.

Anschließend machten sie sich auf, die Gaukler auf den übrigen zwei Pferden und dem Pony des Angroschim zu verfolgen, unter Einsatz ihrer, mehr oder minder vorhanden, Kenntnisse im Umgang mit der Natur. Sie waren in diesem Moment die Hetzer, die jagten und etwas trieben, zumindest bis sie unweit eines Baumes innehielten, der auf den Elfen obskur wirkte. Denn die Äste waren übersät von Nachtwinden, jenen Vögeln, die Magie etwa so sehr verabscheuen wie die Angroschim Drachen. Nachdem eine Eule am Baum vorbeigezogen und angegriffen worden war, folgten alle bis auf Cyruion und Vitus dem Kampf zwischen Eule und Nachtwind. Denn die Eule könnte schließlich, wenn sie angegriffen wurde, ein Elf sein und unter der Wirkung eines ADLERSCHWINGE stehen.

Aus der Ferne konnte Cyruion vernehmen, wie insbesondere Garion und Tarambosch schnellen Prozess mit dem Nachtwind machten und ihn – wie die Garether Metzger sagen würden – buchstäblich zerhackten. Anschließend näherten sich auch die beiden Zurückgebliebenen dem Rest der Gruppe, nur um festzustellen, dass es sich bei der Eule um keinen Elfen handelte. Eine ältere, blinde Frau hatte die Eule zum Vertrauten und nutzte es, um sehen zu können. Da das Tier geschwächt war und nicht weiterfliegen konnte, brachten sie die ältere Frau noch zu ihrer Hütte… weiterhelfen konnte sie ansonsten aber, leider, nicht wirklich. Sie war nur zum Beweis dafür geworden, dass er sich niemals einem Nachtwind nähern durfte, wenn er sich als Adler in die Lüfte erhoben hatte.

Es wäre wahrscheinlich sein Tod.

Leise schluckte Cyruion, während sie die Jagd nach den Gauklern fortsetzten.

Auf dem Weg den Gauklern hinterher, konnten sie noch ein ums andere Mal die Hetzer erspähen, auch wenn sich diese nicht mehr für sie interessierten. Diese Kreaturen des Namenlosen waren demnach ausnahmslos auf jene angesetzt, die die Statuette in ihrem Besitz hatten. Aber was genau war so wichtig an diesem kleinen Stück, das wahrscheinlich das Abbild eines Drachen oder Daimoniden zeigte?

Cyruion verschnaufte einen Moment, er durfte nicht zu sehr in Gedanken schweifen, denn noch hatte er sein Ziel, Warunk, nicht erreicht. Zwar zeichneten sich die Konturen und Umrisse der Stadt bereits ab, doch noch war er nicht dort, konnte nicht sagen, wo er konkret hinsollte und wie viel Zeit überhaupt vergangen war. Es war ein unpraktischer Gedanke, jetzt, da ihm die Flügel allmählich schwer wurden. Zwar hatte er den Zauber in der Vergangenheit bereits ausgereizt, jedoch nie unter solchem Stress, nie mit dem Wissen, dass das eigene Zeitgefühl in diesen vergangenen Tagen abhandengekommen war.

Seine verbliebene, astrale Kraft hatte er für das zweimalige Wirken des ADLERSCHWINGE aufgeopfert, riskierend, dass ihm irgendwo im Wald noch während der Rückverwandlung, einem Durchatmen sowie einem längeren, sorgenvollen Blick zurück in Richtung seiner Gefährten, Diener oder Kreaturen des Dhaza auflauern konnten. Wenn er sich nicht völlig verkalkulierte, dann würde er es gerade so nach Warunk schaffen und falls nicht, noch vor den Stadttoren wie ein Stein vom Himmel fallen. Es war daher ohnehin erforderlich, dass er nicht zu weit über den Wipfeln der Bäume flog, sofern es sich anbot noch tiefer ging, um im Falle eines Absturzes nicht zu viel körperliches Gebrechen zu riskieren. Spätestens die Arie mit dem Fenster in Zackenberg hatte ihm wieder vor Augen geführt, dass sich jeder Schaden, den er in Tiergestalt nahm, entsprechend auf seinen gewöhnlichen Elfenleib auswirkte. Ein Gedanke, den er verdrängt hatte, wo er den Zauber sonst eher wirkte, um auszukundschaften, oder sich der Natur schlicht näher zu fühlen.

Doch sei es, wie es wollte, all die Gedanken um einen elfischen Kollateralschaden waren nicht besonders förderlich und für das eigene Empfinden hatte er die letzten Wochen genug gelitten. Leid schien ohnehin das große Thema dieses Lebensabschnitts zu sein. Während er seinen Weg beschwingt fortsetzte, musste er an die heiligen Tiere der Zwölfe denken, die ihm vor einigen Tagen unter die Augen gekommen waren. Eine Jagdgesellschaft hatte sich offenkundig die Mühe gemacht, diese Tiere zu erlegen. Und zwar ausschließlich solche. Wie bei der Haijagd von Bacha und Phileasson hatte er dafür kein Verständnis, als ihm jedoch deutlich gemacht wurde, dass es sich beinahe um einen Frevel handelte, wurde er schon wieder nachdenklich. Namenloskulte, eine mächtige Statuette und die zwölfgöttlichen Tiere erlegt und zu einer schwer befestigten Burg geschliffen?

Nur ein Narr hätte dahinter, spätestens ab diesem Zeitpunkt, nichts Größeres erwartet. Daher war es nur folgerichtig, den Gauklern und ihren Wagenspuren über Stock und Stein zu folgen. Über der besagten Burg selbst schwebte ein Blaufalke, nach der Eule nicht das erste, zu bewundernde Federvieh. Der König der Lüfte… abgerichtet, sicherlich zur Warnung oder Jagd genutzt. Jedoch sollte das nicht helfen. Aus einem kurzen Gespräch ging ein Impuls von William aus und er versuchte sich über karges Feld zur Burg zu bewegen, nur um von zwei Bolzen zerschlissen zu werden. Garion konnte ihn mit einem geschickten Manöver retten, doch dann zogen sie einmal mehr weiter. Es war zu erwarten, dass die Burg die gesuchten Antworten beinhaltete, doch sie wirkte uneinnehmbar mit solch einer kleinen Gruppe, aus der ein Streiter noch verletzt war.

Es wurde allmählich dunkel, wenn er sich recht entsann, warteten sie ab. Denn irgendwann würde schon irgendetwas passieren – und nach einer ganzen Weile konnten die erschöpften Gefährten einen Lichtschein fernab der Burg erblicken, dem zu folgen war. Tarambosch schlich, ohne Rüstung, am Waldrand entlang und verschaffte sich einen ersten Blick, erschlug dazu ein kleines Mädchen und kam auf diese Weise in den Besitz einer Kultistenrobe wie -maske. Offenbar sammelten die Kultisten noch Holz. Sachen, die nur ihm passten. Sie näherten sich, nachdem sie den Gedanken verworfen hatten, die Kultisten zu infiltrieren. Denn es erschien unmöglich, noch an diesem Abend in kürzester Zeit hinreichend passende Gewandung zu erlangen, ohne dass es irgendwann auffällig wurde.

Aus etwa 150 bis 200 Schritt Entfernung war der Platz gut zu überblicken. Eine große Statue des Namenlosen im Zentrum, eine Statue, die ihn erhaben und nicht etwa in Ketten zeigte… dazu ganze dreizehn Scheiterhaufen. Dreizehn. Es war seine Zahl. Seit jeher.

Noch während die anderen und der Elf anfingen sich Gedanken machten, wie vorzugehen war, begab sich ein ganzer Tross aus Dienern des Namenlosen zum Kultplatz. Darunter obskure Gestalten wie ein Junge mit fast schon schneeweißem Haar, einer der wenigen, der keine Maske trug oder vielleicht sogar der einzige. Offensichtlich kamen sie aus Richtung Burg und hatten, zu allem Überfluss, die zwölf Tiere dabei. Kurz darauf wurden die Scheiterhaufen, gespickt mit den heiligen Kreaturen der Zwölfgötter, angezündet. Ihnen lief allmählich die Zeit davon – und noch immer hatten sie keinen richtigen Plan, was auch immer dort geschehen sollte zu verhindern. Denn, so viel war sicher, es würde keine gute Tat sein, die heute hier in diesem Ambiente verrichtet werden sollte. Im Gegenteil. Es brauchte eine zündende Idee…

Eine gefühlte Ewigkeit später hatten sie sich auf eine Möglichkeit, die weniger Unmöglichkeit in sich barg als viele andere Gedanken, verständigt. Zumindest, nachdem sie die Statuette auf dem Kultplatz in der Nähe eines blassen Elfen sichten konnten. William hatte sich indes weiter nach vorn geschlichen, um den Kultplatz aus nächster Nähe zu erleben, vielleicht von dort etwas vornehmen zu können und gegebenenfalls für Ablenkung zu sorgen. Es war jedenfalls heikel, denn er begab sich mitten in die Höhle des Löwen, am späten Abend des fünften Tages des Namenlosen.

Cyruion zog sich etwas zurück, sammelte sich. Es war nie wichtiger gewesen, dass seine Verwandlung gelang und dass er selbst, zum Glück, unversehrt war. Nach den Worten „ADLERSCHWINGE WOLFSGESTALT“, setzte der Verwandlungsprozess ein und kaum einen Augenblick später stand der gefiederte Elfenmagier inmitten des heldenhaften Trüppchens, das aus nicht mehr als einer Hand bestand.

Ein Alveranskommando.

Im Gegensatz zu den Menschen fürchtete der Auelf das bevorstehende Ende allerdings nicht wirklich. Denn, so dachte er, die Sagen und Legenden seines Volkes sangen immer wieder von Reinkarnation oder dem Weg ins Licht. Es war ein beruhigender Gedanke, nicht die Niederhöllen fürchten zu müssen, sondern schlicht eins mit dem eigenen Volk zu werden, gleich wann sie das Schicksal geholt hatte. Kein möglicherweise ewiges Warten in Borons Hallen, ehe eines der zwölfgöttlichen Paradise sich öffnet. Die Situation war angespannt, doch eine gewisse Ruhe konnte er sich nicht absprechen. Wenn er hier starb, dann war es wenigstens für eine größere, eine wahrscheinlich nicht unbedeutende Sache, wenn er nur an das Artefakt und seine Macht dachte.

Dann war es soweit…

Tarambosch gehörte der erste Schritt, es war an ihm, das Ritual und den Ablauf des Abends in erster Instanz zu stören und er hatte sich das Ziel für seinen Bolzen gut gewählt. Der schwarzäugige Elf, der nahe der Statuette offenbar in einem Beschwörungskreis stand. Von der Wucht des Bolzens wurde dieser verräterische Elf umgeworfen. Vorab hatte sich Cyruion ein Stück abseits bereits in die Lüfte erhoben.

Er brauchte eine Menge Anlauf wie Höhe, dass Angriff und Flucht in so kurzer Zeit passierten, dass eine Reaktion nahezu unmöglich wurde. Während der namenlose Elfenmagier zu Boden ging, setzte der verwandelte Auelfenzauberer an. Es war das Signal für sein Eingreifen – jetzt oder nie.

Sturzflug. Dere zischte an ihm vorbei, doch der geschärfte Blick des Elfen hatte die Statuette längst fokussiert. Er hörte nichts mehr außer dem Rauschen der Luft, die die eigenen Flügel durchschnitten. Ein ohrenbetäubender Lärm, an den er sich einen Moment gewöhnen musste. Die Fänge waren gespreizt, etwa 80 Schritt die Sekunde. Hoffentlich packte er im rechten Moment zu. Sonst war alles umsonst…

 

Geschafft!

 

Allerdings, wie er in einem kurzen Anflug von Euphorie bemerkte, hatte er nicht alles zu Ende gedacht. Noch auf den ersten Metern weg vom Ritualplatz bemerkte der zum Bergadler gewordene Auelf, dass er keinen Gedanken an den Blaufalken nahe der Burg verschwendet hatte. Dieser war ebenfalls am Ritualplatz. Cyruion versuchte das bestmögliche aus seinem Überschuss an Geschwindigkeit zu machen, konnte die Gefahr jedoch nicht abschütteln. Der Falke rückte ihm allmählich auf die Federn, in leichter Hektik und Panik drehte Cyruion bei in Richtung seiner Gefährten und ließ einen Schrei ab. Er brauchte sie, oder zumindest eine Klinge, einen Bolzen, sonst würde er das Nachsehen haben. Unablässig rückte der Falke näher. Eine weitere Runde im weiten Radius, dazu hatte der Elfenmagier des Namenlosenkultes sich gefangen und setzte seine Kraft gegen den Bergadler ein. Es wurde schwerer, sich überhaupt in der Luft zu halten, voranzukommen.

Hilfe.

Verzweiflung machte sich im Blick des Adlers breit. Ein weiteres Mal überflog er die Gefährten, machte sich bemerkbar – dann traf endlich ein Bolzen. Erleichterung überkam den Elfen als der Blaufalke zu Boden sank und sich nicht mehr erhob. Bei aller Liebe zu Tieren, dieser Tod war kein nutzloser, sondern diente einer größeren Sache. Angeschlagen von den Einflüssen der luftelementaren Magie stieg Cyruion wieder auf, die Statuette noch immer fest in den Fängen und setzte sich ab. Dorthin, wo er Warunk vermutete; jene Richtung, die sie zuletzt eingeschlagen hatten, als sie nach Warunk wollten.

Dann die Feuersbrunst, unter einem lauten Knall und schier endlosem Knarzen und Knirschen verendete der Wald, offenbar eine Auswirkung der Macht des Knaben, der um seinen Ritus gebracht wurde. Cyruion war jedoch weit genug weg. Nur die Bekannten… ob sie es geschafft hatten?

Ächzend und krächzend kreiste Cyruion wenige Minuten später über Warunk und setzte vor dem auf, was er aus der Luft als Tempel des Götterfürsten Praios vermutete und verwandelte sich vor zwei Sonnenlegionären ungeniert zurück. Die Statuette übergeben, das Erlebte schildern, wo sie gewesen waren. All das hatte er vor, doch für mehr als die Statuette reichte es nicht. Völlig erschöpft, physisch wie psychisch, fragte er noch im Tempel Praios‘ nach dem nächstmöglichen Bett, das er beanspruchen könnte… und nach Tempelasyl. Denn zumindest solange, wie die alte Reisegruppe nicht zusammengefunden hatte, wollte er sich inmitten Götterdienern wissen, die mit den Schrecken des Dhaza besser umzugehen wussten.

 

1014.

 

Es konnte nur besser werden..

Gareth 23 (Neferu) (TSA 1013)

Klimper..!
Später am Tage der überstürzten Morgenentscheidung bezüglich des Bordells ‚Rahjas Festung‘, saß Neferu im Schneidersitz in einer der Nischen des Tempels der Schatten und übte sich im Meditieren. Es wollte nicht klappen.. Ihre Hände waren zitterig, eigentlich musste sie schlafen. Sie würde noch den ganzen Tag Kopfschmerzen haben. Aber Zeit für Schlaf war nicht.
Ihre Astralkraft war aufgebraucht und dieser Zustand fühlte sich an wie schlimmer Hunger.
Klirr.. Die Münze war ihr schon wieder auf den Boden gefallen.
Jedes Geräusch riss sie aus der Konzentration.
Seufzend musste sie erkennen, dass es ihr heute nicht gelingen würde, das Silberstück über die Finger wandern zu lassen.
Morgen würde sie sich mit Voltan Sprengler treffen, dem mysteriösen Weibel von Tor Süd… Sie brütete immer wieder über seinem Geheimnis.
Es machte ihr Freude, Theorien aufzustellen, wer er war und woher er kam. Sie kannte diesen Mann nicht, hätte aber geschworen, dass er Phex nicht eben fremd war.
Sie fühlte sich durch ihn auf eine angenehme Art herausgefordert – auch wenn die Herausforderung selbst noch von Nebel umwoben war.

Als sie im Schacht nach oben kletterte, um den Tempel zu verlassen und die Seilerei zu betreten, lief Neferu Jereminas in die Arme.
Sie packte die Gelegenheit ganz nach Phexens Geschmack und versuchte einen Monat Schulunterricht für die Waisenkinder aus ihm herauszuüberreden. Alle Tricks der Argumentation fruchteten bei ihrem Vogtvikar nicht. Aber immerhin bedrängte sie ihn so sehr mit ihrer Herzensangelegenheit, dass er mit ihr zur Abendmesse des Tempels der Sterne ging.
Seiner Ansicht nach, tat er damit genug: Er gab ihr einen guten Tipp.
Der Sternentempel des Phex lag im Westen der Stadt, ganz in der Nähe des Hauptsitzes der Praioskirche.
Ein sehr offizielles, reich gestaltetes Gebäude, das als Tempel der Kaiserfamilie galt, war der Fuchs doch ihr Patron.
Ein Gerücht besagte, dass er sehr schnell errichtet worden war und dass die Finanzierung aus einem kollektiven Raubzug aller Phexgeweihten in Gareth bestand.
Das Bauwerk hatte etwas von einem Schloss mit seinen Flügeln und der Kuppel, all dem Weiß und Gold und Silber.
Auf dem Weg dorthin, den sie sich durch Nieselregen kämpften, erzählte Neferu ihrem Mentoren von den Almadanern. Sie beschönigte ein wenig und hob besonders präsentierend die Leiche in ihrem Garten hervor.
Torfstecher machte den Anschein, als hätte er von der Bande bereits gehört und sei gar nicht gut auf sie zu sprechen.
Das befriedigte Neferu. Diese Männer waren auf dem falschen Weg und das musste ihnen aufgezeigt werden. Sie fühlte sich bestärkt.

Zwar erhielt sie vom Phextempel nur eine einzige Dukate für ihr Waisenkinder-Vorhaben – und diese Dukate war hart errungen (Am Ende doch von Torfstecher!) – allerdings traf Neferu im Tempel der Sterne einen Mann, den sie da nicht erwartet hatte: Den Reichsgroßgeheimrat Dexter Nemrod.
Sie hatte in den Orkenkriegen als Spitzel für ihn gearbeitet und auch wenn er ein strenger und ernster Kerl war – sie hatte ihn immer gemocht. Ein Typ von Mann an dem andere zerschmetterten, ein Fels, ein Verhängnis für jedes Schiff – so einen Mann hätte sie sich als Vater gewünscht.
Der Fehler, diesen Gedanken Torfstecher gegenüber laut auszusprechen, amüsierte den Vogtvikar der Südstadt vortrefflich.
Neferu hatte keine Berührungsängste, sie wagte sich an den Großinquisitor heran, der sich auf seinen Gehstock stützte, grüßte ihn höflich.
Sie erzählte ihm lang und ausschweifend von der Geschichte der Waisenkinder, nutze all ihr Geschick im Argumentieren.
Zum Glück waren sie zu früh gekommen, die Messe hatte noch nicht begonnen.
Und auch wenn Nemrod ihr Ansinnen im Namen der Praioskirche nicht uneingeschränkt unterstützte, so gestand er ihr zu, acht Götternamen zu finanzieren.
Das war eine Machtdemonstration.
Und nicht nur das, er knüpfte Bedingungen an die Unterstützung: Die Bildung musste in der Stadt des Lichts stattfinden – für alle Kinder. Außerdem erwartete er, dass die fünf Klassenbesten nach Abschluss des ersten Jahres in den Dienst der Praioskirche Gareths treten und von da an zu Diensten sein sollten, je nach Neigung und Talent.
Sie konnte nicht ablehnen und das wusste er.

Der Geweihte des Fuchsgottes am Altar war komplett verhüllt. Man konnte schwerlich sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, denn auch die Stimme war dunkel und unbestimmt.
Unter der Sternenkuppel des Tempels fand ein Gottesdienst statt, wie Neferu ihn selten gesehen hatte. Ein Ritter in voller Rüstung, das Visier ein Fuchskopf, wurde im Namen Phexens einem Segen unterzogen.
Ein Fuchsritter…
Rituelle Worte wurden gesprochen, es wurde gebetet und die Kaiserfamilie geehrt.
Und anschließend, nachdem die Messe vorüber gegangen waren, richtete der Reichsgroßgeheimrat noch einmal das Wort an die Hexe.
Eine gute, hinterlistige Taktik, die den ‚Gegner‘ in Sicherheit wähnte, war dem Inquisitor nicht unbekannt und er setzte sie ein. Denn erst jetzt – nach dem Phexdienst – sprach er sie auf den Schmähzettel an, den sie vor Jahren in Greifenfurt hinterlassen hatte. Die Frage danach, wer so etwas geschrieben haben könnte, war so stechend formuliert, dass sie nicht anders konnte, als sofort zu gestehen. Sie wusste, ahnte, dass Nemrod einer war, der Lügen riechen konnte. Wie lange hatte sie nicht mehr an den Tag in Greifenfurt gedacht, als sie die Bannstrahler als Hundehurensöhne (was auch immer das sein sollte) bezeichnet hatte. Immerhin hatte sie keinen Geweihten beleidigt. Aber das hier reichte, um die Zunge herausgeschnitten zu bekommen. Sie unterlag Hitzewallungen und flehte die Götter an, für Nemrod als Informationsquelle wichtig genug zu sein, dass er sie nicht beseitigen wollen würde. Denn sie fühlte – jetzt hatte er sie in der Hand. Wie dumm war sie damals nur gewesen, einen Zettel zu hinterlassen!
„Ich erwarte Euch am Praiostag zum Gottesdienst. In der Stadt des Lichts.“
Ihr wurde schwindelig. Sie und Torfstecher blieben zurück, sahen dem Mann mit dem steifen Bein nach, der langsam auf den Gehstock gestützt, den Tempel durch offene Tore verließ und in den Hintergrund des bleigrauen Nieselabends überging.

Sie würde also bestraft werden für ihre Frechheit. Bei einem Praiosgottesdienst. Neferu war ernsthaft in Sorge, was dort mit ihr geschehen würde. Andererseits wusste sie, dass der Großinquisitor es leichter haben könnte, wenn er sie einfach nur vernichten hätte wollen. Er wusste wer sie war – nicht nur, dass sie auf die gefühlsstarke Art der Hexen Magie wirken konnte, er wusste auch, dass sie eine Geweihte der Zwölfe war. Dexter Nemrod war kein Idiot. Er gab sich nicht mit halbherzigen Informationen zufrieden. Er bohrte in jeden wackeligen Stein, bis er am Ende nur das sah, was darunter lag. Und es war ihm auch bekannt, dass sie vor einem Jahr nach Gareth in die Metropole des Praios gekommen war, um sie alle zu warnen. Sie hatte ihre Sicherheit aufgegeben, um die Welt zu warnen, vor dem, was vielleicht kam. Vor dem Weltenverschlinger von dem die Rollen der Beni Rurech sprachen. Selbst wenn es einen Disput ausgelöst hatte und einige der dahergelaufenen Satuarienstochter nicht geglaubt hatten, so war sie das Risiko dennoch eingegangen.
Und dazu kam, dass sie für die KGIA gearbeitet hatte und eine Heldin von Greifenfurt war – offiziell zumindest. Inoffiziell hatte sie sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert, zumindest nicht ausschließlich. Natürlich waren ihre Dienste für die damals belagerte Stadt außerordentlich, ohne Zweifel, aber irgendwann hatte der rote Tod sie zu sich geholt und sie ihm gleich gemacht.
Es schauderte sie, als sie daran zurückdachte.

Der frühe Abend tauchte Gareth in fast gänzliche Dunkelheit – Mada würde ihre Schleier in der heutigen Nacht verbergen, es war Neumond.
Sie schlenderte allein über den Eisenmarkt und ließ die Gedanken um ihre Pläne kreisen. Die meisten Stände der Verkäufer waren schon abgebaut, einige wenige handelten aber noch, ihre Waren anpreisend – wenn auch etwas heiserer, jetzt, wo sich ihr Arbeitstag dem Ende neigte.
Wenigstens wusste sie jetzt etwas mehr über den ominösen Voltan Sprengler und seinen Hintergrund: Bevor sich ihre Wege getrennt hatten, hatte sie Torfstecher nach dem Weibel gefragt. Und er kannte ihn. Sprengler sei ein dicker Junge gewesen, damals in Wallgraben, hatte der Vogtvikar ihr anvertraut. Klein-Voltan wollte mit den anderen Halbstarken spielen, aber sie hatten ihn nicht gelassen. Er hatte damals den Spitznamen ‚Dickfinger‘ bekommen, war auch körperlich angegangen worden. Neferu irritierte diese Neuigkeit. Ein fettleibiger Phexensdiener…? Was steckte dahinter? Waren ihre Vermutungen falsch?
Hatte er Verbindungen zu Eschenrod, die mehr waren als dienstlicher Natur? Oder nicht?
Und überhaupt: Wer kümmerte sich um die Belange von Eschenrod? Die Stadtvogtei wahrscheinlich.. Die Worte des Almadaners gingen ihr nicht aus dem Kopf. Feuerbrunnen.
Genau. Bis zum Sommer wollte sie wenigstens einige errichtet haben. Vielleicht fünf an der Zahl, das sollte vorerst genügen.
Sie konnte Sprengler fragen, ob er ihr half eine solche Idee umzusetzen. Und wenn nur, um seine Reaktion zu sehen und ihn dadurch besser einschätzen zu lernen. Es kam selten vor, dass sich Leute ihrer Menschenkenntnis derart entzogen.
Was bedeutete nur die weiße Feder, die in schmieriger Farbe an ihrer Mauer zurückgelassen worden war? Ein Bandenzeichen?
Wer von diesen verfluchten Almadanern hatte das Mädchen Jelka auf dem Gewissen und warum hatte man sie bei ihr abgelegt?
Da!
Neferu hielt auf einen Mann zu, der nach Feinschmied aussah. Zangen, Sägen und Feilen zeigten sich in seiner Auslage, die er gerade zusammenpackte. Sie kaufte eine feine Feile. Zur Schmuckherstellung gab sie an und ließ das Bürgerfräulein heraushängen. Exquisit. Damit würde sie die Münze, die um ihren Hals hing, anschleifen können, um immer ein Messer bei sich zu haben.
Im Notfall konnte sie damit hantieren, ohne dass jemand ahnte, dass sie einen scharfen Gegenstand bei sich trug.

Die Pflaster Gareths hatten sich verdüstert, seit die Almadaner da waren.
Was Neferu in ‚Rahjas Festung‘ und im Keller ihres Grundstücks gesehen und gehört hatte, war genug gewesen, sich vorzubereiten.
Sie wollte bekämpfen, was nicht im Sinne Phexens war: Gier ohne Maß, Ausbeutung ohne Skrupel und Kriminalität, die Menschen das Leben kostete.

Einst hatte Rychard ihr einen Freundschaftsdienst erwiesen. Oder eine Wiedergutmachung. Was es war, konnte sie nicht sagen, aber was er ihr gebracht hatte, veränderte seit dem ihr Leben: Durch die Magazine der Criminal-Cammer wusste sie, wer ihre Mutter gewesen war. Eine Hexe aus dem tiefsten Süden, die zwei Männer geliebt hatte.
Und sie wusste, wer dafür verantwortlich war, dass sie geboren worden war. Nicht der Ehemann der Kemi, sondern ein Inquisitor des Praios. So hatte es ihre Mutter in ihrem eigenen Tagebuch beschrieben, das in der Cammer jahrelang verwahrt worden war, ehe Rychard es für sie entwendet hatte.
Praionor von Wiesenfeld hatte das Haus ihrer Familie niedergebrannt, als er herausgefunden hatte, dass seine Geliebte eine Hexe war, die ein Echsenei zur Welt gebracht hatte, aus dem ein Kind geboren worden war.
So Neferus Theorie. Möglicherweise war es anders gewesen, aber wie auch immer die Vergangenheit gestrickt war, eines hatte sie daraus gelernt: Die CriminalCammer lagerte Wissen und Beweise.

Sie sah die Stadtmauer des Nordtores hoch über der Stadt aufragen. Sie hielt darauf zu, bog aber kurz vorher rechts ab.
Nach Wallgraben oder Rosskuppel wollte sie nicht.
Das Gebäude, das sie betrat, war groß – ein mehrstöckiger Komplex mit dunklen Schindeln, das einst ein Hotel gewesen war. ‚Tobrischer Hof‘ hatte es geheißen.
Ein Mann saß unten an einem Schreibtisch und blätterte durch Bücher. Er stellte sich als Firnmer Termoil vor. Ein Grangorer.
Sie erklärte ihm ihr Anliegen und mittels eines Glöckchens wurde ein weiterer Mann der Cammer herbeigeklingelt, um sie zum Büro der ‚Exzellenz‘ zu führen.
Neferus Überraschung war nicht klein, als derjenige, der auf das Klingeln reagierte, kein geringerer war als der heitere Eulrich Durenald, der Weißmagier, der gemeinsam mit Meinloh von Gareth in der Smaragdnatter gewesen war. Inspektor Eulrich Durenald von Amt 7, wie sie jetzt herausfand. Der Albernier mit der magischen Ausbildung in Thorwal hatte also durchaus auch seine Geheimnisse.
Die Exzellenz selbst entpuppte sich als noch größere Überraschung: Ihre Gnaden Isenbrook war Nandusgeweihte und die Frau, die ihr vor Tagen die Übernahme zweier Monate für den Unterricht der Kinder zugesagt hatte. Die nach Mohacca riechende Fremde, die sie im Hesindetempel getroffen hatte.
Jetzt ergab sich zumindest ein Sinn hinter dieser Sache, war Nandus doch der Sohn Hesindes und gleichermaßen der Gott, der die Bildung vorantreiben und unterstützen wollte und das überall in Aventurien.
Gerhalla Isenbrook saß in einem kleinen Büro am Ende eines langgezogenen Zimmers voller leerer Schreibtische und blätterte rauchend durch Stapel von Akten. Dicke, graue Schwaden von Mohacca erschwerten die Sicht auf die Leiterin der CriminalCammer und zwangen Neferu zu einem unterdrückten Husten.
Neben Isenbrook stand eine steinerne Schale voll von Resten aufgerauchter Zigarren.
„Euer Exzellenz, mein Name ist Neferu Banokborn. Ich bin Bürgerin der Stadt Gareths und heute morgen wurde eine weibliche Leiche im Keller meines unfertigen Hauses in der Weststadt gefunden. Ich habe das Mädchen untersucht – und war daraufhin in Rahjas Festung in Eschenrod. Ich habe dort Informationen über die Almadaner erfahren, die Euch vielleicht Interessieren.“

~

Gerhalla Isenbrook war an den Hinweisen und Beschreibungen bezüglich der Almadaner brennend interessiert.
Sie ging einen Handel mit Neferu ein, Informationen gegen Geld.
Um ein Inspektor der CriminalCammer zu werden, taugte Neferu zwar nicht – die Nandusgeweihte forderte unabdingbare Loyalität für die Cammer und andere, ältere Verbindungen hätte Nef niemals verraten können (und zudem hätte Isenbrook sie mit Sicherheit auch gar nicht genommen, bei so wankelhaftem Lebenslauf…), aber als Neferu ging, hatte sie das Gefühl, dass da hinter dem Schreibtisch ein Verbündeter mit ähnlichen Idealen saß. Jemand, der Phex nahe war und die Sicherheit der Stadt garantieren wollte.
Mittlerweile war es draußen gänzlich dunkel und Tag war Nacht gewichen.
Neferu war schnell unterwegs, als sie zurück zu Ahlemeyer in die wärmende Stube ging.
Eine Nandusgeweihte.. Mit Sicherheit konnte Gerhalla Isenbrook helfen, wenn es darum ging, einen geeigneten Lehrer für die Waisenkinder Südquartiers zu finden.

~

Mit dem nächsten Morgen brach der Markttag herein und mit ihm zahlreiche Karren und Händler.
Gareth war an diesem Tag der Woche noch überfüllter als sonst und lauter. Es war ein kalter, heller Morgen, ohne Wolken, aber mit viel Wind.
Die Praiosscheibe war deutlich am Himmel, aber dennoch rieben sich die Handelnden fröstelnd die Finger und stießen Atemwolken in die Luft.
Neferu zog die rote Tuchrüstung über ihre Kleidung – nur vorsichtshalber.
Sie bereitete sich darauf vor, Voltan Sprengler wiederzutreffen. Und sie wusste nicht, in welche Winkel Gareths sie die Ermittlungen führen würde.
Das Puniner Tor lag von Ahlemeyers alter Sattlerei aus nicht weit entfernt, so dass Neferu das Aufstehen hatte hinauszögern können.
Frühstück im Bauch und in dicke Lagen Stoff gepackt, schlenderte die Tulamidin zur Grenze Alt-Gareths.
Die Tortürme ragten hoch in den sonnigen Himmel und teilten sich sein Blau mit den vorbeigleitenden Tauben. Hier pfiff der Wind ganz besonders.
Im Tor beginnend ragte die Schlange an Menschen, die nach Gareth wollten weit über Sonngrund. Die Wachmänner hatten gut zu tun, all diese Leute zu kontrollieren und eine Übersicht zu bewahren.
Neferu trat aufs Gelände der Wachmanschaft zu Gareth. Sie durchmaß den Hof zu einem der Tortürme, wo ein Wachmann seinen Dienst tat.
„Entschuldigt, wo finde ich Weibel Sprengler? Ich bin heute morgen mit ihm verabredet.“
Sie wurde zum gegenüberliegenden Turm geschickt, wo eine Rampe hinaufführte, bis hin zu einer Tür.
Der diensthabende Wachmann führte sie hinein – ein Raum von dem mehrere Türen abgingen und in dem sich eine Stiege nach oben befand.
Kisten waren hier aufeinander gestapelt und ein Tisch, der ein wenig an die Seite gedrängt stand, verriet, dass Wachhabende hier Karten spielten.
Zwei Feuerschalen spendeten mattglimmendes Licht und mäßig Wärme.
Für sie ging der Weg nach oben, die Leiter hinauf. Eine hölzerne Luke mit Eisenbeschlägen wurde aufgeklappt.
„Weibel Sprengler? Hier ist eine Frau, die nach Euch fragt.“

Man hatte den Unteroffizier Sprengler in einen Raum quartiert, der eigentlich das Zeughaus war. Die ganze Etage des ersten Stocks war voll von Regalen, Truhen, Kisten und Waffenständern. Es war kalt und zugig – die muffige Luft roch nach Leder und Metall.
Sprengler selbst hatte man an einem Schreibtisch dazwischen drapiert. Neben seinem gab es einen weiteren Tisch, der leer war und als Ablage diente. Ansonsten, neben all dem Kram, den die Männer und Frauen der Garether Wache brauchten, sich auszustatten, gab es nur noch den Kamin, in dem das Feuer aufgescheucht flackerte. Er war vor Kurzem erst geschürt worden.
Voltan Sprengler hockte an seinem Tisch und betrachtete mit verkniffen-konzentrierter Miene ein Schriftstück, das er eben zur Seite legte.
Das dunkelblonde Haar hatte er zurückgebunden und wie sonst stand dieser übernächtige Zug um seine Augen.
Der Wachmann, der sie geführt und begleitet hatte, salutierte, klappte die Luke zu und sie hörte seine schweren Schritte die Stiege hinuntersteigen.
Ihre Augen glitten zu dem Mann, der sie an diesem Morgen herbestellt hatte.
„Ich wusste gar nicht, dass Ihr ein Schreibtischtäter seid.“ Sie lächelte ihn heiter an.
Sein Augenausdruck entspannte sich einen Deut.
„Da sagt Ihr was. Eigentlich ist das auch nicht, was ich gern tue, aber einer muss es tun. Die Wache ist heillos unterbesetzt. Es gibt zu wenig Gardisten verteilt auf zehn Wachstuben in ganz Gareth.“
„Ist der Sold so schlecht?“ Sie schmunzelte, er bot ihr einen Stuhl an, erhob sich und schob die Sitzgelegenheit ans Feuer, ehe er sich wieder setzte.
„Wollt Ihr etwas essen?“ fragte er. Sie verneinte.
Was für ein höflicher Mann… Sicher nur eine Masche, seine phexische Vergangenheit zu Kaschieren…
„Nun, es reicht zum Leben. Trotzdem – es ist mehr zu tun, für weniger Geld als anderswo.“
Neferu nickte sachte, noch immer mit einem neckenden Lächeln auf den Lippen. „Und was sind Eure eigentlichen Aufgaben, Weibel?“

Sie ließ sich von ihm den Aufbau der Wache erklären und ebenso die Aufgaben der einzelnen Ränge. Jede Wachstube hatte ihren eigenen Hauptmann und über ihnen allen stand der Obrist, der sich laut Sprengler wenig aus seiner Villa in Heldenberg hinausbewegte.
So, so.. Neferu hörte halbherzig zu, um dem Gespräch einen Vorlauf zu geben. Der Unteroffizier schien sich gar nicht in seiner Arbeit gestört zu fühlen. Sie hatte beinahe das Gefühl, dass dieser pflichtbewusste Mann froh darüber war, eine Rechtfertigung zu haben, sich eine Pause zu gönnen.
Die kleine Unterbrechung der Arbeit des Mannes wurde zu einer längeren.
Das Gespräch floss dahin, sein Interesse und die damit verbundenen Fragen kosteten beinahe soviel Zeit wie Neferus Ausführungen oder ihre Neugier.
Neferu spürte, dass sie ihm vertrauen wollte. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie misstrauisch bleiben musste.

„Ich bin gestern.. noch in Eschenrod gewesen.“ gab sie irgendwann preis, als sich ihr Dialog endlich der eigentlichen Aufgabe widmete: Dem Tod von Jelka.
Sie erzählte ihm vorsichtig von dem miserablen Versuch in Rahjas Festung an weitere Informationen zu kommen. Sie unterschlug, was auf ihre Phexdienerschaft hindeutete und malte alle satuarischen Gaben aus, die sie zur Flucht angewendet hatte. Der Schalk in ihr kicherte innerlich, als er wieder in dieses abergläubisch-skeptische Starren verfiel. Trotzdem war eher eine kindliche Ängstlichkeit in seinem Blick zu sehen, keine missgünstige Abneigung. Ohnehin, ihr Alleingang in ‚Rahjas Festung‘ erboste ihn nicht, wie sie erwartet hatte. Verwunderlich…
„Habt keine Angst, Sprengler – ich bin völlig harmlos. Das weiß auch die Praioskirche, deshalb habe ich es nicht nötig, ein großes Geheimnis aus meiner Kraft zu machen. Auch wenn die Kirche des Götterfürsten weiterhin davon ausgeht, dass ich keine Zauber mehr anwende. Was ich auch nicht tue, wenn ich nicht gerade in Lebensgefahr bin und mit der Hilfe der Magie zu entkommen versuche.“ Sie ließ etwas weg, übertrieb dafür an anderer Stelle. Die Hexe mühte sich, ihn auf seine Angst hinzuweisen, um sie dann zu zerstreuen. Er musste sich mit seinen bitteren Vorurteilen auseinandersetzen, um sie zu überwinden. Sie wollte ihm helfen.
Er fragte nach, wollte mehr wissen: Eine Hexe offen vor der Praioskirche?
Zuerst war sie unsicher, ob sie ihm anvertrauen konnte, warum sie bei den Garether Praioten einen Stein im Brett hatte.
Aber dann erzählte sie ihm von dem Geheimnis aus den Rollen der Beni Rurech. Dass etwas kommen würde, das die Welt vernichten konnte… Sie vermied den verheißungsvollen Namen Borbarad nicht. Selbst wenn er nur eine Theorie war.
Sprengler war ein Mann der Führungsebene der Wache – vielleicht war es nicht schlecht, wenn er davon wusste. Sie betonte mehrfach, dass es sein konnte, dass es sich um einen Übersetzungsfehler, ein schlicht falsches Gerücht oder ein Ereignis handelte, das noch hundert Jahre in der Zukunft lag.
Aber er.. nahm es ernst.
„Ich muss meine Männer darauf vorbereiten, Untote zu bekämpfen. Ihr kanntet doch einen Schwarzmagier? Macht Ihr mich mit ihm bekannt?“
Sie sah das Unbehagen in seinen Augen, den tiefen Aberglauben. Aber sein Pflichtbewusstsein, das Bedürfnis die Städter zu beschützen übermannte all die Furcht in ihm. Und das bewunderte sie, also versprach sie es ihm.

„Ich bin bei der CriminalCammer gewesen.“ Noch eine Offenbarung. Sie erzählte ihm gerne Dinge, die nicht jeder wissen sollte, aber deren Wissen letztendlich nicht viel mehr war, als ein Test. Gab er weiter, was sie ihm anvertraute?
„Ihr seid doch auch ein Inspektor der Cammer, nicht war?“ Sie riet ins Blaue, wollte einen Verdacht ausschließen oder bestätigt wissen.
„Nein, wir arbeiten uns lediglich zu.“ Antwortete er ruhig. Neferu nickte matt und setzte fort:
„Leider eigne ich mich nicht als Inspektor. Ich bin zu tief in Eschenrod verwurzelt. Ich könnte nie einen Verrat an alten Loyalitäten begehen. Aber ich kann eine Art Informant bleiben. Gutes Geld, gegen gute Informationen. Außerdem sprach Isenbrook vom ‚Stadtwachendienst in spezieller Verwendung‘. Hättet Ihr Verwendung für mich, Sprengler?“

Noch am selben Tag nahm sie von ‚Dickfinger‘ das rote Barett, den blauen Wappenrock und den Fuchsring der Wache entgegen. Sie hatte es wohl geschafft ihn zu beeindrucken.
Sie sollte wiederkommen. Am gleichen Tag. Zur siebten Abendstunde. Ans Puniner Tor.

~

Um die Zeit zu überbrücken, erledigte sie die Aufgaben ihrer Liste.
Bei einem Scheibenmacher im Glaserwinkel von Nardesheim erstand sie etwas Teerpappe. Die würde sie irgendwann für TeGuden brauchen.. Der blasierte Stadtadvokat war noch immer in ihren Gedanken, sie würde ihre Rache bekommen. Der Name des Glasarbeiters war Tsatin Muska. Sie versprach ihm, ihn Nerix Sandsteiner, ihrem Architekten, zu empfehlen.
Auch die Kindervermittlung nahm weiter Gestalt an. Lamiadon – der ein kleines Mädchen namens Wilimay adoptiert hatte, die ebenso gerne Rätsel mochte wie er, half ihr ein Flugblatt zu entwerfen – er bestand auf ein Gedicht darauf. Sie ließ es für einige Münzen von Schreibwilligen in der Smaragdnatter kopieren. Der Traviatempel und auch der Eidechsentempel der jungen Göttin, beteiligten sich daran, diese Information unter das kinderlose Volk zu bringen. Letzterer übernahm zwei Monate Ausbildung für die kleinen Eschenroder, denen der Luxus Eltern zu haben nicht vergönnt war.
Auf dem Eisenmarkt informierte sich die Phex-Hexe, gewandet in bürgerliche Kleidung über die Härte und Geldwerte von Adamanten (zur Schmuckherstellung selbstverständlich, nicht um Glas zu ritzen!) und besorgte sich guten Klebstoff aus backigstem Harz.
Sie traf sich mit Salpico, erzählte ihm von Sprenglers Wunsch, eine Lehreinheit bezüglich untoter Gefahr abzuhalten und aß mit ihm zum Mittag. Er tat geheimnisvoll, als er beteuerte, ihr einen Adamanten besorgen zu können.
Und das Beste: Sie würde am kommenden Tag mit ihm einkaufen, ihn in eine neue Robe stecken!
Mittels eines Ruhe Körper – Ruhe Geist legte der Schwarzmagier die Hexe für zwei Stunden schlafen. Sie sollte für den Abend ausgeruht sein…

~

Es dunkelte bereits, als sich fünfundzwanzig schwer gerüstete Veteranen zusammen mit Unteroffizier Sprengler und einer schwarzhaarigen Frau mit leuchtend blauen Augen namens Korporal Millheimer (das war Neferu mit Hilfe ihres Hexenreifs…), die sie nie zuvor gesehen hatten, am Puniner Tor sammelten, um allesamt durch die Mannluke nach Eschenrod zu marschieren.
Sprengler selbst, der schon ihr Anführer im Orkenkrieg gewesen war, hatte die Frau als „wichtig“ bezeichnet. Sie sollten alle auch dafür Sorge tragen, dass sie nicht abgestochen wurde.
Er selbst ging mit der Fremden vorne weg.
Neferu spürte, wie ihr Blut wallte. Das war das Südquartier nicht gewohnt: Eine ganze Mannschaft bewehrter Krieger, darunter Stadtgardisten. Noch marschierten sie die südliche Reichsstraße hinab.
Sie raunte leise zu Voltan: „Phex wird verkannt, weißt du das?“ Sie machte eine kleine Pause. Warum sprach sie davon? Wollte sie eine Ader bei ihm ansprechen?
„Er wird gesehen, als der Händler, der Dieb… Er ist soviel mehr. Er liebt die Menschen. Deshalb tut er, was er tut. Auf seine Art.“ Sie wollte ihm erklären, warum sie tat, was sie tat. Ihr fiel nicht ein, wie sie es besser formulieren konnte. Aber dann… erinnerte sie sich an eine Geschichte aus dem Vademecum und begann zu rezitieren:
„Phex aber liebte die Menschen aus tiefster Seele und sah, dass jeder Gott Alverans ihnen Gaben schenkte. Phex aber ward nur als listig gescholten. So ging er zu Rahja und Tsa und sah, wie die Menschen sich in Lust vereinten und Leben gebaren. Doch fand sich in der Lust nicht immer auch Freude und Leichtigkeit wieder. Und so sagte Phex voll List: Lasst mich den Menschen Heiterkeit schenken, auf dass sie eure Gaben noch vollkommener spüren. Und sie willigten ein und so brachte Phex uns den Witz.
Weiter ging er zu Ingerimm und Peraine und sah, wie die Menschen Werkzeuge formten und Äcker pflügten. Und er sprach zu ihnen: Seht dort im Norden formen sie Pflugscharen und pflügen die Felder, wissen aber nicht, sich zu verteidigen. Dort im Süden ist der Pflug fremd und sie schmieden Waffen, um sich die Nahrung zu nehmen. Weshalb ist das so? Und sie antworteten, dass jeder das schmiede und aus den Feldern hole, was er sich selbst erarbeite. So schenkte Phex den Menschen den Handel, auf dass sie Waren tauschen können und die Gabe, sich ein Handwerksstück einfach zu nehmen, statt es selbst mit Fleiß zu bauen.
Und als er sah wie Menschen Handel trieben und über Land und Meer reisten, ging er zu Travia und Efferd: Seht, die Menschen sind eurer Gnade unterworfen auf ihren Reisen, sie brauchen die Gastfreundschaft und das wärmende Feuer, kämpfen aber gegen die Gefahren der Meere und stürme. Lasst mich sie beschützen wenn sie auf Handelsreisen Unterkunft suchen und wenn sie ihre Schiffe zum Handel auf die Meere fahren. Und so wurde Phex der Patron der Händler auf ihren Reisen.
Dann sah er die Dunkelheit des Nachthimmels. Er erkannte Boron als den Vater der Dunkelheit und Hesinde als die Mutter Madas. Phex aber wollte Teil dieses wundervollsten Gebildes sein und sprach: Schenkt mir einen winzigen Teil eures Nachthimmels und ich werde ihn schmücken euch zum Gefallen. Und als ihm ein nur verschwind geringer Teil der Nacht zuteil wurde, da verteilte er diesen am hanzen Himmel: Hier ein winziger leuchtender Punkt, dort ein zierlicher Lichtschein, da ein klitzekleiner Schatz. Und so erstrahlen die Sterne heute für jeden sichtbar am ganzen Firmament, obwohl die dunkle Nacht doch den viel größeren Teil des Himmels ausmacht. So wurde Phex der Herr der Sterne.
Voll Bewunderung blickte er zu Firun und Rondra, die sich im Wettstreit maßen. Und er ging zu Firun und sprach: Herr der Jagd, lehre mich, wie auch ich ein Jäger werde, so will ich dir gegen Rondra beistehen. Firun willigte ein und Phex lernte die nächtliche Jagd. Zu Rondra aber ging er und sprach: Herrin des Kampfes, lehre mich, wie auch ich ein Kämpfer werde, so will ich dir gegen Firun beistehen. Rondra willigte ein und Phex lernte den listigen Kampf. Und so lehrte er die Menschen seine Weise zu jagen und zu kämpfen.
Zuletzt ging er zum Göttervater Praios. Er staunte über die göttliche Ordung, doch sah er auch, wie einige sich nicht scherten um Gesetz und Ordnung. So sprach er: Wie kannst du dulden, dass jene, die deine Ordnung nicht anerkennen, sich aufschwingen über die Braven, die dich vergöttern? Und Praios antwortete, er könne nicht jene bestrafen, die die nicht in seinem Licht wandeln, denn er sei die Gerechtigkeit. Phex aber sah sein Meisterstück vor Augen und sprach: Vater Alverans, lass mich für dich in Dunkelheit und mit List erkunden, was die Feinde deiner Ordung planen, lass mich sie betrügen und strafen, wo Unglauben waltet. Praios aber sah, dass Phexens Hilfe nötig war. Und auch wenn er Phex deshalb verachtete griff er von nun an auf den Listigen zurück, um das zu tun, was getan werden musste.
All diese Gaben seiner göttlichen Geschwister brachte er den Menschen, doch eine gab er ihnen von sich aus: Sie selber sollten entscheiden über den Einsatz dieser Gaben. Denn Phex liebte die Menschen. Aus tiefster Seele.“

Voltan Sprengler sah die Sprechende lange an, während die Meute von Bewaffneten gen Eschenrod marschierte. Dann nickte er leicht und seine Mundwinkel hoben sich einen Deut.
„Ich denke auch, dass Phex verkannt wird.“ sagte er nur.
Sie bogen nach Eschenrod ein.
Gestalten huschten in Gassen, starrende Augen verfolgten sie hinter kaputten Fenstern. Niemand wollte bei dieser Art von Razzia bei irgendetwas Illegalem erwischt werden.
Auch der Goblin Knüppel-Golle starrte der Großgruppe mit offenem Mund nach.
„Du solltest expandieren, Golle!“ rief Neferu in ihrer für ihn unbekannten Gestalt. Innerlich lachte sie befreit. Sie fühlte sich gut, in anderem Äußeren unter den Leuten zu sein. Sie hatte ihm schon als Neferu geraten, sein Geschäft zu erweitern, vielleicht half diese ‚Zweitmeinung‘, ihren Wunsch zu unterstreichen.

‚Rahjas Festung‘ lag vor ihnen – erleuchtet und in regem Betrieb.
„Sollen wir Lärm machen, Weibel?“ fragte einer der Armbrustschützen aus Voltans ‚Regiment‘.
Der Angesprochene nickte entschlossen. „Ja, aber umstellt nicht das Haus. Wer fliehen kann, kämpft nicht auf Leben und Tod. Wir wollen Tote vermeiden.“
Die groben Veteranen traten die Tür krachend aus ihren Angeln.
„Razzia! Keiner bewegt sich!“
Trotz des Rufes, warf ein Freier einen Tisch um, versuchte sich in Sicherheit zu bringen. Auch andere reagierten nicht gelassen auf diese Meute Bewaffneter.
Unten stellten die Soldaten die Personen in der Schankstube. Fenster splitterten. Es gab blutige Nasen.
Neferu lief zur Treppe.
„Wo ist di Calmo?!“ rief sie, rannte die Stufen hinauf.
Niemand antwortete ihr aus dem Tumult.
Sie riss die Tür auf von der sie wusste, dass sich keine Hurenkammer dahinter befand.
Drei Männer sprangen auf, die gesessen hatten. Ein Almadaner, zwei heimische Eschenroder.
Geld lag auf dem Tisch, sie hatten sicher gerade um eine Anstellung verhandelt.
Die Schläger hatten noch keinen Vertrag unterzeichnet. Sie wollten sich aus diesem Ärger heraushalten und verpissten sich. Nef ließ sie durch.
Unten wurden Armbrüste gespannt.
Auf der Empore wartete Neferu auf den Almadaner. Sie erkannte ihn: Er war bei ihrem letzten Besuch gestern gewesen – er war es, den sie bewusstlos gewürgt hatte.
Er kam auf sie zu, versuchte sich an einem schmeichelnden Lächeln.
„Ich weiß, wer ihr seid – was ihr seid. Wo ist Di Calmo!?“ spie ihm Nef entgegen.
Der Schwarzhaarige mit dem Federhut grinste schmierig. „Ich weiß nicht, wovon Ihr redet! Dies hier ist ein angesehenes Bordell..!“
„Ich habe gesagt, ich komme zurück. Da bin ich! Ich habe andere mitgebracht! Wie geht es dem Glatzkopf? Haben sich seine Sehstörungen gegeben?“ zischte sie.
Sein Gesicht wurde schlagartig ernst. Er erkannte sie.
„Du bist das, Metze… Du hast keinerlei Beweise gegen uns, du Schlampe. Du wirst bezahlen..“
„Wir haben Beweise. Wir haben einen Magier. Und er befragte Jelkas Geist. Glaubt Ihr immer noch, Ihr kommt davon?“ sie war von der Eisigkeit ihrer Stimme überrascht und log in Vollendung.
Aber es half. Er wurde blasser.
„Ich werde dich töten!“ zischte er schlangengleich und akzentvoll.
„Dann versuch es..!“ forderte Nef ihn kampfbereit auf, mit einem bissigen Lächeln. Sie konzentrierte sich. Gleich würde sie ihn zu Boden hechten…
Der Almadaner zog sein Rapier…

Zwei Bolzen durchbohrten ihn sofort und er sank Blut hustend in sich zusammen, als er starb.

~

Neferu nahm die fünfunddreißig verängstigten Mädchen mit, als das Gebäude geräumt war, die letzten Freier flüchteten. Kehrten die Almadaner zurück, würden sie keine Huren mehr haben, die für sie arbeiteten. Die Hexe untermauerte ihren Plan mit einigen Münzen, die die Verbreitung des Gerüchts gewährleisteten, dass die Südländer ihre Mädchen misshandelten, sie töteten – und schlimmer noch – mit den Nichtzwölfen im Bunde waren und man seine unsterbliche Seele riskierte, wenn man für sie arbeitete.
Von ihren neuen Schützlingen erfuhr ‚Korporal Millheimer‘, dass di Calmo der Vetter des Conde war. Und dass der Conde derjenige mit der roten Feder war… Irgendwann würde sie diesen Mann finden und ihn zur Rechenschaft ziehen! Jelka würde gerächt werden.
Mit Sprenglers Hilfe fand sie eine Unterkunft für die verstörten Frauen: Die Herberge Heldenrast im Schlossviertel. Zu dieser Jahreszeit hatte sie immer leere Betten.
Sie handelte zwei Mahlzeiten am Tag aus und zahlte für einen Monat im voraus.
Als sie die vielen Dirnen untergebracht hatten, begleitete Sprengler sie ein Stück.
„Und?“ Sie drehte ihren Armreif in der Dunkelheit des Neumondes und war wieder sie, „was gefällt dir besser – grün oder blau?“ Sie hielt es für angemessen ein wenig neckisch zu kokettieren, ihn aus der Reserve zu locken.
„Grün.“ sagte er nur, ohne sie anzusehen.

~

Als sie in der Stille ihres Bettes bei Ahlemeyer lag, drehte sich Phexdan zu ihr um.
„Ich bin euch gefolgt.“ raunte er ihr leise zu. „Von den Dächern aus, habe ich euch zugesehen. Und da waren andere. Im Schatten verborgen. Sicher sechs bis acht an der Zahl. Almadaner. Sei vorsichtig…“

Die Almadaner kannten also ihrer aller Gesichter.
Theoretisch.
Wieder einmal war sie froh, dass Luzelin ihr einst diesen Armreif als Belohnung für einen großen Dienst gegeben hatte. Sie berührte das Mondsilberschmuckstück mit dem blauen Stein, atmete tief durch und schmiegte ihren Kopf an Phexdans Schulter.
Kurz bevor Borons seeliger Schlaf sie umfing, dachte sie an Voltan Sprenglers starrend-faszinierten Blick, als sie sich der Huren angenommen hatte. Es war ein erstauntes Innehalten gewesen.
Sie dachte an sein Gesicht. Und an die Almadaner.
Er war in Gefahr.

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