Gareth 24 (Neferu)

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Zeitraum: PER 1013

14. Peraine 20 Hal
Neferu strich ihm die Haare aus der Stirn. Dunkelblond oder hellbraun, wie Honig, wenn die Sonne sie erleuchtete. Ihre Hand glitt langsamer und länger durch die Strähnen, als es notwendig gewesen wäre. Sie kühlte Voltans Kopf mit einem feuchten Tuch, wischte ihm den Schweiß fort. Sie hatte ernsthafte Sorge um ihn, allerdings jetzt, wo sie bei ihm war, weniger als zuvor.

Die letzten Schritte vor seiner Tür hatte sie ein quälender Zwang schneller werden lassen. Sie hatte den Gedanken nicht ertragen, dass Dere diesen Mann verlor. Dass Gareth ihn verlor.
In unregelmäßigen Abständen erwachte er. Manchmal war er ansprechbar, dann wieder unruhig-fiebrig.
Mal erkannte er sie, dann fragte er wieder, wer da sei.

Sie verhielt sich so still, wie es ihre Selbstbeherrschung zuließ, erwärmte einen Stein für seine kalten Füße, kochte einen Tee, dessen Blätter sie vorsorglich mitgebracht hatte.
Und ironischerweise kam sie in diesem kleinen, schlicht eingerichteten Kasernenzimmerchen so zur Ruhe, wie schon seit Wochen nicht. Sie war ihm aus dem Weg gegangen, um diesem drängenden Gefühl, dass sie in ihrer Hexennatur nur zu gut kannte, keine Nahrung zu geben.
Aber sie hatte verloren, nachdem er ihr in der Schnittengasse im abendlichen Frühlingswind begegnet war. Er hatte sich umgedreht, ebenso wie sie und ihre Blicke waren sich begegnet. Kein höfliches, verabschiedendes Lächeln, sondern ein kurzer, unsicher-sehnender Blick traf sich von beiden Seiten in der Mitte, ehe sie sich hastig voneinander entfernten, jeder seinen eigenen Pflichten nachgehend.

Und jetzt saß sie hier, in der winzigen Offizierskammer, den Rücken an sein Bett gelehnt und las in dem neusten Schundroman von Autor Rosenkron.
Zuerst noch unruhig, schlief er weit nach Mitternacht einen tiefen Schlaf.
Sie zog sich auf den Stuhl zurück, den sie mit ihrem Umhang polsterte.
Was quälte diesen Mann? Warum zog er sich jeder Freundlichkeit, die über Höflichkeit hinausging so bestimmt zurück? Er ließ niemanden an sich heran. Wen hatte er verloren? Seine Schwester oder vielleicht.. eine Ehefrau?

Sie betrachtete im Kerzenlicht sein fieberfeuchtes Gesicht. Voltan war schon äußerlich zu ansehnlich, um so allein zu sein. Aber seine wohle optische Erscheinung war nicht gewesen, das sie beeindruckt und fasziniert hatte. Neferu drückte die Lippen sachte aufeinander.
Schöne Menschen gab es überall, zu Hauf. Nur leider verhielt sich ihr Inneres nicht immer gesund proportional zu ihrer hübschen Erscheinung. Bei Sprengler schien das anders, vielleicht lag es daran, dass er seinen eigenen Worten nach, und dem Spitznamen, den Torfstecher für ihn hatte, ein pummeliges Kind gewesen war. Voltans Geist schien ihr klar und gerecht, aber einsam. Er urteilte nicht vorschnell und gleichzeitig trieb der Aberglaube ihm die Furcht in die Knochen.

Ihre schlechte Laune hatte er mit Pilzbrot zu verbessern gesucht. Und auch als sie mitten in der Nacht zu ihm gekommen war, hatte er ihr voll Ruhe und Aufmerksamkeit im Schein der Kaminglut zugehört. Gut, es war um einen Paktierer gegangen, aber das hatte er nicht vom ersten Augenblick an gewusst. Er hatte ihr den nassen Umhang abgenommen, sie ans Feuer gesetzt und sie mit Wein und Brot verköstigt. Seine Gastfreundschaft und Geduld passte zu dem, was alte Nachbarn über eine jüngere Version gesagt hatten: „Ein so höflicher Junge!“
Torfstecher.., schnellte es durch ihre Gedanken, er kannte Sprengler von früher.. Er konnte vielleicht mehr sagen, über diese verschwundene Schwester und über ihn.
Zwar war ihr der Gedanke an den Nachtschatten unangenehm, hatte es doch erst wenige Wochen zuvor diesen beinahe-Unfall beim abendlichen Gezeche gegeben, aber was sollte es. Phexdan hatte Recht: Es war nichts, das sich nicht schnell aus der Welt schaffen ließ. Und sie musste wissen, ob der Vikar ein Quell neuer Erkenntnisse sein konnte.

15. Peraine 20 Hal
Ein steinerner, kurzer Schlaf hatte sie übermannt, ehe sie leise ihren Rucksack und den Umhang nahm und sich hinausstahl.
Hinaus ins erwachende Gareth. Der frische Wind vertrieb den Geruch von Krankheit, der ihr in der Nase lag.

Überall Bewegung. Wie hatte ihr der Geist Calamans während der Karmalqueste im menschenleeren Gareth vermittelt: Wir sind nichts ohne die Menschen, das Leben, den Trubel. Keine Herausforderungen, keine Interaktion, niemand, der einen anerkennen kann.
Sie bewegte sich durch den noch dürftigen, morgendlichen Strom von Leben. Auch wenn ihre Gedanken sich um den kranken Weibel rankten, gelangte sie wie von einem unsichtbaren Südweiser bewegt, zu Ahlemeyers alter Sattlerei.

Neferu weckte Phexdan vorsichtig, drückte ihm einen freundschaftlich-nassen Kuss auf die stachelige Wange, ehe sie ihm vom kranken Wachoffizier erzählte.
Der Halbmaraskaner war nicht glücklich darüber, sagte aber nichts gegen ihre Entscheidung, sich die letzte Nacht um ihn gekümmert zu haben.

Der Tag an der Weststadtmauer im Dienste der Spießbürger verging wie in einem Traum. Neferu war gedankenvoll, nicht bei der Sache. Wie durch einen Schleier ließ sie die Pflicht passieren, handelte wie ein Gerät.
Sie hasste und genoss ihren Zustand gleichermaßen. Sie kannte ihn, denn sie war und blieb ein Wesen des Gefühls, ganz gleich, ob sie in die graumagische Gilde eintreten oder einen Ratsposten in der Stadt erkämpfen würde. Sie hatte sich unglücklicherweise verliebt. Nicht das erste Mal. Es tat weh und zeitgleich war es erhebend und süß, wenn sie wenige Augenblicke in der Woche erlebte in denen es sich anfühlte, als würden diese zarten Bande von der anderen Seite erwidert werden.
Er hat sich umgesehen…
Neferu hatte sich vor Monaten damit abgefunden, dass traviaische Tugend nichts war, das ihr ins Blut gelegt worden war: Ein Geschöpf wie sie lebte Emotion und war geprägt von Phasen wankelmütigen Gefühlschaos‘.
Sie würde niemals etwas daran ändern können, auch wenn sie in unregelmäßigen Abständen ebenso daran litt, ihre Liebsten zu verletzen. So wie jetzt Phexdan. Sie liebte ihn mehr als jeden anderen Menschen und war sich sicher, dass sein Tod ihr irgendwann den Rest Verstand rauben würde (und sie meinte es nicht literarisch). Trotzdem hatte Voltan Sprenglers Ambivalenz ihren Geist verwirrt und eingenommen. Sie erinnerte sich an seine analytisch-scharfen Blicke mit denen er die Menschen am Tor geprüft hatte, wie ein Dieb, der seine Beute ermittelte und an den geheimnisvollen Anhänger, der ihn letztendlich als Inspektor der Criminal Cammer ausgewiesen hatte und ebenso an das von ihm geknackte Schloss ihres Grundstücks.
Er hatte durch all das mehr geöffnet als nur das Tor zu ihrem Garten.
Herb wehte eine Böe und verpasste ihr eine fröstelige Gänsehaut.

Am Rand ihrer Wahrnehmung wurde ihr bewusst, dass ihr heutiger Dienst zu Ende und sie auf dem Weg zur CriminalCammer war, um einen der Inspektoren schwer krank zu melden.
Sie war nicht in der Stimmung für Erledigungen. Im Grunde hatte es den Anschein, als sei ein stumpfer, lähmender Nebel über sie gekommen, kaum dass sie Voltans Krankenzimmer verlassen hatte.
Es hatte sie wirklich hart und unerwartet erwischt.
So wie sie hoffte, dass Sprengler sich bald von seinem Fieber erholte, so erhoffte ein Teil von ihr sehnsüchtig ihre eigene Erlösung, in welche Richtung die am Ende auch immer gehen würde.
Sie wanderte noch bis nach Sonnenuntergang durch Gareths Straßen. Und je mehr sie über sich selbst nachdachte, desto nüchterner und resignierter wurde sie. Es war nicht gerecht.
Nichts was ihr wiederfuhr empfand sie als Gerechtigkeit im größeren Sinne. Überall stieß sie auf schnelles Urteilen, Misstrauen und sogar offenen Hass. Hatte sie sich nicht ihr ganzes Leben bemüht, sich einzufügen, ihren göttergegebenen Platz zu finden? Pfeilschnell schossen die inneren Bilder von einem Extrem zum nächsten. Die Gedanken vom Ausbrennen ihrer Magie verschafften ihr keine Erleichterung, sondern einen trotzigen Zorn gegenüber der Menschen, die sie nicht akzeptieren konnten, wie Tsa sie auf diese Welt gelassen hatte, folgten solchen, es zu tun wie sonst auch: Einfach die Gegend zu verlassen. Ein Weiterziehen hatte ihr immer kurze Linderung verschafft. Es half mit Dingen abzuschließen oder sie wenigstens in eine tief vergrabene Kiste zu sperren. Gedanklich natürlich.

Um nicht als „Dunkles Gelichter“ zu gelten, entzündete sie in der aufkommenden Dunkelheit träge ihre Dienstlaterne.
Wegrennen, schon wieder? Fragte sie sich selbst und fand keine Antwort.
Wenn die Praioten meine Gedanken kennen würden… verfasste sie innerlich mit Unwohlsein. Es war nicht die Vorstellung, wie sie dann auf dem nächsten Scheiterhaufen lichterloh in Rauch aufgehen würde, vielmehr die Tatsache selbst, dass sie Gedanken hatte, die sie niemandem anvertrauen konnte, da sie sie selbst immer wieder zu der Entscheidung veranlassten, den Gefühlen eben nicht freien Lauf zu lassen. Sich dem entgegen zu stellen, was sie von Lucinda und auch Luzelin gelernt hatte. Die Frauen hatten sie gelehrt, dass jede Emotion von der Erdmutter herrührte und gelebt werden musste. Dass man sich ihr hingeben musste, im Großen wie auch im Kleinen.
Aber das konnte Neferu nicht. Sie wollte es nicht. Denn manche Gefühle erschienen ihr in Situationen, in denen sie aufgewühlt war, irrsinnig. Und sehr, sehr gefährlich.
Wenn sie an Tagen wie diesen litt, sah sie Gareth brennen. Sie sah ihre eigene Rache aus Feuer, Unheil und Zerstörung. Sie spürte diese Wut aufkeimen, die herrührte aus der Zurückweisung und dem Nichtverstehen aller.
Was auch immer in ihr steckte, es glich einem unberechenbaren Wesen, welches sich selbst als das Opfer sah und das durfte nicht heraus.
Vielleicht hatte sie es selbst erschaffen, indem sie von vornherein, bereits als Kind ihre sumugegebenen Emotionen heruntergeschluckt und versteckt hatte. Das war nicht unwahrscheinlich. Sie hatte sich selbst zu einem unter Druck stehenden Kessel gemacht, da sie nie gewagt hatte, den Deckel zu heben.

Aber das Kind war in den Brunnen gefallen, wie schon der Graumagier Salix so treffend bemerkt hatte.
Es half nur eines: Sich ganz ihrem Herren hinzugeben, listenreich, mit kühlem Kopf und voller Geheimnisse. Und einem Schmunzeln. Und wenn sie auch sonst nichts mit Bestimmtheit sagen konnte, dann doch, dass sie ihr Leben darauf verwettete, dass es Phex allein war, der ihr die Beherrschung lieh, dem Guten, dem Verstand in ihr stets Vorrang zu verschaffen.
Sie spürte trotz des Garether Windes die Wärme in sich aufsteigen, hörte im Kopf das samtige Lachen und mit einem Male fühlte sie sich geboren und auf dem richtigen Weg.
Wen auch immer sie liebte und in ihrem langen Leben lieben würde, Phex würde über ihnen allen thronen, als Stern ihres Innersten.
Die Erkenntnis gab ihr Trost.
Sie war müde. Nicht nur am heutigen Tag. Sie war es leid, wie schnell sich ihr Kopf verdrehte, wie schnell die Faszination eines ungewöhnlichen Charakters sie schonungslos packte.
Männer mussten sich keine Mühe geben.
Niemand hatte sie je erobert.
Sie selbst war diejenige, die dem Reiz erlegen war, sich in ihre Herzen zu stehlen. Nicht aus spielerischer Bosheit, sondern aus Neugier, Interesse und Verlangen. Ob es nun Garions verstockte Unschuld, Calfangs Verbissenheit, Zerwas‘ animalische Unberechenbarkeit oder Phexdans verspieltes Herumtreiben gewesen war: Sie alle hatten gemein, dass sie in ihr ins Auge gestochen waren.
Sie hatte sie absichtlich gereizt und mit aller Leidenschaft an ihrer Seite gewollt– nacheinander versteht sich.
Bei Garion war es hastig schnell gegangen, fast beängstigend schnell. Calfang und Zerwas waren härtere Brocken gewesen. Gelohnt hatte es sich nur bei Phexdan.

Wie eine Mirhamionette lief sie an den Fäden ihrer Hirngespinste. Ahlemeyers alte Sattlerei tauchte in der Dunkelheit auf. Immer wieder peitschte der beginnende Sturm Tropfen in ihr Gesicht.
Egal, wie ihr Leben bisher verlaufen war, sie war nicht zufrieden.
Immer nagte es an ihrer Seele. Ob es ein unstillbarer hexischer Wesenszug war oder schlicht die Tatsache, dass es ihr an einem Menschen fehlte, der ihr genau das gab, was sie brauchte und für den sie dasselbe tun konnte, vermochte sie nicht zu sagen.
Sie wollte nicht verbittern. Nicht schon jetzt, bei all der Zeit, die ihr blieb, hatte sie noch genug schlechte Jahrzehnte vor sich, davon war sie überzeugt. Sie wollte durchhalten, starrköpfig und geistesstark.
Ihr klarer werdender Blick offenbarte ihr Ahlemeyers Pension. Es brannte Licht, die Fenster vermittelten Wärme.
Augenblicke vergingen, in denen sie sich verhielt wie eine von Yol-Anas Steinstatuen.
Gehen? Bleiben? Einfach verschwinden?
Ein Ende mit Schrecken?
Ein tiefer Atemzug dehnte ihre Brust, als sie sich Phexdans süßes Lächeln vorstellte.
Nein. Nicht mehr. Nicht weglaufen.
Am Ende sah sie ihn nie wieder und das würde sie für immer bereuen. Für immer. Und das war lang.
Aber jetzt gerade konnte sie seine Anschmiegsamkeit nicht ertragen. Nicht ihretwillen, nicht seinetwillen. Sie verdiente seine Zuneigung nicht. Nicht jetzt.
Sich abwendend hielt sie schneller auf das Puniner Tor, den Weg ins Südquartier zu. Sie würde durch die Mannluke kommen, mit Hilfe des Ringes der Wache.
Der Tempel der Schatten war der einzige Ort, der sich wirklich nach Geborgenheit und Verständnis anfühlte. Sie konnte nicht anders und sprach die lautlosen Worte des Göttlichen Zeichens. Bitte, zeig mir, dass du bei mir bist, mein Herr, mein Liebster, mein Gott… Und sie erflehte heiß sinnend sein Lachen. Und Phex ließ es zu, gab ihr das Gefühl, beschützt zu sein und schmunzelte leise lachend in sie hinein. Doch auch Phex war nicht Satinav. Phex konnte nicht in die Zukunft sehen.

16. Peraine 20 Hal
Als Neferu die Augen öffnete, schmerzte es. Ein Lid war geschwollen und pochte unsäglich.
Wo war sie? Was war passiert? Die niedrige Morgensonne drang durch ein schäbiges, glasloses Fenster und flutete den kärglichen, aber sauberen Raum, den sie nicht kannte.
Ihre Fingerspitzen ertasteten das Bettgestell, auf dem sie lag. Die Wolldecke mit den gestopften Löchern kratzte auf ihrer nackten Haut.
Nackte Haut…
Sie fror.
Neferu versuchte sich zu erinnern, aber sie fand keinen Anhaltspunkt. Sie hatte Phexens Lachen gehört… Und dann? Wie war es weitergegangen?
Verwirrt versuchte sie sich aufzurichten. Ihr Körper fühlte sich steif an, sie fühlte Blessuren, als sie sich auf die Ellenbogen stützte.
Schritte kamen von links, gingen über Holz.
„Wie geht es Euch, Fräulein?“ eine verhärmte junge Frau lächelte matt und sah sie an.
War das nicht Tormans Mutter? Wie um alles in Dere…
Sie hatte zum Phextempel gewollt – mehr wollte ihre Erinnerung nicht preisgeben.
„Wie komme ich hier her..?“ Ihre Stimme klang überraschend funktional, wenn auch etwas heiser. Immerhin war sie nicht halbtot.
Die Miene der Mutter des kleinen Informanten wurde mitleidend.
„Die Jungs haben Euch schreien gehört und..“
„Schreien?“ Ungläubig starrte Nef sie aus einem großen und einem malträtierten Auge an. Sie stellte sich vor wie sie auf dem dreckigen Boden in Eschenrod lag und schrie. Es war nur ein konstruierter Gedanke, die Erinnerung an die Ereignisse blieb fern.
Behutsam und langsam ergänzte die Eschenroderin:
„Ihr seid hübsch, Fräulein – und habt diesen schönen Mantel getragen, sagt Fricken..“
Nef wurde übel. Eschenrod…
Genau, sie war nach Eschenrod gegangen, denn in einem Anflug von Euphorie hatte sie die kleine Hex (so der Name des Mädchens) und die zwei Jungen, die Anzeichen zeigten, sich dem Listenreichen dienlich erweisen zu können, mit in den Schattentempel nehmen wollen. Das Waisenhaus war ihr Ziel gewesen.
Sie hatte nicht an die Gefahren gedacht. Eschenrod war ihr immer vertraut gewesen. Sie hatte eine lange Zeit hier gelebt. Sie hatte sich sicher gefühlt, überlegen aller Gefahren der Straße, selbstbewusst gegenüber den Lungerern und Zerstörten. Und insgeheim musste sie sich eingestehen, dass sie unvorsichtig geworden war, ob all der Überheblichkeit, dem Gefühl, der Stadtteil würde irgendwie ihr gehören.
Und jetzt… Sie ahnte Schlimmes.
Ihre Finger schoben sich unter die Decke…
„Sie sind zu sechst gewesen, Fräulein.“ fuhr Frau Torman – so nannte Nef sie in Gedanken (denn sie war die Mutter von Torman, einem ihrer kleinen Spitzel) – fort.
„Sie haben euch den Umhang geklaut. Und was Ihr am Gürtel hattet. Und..“
Neferus Finger erreichten ihren Unterleib. Die kleinste Berührung dort trieb ihr Tränen in die Augen, als sie die Blutergüsse in den tieferen Regionen ertastete.
„Das… ist nur einer von Ihnen gewesen. Ihr hattet noch Glück, wahrscheinlich hätten die Euch umgebracht, aber die Jungs waren noch draußen und..“
Die Phexgeweihte erlag der Übelkeit und übergab sich.

19. Peraine 20 Hal
Seit drei Nächten war sie nun im Perainetempel und verschlief den halben Tag. Die Erinnerung an das Geschehene war nicht zurückgekehrt und würde es auch nie wieder. Salpico hatte seinen Zeigefinger auf ihre Stirn gelegt und die Bilder der Gewalttat mit Magie herausgerissen. Er hatte sie sich selbst einverleibt. Auch Phexdan hatte er sie gezeigt.
Nef befand sich in der ungewöhnlich seltsamen Situation, die einzige des Dreiergespanns zu sein, die sich nur aus Erzählung an die Schändung ihres eigenen Körpers erinnerte.
In den Händen von Dimione und Rohalides wollte sie genesen. Eine seltsam monotone Ruhe lag in ihr.
„Das ist der Schock.“ Hatte Dimione noch am ersten Tag erklärt.
Nef fühlte sich wie vor einigen Monaten, als Zerwas sie zur Ader gelassen hatte. Blass, kränklich und blutarm.
Die zwei Geweihten der lindernden Göttin hatten die Wunden bluten lassen. Erste Anzeichen einer schlimmeren Krankheit erforderten solche Maßnahmen.
Absurd. Hatte sie gedacht, als sie in einem warmen Bad aus Kräutern, Wasser und ihrem eigenen Blut gesessen hatte. Die bleierne Gefühllosigkeit irritierte sie.
Warum rastete sie nicht aus?
Phexdan und Salpico hatten wesentlich schwerer an der ganzen Sache zu tragen, hatten sie sich doch mit der Erinnerung belastet, die ihr erspart geblieben war.
Jeder der beiden ging auf seine Weise damit um. Phexdan ungewöhnlich still und sich abwendend, Salpico in sprühender Wut.
Sie konnte in dem Moment nur diese beiden um sich haben. Sie kannte sie am längsten, am Besten und auch wenn sie gute Freunde in Gareth gefunden hatte, wollte sie sich in diesen Tagen an das halten, was sie schon vorher gekannt hatte. Bevor sie zurück in die Hauptstadt gereist war.
So bat sie die Perainegeweihten, niemanden herein zu lassen, außer den tulamidischen Magier und den maraskanischen Wuschelkopf. Trotzdem hatte sie am Puniner Tor der blonden Wachfrau Helchtruta beim Durchkommen Bescheid gegeben, dass sie angegriffen worden war. Sprengler sollte wenigstens wissen, was los war.
„Wir müssen sie finden. Und wir müssen sie strafen.“ Hatte ihr Urteil über die sechs Männer gegenüber ihrer zwei engsten Freunde gelautet.
Selbst Phexdan stimmte diesem Maß an Selbstjustiz mit bitterer Miene zu.
„Aber lass es mich auf meine Art machen..“ hatte Salpico düster geschnarrt und unüberlicherweise hatte Neferu dem ihre Zustimmung gegeben.
„Auf deine Weise, Salpico.“

20. Peraine 20 Hal
Viel zu früh erwachte Neferu. Ihr Herz klopfte unregelmäßig und laut. Ihr war, als würde ihr Körper mit jedem Schlag in seiner Gesamtheit beben.
Ein Verfolgungstraum. Und mit diesem Traum kam der blanke Zorn. Sie ließ sich nicht in die Ecke drängen. Nicht verscheuchen noch schänden. Fremde, schäbige Männer hatten gewagt, sich ihrer mit roher Gewalt zu bemächtigen.
Sie wollte sie alle tot sehen.

Noch vor Mittag durfte sie gehen. Eigentlich hätte sie heute mit der Torman-Familie zu Mittagessen wollen, um einen Kontakt zur Alten Gilde herzustellen. Eigentlich. Statt dessen kleidete sie sich fast gänzlich in Schwarz, wie es selten war und Trug ihre rote Tuchrüstung dazu.
Sie wollte nicht noch einmal schutzlos in Eschenrod herumspazieren.
Gemeinsam mit Phexdan und Salpico, die – wie sie nebenbei bemerkte – beide zufälligerweise in Schwarz und Blau gekleidet waren, hielt sie auf das Puniner Tor zu, in der mittäglichen Perainesonne, die alles, jede Kontur, in klarer Deutlichkeit hervorhob und beleuchtete.
Sie wollte sich bedanken. Bei Tormans Eltern.
Und sie wollte sich nicht aufhalten lassen. Sie wollte stur tun, was sie heute ohnehin vorgehabt hatte. Sie wollte verbissen anknüpfen.
„Wo kommt ihr her und wo wollt ihr hin?“
„Wir sind aus dem Arena-Viertel und wir wollen nach Eschenrod, da wir gedenken dort in Kürze ein passables Bordell zu eröffnen. Wir haben vor zu diesem Zwecke eines der Häuser der Familie Bugenhoog aus der Weststadt abzukaufen.“ Ihre Antwort kam schnell und war nicht einmal gelogen.
Sie wurden durchgelassen.
Ihrer aller Finstermienen nach verwunderte es sie gar nicht, dass man das Grüppchen für eine Stichprobe auserwählt hatte. Phexdan und Salpico flankierten die Frau in ihrer Mitte und gemeinsam bogen sie in den Sonnenweg ein, die durch das Elendsviertel führende Ader.
Dutzende leere Augen beäugten sie missbilligend, ängstlich oder neugierig.
Die Wäscherin Hertwig Butterweck war bei der Arbeit und bekam von Neferu an diesem Tag keinen Kreutzer für eine Information, sondern nur ein knappes Nicken. Ein gutes Nicken. Ein Nicken bedeutete Verbundenheit, die locker oder fest sein mochte. Aber immerhin keine Abneigung.
Ihr Ziel war die Mietskaserne, in der Tormans Eltern lebten.

Die Mutter machte große Augen, als sie die fünf Dukaten bekam, die Neferu ihr in die Hand legte.
„Für meine Freunde will ich nur das Beste.“
Die Frau bedankte sich überschwellig und ihre Dankbarkeit nutzend, kam die Hexe zum Punkt.
„Und ich will Kontakt zur Alten Gilde.“

Als sie nach getaner Arbeit und ausgehandelter Abmachung wieder nach unten auf den Markt kam, schlug Salpico die Zeichnungen an, die Neferu von den sechs Männern gemacht hatte – immerhin die Gesichter hatte der Schwarzmagier sie sehen lassen.
Phexdan stellte sich auf einen Stuhl, während sich eine dreckige Menschentraube um ihn versammelte. Die Belohnung – Regenbogenstaub –war eine Verlockung für das Gesindel.
Huschenden Blickes bewegte sich Nef währenddessen über den Markt.
Sie wollte sich selbsttätig umsehen.
Und wider Erwarten war er da.
Nicht der Täter, der sie genommen hatte, einer von denen, die zu spät an der Reihe gewesen waren.
Er kauerte sich in den Schatten eines Hauses, maß seine Chance zu entkommen. Er hatte sie vielleicht noch nicht gesehen.
Sofort suchte sie Phexdans Augen. Sie gab ihm mit füchsischen Handzeichen zu verstehen. Die Nachricht wanderte weiter zu dem Magier. Und mit dessen Wut hatte niemand gerechnet.

Sie überwältigten ihn. Der Mann erhielt von ihr die Wahl: Den ungebremsten Zorn eines Dämonologen oder die Gerichtsbarkeit. Der Feigling entschied sich selbstverständlich für den zweiten der beiden Wege. So war er nur des Todes, wie er wohl vermutete.
Salpico und Phexdan hielten den Gefangenen, der aus vielen Körperöffnungen blutete, während Neferu sich am Puniner Tor bei Weibel Sprengler anmelden ließ. Sie warteten im Erdgeschoss des Wachturms, ehe der hochgewachsene Mann die Leiter hinabgestiegen kam.
Seine Verwunderung wich nach wenigen Augenblicken.

Neferu ließ den Gefangenen beschrieben, was er und seine Kumpanen getan hatten. Das Abpassen der Unvorsichtigen, das Vergewaltigen durch den Ersten, die Störung durch die Jungs und sogar die Absicht, sie anschließend zu beseitigen.
Aber das reichte ihr nicht.
„Zeig sie ihm! Zeig ihm die Erinnerung, Salpico! Ihr stimmt doch zu, es selber sehen zu wollen, Weibel?“
Voltan nickte. „Was muss er denn dafür-“
„Memorabia Falsifir.“ Unterbrach ihn die dunkle Stimme des tulamidischen Magiers.
Voltan Sprengler griff sich an den Kopf, seine grauen Augen weiteten sich.
„Macht, dass es aufhört!! Macht es weg!! Nehmt es fort!“
Salpico schnippte mit den Fingern und machte eine wegwischende Bewegung.
Soviel Macht in diesem Mann.. schlich es bewundernd durch Neferus Kopf. An diesen Tagen sah sie den Brabaker in einem anderen Licht. Die Hexe hatte die Oberhand in ihr. Und sie verlangte nach nichts als Rache.
„Macht ihn fertig für die Rabenstatt.“ Brach es außer Atem aus Sprengler hervor. Blass starrte er seine Gäste an.
„Weibel..?“ Die zwei anwesenden Wachen zögerten, „Meint Ihr nicht.. für das Gerichtsverfahren?“
Hastig nickte Voltan Sprengler.
„Für das Gerichtsverfahren. So ist es.“

22. Peraine 20 Hal
Gegen Mittag eilte Neferu bei Nieselregen durch Gareth. Der Weg war nur kurz, er führte sie von Ahlemeyers Unterkunft in der Schnittengasse zum Puniner Tor.
Sie brauchte dringend Rat. Einen verstandsbetonten Menschen, mit dem sie sich austauschen konnte. Sie musste reden, mit jemandem, der einen kühlen Kopf bewahren konnte oder von dem sie das wenigstens dachte! Zuerst Sprengler, dann Isenbrook und im Notfall auch Dexter Nemrod – so sah es ihr Plan vor.
Lamiadon war bei ihr gewesen. Auf Anraten Salpicos war der Elf gekommen und hatte einen Zauber gewirkt, der in der Lage war Sikaryan zu erspüren, die Lebenskraft, die einem Menschen und anderen lebendigen Wesen zuteilwurde, in der Sekunde, in der sie erschaffen wurden.
Und dieser harmlose Zauber hatte ihre Welt aus den Angeln gerissen.
Die Bastarde hatten sie geschwängert.
So unwahrscheinlich das auch gewesen war, so real war es jetzt.
Die Vergewaltigung hatte nicht nur ihren Körper geschunden und die Angst in ihr zum Vorschein gebracht, sie hatte auch deutlichere Spuren zurückgelassen. Male, die die Perainekirche nicht hatten heilen können. Ein Leben war in ihr erwacht und der Gedanke war so erdrückend, dass sie den Wunsch hatte, ihren Körper zu verlassen und in einem neuen und unbeschmutzen zu erwachen.
Der Weibel war zugegen.
Dieses Mal machte sie sich nicht den Spaß, sich an ihn heranzuschleichen. Sie wollte ihn nicht necken. Es schien ihr, als sah er die Panik und Abscheu in ihren Augen, er legte die Schreibfeder beiseite und stand von seinem Stuhl auf.
Er rückte ihn und einen weiteren an den Kamin der zugigen Wachstube.
„Setz dich.“ Bat er.
Sie setzte sich.
„Ich bin hier, weil ich jemanden brauche, der bodenständig ist und der mir einen guten Rat geben kann. Ich weiß, wir kennen uns nicht allzu lange, aber ich mag dich.“ Begann sie leise, ohne den Blick von seinen grauen Augen abzuwenden. Zwischen ihren Körpern lag Distanz auf zwei Ebenen. Die Stühle waren nicht sonderlich dicht aneinander geschoben. Diese weltliche Separation aber war verschwindend unwichtig neben dem zweiten Grund: Sie wollte ihren Körper für sich und er – vielleicht aus einer Höflichkeit, die ihn von Kindesbeinen an ausmachte heraus – schien es zu ahnen und ließ ihr Raum. Kein tröstendes Streicheln der Schulter, kein Rückenklopfen, nichts. Sie dankte es ihm zutiefst und ging auf in der körperlosen Verbindung ihrer Blicke.
„Es ist etwas passiert… Es ist fast schlimmer, als das, was in Eschenrod passierte, denn immerhin erinnere ich mich nicht mehr daran, dank Salpico. Lamiadon war bei mir. Er wirkte einen Zauber.“ Sie zitterte schwach und blickte ihn vielsagend an.
„Sie haben mir ein Kind gemacht. Und es wäre ein Tsafrevel, etwas dagegen zu unternehmen, oder nicht?“

Sie konnte nicht beschreiben, wie es passiert war, aber es war dem Inspektor gelungen, sie zu beruhigen. Kein oberflächliches Ruhigstellen, vielmehr eine innere Ruhe.
Vor Stunden hatte sie ihm mitgeteilt, wie es um ihren körperlichen Zustand bestellt war. Er war bestürzt gewesen, aber er hatte sie trotzdem gerettet.
Er hatte sie weder in den Arm genommen noch diverse Ratschläge erteilt.
All das hätte ihr nicht geholfen.
Stattdessen hatte er ihr Brot mit Pilzpastete gegeben und ihr zugesagt mit ihr in den Tsatempel zu gehen, um nachzufragen. Seine Präsenz nahm ihre Hemmung, diesen Gang zu gehen, denn sie musste ihn nicht alleine beschreiten.
Sprengler hatte sie für die paar Stunden in sein Leben aufgenommen und das hatte ihr wohlgetan. In eine Decke gewickelt lag sie vor dem Kamin, lachte leise über die Kiste, die er über die Bodenluke geschoben hatte und schmunzelte still über seine Reimgesänge mit denen er sich über die verhassten Akten ausließ. Sie wären danach quitt, sicherte er sich matt scherzend ab.
Und so hart der Boden der Wachstube auch sein mochte, ihr unruhiges Herz legte eine leichte, fast beschwingte Rast ein, verlangsamte, ließ sie tief atmen. Und sie schlief ein, begleitet vom sachten Kratzen von Feder auf Papier und dem Rascheln von Buchseiten.

23. Peraine 20 Hal
Schluchzend saß Neferu zusammengekauerte in ihrer Wohnung in Ahlemeyers Altstadthaus und nässte ihre Knie mit Tränen und Rotz.
Phexdan war die Nacht über weg gewesen, hatte sich volllaufen lassen. Und heute… hatte er Gareth und sie verlassen. Er hatte sein Zeug noch in der Nacht zusammengepackt und sich auf den Weg gemacht. Zwar hatte er sie gefragt, ob sie mit ihm kommen wollte, doch hatte er gewusst, dass sie nicht konnte. Zuviele unerledigte Aufgaben harrten in Gareth und hielten sie. Sie wollte nicht gehen, noch nicht. Doch der Maraskaner war am Ende. Er konnte nicht bleiben in dieser Stadt, die ihm in ihrer Größe und Grausamkeit alles abverlangt hatte.
Zwischen ihren Tränen und dem Gefühl allein gelassen worden zu sein, empfand sie Verständnis.
Trotzdem… Ohne Phexdan, ohne die Liebe ihres Lebens war sie dem schwarzen Loch ausgeliefert, das in ihr wartete. Zwar hatte sie Salpico, aber es dämmerte ihr, dass der Schwarzmagier das Schlechte ihres Wesens langfristig nährte, anstatt es mit Heiterkeit und Verständnis zu besänftigen.
Keinen Tag länger wollte sie in diesem Raum bleiben.
Während sie und Salpico ihre Zimmer räumten, herrschte tiefes Schweigen.
Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Und Nef spürte wie sich Kälte in ihr ausbreitete. Erst im Herzen und von da aus in die Zehen, Finger und jede Haarspitze.
Ihre Mimik wurde härter, der Schmerz nahm ab. Sie war wieder allein. Sie machte Phexdan keinen Vorwurf. Sie verstand ihn voll und ganz, war sie doch selbst oft genug vor Problemen davon gelaufen.
Als die Zimmer leer waren, das wenige Hab und Gut in einer Ecke stand, zog sie ihre besten Kleidungsstücke an, schnitt sich in den Fingern und verteilte das Blut auf ihren Wangen.
Satuarias Herrlichkeit.
Galant schob sie ihren Arm in den des Magiers.
„Gehen wir, Salpico. Wir werden ein Haus kaufen.“

Der Handel war gemacht, ihre Unterschrift getätigt. Die Bugenhoogs hatten nicht weiter gefeilscht, wie sie es erhofft hatte. Fünfhundert Dukaten hatten den Besitzer gewechselt und sie war jetzt die Besitzerin einer dreistöckigen Bruchbude in Eschenrod.
Während Salpico und sie das renovierungsbedürftige Gebäude besichtigten, trugen gut bezahlte Tagelöhner ihre Sachen hinein. Am Ende würde Salpico sie mit einem Zauber schützen. Niemand sollte je wieder Hand legen an die Dinge, die ihr gehörten.
Salpico konnte ihr das Versprechen abringen wenigstens die folgenden drei Tage noch in einer Herberge zu nächtigen in der auch das Fohlen Elster seinen Platz fand. Er mietete ein großes Doppelzimmer im „Schwert in Panzer“ und besorgte ihr Tollkirschensud.
Im Tsatempel (zu dem sie Sprengler am vorherigen Abend geleitet hatte) hatte sie erfahren, dass es nicht nur erlaubt, sondern sogar ratsam war, die Frucht einer Vergewaltigung zu beseitigen. Die Kinder, die daraus erwuchsen trugen nicht selten einen dämonischen Kern.
Sie schluckte den Sud. Zwei Stunden sollte es dauern, ehe er zu wirken begann.
Salpico war an ihrer Seite. Für seine Verhältnisse war er überraschend verständnisvoll.
Er nahm sie in den Arm und spendete ihr freundschaftlich Trost. Aber noch während er sie eng an sich gedrückt hielt, war ihr, als sei sie diejenige, die ihm den Halt gab, in der Welt zu bestehen und nicht anders herum.
Ihm war das Alleinsein ein solcher Graus, dass er sie brauchte.
Salpico war anschmiegsam. Wäre er ein Kater, er hätte geschnurrt, da war sie sich sicher.
Neferu sprach von ihrer Rache. Sie redete sich in Rage. Der Tod war nicht genug. Das Misshandeln durch einen Dämon – nicht genug. Sie spürte das schwarze Loch in sich größer werden, es verschluckte tsagefällige Farben und unauffälliges Grau.
Die Ereignisse hatten an ihrer Willenskraft geschabt, sie abgerieben, nach und nach.
Sie wollte die bezahlen lassen, die es gewagt hatten, sich an ihr zu vergreifen – und zwar in einem solchen Maße, dass es nie wieder jemand auch nur erwägen würde, die Hand gegen sie zu erheben! Sie sollten sie fürchten und in geflüsterter Hochachtung von ihr sprechen!
Ihre eigene Stimmlage schreckte sie auf. War das noch sie?
Salpicos pechfarbene Augen sahen sie besorgt an. Selbst er riet ihr ab, sah, was das Gefühl mit ihr tat.
„Ich muss nach draußen…“ Sie erhob sich hastig, zog sich an, verschloss die Fuchsfibel im roten Lodenstoff des Umhangs.
„Wir werden gehen.“ Salpico war zur Stelle, bereit ihr ein Freund zu sein. Doch sie wollte nicht nur um die Häuser streifen.
„Ich gehe allein.“
„Du wirst gehen.“ Gestand ihr Salpico schnarrend zu.

Sie wollte zu Voltan Sprengler. Abermals.
Der Wind hatte sie steifkalt geweht, als sie schnellschrittig durch die Kaserne in Nardesheim eilte, um dem zu begegnen, dessen Ruhe sie schon einmal zur Vernunft hatte  bringen können. Und es war nicht nur das – sie genoss jeden Augenblick, den sie teilten. Es war für sie jedes Mal schwer, zu gehen, wenn er zugegen war. Er zog sie an. Seine Worte waren klug und verständig.
Und er war ein Inspektor der CriminalCammer und sie eine Phexgeweihte, deren letzter Einbruch eine Woche her war.
Verphext. Verhext.
Voltan Sprengler gab ihr nicht das Gefühl, sie vor eine Herausforderung zu stellen. Da gab es nichts, was sie bei ihm durchdringen wollte. Natürlich war sie neugierig auf das Leben des Mannes. Eine gesunde Neugier, ein ehrliches Interesse. Aber ihr war nicht daran gelegen Langmut auf die Probe zu stellen oder Etikette zu brechen. Sie wollte seine Gesellschaft, ganz schlicht.
Sie klopfte. Dreimal rasch.
„Ist offen..“ Er klang müde, abgekämpft. Ein bisschen genervt sogar.
Andächtig langsam, als dringe sie in das Allerheiligste eines Tempels vor, öffnete sie die Tür.
Er saß auf einem Stuhl nahe dem Kamin und blätterte in einigen Akten, die auf seinem Schoß lagen.
Als er endlich aufsah, stand sie schon im Raum, schloss die Tür hinter sich.
Seine grauen Augen weiteten sich voll Überraschung.
„Du..!?“ mehr entkam seinen Lippen nicht, er erhob sich sofort, legte noch in derselben Bewegung die Pergamente auf den Tisch und schloss zu ihr auf.
Sie blickte ihm in dieses sprachlose Gesicht und die ambivalent vielsagenden Augen.
„Guten Abend, Voltan. Ich… wollte mit dir sprechen. Phexdan hat die Stadt verlassen und wir – Salpico und ich, haben unsere Zimmer geräumt.“
„Das habe ich gemerkt, ich bin da gewesen.“ Entgegnete er hastig.
„Wo seid ihr nun?“ fügte er eilig hinzu, schuf Distanz zwischen ihnen und schob einen zweiten Stuhl an den Kamin.
„Bitte setz dich!“
Sie fühlte sich durcheinander. Mehrere Male startete sie den Versuch zu formulieren, was ihr durch den Kopf schoss, doch ihre eigenen Gedanken unterbrachen sie ein ums andere Mal.
Immer wieder blickte sie ihm in die Augen, was sie ganz klassisch noch weiter aus der Bahn warf.
„Diese Ereignisse der letzten Zeit, sie hinterlassen Spuren. Ich fühle mich… geschädigt. Ich will ihnen wehtun, Voltan. Nicht nur Gewalt an sich, auch das, was sie…“
Plötzlich fiel ihr etwas ein. Das eingenommene Gift! Sie hatte es gänzlich vergessen.
Sie riss die Augen auf.
„Verflucht!“
Voltan starrte sie an: „Was ist los?!“
„Ich habe dieses Gift zu mir genommen und.. es wird bald wirken!“
„Gift?! Welches Gift? Wer hat es dir verabreicht!?“
„Salpico!“ Sie ahnte, dass dieses Gespräch in ein Missverständnis führen würde, wenn sie sich nicht konzentrierte.
„Er hat es mir besorgt, wegen…“ andeutend legt sie die Hand auf ihren Unterleib. „Ich hatte nur vergessen, dass ich es genommen habe! In etwa einem Stundenlauf wird es wirken!“
Sie biss die Kiefer aufeinander. Soetwas Dummes… Sie wollte nicht vor ihm bluten, heulen, stinken und leiden.
Das war nicht die Seite von sich, die sie diesem Mann so früh offenbaren wollte.
„Du kannst hier bleiben! Nimm das Bett, ich-“
„Nein, schon gut – ich werde in Kürze gehen.“ Sie bemühte sich um Gelassenheit. „Es ist nur so.. Ich habe heute dieses Haus in Eschenrod gekauft. Ich will dort hinziehen. Ich werde Eschenrod die Stirn bieten. Ich will mich wieder sicher fühlen…“

Sie schüttete ihm ihr Herz aus. Baute auf das Fundament des Vertrauens, das sie beide gelegt hatten. Sie erzählte ihm von ihren Gefühlen der Rache. Dem Gefühl der Angst. Sie gestand ihm, dass sie einen Zauber genutzt hatte, um von vornherein ein Feilschen zu unterbinden. Sie wollte ihm noch so vieles mehr von sich preisgeben, ohne eine Gegenleistung zu fordern oder nur zu erwarten.
Sie machte sich verletzbar. Und sie war sich darüber im Klaren. Aber es tat so furchtbar gut, diesem Mann zu offenbaren, wer sie war. Auch wenn er dann und wann mit Bestürzung reagierte. Nie wandte er die Augen ab. Und es beruhigte sie. Die Dunkelheit in ihr wurde kleiner.
Als die Schmerzen, die die Tollkirsche hervorrief nahezu unerträglich wurden, war sie bereits fast in der Herberge, geleitet von Voltan Sprengler.