Garion

Gareth 32 (Neferu) (TRA 1014)

23. Efferd 1014 BF

„Was ist mit Garion, Phexdan und Salpico?“
Nepheruna saß mit Voltan und Rychard am Frühstückstisch, in einer Hand ein Honigbrot, in der anderen einen Kohlestift mit dem sie sich Notizen machte.

Voltan hatte einen Stapel von Briefen und kurzen Nachrichtenzetteln vor der Nase und mit der Geschwindigkeit eines aktengeübten Bürokraten, arbeitete er sich durch den Wust.
„Kommen. Salpico bringt als seine Plus-Eins Sjören Vanderbloom mit – wohl auch ein Schwarzmagier.“ Voltan seufzte nicht hörbar, aber Neferu konnte mittlerweile sein stilles Durchatmen ausmachen, wenn er sich resigniert und ohne Auffälligkeiten in den Umstand fügte, dass seine zukünftige Braut nicht nur selbst eine magiebegabte Tochter Satuarias war, sondern auch viele ihrer Freund- und Bekanntschaften aus arkanem Umfeld stammten.
Der Albernier hatte Akzeptanz gelernt, aber gewöhnt hatte er sich noch nicht an all diese Fingerfuchtler jedweder Couleur, die in letzter Zeit um ihn herumtingelten.

„Auch Phexdan hat zugesagt?“ Ihre dunkle Stimme klang tatsächlich verwundert. Auch wenn sie es erhofft hatte: Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte ohnehin nicht sicher sagen können, ob Phexdan – immerhin ihr ehemaliger Gefährte – Lust hatte, sich dieses traviagefällige Spektakel anzusehen, noch weniger hatte sie erwartet, dass er tatsächlich eine schriftlich, manierliche Antwort zukommen lassen würde.
Voltan wedelte zur Antwort mit einem Stück Hadernpapier.
„Hm. Gut!“ Anerkennend nickte sie.

„Magister Horrigan? Ich hoffe ja immer noch, ihn mit Ahlemeyer zu verkuppeln.. kommt sie?“
„Kommen beide!“
„Lamiadon und Willimay?“
Voltan blätterte erneut und schrieb seinerseits eilig einige Namen auf seine Liste.
„Ja, der hat auch zugesagt. Auch wenn sie wohl nicht allzu lange bleiben, immerhin muss Willimay in ihrem Alter früh ins Bett.“ Das stimmte wohl. Willimay war keine sechs Sommer alt – eines der Waisenkinder, die Nef in eine Familie vermittelt hatte.
Der Inspektor ergänzte weitere Zusagen: „Von meinen einstigen Kameraden des Schwadron haben 32 zugesagt. Auch das Ehepaar Gesse kommt. Von der Wachmannschaft des Puniner Tors kommen zehn – darunter auch Helchtruta, Rumpo und Helme…Und Torfstecher hat zugesagt.“ Seine letzten Worte kamen gedehnter. Er mochte Jereminas nicht, von dem er heute wusste, dass er irgendwie mit einem der Garether Phextempel verbandelt war – mehr wollte er gar nicht in Erfahrung bringen. Damals jedoch, als sie beide Kinder gewesen waren, hatte ihn der schneidige, selbstbewusste und ältere Jereminas gehänselt. Dickfinger. Voltan hörte noch heute die schäbige Schadenfreude in den Spitznamen, die der Ältere ihm gegeben hatte. Er war als Kind nicht eben schlank gewesen und das hatte andere Jungen dazu animiert, ihn auf dem Kieker zu haben. Kinder waren grausam.

Die Hexe schrieb mit, biss beiläufig in ihr Brot. Noch eine Woche, dann sollte der große Tag sein, der sie und Voltan für immer vereinen würde. Sie spürte Aufgeregtheit, Vorfreude und Angst in sich streiten.

Rychards ewig gelangweilte Stimme mischte sich ein – als Trauzeuge der Braut war in die Vorbereitungen der Hochzeit eingespannt worden. Auch wenn seine Aufmerksamkeit sich zwischenzeitlich auf das bildlich ausgeschmückte Rahjasutra gelenkt hatte, das Neferu aus einer wenig zünftigen Laune heraus vor einigen Tagen aufgetrieben hatte.
„Absagen haben wir von Meinloh von Gareth – er weilt derzeit gar nicht in der Stadt -, Nerix Sandsteiner, Visalyar Wassertänzer und Phygius II. Letzterer war sogar… aufgebracht, dass man ihn aufgespürt hatte.“ Er rollte mit den Augen.
„Was ist eigentlich.. das da? Das kleine Einmaleins des Fremdgehens der Rahjakirche?“ Voltan deutete mit einem zweifelnden Blick zur Seite auf das aufgeschlagene Rahjasutra.
„Dafür bist du noch nicht bereit. Nicht bereit für das maraskanische Schandrad…“ Der Al’Anfaner lächelte verschmitzt.
Voltan verzog fast angewidert das Gesicht.
„Klingt… ungewaschen..“ murmelte er in Skepsis.
„Keine Absage von Dexter Nemrod..?!“ Die Frau mit der offensichtlichen Lieblingsfarbe rot lenkte das Frühstücksthema zurück auf ihren großen Tag.
„Er kommt.“ erwiderte Voltan schlicht.
Neferu gluckste amüsiert.

30. Efferd 1014 BF

Der Tag der Hochzeitszeremonie stand unmittelbar bevor. Nur noch einmal schlafen! Seit dem viel zu frühen Erwachen noch vor dem Sonnenaufgang war die Nervosität der Braut Stunde um Stunde hartnäckig gestiegen und hatte sie in einen hitzköpfigen Gemütszustand zwischen greifbarer Panik und alveranhochjauchenzender Vorfreude versetzt.
An diesem Morgen hatte das zukünftige Ehepaar – und Rychard, denn er wohnte derzeit bei den Sprenglers, solange sein eigenes Haus renoviert wurde – Besuch aus Eschenrod: Die kleine Hex, ein fingerfertiges Mädchen, das eigentlich Ardare hieß, die wunderhübsche 14-jährige Jarla und den geschickten Kletterer Hakon. Alle drei waren Zöglinge des Waisenhauses, das die Stadthexe unterstützte.
Es war organisiert worden, dass sowohl blumenstreuende Kinder als auch junge Mädchen in den gleichen Kleidern als Brautjungfern aus dem Haus der Findelkinder stammten.
Und heute gab es eine Anprobe.
Auch Nepherunas beste Freundin Duridanya war zugegen. Wegen einer anderen Anprobe: Das Brautkleid war da – angepasst, das zweite Mal. Ein bisschen umfangreicher war der Bauch der Braut geworden – immerhin wuchs dort drinnen ein Tsawunder zu menschentauglicher Größe heran, das bemerkte man mit bloßem Auge zwar noch nicht, aber das eng taillierte Kleid schon.
Während die künftige Frau Sprengler also auf einem Hocker stand und Duridanya das traumhafte Kleid aus roter Seide, einer Menge Drôler Spitze und Perlen ein letztes Mal begutachtete, indem sie mit grüblerisch-kritischer, aber letzten Endes glücklicherweise zufriedener Miene um die lebende Schneiderpuppe herumlief und mal hier, mal da zupfte und zog, kam Rychard durch die Tür.
Rychard – so nannte nur sie ihn.
Sein eigentlicher Name war Rahjard Karinor und er war der Bastard einer Grandenfamilie in Al’Anfa, die sich auf die Reederei spezialisiert hatte.
Rychard oder Rahjard hatte sich die Haare machen lassen – verlängern und schwärzen. Und er hatte sein schwarzes Hündchen Cyri bei sich – wie immer. Nef da auf dem Hocker blinzelte einmal. Es sah gut aus, was Rychard da fachkundige Hand hatte mit sich veranstalten lassen. Und irgendwie fand sie, dass sich Herrchen und Hündchen nun ähnlicher sahen.
Sie schmunzelte abgelenkt und stieg dann von ihrem nötigen Brautkleidpodest. Beim Raffen ihres Kleides zeigte sie einen Eindruck von dem, was darunter war: Rote, lange Strümpfe aus feinstem Stoff und neue dunkelrote Schuhe, die gelackt glänzten. Duridanya hatte sie mit einem blauen Strumpfband ausgestattet. Das bringe Glück, hatte die Blonde beteuert.

Der Schönling mit dem eigentlich kastanienfarbenen, jetzt aber schwarzen Haar warf selbiges zurück. Auf ihr Kleid ging er nicht ein.
„Talafeyar und sein Mann Velun sind schon in der Stadt.“ verkündigte er prompt mit einem sachten Ton Unzufriedenheit. Das war meistens so und einfach Teil von Rychards Sprachkultur. Wenig war eben gut genug für ihn und das pflegte er dezent auch auszudrücken. Und was alles andere als gut war, hatte er soeben ausgesprochen: Sein Techtelmechtel, das zweifellos ansehnliche, blonde Spitzohr Talafeyar, seines Zeichens Geweihter der Rahjakirche, hatte den Ehemann mit nach Gareth gebracht.
Nef nickte nur langsam.
Schade – sie war selbst Zeuge gewesen, wie es zwischen ihrem Freund Rychard und dem Priester aus Perricum geknistert hatte. Aber.. das war wohl die alltägliche Wirkung des Rosenpaters.
„Und wie geplant schläft Voltan heute Nacht im Hotel ‚Alter Kaiser‘ bei seinen Eltern und deren neue Anhängsel, die ja seit gestern und vorgestern schon da sind wie du weißt. Und..“
Er brach ab, hob sachte seine feingeschnittenen Brauen, in denen kein Haar in eine verkehrte Richtung zu wachsen schien – und das von Natur aus – und musterte die Frau in rot.
„Du siehst gut aus.“ Er hob sachte einen Mundwinkel. „Aufgeregt?“

01. Travia 1014 BF

Sie öffnete die Augen, als der Nagel aus der Kerze fiel – diese war weit heruntergebrannt über die letzte Nacht und sollte sie zur sechsten Stunde des Morgens wecken.  Der einfache Weckmechanismus verfehlte seinen Zweck nicht. Neferu setzte sich auf.
Sie hatte überraschend gut geschlafen – von alten Abenteuern hatte sie geträumt, großer magischer Macht und eingekerkerten Vampiren. Mit zwei Fingern rieb sie sich den Schlaf aus den Winkeln der Mandelaugen.
In der Stille des Morgens blickte sie zu dem Menschen, der da ruhig neben ihr schlief: Duridanya mit geflochtenem Zopf.
Nach einem Anfall von Übelkeit am Abend zuvor – aufgrund der Aufregung, nicht der Schwangerschaft – hatte ihre beste Freundin es eingerichtet, zu bleiben. Korobar hatte die zwei Kinder der beiden ausnahmsweise alleine zu Bett bringen müssen.
Dann sprang Ineri auf die Schlafstatt und maunzte. Das junge Parderweibchen tatzte in die Decke und beharkte sie mit stetigem Milchtritt.
Nef griff beherzt nach dem lebenden kleinen Abbild ihres Seelentieres und ließ sich noch einmal zurück in die Kissen fallen.
Morgendliches Katzenkuscheln wollte sie sich auch an ihrem Travienstag nicht nehmen lassen!

Und dann… schienen dem Tag Flügel zu wachsen, er erhob sich und flog.
In einem Taumel aus tranceartiger Euphorie, dem Lachen von Freunden und der Angst vor großen Veränderungen, half Duridanya ihr mit der spitzenbesetzten Wäsche, dem Kleid, der Schminke.
Auch Rychard war da, stand der Braut in spe zur Verfügung. Er hatte sich ein neues Kleidungsstück schneidern lassen und strahlte ungewohnte Seriösität und Sicherheit aus. Ein Wandel, der ihm gut stand.
Er band Ineri und Cyri die Schleifen um die Hälse und… er hatte eine Kutsche organisiert, die von einem gut gekleideten Kutscher gelenkt wurde.
Nef erhielt ihren Brautstrauß: Rote Rosen, Efeu und kleine weiße Blümchen dazwischen, wie Schneeflocken oder Sterne.
Ein Blinzeln.
Die Kutsche war immer noch da. War sie in einem Märchen?
Ein weiteres Blinzeln.
Sie fuhren sanft holpernd in dem prunkvollen Gefährt über die Kopfsteinpflaster Gareths.
Neferu wollte jeden Moment festhalten und gleichzeitig wollte sie ihre Spuren verwischen und verschwinden. Ihre allgegenwärtige Angst, die Angst aufgespürt und gerichtet zu werden, die Angst verlassen zu werden, hintergangen zu werden – all das kam in ihr hoch wie ein innerer roter Drache, der kämpfte um zu zerstören, was sie sich aufgebaut hatte.
Sie sah sich in der Kutsche um. Wie im Traum verschwommen saßen da die Gestalten von Duridanya und Rychard. Und auch die tierischen Begleiter Ineri und Cyri waren da, irgendwo im inneren des luxoriösen Gefährts.
Nef schloss die Augen.
Voltan war der einzige für sie. Der einzige, dem sie gänzlich vertraute, dem sie Geheimnisse anvertraut hatte, die sonst niemand kannte. Sie wusste mit einer inneren Gewissheit, dass sie auch die letzten Hüllen der Wahrheiten würde fallen lassen können, wenn sie es zuließ.
Er würde sie niemals verurteilen.
Die Braut öffnete ihre Augen, die Kutsche hielt. Zeit schien kaum eine Bedeutung zu haben.
Türen öffnete sich – helles Tageslicht des frühen Herbstes fiel herein.

Waren Augenblicke vergangen? Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie griff sich an die Kehle – ihr war, als würde sich ein zu warmer Schal darum winden, doch sie trug keinen. Nur eine einzelne Kette, die viel zu tief hing, um zu schnüren. War ihr Kopf ebenso rot wie ihr Kleid?
Sie klammerte sich an den Strauß, schritt bedächtig und aufrecht auf den Traviatempel zu, auf das schlichte Gebäude mit den Gänsepfeilern. An den Türen standen zwei Sonnenlegionäre und zwei Stadtwachen. Mittig, direkt vor dem großen Eingangsportal wartete Dexter Nemrod.
Die nervöse Braut hörte auf sich zu wundern. Sie hatte beschlossen nicht ohne wirklich guten Grund stehen zu bleiben. Neben sich sah sie Rychard, der beide Vierbeiner an Leinen führte. Sie fragte sich in dem Bruchteil eines Wimpernschlags, was der schöne Al’Anfaner den Tieren in ihr Futter gemischt hatte, denn sie verhielten sich ruhig und artig, fast als hätten sie die Feierlichkeit des Augenblicks begriffen – oder eben als hätten sie ein Alchemikum der Beruhigung verabreicht bekommen.

Nepheruna, namentlich noch Banokborn, kam direkt vor dem Großinquisitor zum Stehen. Er war etwas kleiner als sie – das war ihr zuvor nie aufgefallen. Er klackte hörbar mit dem Mechanismus an seinem Gehstockgriff und fixierte sie mit dem für ihn typischen Falkenblick.
Sie war heilfroh ihn zu sehen, auch wenn ihr Verstand ihr sagte, dass sein so demonstrativ dominantes Auftreten auch Ärger bedeuten konnte. Sie lächelte – unsicherer als sie wohl gesollt hätte.
„Reichsgroßgeheimrat..“ grüßte sie ihn mit ehrlicher Freundlichkeit.
Er nickte ihr knapp zu und ergriff das Wort: „Wollt Ihr das wirklich, Fräulein Banokborn?“ fragte er ohne Umschweife mit der Direktheit einer Guillotine, nur um zu ergänzen: „Noch ist Zeit alles abzublasen..“
Überrascht sah sie ihm in die Augen. Wollte sie das hier alles wirklich? Mit einer solchen Frage hatte sie weniger gerechnet als mit einer Festnahme wegen irgendwas.

Ja, sie wollte. Dexter Nemrods strenge Frage hatte das väterliche Vergewissern eines Menschen, der sich ernstlich interessierte und vielleicht sogar sorgte, erfolgreich verschleiert. Und diese Frage hatte ihr geholfen. Ebenso wie sein Rat zum Ehegelübde. Voltan war seit Stunden im Tempel, wartete, lief Linien in den Boden. Ihm war Angst und Bange, sie würde nicht erscheinen. Das hatte der Großinquisitor Nemrod ihr stoisch verraten.
Aber sie war nicht fortgelaufen! Ihr war ein für alle Mal klar geworden: Sie hatten sich einander anvertraut. Sie und Voltan waren längst eins.
Die Tempeltüren wurden weit geöffnet, Musik spielte, begleitete die Braut und die kleine Schar, die sie umgab, während sie festlich in die heilige Stätte der Travia hinein schritt.
Viele stehende Menschen. Ein Meer von Gesichtern. Lächelnde, solche mit Tränen in den Augen, grinsende, ernst feierliche… Da waren die Hortemanns aus Grangor mit Phexje, der zu einem jungen Mann herangewachsen war, der heitere Weißmagier Eulrich Durenald von Amt 7 der CriminalCammer und seine thorwalsche Frau, der Alchemist Grabensalb – ohne seinen Riesenhirschkäfer Paramanthus -, Gesine van Straaten, deren Vater zur Schneiderzunft Gareths gehörte; ernst stand da der weißmagische Inquisitor Calfang Rodebrannt aus Trallop, mit seiner Haushälterin Praia, die verschmitzt lächelte und der roten Braut gewieft zuwinkte, Neferu sah Helchtruta und Rumpo von der Stadtwache feixen, aufrecht und in ihren besten Praiostagskleidern Fricken und seine Mutter aus dem Viertel der Armen vor der Stadt und zwischen mehreren Legionären und Kriegsveteranen machte sie auch Phexdans ausdrucksloses Gesicht aus.
Ihr Blick glitt wie ein Schiff über Wogen und Wellen. Und Neferus Rastlosigkeit kam erst zum erliegen, als sie ihren Hafen erblickte: Voltan stand auf der anderen Seite des Tempels, direkt beim Altar mit der Statue der Muttergöttin. Als sich ihre Blicke trafen und sie sanft lächelte, mit Tränen der Freude in den Augen, änderte sich sein blass-befürchtender Gesichtsausdruck. Er wurde friedlich, erwartete sie.
Als sie beim Altar angelangte, Mutter Harina auf der Kanzel ihr feierlich zunickte und Voltan ihre Hände ergriff, fiel auch der letzte Zweifel von ihr ab und gab eine Zuversicht und Wärme frei, die sie nie zuvor gespürt hatte. Ihr wurde warm, sie drückte seine Finger, musste schmunzeln.
Die Musik verstummte und die Geweihte der Göttin des sicheren Zuhauses, der Geborgenheit, der Familie sagte einige Worte des Willkommens. Eine Ankündigung der Feierlichkeit.
Neferu, die Voltan immer nur ‚Vesper‘ nannte, erinnerte sich schon wenige Wimpernschläge später nicht mehr daran, was gesagt worden war – sie sah nur Voltan.

Von der Geweihten aufgefordert, teilte Voltan Sprengler, der Inspektor der CriminalCammer, der Weibel des Puniner Tors, der Leutnant eines Schwadron der kaiserlichen Reiterei, seine Lippen. Seine angenehme, mitteltiefe Stimme brach sich vielfach an den Wänden des Tempels und erfüllte die Halle.
„Von heute an verspreche ich Dir diese Dinge: Ich werde mit Dir lachen in Zeiten der Freude und Dir Trost spenden in Zeiten der Sorge. Ich werde Deine Träume teilen und Dich unterstützen, Deine Ziele zu erreichen.
Ich werde Dir mit Begeisterung und Verständnis zuhören und Dir aufbauende Worte sagen.
Ich werde Dir helfen, wenn Du Hilfe benötigst und Dir Deinen Freiraum lassen, wenn Du ihn brauchst.
Ich werde Dir in guten und in schlechten Zeiten vertrauen, in Zeiten von Krankheit und Gesundheit.
Du bist mein bester Freund. Ich werde Dich immer respektieren und lieben.
Ich glaube an Dich, an die Person, die Du sein wirst und an das Paar, das wir zusammen sein werden.
Ich nehme Dich von ganzem Herzen zu meiner Ehefrau, Ich kenne deine Schwächen und Stärken und akzeptiere sie, so wie Du meine kennst und akzeptierst.
Ich verspreche, vertrauensvoll und unterstützend zu sein und immer das Glück und die Liebe unserer Familie zu meiner wichtigsten Priorität zu machen.
Ich bin Dein Partner in Reichtum und in Armut, in Krankheit und in Gesundheit, im Scheitern und im Erfolg.
Ich werde mit Dir träumen, ich werde mit Dir feiern und ich werde immer an Deiner Seite gehen, ganz gleich, welche Hürden unsere Leben bereithalten.
Du bist mein Ein und Alles – meine Liebe, mein Leben, mein Heute und der Rest meines Lebens.“

Niemand unterbrach ihn in seinem Versprechen. Atemberaubt blickte seine Braut ihn an. Ihre Augen waren voller Liebe. Sie wusste, dass er sein Gelübde vorbereitet hatte. Sie hatte das nicht getan – verrückterweise nicht, weil sie es nicht gewollt hatte. Sie hatte es immer wieder verschoben, nie die richtigen Worte zu Papier bringen können.
Nepheruna-Vesper atmete tief ein, füllte ihre Lungen mit Luft. Ihr Herz machte einen Satz. Hätte sie doch nur etwas vernünftiges auf Papier zu Stande bringen können…
Sie hörte die Worte in sich, die ihr Dexter Nemrod vor dem Tempel gesagt hatte.
Lass einfach dein Herz sprechen.
Und das tat sie.
„Als ich dich das erste Mal sah, Voltan- das war am Puniner Tor – da sahst du so unglücklich aus. Verbittert, zornig und hoffnungslos. Schon damals wollte ich dich unbedingt lächeln sehen.
Ich weiß, dass wir uns noch nicht allzu lange kennen, kein ganzes Jahr. Aber das spielt keine Rolle – wir teilen soviel, dass ich mir sicher bin, dass wir uns jetzt schon besser kennen als andere nach vielen Jahren. Und immer noch, will ich dich lächeln sehen.
Wir haben beide viel Leid erfahren in unserem Leben und wir haben uns einander anvertraut. Und ich weiß, auch ich bin nicht immer einfach. Ich stelle mich selber gerne in den Mittelpunkt. Aber als ich dich kennengelernt habe, da konnte ich nicht locker lassen – ich wollte unbedingt wissen, warum du so unglücklich bist, um es zu brechen!
Und als ich dann wusste, welch schlimmes Schicksal dich plagt, da wollte ich alles tun, um dich zu retten. Alles. Und wir haben es geschafft. Gemeinsam haben wir dein Leben gerettet.
Meine Ziele sind jetzt deine und deine Ziele sind meine. Und auch deine Sorgen waren und sind jetzt meine. Du bist mein Glück, Voltan.
Ich kann dir alles sagen und weiß, dass du Verständnis hast und nicht urteilst. Du bist der einzige. Ich kann deine Hand greifen und weiß, du lässt mich ein in dein Leben und mich ein Teil davon werden. Du bist ein Teil von mir Voltan, wie ich ein Teil von dir bin. Und zusammen werden wir zu einem Ganzen. Ich liebe dich so sehr.“

Beide tauschten Ringe. Sie küssten sich. Die Gäste klatschten. Es erschien ihr wie ein wunderschöner Traum – ein glückliches Ende. Mit dem Unterschied, dass es keine Geschichte war, kein Märchen, kein Roman von Rosenkron: Alles geschah wirklich.
Nach der Tempelzeremonie speisten sie gemeinsam die Armen, wie es Brauch war und anschließend ging das frischvermählte Paar hinüber zu dem Tanzsaal, dem Essen, der Feier.
Reden wurden von Braut und Bräutigam gehalten, sie nahmen die vielen Geschenke entgegen. Sehr viele Geschenke. Die Trauzeugen hatten vorausschauend vorgesorgt. Rychard und Rank drapierten die Präsente auf mehreren bereitgestellten Tischen. Um Cyri und Ineri – die beiden einzigen Vierbeiner auf der Veranstaltung, kümmerten sich zwei Tsa-Geweihte, die Nef nicht einordnen konnte, aber in ihr trotzdem ein Gefühl von Frieden auslösten – was auch sonst: fremd hin oder her, es waren Geweihte der jungen Göttin.
Als alle Gäste – fast 170 Anwesende – an der überlangen Tafel Platz genommen hatten, hatte die Braut in rot den Eindruck Teil eines Festessens zu sein, das für eine Königsfamilie hätte angerichtet worden sein können.
Nach dem Essen wurde getanzt.
Der Saal war überwältigend hergerichtete worden. All die Rosen, das Licht, die vielen Gesichter von Menschen, die einem nahe waren.
Prinz Kasparbald hatte selbst zwar nicht kommen können – Nef hatte das bereits im Vorfeld geahnt, die Prinzen und Prinzessinnen Aventuriens hatten wohl Sinnvolleres zu tun, als wochenlang zu reisen, um eine Bürgerhochzeit weit, weit weg zu besuchen – aber er hatte von einem persönlichen Gesandten seine Glückwünsche übermitteln lassen.
Der Abend verging bis in die Nacht hinein wie ein Tanz bei dem man seinen Partner wechselte, sich unterhielt, zum nächsten hüpfte und Neuigkeiten aus aller Welt zu Ohren bekam.
Besonders im Gedächtnis blieben ihr vier Dinge: Dass Dexter Nemrod mit ihr übers Parkett geschwebt war und ihr in seiner gestrengen Art mitgeteilt hatte, dass er sich in gewisser Weise für ihre Existenz verantwortlich fühlte, da er für seine Sonnenlegionäre verantwortlich ist – und ihr Vater nun einmal einer davon war, der dummerweise mit einer Hexe ein Kind gezeugt hatte, dass der Weißmagier Calfang und der Schwarzmagier Salpico mangels Alternativen einmal miteinander tanzten, dass Brin überraschend vorbei gekommen war – Prinz Brin – der der Heldin von Greifenfurt gratulierte und gefolgt von seinen Mannen auch gleich wieder ging und zu guter letzt, dass Voltan in seiner Rede dazu gestanden hatte, dass sie eine Tochter Satuarias war. Vor allen hatte er dazu gestanden und zwar nicht auf eine Weise, dass er es nur tolerierte – sondern mit liebevoller und starker Akzeptanz.

02. Travia 1014 BF
Der wunderschöne Spuk war vorüber. Voltan und seine frisch angetraute Vesper hatten nicht genug getrunken, um einen Kater zu haben und deshalb fanden sie sich zeitig unten im gemütlichen Schankraum ein, der zu einer Frühstückstafel umfunktioniert worden war. Voltan hatte ihr direkt nach dem Aufstehen nun seinerseits ein Geschenk gemacht: Wertpapiere als Brautgeschenk.
„Damit du abgesichert bist.“ hatte er liebevoll und gleichsam sachlich betont.

Noch einige Gäste waren zum Frühstück geblieben – die Braut schätzte sehr, dass sie einige Gespräche vom Vortag weiterführen konnte.
Und noch etwas kam ihr wieder in den Sinn: Sie hatte Garion noch am gestrigen Abend eines ihrer bisher größten Verschwiegenheiten offenbart: Dass sie gemeinsam einen Sohn hatten, den sie an den Donnerbacher Rondratempel übergeben hatte, als er noch ganz klein gewesen war.
Der Rondrianer war dementsprechend in Aufbruchstimmung, aber weniger traurig oder nachtragend als die jetzt traviagefällig verheiratete Hexe erwartet hatte.
Er berichtete, dass er die Zorganpocken überlebt hatte, in der Gor gewesen war, dass er Zirkel von Paktierern aufgespürt hatte, ja sogar, dass dunkle Mächte versuchten, den Dämonenmeister aus alten Sagen – Borbarad – zurück ins Leben zu holen!
Die Hochzeitsstimmung war unrettbar dahin, aber das machte nichts. Sie hatte sich in etwas anderes gewandelt.
Die Schönheit der idyllischen Augenblicke hatte nicht gerastet, das taten sie nie. Ein Eindruck von Lichtern, Geschenken und Tanz bliebe zurück und verankerte sich als wundervollste Erinnerungen in Voltans und Vespers Herzen. Aber nun mussten sie erkennen, was da draußen dräute: Ein Morgen, der weniger traumhaft war – eine Welt im Wandel. Und in ihnen beiden entstand keine Angst, sondern ein Gefühl von Wachsamkeit, von unbeugsamem Zusammenhalt und dem Drang etwas zu tun – etwas Bösartiges gemeinsam aufzuhalten.

Gareth 30 (Garion) (TRA 1014)

Die schwache Flamme der Kerze auf dem kleinen Beistelltischchen flackerte, als der hochgewachsene Mann sich das kühle Wasser aus der bereit gestellten Wasserschüssel zuerst ins Gesicht warf und dann benutzte, um seine Achseln zu waschen. Sein morgendliches Waschritual weckte ihn nicht nur endgültig auf, es hinterließ eine erfrischende Kühle auf seiner Haut, eine Reinheit, die er brauchte. Das schwere und nahezu allgegenwärtige Gefühl der Konsequenzen seiner Entscheidungen war nach der täglichen Reinigung eine Weile lang weniger stark.
Er hat soviel, das er bereuen konnte. Sein bornländisches Blut erinnerte ihn immer wieder daran, was hätte sein können, wenn er einen anderen Weg eingeschlagen hatte. Schwermut war ihm ein treuer Begleiter und er hatte schon vor Jahren aufgehört zu versuchen, ihn zu bezwingen.
Sein ganzes bisheriges Leben war eine Kette aus folgenschweren Entscheidungen gewesen. Seine Berufung hatte ihren Teil dazu beigetragen. So oft hatte er vor sich selbst rechtfertigen müssen, dass er getötet hatte. Aus Notwehr zwar, aber dennoch so zahllose Kerzen, die er zum Erlöschen hatte bringen müssen.
In der Stille des Raumes trocknete er sich das Gesicht. Ein Seitenblick flüchtete zum tanzenden Schein des zittrigen Flämmleins.
Er hatte keine Wahl gehabt. Hatte er?
Draußen vor dem kleinen Fenster der Herberge war es noch dunkel, bestenfalls das entfernte Glühen erster Sonnenstrahlen war zu erahnen, als der Rondrageweihte nach dem sauberen Tuch zu seiner Linken griff und sich damit abtrocknete. Dann ging er zu dem gemachten Bett hinüber, auf dem sein Ornat bereit lag. Vorbei an dem kleinen Tisch in seinem Zimmer, auf dem eine grobe Karte des nördlichen Mittelreichs ausgebreitet lag. Darauf – noch immer offen – das Notizbuch Garions, dessen Seiten mit seiner engen, sauberen Schrift gefüllt waren. Sein rechter Mundwinkel hob sich matt. Dieses Buch war ein Abbild seines Lebens. Es war eng, korrekt und ordentlich. Er schnaubte leise, um diesen Gedanken zu verscheuchen als sei er eine lästige Fliege, die seinen Kopf umschwirrte. Alle Entscheidungen die er getroffen hatte, hatten ihn hierher in dieses Zimmer geführt. Hatten ihn zu dem gemacht, der er jetzt war. Kurz hielt er inne und sah auf seine schwieligen Hände hinab. Menschen dachten immer, dass sie Entscheidungen machen würden – aber tatsächlich war es andersherum. Entscheidungen machten Menschen. Sie formten Leben oder beendeten sie. Kurz blinzelte er. An manchen Morgenden zwickte ihn das silberne Auge in seiner linken Augenhöhle, wenn er auch nie herausgefunden hatte warum. Kurz legte er zwei Finger auf das Augenlid, um das Gefühl zu ersticken.

Den gestrigen Tag hatte er damit verbracht seine Route nach Firun von Gareth bis hinauf nach Donnerbach zu planen. Gedankenverloren zog er sich das weiße Hemd über den Kopf und zurrte den Gambeson darüber, ehe das Kettenhemd folgte. Die neue Rüstung bestand aus mehr Teilen als die Alte – dafür war sie beweglicher und hatte einen passenden Helm – davon, dass sie weit weniger auffällig war einmal abgesehen. Nachdem er den Wappenrock übergestriffen hatte, beugte er sich noch einmal über seine Notizen während er seinen Waffengurt anlegte.
Zunächst war der Weg klar gewesen. Die Reichsstraße nach Firun, über Wehrheim und Altnorden bis hin nach Trallop. Ab hier allerdings begann der Norden sich seinen rauen Ruf zu verdienen. Die gut ausgebaute Reichsstraße fand in Trallop ihr Ende und von dort aus lag noch immer der ganze Neunaugensee zwischen ihm und Donnerbach. Von hier aus gab es drei Gangbare Wege – vier, wenn man davon ausging mehr als genug Zeit zu besitzen – und keiner von Ihnen war erbaulich. Der kürzeste Weg führte direkt über den See, dicht an der Küste des Nebelsmoors entlang in Richtung Firun.

Als der Waffengurt an Ort und Stelle saß lehnte er sich vor und stützte sich mit den rauen Händen auf dem Tisch ab, um ein weiteres mal einen genau Blick auf die Alternativen zu werfen. Der kürzeste Weg mochte immer noch gute 130 Meilen auf einem offenkundig gefährlichen See vorbei an der Küste eines der verrufensten Moorgebiete des ganzen Kontinents bedeuten. Die zweitbeste Strecke allerdings führte direkt durch das Nebelmoor, efferdwärts am See vorbei. Diesen Weg nahmen gelegentlich Handelskarawanen, aber niemand reiste allein. Zu groß war die Gefahr, dass ein einzelner Wanderer dort verscholl und niemals wiedergesehen wurde. Zumal auf die Wege dort nicht immer Verlass war – oft waren sie verschlammt, unterspült oder gänzlich im Moor versunken. Gedankenvoll griff er nach der ersten seiner beiden Schwertscheiden und riemte sie an sein Wehrgehänge.
Der dritte Weg umrundete den See im Rahja. Dieser Weg war der Komfortabelste und stützte sich auf Landstraßen oder Karrenpfade. Das Gebiet war relativ sicher und umging jedes Grauen, das im Efferd lauern mochte – war dafür aber deutlich länger. Der vierte Weg dagegen führte weit in den Efferd, umrundete auf der Gashoker Ebene das Nebelmoor und seine Ausläufer und führte dann in einem Bogen nach Donnerbach. Das Problem war: Dieser Weg existierte nicht. Die Ebene war wildes Land und es gab nur wenige Straßen dort – und noch weniger, die verzeichnet waren. Der Weg war lang und bestenfalls wenig gefährlich. Und schied deswegen aus.

Er drückte sich von dem Tisch hoch und befestigte eilig die zweite Schwerscheide an seiner Hüfte, ehe er die Halsberge anlegte. Es hatte wenig Sinn sich noch weitere Gedanken über die Strecke zu machen. Diese Entscheidung war bereits am Vortag gefallen. Sein Sohn wartete dort oben im Norden auf seine Eltern – und das schon viel zu lange – also würde er den kürzesten Weg wählen, falls sich ein Schiffer fand, der nach all den Sichtungen im Neunaugensee noch bereit war ihn zu befahren. Sollte das nicht der Fall, würde er prüfen, ob in Bälde eine Karawane durch das Nebelmoor aufbrach und sich ihr anschließen. Und erst, wenn auch das nicht der Fall war… dann würde er den sicheren Weg im Rahja nehmen. So oder so. Die Reise würde lang werden und wo er sich zu Beginn noch an die Reichsstraße und die an ihr befindlichen gastfreien Häuser würde halten können, so würde der Weg nach Trallop einsamer werden und die eine oder andere Nacht würde er sicherlich am Rande einer Straße unter dem Schutz seiner Zeltplane verbringen und sich fragen warum er schon wieder eine derart wichtige Reise alleine angetreten hatte.
Für einen Moment hielt er inne. In seiner Vorstellung konzentrierte er sich auf seinen Körper und begann dann langsam mehr und mehr der Welt um sich herum zuzulassen. Das Zimmer in dem er sich befand und das ihm nur deshalb zur Verfügung stand, weil er den Wirt dafür bezahlt hatte. Die Herberge in der das Zimmer lag und die ein anderer Mensch einmal hatte bauen lassen – von jemandem der sich Gedanken über die Lage des Zimmers gemacht hatte. In Gareth – einer Stadt die es seit mehr als 1000 Jahren gab und die stoisch jedes Einzelschicksal der vielen Tausend Seelen innerhalb ihrer Mauern zuließ und beobachtete. In diesen 1000 Jahren hatte es sicher andere Menschen gegeben, die sich allein gefühlt hatten. Die fürchteten zu unterlegen – viele von ihnen um einiges schlechter ausgebildet, mit weniger Freunden und weniger Geld als Garion selbst.

Ohne es wahrzunehmen schnallte er seinen Schild auf den Rücken, griff nach einer kleinen schmucklosen Kiste neben seinem Bett und verließ das Zimmer, hinaus in den Schankraum der Herberge Schwert und Schild. Seit Neferu ihm die Existenz seines Sohnes offenbart hatte, fiel es ihm schwer sich zu konzentrieren. Wofür blutete und kämpfte man, wenn nicht für die Familie? Wofür die langen Stunden der Ausbildung und der Entbehrung? Wofür ließ man sich verletzen und riskierte sein Leben, wenn nicht für die Familie? Nicht unbedingt die Eigene natürlich. Familien gab es überall in Aventurien und jede von ihnen in denen Liebe die Bande stärkte war schützenswert. Aber zu wissen, dass er einen Sohn hatte – ein Kind, dass die fleischgewordene Verbindung zwischen ihm und Neferu war, dass er selbst einen Nachfahren hatte – das hatte ihn aus der Bahn geworfen. Der Schutz all dieser Menschen war ihm stets eine Pflicht gewesen, ein Dienst an seine Göttin, ein offizieller Auftrag. Aber jetzt – jetzt war es etwas Persönliches. Jede Bedrohung für diese Welt war auch eine Bedrohung für sein Kind – und das Neferus.
Noch auf der umlaufenden Galerie des Hauses hielt er inne, beugte sich vor und legte seine Unterarme auf das Geländer. Neferu Banokborn… oder Vesper Sprengler wie man sie jetzt nannte. Er hatte geglaubt, was andere sagten – dass seine Zuneigung zu ihr zwar innig war, aber wie eine Art nachhaltiges Strohfeuer. Sie war schnell entflammt gewesen hatte sich dann langsam, aber merklich abgekühlt. Jetzt war er gezwungen einzusehen, dass es dumm gewesen war was die anderen behauptet hatten. Die Heirat Nefs schmerzte ihn – sogar sehr. Er mochte sich eingeredet haben über die Südländerin mit Hang zur Vermögensumverteilung hinweg zu sein, aber das war nicht mehr gewesen als der schwache Versuch die Wahrheit zu leugnen. Er liebte sie und daran würde sich niemals etwas ändern – und das machte ihr gemeinsames Kind unvorstellbar wertvoll. Die Vergangenheit war vorbei und er konnte nicht ändern was er getan hatte – und selbst wenn das anders gewesen wäre, war er sich nicht sicher, ob er es getan hätte. Aber ob sein Leben nun als wenig lebenswert oder als göttergefällig gewertet werden mochte: Das Leben seines Sohnes war in keinster Weise vorgeprägt und sollte allein in seiner Hand liegen. Rondradus sollte jeder Weg offen stehen, den zu nehmen er wünschte – und dafür würde er seine Eltern brauchen.

Er biss sich auf die Unterlippe, um in die Realität zurückzukehren. Der Schankraum war bis auf einen weiteren Gast leer, der alles andere als ausgeschlafen wirkte. Lediglich der Wirt hinter der Theke machte einen geschäftigen Eindruck. „Den Göttern zum Gruß, Herr Ummingshausen.“, ließ Garion seine tiefe Stimme ertönen. „Wenn es keine Umstände macht, dann wäre ich Euch dankbar, wenn ihr mir nur rasch zwei Scheiben Brot mit etwas dazwischen gebt. Ich habe es eilig.“
„Guten Morgen Euer Gnaden.“, erwiderte der Wirt mit einem gut gelaunten Lächeln und nickte ihm zu. „Sicher. Gebt mir einen Augenblick.“
Wenig später trat der Geweihte hinaus in die graue Dämmerung über der Hauptstadt des Mittelreichs. Es war ein kühler Morgen, der ihn mit Nieselregen begrüßte, den er aber nur an Händen und Gesicht spürte. Auf dem Krautmarkt waren einige der frühen Händler mit dem Aufbau ihrer Auslage beschäftigt, während Garion sich nach Praios wandte und bei nächste Gelegenheit nach Rahja abbog – in Richtung des Brig-Lo-Platzes. Sein Ziel war die hiesige Filiale der Nordlandbank. Die Erfahrungen der letzten Wochen und Monate waren furchtbar gewesen, aber sie hatten einiges an Geld bedeutet. Kurz fiel der Blick blauer Augen auf die Kiste, die unter seinem Arm klemmte – dann biss er in sein Brot. Es mit auf die Reise nach Firun zu nehmen war undenkbar – es handelte sich um beinahe 2000 Dukaten. Also hatte er entschlossen, den Großteil des Goldes auf sein Konto einzuzahlen und dafür zu sorgen, dass seine Gefährten im Fall der Fälle Zugriff darauf erhielten. Ohnehin war es notwendig gewesen sein Testament anzupassen. Nicht nur, dass das Geld auf seiner hohen Kante auf jeden Fall dem Kampf gegen Borbarad zugute kommen musste, sollte ihm etwas passieren – auch sein Sohn und dessen Mutter sollten versorgt sein. Geld war kein adäquater Ersatz für die Liebe und Geborgenheit, die ein anwesender Vater einem Kind angedeihen lassen konnte, aber zusammen mit einem Brief voller Erklärungen für verpasste Geburtstage, den Status als Bastard und die wenigen Besuche mochte es ein Mindestmaß an väterliche Sorge darstellen. Er sah in den Himmel hinauf und wischte sich ein wenig Feuchtigkeit von der rechten Wange. Die Wirkung der morgendlichen Waschung hatte heute nicht besonders lange vorgehalten.
Weniges später erreichte er das trutzige und schwer gesicherte Gebäude. Die Hoffnung, dass ein frühes Eintreffen ihm eine rasche Abwicklung ermöglichen würde zerschlug sich, als er der Schlange von Kaufleuten und Sekretären gewahr wurde, die sich vor den noch verriegelten Türen der Bank versammelt hatte. Er steckte sich das letzte Stück seines Brotes in den Mund, rieb sich dann das rechte Auge und stellte sich mit einem leisen Seufzen ganz hinten an, wobei er nicht vergass der Frau vor ihm einen „Guten Morgen.“ zu wünschen.

Etwas mehr als eine Stunde später hatte er das Gebäude wieder verlassen. Die Kiste, die er noch immer unter seinem Arm trug war deutlich leichter geworden. Nur etwa 100 Dukaten waren in verschiedenen Münzen in ihr verblieben. Daneben befand sich ein Wechsel der Nordlandbank über weitere 20 Dukaten. Zwar gab es in Donnerbach keine Filiale, aber vielleicht würde ihm das Stück Papier dennoch von Nutzen sein können. Wenn nicht jetzt, dann später.
Zurück auf seinem Herbergszimmer verstaute er den Inhalt der Kiste in seinem Rucksack und ließ die Kiste selbst als Geschenk an einen späteren Bewohner zurück. Sein restliches Habe war wenig genug. Er faltete die Karte zusammen, griff sich sein Notizbuch und klemmte sich einige andere Dinge unter den Arm, die er in den Satteltaschen Rotsturms verstauen würde, die in einem Stall nahe der Herberge wartete.

Die Vorbereitungen für seine Reise waren beinahe abgeschlossen. Sobald er das Pferd geholt hatte, würde er noch einen Halt bei Voltan und Neferu machen – dem frisch vermählten Paar, von dem er nicht anders konnte als es zu mögen, obwohl ihm der Gedanke der Verbindung noch immer mit jeder Faser seines Körpers widerstrebte. Kurz schoss ihm der Gedanke Rahjard lebewohl zu sagen durch den Kopf, aber er verwarf ihn rasch wieder. Raj bereitete sich selbst auf eine Reise vor, die ihn an genau das andere Ende des Kontinents führen würde. Die Entscheidung des Schönlings hatte ihn überrascht, sie war selbstlos gewesen – beinahe heldenhaft und jetzt wollte er ihn nicht bei der Umsetzung stören. Sicher – Rahjard würde sich darüber auslassen, dass er – Garion – wieder einmal gegangen sei, ohne sich um ihn zu kümmern. Aber genau genommen wollte Garion das auch nicht. Alles was der Al’Anfaner damals getan hatte war wie weggewaschen im Vergleich zu der Vergewaltigung einer Geweihten. Und genau genommen war seine Reise in den tiefen Süden nicht heldenhaft – sie war das Mindeste, was er tun konnte um sich von diesem dunklen Fleck auf einer ohnehin schon lange nicht mehr weißen Weste zu befreien. Nein – er würde nicht bei Rahjard vorbei sehen. Er würde sich direkt auf den Weg zu den Sprenglers machen. Danach würde er nach Norden aufbrechen. Noch heute wollte er Ginsterfeld erreichen und Donnerbach so wenigstens ein Stück näher sein. Sein Sohn hatte lange genug gewartet und vielleicht war Cyruion immer noch dort – und konnte ihm einen besseren Weg für die Zukunft vorschlagen.

Tobrien 1 (Cyruion) (5NT 1013)

Ein weiteres Mal blickte der Bergadler für einen Augenblick zurück, um sich ausbleibender Gefahr durch Blaufalken und ähnliche Feinde zu vergewissern. Das Federkleid des Tiers erschien selbst im Licht der aufgehenden Sonne eher matt denn glänzend und wenn ein genauerer Blick erhascht werden konnte, schienen die Flügel unter der Anstrengung einer mehrstündigen Etappe gen Warunk zu zittern. Obgleich keine Schweißperlen über die gefiederte Stirn liefen, das Tier segelte vorrangig und versuchte weitere Flügelschläge weitestgehend zu vermeiden.

Cyruion war mit seinen Kräften am Ende und konnte nur erahnen, wie es seinen Gefährten möglicherweise ging. Sie waren vielleicht tot, niedergestreckt von einer Feuersbrunst, kaum dass er sich in die Lüfte aufgeschwungen hatte. Angefangen hatte alles vor einigen Praiosläufen als sie die Trollzacken, einen Ogerangriff wie Geländerutsch gerade so überlebt und wieder zusammengefunden hatten. In der schwülen, beinahe schon unangenehmen Hitze des Rahjamondes setzten sie ihren Weg fort. Eines Abends bemerkte die Reisegruppe, dass der Himmel sich rötlich, fast schon übertrieben blutrot eingefärbt hatte und das Firmament klar war, wie nur einmal im Götterlauf. Sie waren inmitten der Wildnis in die Namenlosen Tage geraten, jene Zeit, in der sich die meisten Menschen in ihren Häusern verschanzten und die Straßen selbst in Gareth stets leerer gewirkt hatten.

Der Auelf erschauderte bei dem Gedanken jedes Mal wieder, denn nicht nur, dass er das Dunkle nicht besonders mochte, in diesen fünf Tagen war die Dunkelheit bedrohlich wie sonst nie, alles angetrieben vom Einfluss dessen, was für den Untergang der Kultur seiner Vorfahren verantwortlich war. Leise atmete er durch. Nicht aus der Fassung bringen lassen.

Wenige Zeit später riss ein Blitz den Elfenmagier aus seinen Gedanken und kurze Zeit später traf die berittene Gruppe um Garion einen am Boden befindlichen Reiter und sein Pferd. Die Sichtung des Geschehens ergab schnell, dass der unbekannte Reiter ein Geweihter des Götterfürsten gewesen und offenbar in einen Kampf verwickelt gewesen war. Verschlüsselte Nachrichten, Tand und eine undefinierbare, große magische Macht, die  offenbar von einer Statuette ausging, fanden sich in den Taschen des Mannes wieder. Dann wurden sie angegriffen, noch an Ort und Stelle, von Kultisten des Namenlosen und weiteren Schergen der Schlechtigkeit.

Unnötigerweise zusätzlich, trotz Verwundung oder gerade deshalb, gejagt und getrieben von Hetzern, die die Gruppe immer in eine bestimmte Richtung zu lenken schien, ohne dass dies zunächst zu erkennen war. Besonders absonderlich war jedoch ein Dorf, Salwynsfelden, dachte der Elf, das sie nach einigen Tagen erreicht hatten. Natürlich waren sie nicht Willkommen, alleine der Umstand, dass sie ein Spitzohr dabei hatten verschärfte die Situation. Genauso wie die Geburt eines Kalbes mit zwei Köpfen, der einen wütenden Mob aufziehen ließ und die vom Rondra-Geweihten angeführte Gruppe weiterziehen ließ. Ungeachtet dessen, dass die drückende Hitze mit jedem Tag schlimmer wurde.

Zumindest, wenn es nicht gerade Merkwürdigkeiten waren, die die Aufmerksamkeit auf sich zog. Denn wer hätte erwartet, dass an einem Sommertag plötzlich Eiseskälte vorherrschte, Nebel aufzog? Doch der Verstand wusste es zuzuordnen, denn überall dort machte das Wetter Firun vermeintlich alle Ehre, wo sich die Kreaturen des Dhaza aufhielten, wie die Hetzer, die sich nach und nach verstofflichten und wahrscheinlich am letzten Tag des Namenlosen zu ihrer vollen Kraft kommen und der Gruppe das Leben schwermachen würden. Noch waren sie nicht besonders gefährlich. Auf der anderen Seite war für den Elfen auch ein altes Kloster der Gütigen, Peraine, recht befremdlich. Er hatte es jedenfalls noch nicht gesehen, dass weibliche Geistergestalten mit Ghulen tanzen. Wenn er obskures sehen wollte, sollte er in den Tagen des Namenlosen des Öfteren vor die Türe, auch wenn immer die Frage nach der Gefahr bleibt und ob es das wert ist. 

Am wahrscheinlich dritten oder vierten Tag, was er schon nicht mehr recht zuordnen konnte ob der wirren Geschehnisse, als jeder Regentropfen weiter ein Segen gewesen wäre, passierten sie einen reichlich unheimlichen Boronanger, trafen wenig später auf eine Gauklertruppe mit ihren Wagen. Darunter befand sich auch Wilbur, ein alter Freund des Rondra-Geweihten aus Andergast, der seine Familie offenbar vor längerer Zeit verlassen hatte. Doch nicht alles am Zusammentreffen mit den Gauklern zog Positives nach sich. Schon bei der ersten Begegnung hatte eine Gauklerin versucht, den Elfen um einen Teil seiner Habe zu erleichtern. Abgesehen davon vergnügten sie sich jedoch rege in der illustren Runde und der Elf war sehr zufrieden, dass ihm eine Gauklerin recht schnell einen Schlafplatz bei sich feilbot. Endlich wieder in einem Bett schlafen. Womit er nicht gerechnet hatte war, dass das Schlimmste noch bevorstand an diesem Abend. Denn kaum, dass sie mit den Vagabunden gespeist und getrunken hatten, legte sich Müdigkeit über die Freunde des Elfen und ihn. So viel zum gemütlichen Schlafplatz. Waren sie vergiftet worden?

Dunkel.

Die Nacht war bereits über Dere und Tobrien hereingebrochen als der elfische Zauberer aus Donnerbach erwachte. Die Gauklerinnen waren fort, zumindest jene, die sich noch mit William vergnügen wollten. Doch der Pirat und der Heiler, Vitus, waren im Wagen. Ansonsten herrschte befremdliche Stille. Rasch, aber vorsichtig sah sich der Elf um und musste mit Erschrecken feststellen, dass das Feuer erloschen war und die Gaukler offenbar aufgebrochen waren. Zwei Wagen hatten sie zurückgelassen…

…und die Statuette war fort, wie auch alle Pferde bis auf zwei. Dieses offenbar mächtige, magische Artefakt, es war fort. Jenes, weshalb sie von Namenloskultisten angegriffen worden waren und für das ein Diener des Götterfürsten sein Leben gelassen hatte. Cyruion zog die Brauen zusammen und sah nach den Gefährten. Während er Garion und Tarambosch schnell erreichte und wecken konnte, schlugen sämtliche Versuche bei William und Vitus in diese Richtung fehl.

Sie wachten nicht auf. Doch, lebten sie überhaupt noch oder träumten sie selbst?

Obgleich die schiere Dunkelheit Unbehagen beim Elfen auslöste, versuchte er sich für einen BLICK IN DIE GEDANKEN zu konzentrieren. Auf diese Weise ließ sich zumindest herausfinden, ob Vitus nur ein Abbild des Heilers war und ansonsten so lebendig wie ein Stein oder ob er der Heiler war, der fest schlief, träumte. Zum Glück des Elfen gelang der Zauber und er konnte den Heiler aus seinen märchenhaften Träumereien reißen, während sich Garion und Tarambosch auf rabiatere Weise um William kümmerten.

Anschließend machten sie sich auf, die Gaukler auf den übrigen zwei Pferden und dem Pony des Angroschim zu verfolgen, unter Einsatz ihrer, mehr oder minder vorhanden, Kenntnisse im Umgang mit der Natur. Sie waren in diesem Moment die Hetzer, die jagten und etwas trieben, zumindest bis sie unweit eines Baumes innehielten, der auf den Elfen obskur wirkte. Denn die Äste waren übersät von Nachtwinden, jenen Vögeln, die Magie etwa so sehr verabscheuen wie die Angroschim Drachen. Nachdem eine Eule am Baum vorbeigezogen und angegriffen worden war, folgten alle bis auf Cyruion und Vitus dem Kampf zwischen Eule und Nachtwind. Denn die Eule könnte schließlich, wenn sie angegriffen wurde, ein Elf sein und unter der Wirkung eines ADLERSCHWINGE stehen.

Aus der Ferne konnte Cyruion vernehmen, wie insbesondere Garion und Tarambosch schnellen Prozess mit dem Nachtwind machten und ihn – wie die Garether Metzger sagen würden – buchstäblich zerhackten. Anschließend näherten sich auch die beiden Zurückgebliebenen dem Rest der Gruppe, nur um festzustellen, dass es sich bei der Eule um keinen Elfen handelte. Eine ältere, blinde Frau hatte die Eule zum Vertrauten und nutzte es, um sehen zu können. Da das Tier geschwächt war und nicht weiterfliegen konnte, brachten sie die ältere Frau noch zu ihrer Hütte… weiterhelfen konnte sie ansonsten aber, leider, nicht wirklich. Sie war nur zum Beweis dafür geworden, dass er sich niemals einem Nachtwind nähern durfte, wenn er sich als Adler in die Lüfte erhoben hatte.

Es wäre wahrscheinlich sein Tod.

Leise schluckte Cyruion, während sie die Jagd nach den Gauklern fortsetzten.

Auf dem Weg den Gauklern hinterher, konnten sie noch ein ums andere Mal die Hetzer erspähen, auch wenn sich diese nicht mehr für sie interessierten. Diese Kreaturen des Namenlosen waren demnach ausnahmslos auf jene angesetzt, die die Statuette in ihrem Besitz hatten. Aber was genau war so wichtig an diesem kleinen Stück, das wahrscheinlich das Abbild eines Drachen oder Daimoniden zeigte?

Cyruion verschnaufte einen Moment, er durfte nicht zu sehr in Gedanken schweifen, denn noch hatte er sein Ziel, Warunk, nicht erreicht. Zwar zeichneten sich die Konturen und Umrisse der Stadt bereits ab, doch noch war er nicht dort, konnte nicht sagen, wo er konkret hinsollte und wie viel Zeit überhaupt vergangen war. Es war ein unpraktischer Gedanke, jetzt, da ihm die Flügel allmählich schwer wurden. Zwar hatte er den Zauber in der Vergangenheit bereits ausgereizt, jedoch nie unter solchem Stress, nie mit dem Wissen, dass das eigene Zeitgefühl in diesen vergangenen Tagen abhandengekommen war.

Seine verbliebene, astrale Kraft hatte er für das zweimalige Wirken des ADLERSCHWINGE aufgeopfert, riskierend, dass ihm irgendwo im Wald noch während der Rückverwandlung, einem Durchatmen sowie einem längeren, sorgenvollen Blick zurück in Richtung seiner Gefährten, Diener oder Kreaturen des Dhaza auflauern konnten. Wenn er sich nicht völlig verkalkulierte, dann würde er es gerade so nach Warunk schaffen und falls nicht, noch vor den Stadttoren wie ein Stein vom Himmel fallen. Es war daher ohnehin erforderlich, dass er nicht zu weit über den Wipfeln der Bäume flog, sofern es sich anbot noch tiefer ging, um im Falle eines Absturzes nicht zu viel körperliches Gebrechen zu riskieren. Spätestens die Arie mit dem Fenster in Zackenberg hatte ihm wieder vor Augen geführt, dass sich jeder Schaden, den er in Tiergestalt nahm, entsprechend auf seinen gewöhnlichen Elfenleib auswirkte. Ein Gedanke, den er verdrängt hatte, wo er den Zauber sonst eher wirkte, um auszukundschaften, oder sich der Natur schlicht näher zu fühlen.

Doch sei es, wie es wollte, all die Gedanken um einen elfischen Kollateralschaden waren nicht besonders förderlich und für das eigene Empfinden hatte er die letzten Wochen genug gelitten. Leid schien ohnehin das große Thema dieses Lebensabschnitts zu sein. Während er seinen Weg beschwingt fortsetzte, musste er an die heiligen Tiere der Zwölfe denken, die ihm vor einigen Tagen unter die Augen gekommen waren. Eine Jagdgesellschaft hatte sich offenkundig die Mühe gemacht, diese Tiere zu erlegen. Und zwar ausschließlich solche. Wie bei der Haijagd von Bacha und Phileasson hatte er dafür kein Verständnis, als ihm jedoch deutlich gemacht wurde, dass es sich beinahe um einen Frevel handelte, wurde er schon wieder nachdenklich. Namenloskulte, eine mächtige Statuette und die zwölfgöttlichen Tiere erlegt und zu einer schwer befestigten Burg geschliffen?

Nur ein Narr hätte dahinter, spätestens ab diesem Zeitpunkt, nichts Größeres erwartet. Daher war es nur folgerichtig, den Gauklern und ihren Wagenspuren über Stock und Stein zu folgen. Über der besagten Burg selbst schwebte ein Blaufalke, nach der Eule nicht das erste, zu bewundernde Federvieh. Der König der Lüfte… abgerichtet, sicherlich zur Warnung oder Jagd genutzt. Jedoch sollte das nicht helfen. Aus einem kurzen Gespräch ging ein Impuls von William aus und er versuchte sich über karges Feld zur Burg zu bewegen, nur um von zwei Bolzen zerschlissen zu werden. Garion konnte ihn mit einem geschickten Manöver retten, doch dann zogen sie einmal mehr weiter. Es war zu erwarten, dass die Burg die gesuchten Antworten beinhaltete, doch sie wirkte uneinnehmbar mit solch einer kleinen Gruppe, aus der ein Streiter noch verletzt war.

Es wurde allmählich dunkel, wenn er sich recht entsann, warteten sie ab. Denn irgendwann würde schon irgendetwas passieren – und nach einer ganzen Weile konnten die erschöpften Gefährten einen Lichtschein fernab der Burg erblicken, dem zu folgen war. Tarambosch schlich, ohne Rüstung, am Waldrand entlang und verschaffte sich einen ersten Blick, erschlug dazu ein kleines Mädchen und kam auf diese Weise in den Besitz einer Kultistenrobe wie -maske. Offenbar sammelten die Kultisten noch Holz. Sachen, die nur ihm passten. Sie näherten sich, nachdem sie den Gedanken verworfen hatten, die Kultisten zu infiltrieren. Denn es erschien unmöglich, noch an diesem Abend in kürzester Zeit hinreichend passende Gewandung zu erlangen, ohne dass es irgendwann auffällig wurde.

Aus etwa 150 bis 200 Schritt Entfernung war der Platz gut zu überblicken. Eine große Statue des Namenlosen im Zentrum, eine Statue, die ihn erhaben und nicht etwa in Ketten zeigte… dazu ganze dreizehn Scheiterhaufen. Dreizehn. Es war seine Zahl. Seit jeher.

Noch während die anderen und der Elf anfingen sich Gedanken machten, wie vorzugehen war, begab sich ein ganzer Tross aus Dienern des Namenlosen zum Kultplatz. Darunter obskure Gestalten wie ein Junge mit fast schon schneeweißem Haar, einer der wenigen, der keine Maske trug oder vielleicht sogar der einzige. Offensichtlich kamen sie aus Richtung Burg und hatten, zu allem Überfluss, die zwölf Tiere dabei. Kurz darauf wurden die Scheiterhaufen, gespickt mit den heiligen Kreaturen der Zwölfgötter, angezündet. Ihnen lief allmählich die Zeit davon – und noch immer hatten sie keinen richtigen Plan, was auch immer dort geschehen sollte zu verhindern. Denn, so viel war sicher, es würde keine gute Tat sein, die heute hier in diesem Ambiente verrichtet werden sollte. Im Gegenteil. Es brauchte eine zündende Idee…

Eine gefühlte Ewigkeit später hatten sie sich auf eine Möglichkeit, die weniger Unmöglichkeit in sich barg als viele andere Gedanken, verständigt. Zumindest, nachdem sie die Statuette auf dem Kultplatz in der Nähe eines blassen Elfen sichten konnten. William hatte sich indes weiter nach vorn geschlichen, um den Kultplatz aus nächster Nähe zu erleben, vielleicht von dort etwas vornehmen zu können und gegebenenfalls für Ablenkung zu sorgen. Es war jedenfalls heikel, denn er begab sich mitten in die Höhle des Löwen, am späten Abend des fünften Tages des Namenlosen.

Cyruion zog sich etwas zurück, sammelte sich. Es war nie wichtiger gewesen, dass seine Verwandlung gelang und dass er selbst, zum Glück, unversehrt war. Nach den Worten „ADLERSCHWINGE WOLFSGESTALT“, setzte der Verwandlungsprozess ein und kaum einen Augenblick später stand der gefiederte Elfenmagier inmitten des heldenhaften Trüppchens, das aus nicht mehr als einer Hand bestand.

Ein Alveranskommando.

Im Gegensatz zu den Menschen fürchtete der Auelf das bevorstehende Ende allerdings nicht wirklich. Denn, so dachte er, die Sagen und Legenden seines Volkes sangen immer wieder von Reinkarnation oder dem Weg ins Licht. Es war ein beruhigender Gedanke, nicht die Niederhöllen fürchten zu müssen, sondern schlicht eins mit dem eigenen Volk zu werden, gleich wann sie das Schicksal geholt hatte. Kein möglicherweise ewiges Warten in Borons Hallen, ehe eines der zwölfgöttlichen Paradise sich öffnet. Die Situation war angespannt, doch eine gewisse Ruhe konnte er sich nicht absprechen. Wenn er hier starb, dann war es wenigstens für eine größere, eine wahrscheinlich nicht unbedeutende Sache, wenn er nur an das Artefakt und seine Macht dachte.

Dann war es soweit…

Tarambosch gehörte der erste Schritt, es war an ihm, das Ritual und den Ablauf des Abends in erster Instanz zu stören und er hatte sich das Ziel für seinen Bolzen gut gewählt. Der schwarzäugige Elf, der nahe der Statuette offenbar in einem Beschwörungskreis stand. Von der Wucht des Bolzens wurde dieser verräterische Elf umgeworfen. Vorab hatte sich Cyruion ein Stück abseits bereits in die Lüfte erhoben.

Er brauchte eine Menge Anlauf wie Höhe, dass Angriff und Flucht in so kurzer Zeit passierten, dass eine Reaktion nahezu unmöglich wurde. Während der namenlose Elfenmagier zu Boden ging, setzte der verwandelte Auelfenzauberer an. Es war das Signal für sein Eingreifen – jetzt oder nie.

Sturzflug. Dere zischte an ihm vorbei, doch der geschärfte Blick des Elfen hatte die Statuette längst fokussiert. Er hörte nichts mehr außer dem Rauschen der Luft, die die eigenen Flügel durchschnitten. Ein ohrenbetäubender Lärm, an den er sich einen Moment gewöhnen musste. Die Fänge waren gespreizt, etwa 80 Schritt die Sekunde. Hoffentlich packte er im rechten Moment zu. Sonst war alles umsonst…

 

Geschafft!

 

Allerdings, wie er in einem kurzen Anflug von Euphorie bemerkte, hatte er nicht alles zu Ende gedacht. Noch auf den ersten Metern weg vom Ritualplatz bemerkte der zum Bergadler gewordene Auelf, dass er keinen Gedanken an den Blaufalken nahe der Burg verschwendet hatte. Dieser war ebenfalls am Ritualplatz. Cyruion versuchte das bestmögliche aus seinem Überschuss an Geschwindigkeit zu machen, konnte die Gefahr jedoch nicht abschütteln. Der Falke rückte ihm allmählich auf die Federn, in leichter Hektik und Panik drehte Cyruion bei in Richtung seiner Gefährten und ließ einen Schrei ab. Er brauchte sie, oder zumindest eine Klinge, einen Bolzen, sonst würde er das Nachsehen haben. Unablässig rückte der Falke näher. Eine weitere Runde im weiten Radius, dazu hatte der Elfenmagier des Namenlosenkultes sich gefangen und setzte seine Kraft gegen den Bergadler ein. Es wurde schwerer, sich überhaupt in der Luft zu halten, voranzukommen.

Hilfe.

Verzweiflung machte sich im Blick des Adlers breit. Ein weiteres Mal überflog er die Gefährten, machte sich bemerkbar – dann traf endlich ein Bolzen. Erleichterung überkam den Elfen als der Blaufalke zu Boden sank und sich nicht mehr erhob. Bei aller Liebe zu Tieren, dieser Tod war kein nutzloser, sondern diente einer größeren Sache. Angeschlagen von den Einflüssen der luftelementaren Magie stieg Cyruion wieder auf, die Statuette noch immer fest in den Fängen und setzte sich ab. Dorthin, wo er Warunk vermutete; jene Richtung, die sie zuletzt eingeschlagen hatten, als sie nach Warunk wollten.

Dann die Feuersbrunst, unter einem lauten Knall und schier endlosem Knarzen und Knirschen verendete der Wald, offenbar eine Auswirkung der Macht des Knaben, der um seinen Ritus gebracht wurde. Cyruion war jedoch weit genug weg. Nur die Bekannten… ob sie es geschafft hatten?

Ächzend und krächzend kreiste Cyruion wenige Minuten später über Warunk und setzte vor dem auf, was er aus der Luft als Tempel des Götterfürsten Praios vermutete und verwandelte sich vor zwei Sonnenlegionären ungeniert zurück. Die Statuette übergeben, das Erlebte schildern, wo sie gewesen waren. All das hatte er vor, doch für mehr als die Statuette reichte es nicht. Völlig erschöpft, physisch wie psychisch, fragte er noch im Tempel Praios‘ nach dem nächstmöglichen Bett, das er beanspruchen könnte… und nach Tempelasyl. Denn zumindest solange, wie die alte Reisegruppe nicht zusammengefunden hatte, wollte er sich inmitten Götterdienern wissen, die mit den Schrecken des Dhaza besser umzugehen wussten.

 

1014.

 

Es konnte nur besser werden..

Zackenberg 1 (Garion) (PER 1013)

Mit trübem Blick betrachtete er die Wand links von sich. Hinter ihr lagen Vitus und Cyruion und schliefen. Oder jedenfalls hoffte er das. Vor einer guten halben Stunde war er aufgewacht und hatte einfach keinen Schlaf mehr gefunden. Also hatte er die Wache abgelöst und sich seinen Gedanken hingegeben. Aus irgendeinem Grund beschäftigte ihn die Sicherheit seiner Begleiter heute Nacht besonders. Ein leise Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass Menschen selten waren, wie sie schienen – und niemals besser. Was also hatte er von dem Herrn dieser Burg zu erwarten? Von einem bequemen, vergnügungssüchtigen Answinisten? Am heutigen Abend hatte nur eine dralle Blondine auf seinem Schoß gefehlt, um den Eindruck des Lebemanns endgültig zu festigen.

Beide Hände auf den Knäufen seiner Klingen – jede auf einer Seite seines Waffengurts – trat er an das Turmfenster heran und sah hinaus in die Nacht. Im Grunde wussten sie nichts über diesen Ort. Er war abgelegen, klein und gemieden. Der kühle Hauch eines schneidenden Windes streifte sein Gesicht.
Warum hatte der Traviageweihte ihnen nur so ungern das Gastrecht gewährt? Warum war das Verlöbnis ihres…Auftraggebers…derart zerfallen? Den Blick nach draußen in die schwarze Tiefe gerichtet, die nach wenigen Metern den Erdboden zu verschlucken schien, schüttelte er den Kopf. Warum genau waren sie eigentlich hier? Nichts an dem bisher erlebten rechtfertigte seine Sorge. Ein trinksüchtiger Vater, der kurzfristig seine Meinung ändert, weil ihm das von Weingeist benebelte Hirn suggerierte Answin von Rabenmund sei der einzig wahre Herrscher des Mittelreiches und nur Answinisten waren gute Partien für seine Tochter. Das mochte alles sein. Der ganze Grund für ihre Anwesenheit fern der Heimat.

In seinen Ohren dröhnten die leisen Geräusche, die ein vollständig im Schlaf liegendes Haus von sich gab. Ein Knacken hier, ein Bröckeln dort. Waren das Schritte? Einen Augenblick sah er zur Tür hinüber, bis das was er für Schritte gehalten hatte, nahtlos wieder verhallte. Die Momente in denen Stille den Kopf klärte waren in den letzten Jahren stetig weniger geworden. Aber jede Nachtwache lud dazu ein. Er sah zu dem Bett hinter sich – zu William und Tarambosch. Beide schliefen friedlich, keiner von ihnen störte sich an der Nacht unter einem fremden Dach. „Ohne Heimat sein heißt Leiden.“, sagte Fjodor Alrikowitsch Sjerpenkewski. Konnte es das sein, was ihn umtrieb? Fehlte ihm das heimatliche Salderkeim? Oder Schossko?
Wieder sah er zu den beiden Schlafenden. Dann schüttelte er den Kopf. Nein – das war es sicher nicht. Wenn er dem Gefühl des Heimwehs nachspürte, dann war dort nichts. Und er hatte es schon immer eher mit Baron Ulllob Rakorium vom Eberstamm gehalten, denn mit Sjerpenkewski. „Wir sichern uns die Heimat nicht durch den Ort, wo, sondern durch die Art, wie wir leben.“

Wenn ihn aber kein Heimweh aus Borons Armen getrieben hatte – was dann? Mit leisen Schritten wechselte er den Raum. Der leere Türrahmen, der die Schlafräume voneinander trennte hatte nicht einmal einen Vorhang. Es gab allerdings von beiden Seiten Schränke, die man im Fall der Fälle vor die Öffnung schieben konnte, sodass aus zwei Räumen einer wurde. Sein Blick traf auf die Zugangstür zum zweiten Raum, ehe er auch hier zu den Schläfern sah. Ein Elf und ein Mensch, beide männlich und tief im Schlaf. Beide sicher.
Wie um sich dieses Umstandes zu versichern ging er zu der Tür hinüber und prüfte ihren Riegel, der fest an Ort und Stelle saß. Dann sah er wieder zu der Schlafstätte, wo sein Blick an dem Menschen hängen blieb. Vitus war ein Deserteuer, so viel war sicher, aber er war kein schlechter Mensch, niemand, dem man böse Absichten unterstellen wollte. Überhaupt geschah alles was aus Liebe getan wurde jenseits von Gut und Böse. Sicher war es gefährlich, verantwortungslos und kurzsichtig seinen Wachposten wegen einer Frau zu verlassen. Aber böse? Nein. Böse war es nicht.
Nachdem er noch eine Weile die Gesichter der beiden Schlafenden betrachtet hatte, seufzte er tonlos und kehrte durch die zähe Dunkelheit der beiden Räume zurück in das andere Schlafzimmer. Auch dort war alles still; die Tür verriegelt. Die Waffen lagen nahe bei den Schlafenden, alle waren auf einen Überfall vorbereitet. Alles war wie immer. Mit einem Angriff musste man jederzeit rechnen.

Auch als Schwert der Schwerter.
, dachte der Ardarit. Seine Nackenhaare stellten sich lautlos auf und ein kalter Schauer jagte seinen Rücken hinab. Ohne es zu beabsichtigen hatte er den Finger direkt in die Wunde gelegt. Das Gefühl der Unruhe wuchs in seiner Brust, als in seinem Kopf die Worte Dragosch von Sichelhofens nachhallten.„Ich war zugegen, auf dem diesjährigen Adelskonvent vor wenigen Wochen in Gareth, an dem unser hochgeschätztes Schwert der Schwerter, das wie ein Vater für alle Mitglieder unseres Bundes als leuchtendes Beispiel hier in Perricum, dem Hauptsitz unseres Glaubens, über Jahre unbeugsam residierte, niedergestreckt wurde von einem ungesehenen Angreifer mit einem Bolzen von hinten durch seine Brust.“
Gemurmel hatte den Mann unterbrochen, Raunen war durch die Halle des Tempels in Perricum gegangen und hatte beinahe überdeckt, was der Mann dann gesagt hatte. Was Garion aus irgendeinem Grund irritiert hatte. „Es trug sich zu, dass ich es war, der den langjährigen Repräsentanten in seinen Armen hielt, als er den letzten Atemzug auf Dere tat und die letzten Worte sprach, ehe Golgari seine Seele mit sich nahm. Demütig beuge ich – Dragosch von Sichelhofen – mich dem letzten Willen des Schwerts der Schwerter und übernehme das heilige Amt, die Verpflichtungen Viburn von Hengisforts und die Ehre an seiner statt fortan die Rondra-Kirche Aventuriens zu vertreten! Als neues Schwert der Schwerter hier in Perricum!“
Ein schaler Geschmack breitete sich in Garions Mund aus, sodass er einen raschen Schluck aus seiner Feldflasche nahm und ihn hinunterspülte. Die letzten Jahre hatten die Welt ins Wanken gebracht. Borbarad sollte zurückkehren, wenn die Rollen der Beni Rurech Recht hatten, das Schwerter der Schwerter wurde ermordet und Hal war tot. Die Zeiten für einen jeden gläubigen Menschen auf diesem Kontinent waren schlecht.

Mit düsteren Gedanken kehrte er ans Fenster zurück und starrte ungnädig nach draußen, als könne das die Finsternis in Welt und Geist zugleich vertreiben. Als die Stille auf ihm zu lasten begann, hörte er die Stimme in seinem Kopf erneut. Lauter diesmal, klarer zu erkennen. Ein voller Bass, eingefärbt von Zuversicht und der Belustigung die Ungläubigkeit über das Verhalten anderer mit sich bringt. Er erkannte die Stimme und vor seinem inneren Auge tauchte ein blonder Rondrageweihter auf. Er trug lange, offene Haare und einen Vollbart. Trotz der schweren Kettenrüstung hatte er die Arme geradezu leicht über seinem Wappenrock verschränkt. An seinem Kragen lag die einfache Schwertfiebel eines Knappen der Göttin. Seine Gnaden Gunvald von Njördhall hatte sich während der ganzen Ausbildung Garions seine thorwalsche Lebensart erhalten. Zwar hatte er Rondra immer voll aufrichtiger Inbrunst verehrt, aber nichts und niemand hatte seine Zuversicht und seine offene Art brechen können. Er hatte jedem Kirchenmitglied – gleich welchen Standes – lachend auf die Schulter geklopft als sei es Mitglied seiner Otta. Und niemals hatte er sich mit gutmütiger Kritik zurückgehalten. Ein Schlag ins Gesicht, den ihm niemand übel nahm – weil er recht hatte. So wie jetzt.

„Die Zeit ist schlecht, Garion? Wohlan. Du bist da sie besser zu machen.“

Perricum 7 (Garion) (PER 1013)

Mit einem raschen Griff legte der Rondrit einen neuen Holzscheit in die züngelnden Flammen des Lagerfeuers, das tanzende Schatten an die Felswände der Trollzacken warf. Die Holz- und Schmutzreste in seinen Handflächen rieb er beiläufig an seiner Hose ab, ehe er sich wieder setzte und einen Blick in die Runde warf, deren Wächter er die kommenden drei Stunden war. Vor ihm, gebettet auf Schlafmatten oder dem Boden und geschützt von Decken oder Schlafsäcken lagen ein Elf, ein Zwerg und zwei Menschen. Einer von beiden Freibeuter – wenigstens – der andere Medicus und Deserteur. Und über ihnen alle spannte sich das Himmelszelt mit unzähligen funkelnden Sternen, dominiert vom fahlen Licht des Madamals.

Ein tiefer Atemzug des Kriegers riss die kühle Abendluft tief in seine Lungen und weitete seine Brust, ehe er den Atem wieder fahren ließ. Die Gruppe, die sich die schützende Wärme des Feuers teilte, war derart bunt gemischt, dass es Garion bisweilen wie ein Wunder erschien, dass sie zusammenhielt. Das Grün seines verbliebenen Auges verfing sich an den blonden Haaren des Elfen. Cyruions Alter war schwer zu schätzen, aber wie vermutet war er der Älteste der Runde. Es war schon einige Jahre her, dass sie sich kennengelernt hatten – damals zunächst an Bord eines Schiffes, dann zu Fuß auf dem Weg ins Landesinnere. Von Beginn an hatte der Elf sich durch eine beinahe absonderliche Tierliebe ausgezeichnet, gleichzeitig aber am Kreislauf des Tötens wie selbstverständlich teilgenommen. Empathie und Gnadenlosigkeit in gleichem Maß – wie Garion fand ein deutliches Zeichen für die naturnahe Lebensweise der elfischen Sippen, die sich vom Erbe ihrer Vorfahren distanziert hatten, um die Fehler derer die vor ihnen waren nicht zu wiederholen.
Trotzdem hatte Cyruion stets auf die eine oder andere Weise den Eindruck erweckt, seinen elfischen Wurzeln entrückt zu sein. Hatte sich menschlich gekleidet, hatte aber nie menschlich geklungen, hatte nach Wissen gedürstet wie ein Mensch, aber hatte den menschlichen Essensgewohnheiten weitgehend entsagt. Ihre Wege hatten sich getrennt, als der Magier sich einer Haijagd verweigert hatte und diese – wie er es genannt hatte – unnütze Grausamkeit nicht hatte mit ansehen wollen.

Garion strich sich gedankenvoll über seine rechte Braue und blinzelte etwas Rauch aus seinem tränenden Auge. Und jetzt – Jahre später hatte sie der Zufall wieder zusammengeführt. Cyruion hatte Perricum in Begleitung einer Gesandtschaft der Senne Nord erreicht, um sie in magischen Belangen zu beraten und im Notfall einzugreifen. Gemäß dem Gedankengut seiner Alma Mater in Donnerbach war er das Gruppenmitglied, das ihm am wenigsten Sorgen bereitete. Cyruion war bisweilen ein wenig weltfremd, aber er war umgänglich und geduldig, war um Völkerverständigung bemüht. Die üblichen Aversionen von Elfen gegenüber den Angroschim waren bisher nicht ruchbar geworden – nicht einmal als ‚Stummel‘ oder ‚Halbmann‘ hatte er Tarambosch betitelt.

Die Aufmerksamkeit des Wachhabenden glitt von dem blonden Elfen fort und kettete sich an den ebenfalls blonden Angroschim. Er wusste, dass der gedrungene Bartträger sich bereits zurückhielt. Trotzdem war es unverkennbar, dass offene Worte, Konfliktbereitschaft und ja – auch eine Spur rassistischer Vorurteile in seinem Blut kochten. Dennoch würde Garion niemals auf ihn verzichten wollen. Nach ihrem ersten Treffen in Ranak bei Kap Brabak hatte sich schnell herausgestellt, dass sie gerne und gut zusammenarbeiteten. Ihr Ehrverständnis und sogar Teile ihrer Weltsicht deckten sich, wenngleich ihr kultureller Hintergrund und ihre Ausbildung bisweilen für geteilte Meinungen sorgten.
So war dem Zwerg die Abneigung allem Echsischen gegenüber in Fleisch und Blut übergegangen, während in der Glaubenslehre Rondras der hohe Drache Farmelor als Gemahl der Göttin selbst gepriesen wurde. Die Diskussion über diesen Punkt war kürzlich aufgeflammt, war aber rasch (und vorläufig) beigelegt worden.
Gedankenverloren rieb der Wächter Daumen und Zeigefinger aneinander, während er die Gestalt des beinahe totengleich schlafenden Zwerges betrachtete. Doch obgleich die Emotionen des Zwerges von Zeit zu Zeit für Ärger innerhalb ihrer Gruppe sorgen konnten, betrachtete er ihn nicht mit Sorge. Selbst wenn der Axtschwinger sich mit seiner ganzen Gruppe stritt, so würde das Auftauchen eines gemeinsamen Feindes doch für eine geschlossene Front sorgen. Auch das lag den Kriegern Xorloschs im Blut – im Krieg dachte man praktisch, nicht emotional.

Als sich ein fremdes Geräusch in das Knacken des Feuers mischte, sah der Rondrit auf. Die Gegend in der sie sich befanden, galt im Allgemeinen als gefährlich, wenn sie auch bisher nicht angegriffen worden waren. Mit einer Hand am Griff seines Schwerts erhob er sich von dem kleinen Felsen, auf dem er saß, und ließ den Blick in die nähere Umgebung des Lagers fahren. Der Ort war gut ausgesucht. Die kleine Mulde war von drei Seiten von größeren und kleineren Felsen umgeben und öffnete sich mit der vierten zum Weg. Das Licht des Lagerfeuers war auf diese Weise nicht sehr weit zu sehen und der Wind nicht allzu harsch. Ein paar Schritte führten ihn auf den schmalen Weg hinaus, von wo aus er einen noch besseren Blick hatte. Eine Gefahr war aber nicht zu sehen – kein Grund also die anderen zu wecken und in Alarmbereitschaft zu versetzen. Nun wieder ruhiger setzte er sich an seinen Platz zurück und angelte nach seinem Proviantbeutel und Wasserschlauch. Während er etwas Proviant verzehrte, lenkte er seinen Blick zu den beiden Menschen hinüber. William und Vitus. Beide männlich und beide schwer einzuschätzen.

William hatte ein loses Mundwerk, flinke Finger, die nur zu gerne auch genutzt werden wollten und verbog sich die Realität auf eine Weise, dass eine leise Stimme in Garions Kopf aus jedem „Das ist wahr!“ ein „Das ist wahr!-scheinlich wahr.“ machte. Tatsächliche Talente hatte William seit Garion ihn kannte, nicht gezeigt. Wenn man von ‚Sich Ärger einhandeln.‘ und ‚Das Wirtshaus leer trinken.‘ einmal absah. Die Geschichten des jungen Seefahrers waren beinahe so groß wie sein Ego und hinter jeden Ecke lauerte ‚Die Eine‘, um sich ihm voll der Liebe an den Hals zu werfen.
William war ein Buch mit sieben Siegeln und Garions größte Sorge. Dabei ging es nicht einmal um die erfundenen Geschichten, die mangelnde Etikette, das mangelnde Wissen um das Pantheon oder die bisweilen vorgeschobene Inkompetenz. Wesentlich größeren Eindruck hinterließ der Umstand, dass William mit all dem so bereitwillig herausrückte. Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass Menschen selten ihren wahren Charakter offen legten, wenn sie ihr Gegenüber nicht kannten. Wenn der Seefahrer genauso war, dann stellte sich die Frage, was er hinter der Fassade verbarg. Das Bild eines plündernden Freibeuters oder – schlimmer noch – Piraten verfestigte sich immer mehr. Zuletzt als die Admiralität Perricums bestätigt hatte, Williams Vater aus ähnlichen Gründen zu suchen. Vor diesem Hintergrund hatte es ihn überrascht, dass der Mann in Zeiten der größten Not in der Ordensburg der Ardariten aufgetaucht war, um dort nach Hilfe zu suchen. Das war vernünftig gewesen – beinahe zu vernünftig für den Charakter, den er sonst an den Tag gelegt hatte. Aber – war es Vertrauen gewesen oder Opportunismus? Hatte er sich seinen Gefährten anvertraut oder nur gewusst, dass sie ihm helfen würden, die Suppe auszulöffeln, die er sich eingebrockt hatte?
Langsam massierte der Adelige sich seine Nasenwurzel. Früher oder später würden sie alle gemeinsam in die Klemme geraten und dann würde sich zeigen, ob in William jemand steckte, auf den man sich verlassen konnte oder ob er eher versuchen würde seine eigene Haut zu retten – egal wen oder was er dafür opfern musste. In jedem Fall hielt er es für besser sein Auge auf ihm zu behalten.

Erneut sondierte Garion die Umgebung des Lagers. Wachdienst nahm er stets ernst. Eine Einheit – egal wie gut ausgebildet – war zu ihren Ruhezeiten am verwundbarsten. Gelang es einem Angreifer die Wache lautlos auszuschalten, so war es ein leichtes die schlafenden Gruppenmitglieder im Schlaf zu töten oder kampfunfähig zu machen. Garion wollte verdammt sein, wenn das während seiner Wache geschah. Noch einmal drückte er sich von dem Stein hoch und drehte eine Patrouillen-Runde um das Lager. Einige Minuten lang hielt er den Blick in die Dunkelheit gerichtet, um sein Auge daran zu gewöhnen. Wieder war alles still – wenn man von den normalen Geräuschen einer Nacht in der Wildnis einmal absah. Der Wind rauschte durch einige der mageren Gewächse, hier und dort raschelten kleine Tiere und die Feuchtigkeit des Holzes ließ das Feuer krachen. Gute zwanzig Schritt vom Feuer entfernt, lehnte er sich an den Steilhang der den Weg begrenzte und sah von dort zu seinen Begleitern hinüber.
Vitus mochte ein Deserteur sein, aber er war als Heiler schon rein objektiv wichtig für die Gruppe. Und wenn man genau genug hinsah, dann war es nicht allzu schwer zu erkennen, wie schwer seine Schuld ihn belastete. In Perricum hatte er sich dem Urteil der heiligen Rondra ergeben und war bei der Gruppe geblieben, obgleich er Zeit und Gelegenheit zur Flucht gehabt hätte. Garion mochte nicht glauben, dass ihm oder den anderen von Vitus Gefahr drohte. Dennoch war der Mann schwer zu durchschauen. Kaum einmal sprach er – und wenn er es tat, dann war er oft offener und emotionaler als sein Handeln es hatte erwarten lassen. Er war gläubig, gut ausgebildet und soweit der Rondra-Geweihte das beurteilen konnte, aufrecht. Die Liebe war es, die ihn vom Weg abgebracht hatte – und da war er beileibe nicht der Erste. Sich auf ihn zu verlassen war noch nicht ohne jedes Risiko, aber es bestand Hoffnung, dass er sich beweisen würde. Gerade nachdem die Gruppe beschlossen hatte, ihm bei der Abzahlung seiner Strafe zu helfen, schien es Garion als habe die Bindung sich gefestigt. Und für Zwist innerhalb der Gruppe würde die verständige Art des Mannes aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht sorgen.

Er ertappte sich dabei, dass beim Anblick der vier Schlafenden ein Lächeln über seine Lippen rann. Die Gruppe mochte in ihrer Zusammensetzung untypisch sein, aber labil war sie nicht. Nach allem was er wusste, war es gut möglich, dass sich an diesem Feuer genug Talent, Fähigkeit und Wissen versammelt hatte, um alles was das Schicksal ihnen entgegen schleudern wollte zu überwinden. Es galt nur die beiden wichtigsten Regeln dieser Welt zu beachten. Erstens: Zu wissen, wann es an der Zeit ist etwas zu tun. Zweitens: Zu wissen, wann es an der Zeit ist nichts zu tun. Vorsichtig stieß er sich in der Plattenrüstung von dem Stein ab und hielt wieder auf das Feuer zu. Dort angekommen setzte er sich vorsichtig wieder, schabte aber mit seiner Rüstung über den Stein, was eine kurze Bewegung des Elfen zur Folge hatte. Es wurde wirklich Zeit für eine Kettenrüstung.

Von seinem Platz aus betrachtete er die ungleichen und bisweilen gefährlich unbekannten Gefährten. So oder so: Für die kommenden Stunden war es an ihm jeden einzelnen dieser Männer mit seinem Leben zu beschützen. Genau wie er es auch nach Ablauf dieser Stunden tun würde, Tag um Tag, Woche um Woche, Götterlauf um Götterlauf. So lange sie sich als gut erwiesen. Denn wenn es nach ihm ging, dann galt für diese Gruppe dasselbe, was für den Ardaritenorden galt: Wir stehen zusammen, wir fallen zusammen.

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