Gareth 30 (Garion)

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Zeitraum: TRA 1014

Die schwache Flamme der Kerze auf dem kleinen Beistelltischchen flackerte, als der hochgewachsene Mann sich das kühle Wasser aus der bereit gestellten Wasserschüssel zuerst ins Gesicht warf und dann benutzte, um seine Achseln zu waschen. Sein morgendliches Waschritual weckte ihn nicht nur endgültig auf, es hinterließ eine erfrischende Kühle auf seiner Haut, eine Reinheit, die er brauchte. Das schwere und nahezu allgegenwärtige Gefühl der Konsequenzen seiner Entscheidungen war nach der täglichen Reinigung eine Weile lang weniger stark.
Er hat soviel, das er bereuen konnte. Sein bornländisches Blut erinnerte ihn immer wieder daran, was hätte sein können, wenn er einen anderen Weg eingeschlagen hatte. Schwermut war ihm ein treuer Begleiter und er hatte schon vor Jahren aufgehört zu versuchen, ihn zu bezwingen.
Sein ganzes bisheriges Leben war eine Kette aus folgenschweren Entscheidungen gewesen. Seine Berufung hatte ihren Teil dazu beigetragen. So oft hatte er vor sich selbst rechtfertigen müssen, dass er getötet hatte. Aus Notwehr zwar, aber dennoch so zahllose Kerzen, die er zum Erlöschen hatte bringen müssen.
In der Stille des Raumes trocknete er sich das Gesicht. Ein Seitenblick flüchtete zum tanzenden Schein des zittrigen Flämmleins.
Er hatte keine Wahl gehabt. Hatte er?
Draußen vor dem kleinen Fenster der Herberge war es noch dunkel, bestenfalls das entfernte Glühen erster Sonnenstrahlen war zu erahnen, als der Rondrageweihte nach dem sauberen Tuch zu seiner Linken griff und sich damit abtrocknete. Dann ging er zu dem gemachten Bett hinüber, auf dem sein Ornat bereit lag. Vorbei an dem kleinen Tisch in seinem Zimmer, auf dem eine grobe Karte des nördlichen Mittelreichs ausgebreitet lag. Darauf – noch immer offen – das Notizbuch Garions, dessen Seiten mit seiner engen, sauberen Schrift gefüllt waren. Sein rechter Mundwinkel hob sich matt. Dieses Buch war ein Abbild seines Lebens. Es war eng, korrekt und ordentlich. Er schnaubte leise, um diesen Gedanken zu verscheuchen als sei er eine lästige Fliege, die seinen Kopf umschwirrte. Alle Entscheidungen die er getroffen hatte, hatten ihn hierher in dieses Zimmer geführt. Hatten ihn zu dem gemacht, der er jetzt war. Kurz hielt er inne und sah auf seine schwieligen Hände hinab. Menschen dachten immer, dass sie Entscheidungen machen würden – aber tatsächlich war es andersherum. Entscheidungen machten Menschen. Sie formten Leben oder beendeten sie. Kurz blinzelte er. An manchen Morgenden zwickte ihn das silberne Auge in seiner linken Augenhöhle, wenn er auch nie herausgefunden hatte warum. Kurz legte er zwei Finger auf das Augenlid, um das Gefühl zu ersticken.

Den gestrigen Tag hatte er damit verbracht seine Route nach Firun von Gareth bis hinauf nach Donnerbach zu planen. Gedankenverloren zog er sich das weiße Hemd über den Kopf und zurrte den Gambeson darüber, ehe das Kettenhemd folgte. Die neue Rüstung bestand aus mehr Teilen als die Alte – dafür war sie beweglicher und hatte einen passenden Helm – davon, dass sie weit weniger auffällig war einmal abgesehen. Nachdem er den Wappenrock übergestriffen hatte, beugte er sich noch einmal über seine Notizen während er seinen Waffengurt anlegte.
Zunächst war der Weg klar gewesen. Die Reichsstraße nach Firun, über Wehrheim und Altnorden bis hin nach Trallop. Ab hier allerdings begann der Norden sich seinen rauen Ruf zu verdienen. Die gut ausgebaute Reichsstraße fand in Trallop ihr Ende und von dort aus lag noch immer der ganze Neunaugensee zwischen ihm und Donnerbach. Von hier aus gab es drei Gangbare Wege – vier, wenn man davon ausging mehr als genug Zeit zu besitzen – und keiner von Ihnen war erbaulich. Der kürzeste Weg führte direkt über den See, dicht an der Küste des Nebelsmoors entlang in Richtung Firun.

Als der Waffengurt an Ort und Stelle saß lehnte er sich vor und stützte sich mit den rauen Händen auf dem Tisch ab, um ein weiteres mal einen genau Blick auf die Alternativen zu werfen. Der kürzeste Weg mochte immer noch gute 130 Meilen auf einem offenkundig gefährlichen See vorbei an der Küste eines der verrufensten Moorgebiete des ganzen Kontinents bedeuten. Die zweitbeste Strecke allerdings führte direkt durch das Nebelmoor, efferdwärts am See vorbei. Diesen Weg nahmen gelegentlich Handelskarawanen, aber niemand reiste allein. Zu groß war die Gefahr, dass ein einzelner Wanderer dort verscholl und niemals wiedergesehen wurde. Zumal auf die Wege dort nicht immer Verlass war – oft waren sie verschlammt, unterspült oder gänzlich im Moor versunken. Gedankenvoll griff er nach der ersten seiner beiden Schwertscheiden und riemte sie an sein Wehrgehänge.
Der dritte Weg umrundete den See im Rahja. Dieser Weg war der Komfortabelste und stützte sich auf Landstraßen oder Karrenpfade. Das Gebiet war relativ sicher und umging jedes Grauen, das im Efferd lauern mochte – war dafür aber deutlich länger. Der vierte Weg dagegen führte weit in den Efferd, umrundete auf der Gashoker Ebene das Nebelmoor und seine Ausläufer und führte dann in einem Bogen nach Donnerbach. Das Problem war: Dieser Weg existierte nicht. Die Ebene war wildes Land und es gab nur wenige Straßen dort – und noch weniger, die verzeichnet waren. Der Weg war lang und bestenfalls wenig gefährlich. Und schied deswegen aus.

Er drückte sich von dem Tisch hoch und befestigte eilig die zweite Schwerscheide an seiner Hüfte, ehe er die Halsberge anlegte. Es hatte wenig Sinn sich noch weitere Gedanken über die Strecke zu machen. Diese Entscheidung war bereits am Vortag gefallen. Sein Sohn wartete dort oben im Norden auf seine Eltern – und das schon viel zu lange – also würde er den kürzesten Weg wählen, falls sich ein Schiffer fand, der nach all den Sichtungen im Neunaugensee noch bereit war ihn zu befahren. Sollte das nicht der Fall, würde er prüfen, ob in Bälde eine Karawane durch das Nebelmoor aufbrach und sich ihr anschließen. Und erst, wenn auch das nicht der Fall war… dann würde er den sicheren Weg im Rahja nehmen. So oder so. Die Reise würde lang werden und wo er sich zu Beginn noch an die Reichsstraße und die an ihr befindlichen gastfreien Häuser würde halten können, so würde der Weg nach Trallop einsamer werden und die eine oder andere Nacht würde er sicherlich am Rande einer Straße unter dem Schutz seiner Zeltplane verbringen und sich fragen warum er schon wieder eine derart wichtige Reise alleine angetreten hatte.
Für einen Moment hielt er inne. In seiner Vorstellung konzentrierte er sich auf seinen Körper und begann dann langsam mehr und mehr der Welt um sich herum zuzulassen. Das Zimmer in dem er sich befand und das ihm nur deshalb zur Verfügung stand, weil er den Wirt dafür bezahlt hatte. Die Herberge in der das Zimmer lag und die ein anderer Mensch einmal hatte bauen lassen – von jemandem der sich Gedanken über die Lage des Zimmers gemacht hatte. In Gareth – einer Stadt die es seit mehr als 1000 Jahren gab und die stoisch jedes Einzelschicksal der vielen Tausend Seelen innerhalb ihrer Mauern zuließ und beobachtete. In diesen 1000 Jahren hatte es sicher andere Menschen gegeben, die sich allein gefühlt hatten. Die fürchteten zu unterlegen – viele von ihnen um einiges schlechter ausgebildet, mit weniger Freunden und weniger Geld als Garion selbst.

Ohne es wahrzunehmen schnallte er seinen Schild auf den Rücken, griff nach einer kleinen schmucklosen Kiste neben seinem Bett und verließ das Zimmer, hinaus in den Schankraum der Herberge Schwert und Schild. Seit Neferu ihm die Existenz seines Sohnes offenbart hatte, fiel es ihm schwer sich zu konzentrieren. Wofür blutete und kämpfte man, wenn nicht für die Familie? Wofür die langen Stunden der Ausbildung und der Entbehrung? Wofür ließ man sich verletzen und riskierte sein Leben, wenn nicht für die Familie? Nicht unbedingt die Eigene natürlich. Familien gab es überall in Aventurien und jede von ihnen in denen Liebe die Bande stärkte war schützenswert. Aber zu wissen, dass er einen Sohn hatte – ein Kind, dass die fleischgewordene Verbindung zwischen ihm und Neferu war, dass er selbst einen Nachfahren hatte – das hatte ihn aus der Bahn geworfen. Der Schutz all dieser Menschen war ihm stets eine Pflicht gewesen, ein Dienst an seine Göttin, ein offizieller Auftrag. Aber jetzt – jetzt war es etwas Persönliches. Jede Bedrohung für diese Welt war auch eine Bedrohung für sein Kind – und das Neferus.
Noch auf der umlaufenden Galerie des Hauses hielt er inne, beugte sich vor und legte seine Unterarme auf das Geländer. Neferu Banokborn… oder Vesper Sprengler wie man sie jetzt nannte. Er hatte geglaubt, was andere sagten – dass seine Zuneigung zu ihr zwar innig war, aber wie eine Art nachhaltiges Strohfeuer. Sie war schnell entflammt gewesen hatte sich dann langsam, aber merklich abgekühlt. Jetzt war er gezwungen einzusehen, dass es dumm gewesen war was die anderen behauptet hatten. Die Heirat Nefs schmerzte ihn – sogar sehr. Er mochte sich eingeredet haben über die Südländerin mit Hang zur Vermögensumverteilung hinweg zu sein, aber das war nicht mehr gewesen als der schwache Versuch die Wahrheit zu leugnen. Er liebte sie und daran würde sich niemals etwas ändern – und das machte ihr gemeinsames Kind unvorstellbar wertvoll. Die Vergangenheit war vorbei und er konnte nicht ändern was er getan hatte – und selbst wenn das anders gewesen wäre, war er sich nicht sicher, ob er es getan hätte. Aber ob sein Leben nun als wenig lebenswert oder als göttergefällig gewertet werden mochte: Das Leben seines Sohnes war in keinster Weise vorgeprägt und sollte allein in seiner Hand liegen. Rondradus sollte jeder Weg offen stehen, den zu nehmen er wünschte – und dafür würde er seine Eltern brauchen.

Er biss sich auf die Unterlippe, um in die Realität zurückzukehren. Der Schankraum war bis auf einen weiteren Gast leer, der alles andere als ausgeschlafen wirkte. Lediglich der Wirt hinter der Theke machte einen geschäftigen Eindruck. „Den Göttern zum Gruß, Herr Ummingshausen.“, ließ Garion seine tiefe Stimme ertönen. „Wenn es keine Umstände macht, dann wäre ich Euch dankbar, wenn ihr mir nur rasch zwei Scheiben Brot mit etwas dazwischen gebt. Ich habe es eilig.“
„Guten Morgen Euer Gnaden.“, erwiderte der Wirt mit einem gut gelaunten Lächeln und nickte ihm zu. „Sicher. Gebt mir einen Augenblick.“
Wenig später trat der Geweihte hinaus in die graue Dämmerung über der Hauptstadt des Mittelreichs. Es war ein kühler Morgen, der ihn mit Nieselregen begrüßte, den er aber nur an Händen und Gesicht spürte. Auf dem Krautmarkt waren einige der frühen Händler mit dem Aufbau ihrer Auslage beschäftigt, während Garion sich nach Praios wandte und bei nächste Gelegenheit nach Rahja abbog – in Richtung des Brig-Lo-Platzes. Sein Ziel war die hiesige Filiale der Nordlandbank. Die Erfahrungen der letzten Wochen und Monate waren furchtbar gewesen, aber sie hatten einiges an Geld bedeutet. Kurz fiel der Blick blauer Augen auf die Kiste, die unter seinem Arm klemmte – dann biss er in sein Brot. Es mit auf die Reise nach Firun zu nehmen war undenkbar – es handelte sich um beinahe 2000 Dukaten. Also hatte er entschlossen, den Großteil des Goldes auf sein Konto einzuzahlen und dafür zu sorgen, dass seine Gefährten im Fall der Fälle Zugriff darauf erhielten. Ohnehin war es notwendig gewesen sein Testament anzupassen. Nicht nur, dass das Geld auf seiner hohen Kante auf jeden Fall dem Kampf gegen Borbarad zugute kommen musste, sollte ihm etwas passieren – auch sein Sohn und dessen Mutter sollten versorgt sein. Geld war kein adäquater Ersatz für die Liebe und Geborgenheit, die ein anwesender Vater einem Kind angedeihen lassen konnte, aber zusammen mit einem Brief voller Erklärungen für verpasste Geburtstage, den Status als Bastard und die wenigen Besuche mochte es ein Mindestmaß an väterliche Sorge darstellen. Er sah in den Himmel hinauf und wischte sich ein wenig Feuchtigkeit von der rechten Wange. Die Wirkung der morgendlichen Waschung hatte heute nicht besonders lange vorgehalten.
Weniges später erreichte er das trutzige und schwer gesicherte Gebäude. Die Hoffnung, dass ein frühes Eintreffen ihm eine rasche Abwicklung ermöglichen würde zerschlug sich, als er der Schlange von Kaufleuten und Sekretären gewahr wurde, die sich vor den noch verriegelten Türen der Bank versammelt hatte. Er steckte sich das letzte Stück seines Brotes in den Mund, rieb sich dann das rechte Auge und stellte sich mit einem leisen Seufzen ganz hinten an, wobei er nicht vergass der Frau vor ihm einen „Guten Morgen.“ zu wünschen.

Etwas mehr als eine Stunde später hatte er das Gebäude wieder verlassen. Die Kiste, die er noch immer unter seinem Arm trug war deutlich leichter geworden. Nur etwa 100 Dukaten waren in verschiedenen Münzen in ihr verblieben. Daneben befand sich ein Wechsel der Nordlandbank über weitere 20 Dukaten. Zwar gab es in Donnerbach keine Filiale, aber vielleicht würde ihm das Stück Papier dennoch von Nutzen sein können. Wenn nicht jetzt, dann später.
Zurück auf seinem Herbergszimmer verstaute er den Inhalt der Kiste in seinem Rucksack und ließ die Kiste selbst als Geschenk an einen späteren Bewohner zurück. Sein restliches Habe war wenig genug. Er faltete die Karte zusammen, griff sich sein Notizbuch und klemmte sich einige andere Dinge unter den Arm, die er in den Satteltaschen Rotsturms verstauen würde, die in einem Stall nahe der Herberge wartete.

Die Vorbereitungen für seine Reise waren beinahe abgeschlossen. Sobald er das Pferd geholt hatte, würde er noch einen Halt bei Voltan und Neferu machen – dem frisch vermählten Paar, von dem er nicht anders konnte als es zu mögen, obwohl ihm der Gedanke der Verbindung noch immer mit jeder Faser seines Körpers widerstrebte. Kurz schoss ihm der Gedanke Rahjard lebewohl zu sagen durch den Kopf, aber er verwarf ihn rasch wieder. Raj bereitete sich selbst auf eine Reise vor, die ihn an genau das andere Ende des Kontinents führen würde. Die Entscheidung des Schönlings hatte ihn überrascht, sie war selbstlos gewesen – beinahe heldenhaft und jetzt wollte er ihn nicht bei der Umsetzung stören. Sicher – Rahjard würde sich darüber auslassen, dass er – Garion – wieder einmal gegangen sei, ohne sich um ihn zu kümmern. Aber genau genommen wollte Garion das auch nicht. Alles was der Al’Anfaner damals getan hatte war wie weggewaschen im Vergleich zu der Vergewaltigung einer Geweihten. Und genau genommen war seine Reise in den tiefen Süden nicht heldenhaft – sie war das Mindeste, was er tun konnte um sich von diesem dunklen Fleck auf einer ohnehin schon lange nicht mehr weißen Weste zu befreien. Nein – er würde nicht bei Rahjard vorbei sehen. Er würde sich direkt auf den Weg zu den Sprenglers machen. Danach würde er nach Norden aufbrechen. Noch heute wollte er Ginsterfeld erreichen und Donnerbach so wenigstens ein Stück näher sein. Sein Sohn hatte lange genug gewartet und vielleicht war Cyruion immer noch dort – und konnte ihm einen besseren Weg für die Zukunft vorschlagen.