Tarambosch

Tobrien 1 (Cyruion) (5NT 1013)

Ein weiteres Mal blickte der Bergadler für einen Augenblick zurück, um sich ausbleibender Gefahr durch Blaufalken und ähnliche Feinde zu vergewissern. Das Federkleid des Tiers erschien selbst im Licht der aufgehenden Sonne eher matt denn glänzend und wenn ein genauerer Blick erhascht werden konnte, schienen die Flügel unter der Anstrengung einer mehrstündigen Etappe gen Warunk zu zittern. Obgleich keine Schweißperlen über die gefiederte Stirn liefen, das Tier segelte vorrangig und versuchte weitere Flügelschläge weitestgehend zu vermeiden.

Cyruion war mit seinen Kräften am Ende und konnte nur erahnen, wie es seinen Gefährten möglicherweise ging. Sie waren vielleicht tot, niedergestreckt von einer Feuersbrunst, kaum dass er sich in die Lüfte aufgeschwungen hatte. Angefangen hatte alles vor einigen Praiosläufen als sie die Trollzacken, einen Ogerangriff wie Geländerutsch gerade so überlebt und wieder zusammengefunden hatten. In der schwülen, beinahe schon unangenehmen Hitze des Rahjamondes setzten sie ihren Weg fort. Eines Abends bemerkte die Reisegruppe, dass der Himmel sich rötlich, fast schon übertrieben blutrot eingefärbt hatte und das Firmament klar war, wie nur einmal im Götterlauf. Sie waren inmitten der Wildnis in die Namenlosen Tage geraten, jene Zeit, in der sich die meisten Menschen in ihren Häusern verschanzten und die Straßen selbst in Gareth stets leerer gewirkt hatten.

Der Auelf erschauderte bei dem Gedanken jedes Mal wieder, denn nicht nur, dass er das Dunkle nicht besonders mochte, in diesen fünf Tagen war die Dunkelheit bedrohlich wie sonst nie, alles angetrieben vom Einfluss dessen, was für den Untergang der Kultur seiner Vorfahren verantwortlich war. Leise atmete er durch. Nicht aus der Fassung bringen lassen.

Wenige Zeit später riss ein Blitz den Elfenmagier aus seinen Gedanken und kurze Zeit später traf die berittene Gruppe um Garion einen am Boden befindlichen Reiter und sein Pferd. Die Sichtung des Geschehens ergab schnell, dass der unbekannte Reiter ein Geweihter des Götterfürsten gewesen und offenbar in einen Kampf verwickelt gewesen war. Verschlüsselte Nachrichten, Tand und eine undefinierbare, große magische Macht, die  offenbar von einer Statuette ausging, fanden sich in den Taschen des Mannes wieder. Dann wurden sie angegriffen, noch an Ort und Stelle, von Kultisten des Namenlosen und weiteren Schergen der Schlechtigkeit.

Unnötigerweise zusätzlich, trotz Verwundung oder gerade deshalb, gejagt und getrieben von Hetzern, die die Gruppe immer in eine bestimmte Richtung zu lenken schien, ohne dass dies zunächst zu erkennen war. Besonders absonderlich war jedoch ein Dorf, Salwynsfelden, dachte der Elf, das sie nach einigen Tagen erreicht hatten. Natürlich waren sie nicht Willkommen, alleine der Umstand, dass sie ein Spitzohr dabei hatten verschärfte die Situation. Genauso wie die Geburt eines Kalbes mit zwei Köpfen, der einen wütenden Mob aufziehen ließ und die vom Rondra-Geweihten angeführte Gruppe weiterziehen ließ. Ungeachtet dessen, dass die drückende Hitze mit jedem Tag schlimmer wurde.

Zumindest, wenn es nicht gerade Merkwürdigkeiten waren, die die Aufmerksamkeit auf sich zog. Denn wer hätte erwartet, dass an einem Sommertag plötzlich Eiseskälte vorherrschte, Nebel aufzog? Doch der Verstand wusste es zuzuordnen, denn überall dort machte das Wetter Firun vermeintlich alle Ehre, wo sich die Kreaturen des Dhaza aufhielten, wie die Hetzer, die sich nach und nach verstofflichten und wahrscheinlich am letzten Tag des Namenlosen zu ihrer vollen Kraft kommen und der Gruppe das Leben schwermachen würden. Noch waren sie nicht besonders gefährlich. Auf der anderen Seite war für den Elfen auch ein altes Kloster der Gütigen, Peraine, recht befremdlich. Er hatte es jedenfalls noch nicht gesehen, dass weibliche Geistergestalten mit Ghulen tanzen. Wenn er obskures sehen wollte, sollte er in den Tagen des Namenlosen des Öfteren vor die Türe, auch wenn immer die Frage nach der Gefahr bleibt und ob es das wert ist. 

Am wahrscheinlich dritten oder vierten Tag, was er schon nicht mehr recht zuordnen konnte ob der wirren Geschehnisse, als jeder Regentropfen weiter ein Segen gewesen wäre, passierten sie einen reichlich unheimlichen Boronanger, trafen wenig später auf eine Gauklertruppe mit ihren Wagen. Darunter befand sich auch Wilbur, ein alter Freund des Rondra-Geweihten aus Andergast, der seine Familie offenbar vor längerer Zeit verlassen hatte. Doch nicht alles am Zusammentreffen mit den Gauklern zog Positives nach sich. Schon bei der ersten Begegnung hatte eine Gauklerin versucht, den Elfen um einen Teil seiner Habe zu erleichtern. Abgesehen davon vergnügten sie sich jedoch rege in der illustren Runde und der Elf war sehr zufrieden, dass ihm eine Gauklerin recht schnell einen Schlafplatz bei sich feilbot. Endlich wieder in einem Bett schlafen. Womit er nicht gerechnet hatte war, dass das Schlimmste noch bevorstand an diesem Abend. Denn kaum, dass sie mit den Vagabunden gespeist und getrunken hatten, legte sich Müdigkeit über die Freunde des Elfen und ihn. So viel zum gemütlichen Schlafplatz. Waren sie vergiftet worden?

Dunkel.

Die Nacht war bereits über Dere und Tobrien hereingebrochen als der elfische Zauberer aus Donnerbach erwachte. Die Gauklerinnen waren fort, zumindest jene, die sich noch mit William vergnügen wollten. Doch der Pirat und der Heiler, Vitus, waren im Wagen. Ansonsten herrschte befremdliche Stille. Rasch, aber vorsichtig sah sich der Elf um und musste mit Erschrecken feststellen, dass das Feuer erloschen war und die Gaukler offenbar aufgebrochen waren. Zwei Wagen hatten sie zurückgelassen…

…und die Statuette war fort, wie auch alle Pferde bis auf zwei. Dieses offenbar mächtige, magische Artefakt, es war fort. Jenes, weshalb sie von Namenloskultisten angegriffen worden waren und für das ein Diener des Götterfürsten sein Leben gelassen hatte. Cyruion zog die Brauen zusammen und sah nach den Gefährten. Während er Garion und Tarambosch schnell erreichte und wecken konnte, schlugen sämtliche Versuche bei William und Vitus in diese Richtung fehl.

Sie wachten nicht auf. Doch, lebten sie überhaupt noch oder träumten sie selbst?

Obgleich die schiere Dunkelheit Unbehagen beim Elfen auslöste, versuchte er sich für einen BLICK IN DIE GEDANKEN zu konzentrieren. Auf diese Weise ließ sich zumindest herausfinden, ob Vitus nur ein Abbild des Heilers war und ansonsten so lebendig wie ein Stein oder ob er der Heiler war, der fest schlief, träumte. Zum Glück des Elfen gelang der Zauber und er konnte den Heiler aus seinen märchenhaften Träumereien reißen, während sich Garion und Tarambosch auf rabiatere Weise um William kümmerten.

Anschließend machten sie sich auf, die Gaukler auf den übrigen zwei Pferden und dem Pony des Angroschim zu verfolgen, unter Einsatz ihrer, mehr oder minder vorhanden, Kenntnisse im Umgang mit der Natur. Sie waren in diesem Moment die Hetzer, die jagten und etwas trieben, zumindest bis sie unweit eines Baumes innehielten, der auf den Elfen obskur wirkte. Denn die Äste waren übersät von Nachtwinden, jenen Vögeln, die Magie etwa so sehr verabscheuen wie die Angroschim Drachen. Nachdem eine Eule am Baum vorbeigezogen und angegriffen worden war, folgten alle bis auf Cyruion und Vitus dem Kampf zwischen Eule und Nachtwind. Denn die Eule könnte schließlich, wenn sie angegriffen wurde, ein Elf sein und unter der Wirkung eines ADLERSCHWINGE stehen.

Aus der Ferne konnte Cyruion vernehmen, wie insbesondere Garion und Tarambosch schnellen Prozess mit dem Nachtwind machten und ihn – wie die Garether Metzger sagen würden – buchstäblich zerhackten. Anschließend näherten sich auch die beiden Zurückgebliebenen dem Rest der Gruppe, nur um festzustellen, dass es sich bei der Eule um keinen Elfen handelte. Eine ältere, blinde Frau hatte die Eule zum Vertrauten und nutzte es, um sehen zu können. Da das Tier geschwächt war und nicht weiterfliegen konnte, brachten sie die ältere Frau noch zu ihrer Hütte… weiterhelfen konnte sie ansonsten aber, leider, nicht wirklich. Sie war nur zum Beweis dafür geworden, dass er sich niemals einem Nachtwind nähern durfte, wenn er sich als Adler in die Lüfte erhoben hatte.

Es wäre wahrscheinlich sein Tod.

Leise schluckte Cyruion, während sie die Jagd nach den Gauklern fortsetzten.

Auf dem Weg den Gauklern hinterher, konnten sie noch ein ums andere Mal die Hetzer erspähen, auch wenn sich diese nicht mehr für sie interessierten. Diese Kreaturen des Namenlosen waren demnach ausnahmslos auf jene angesetzt, die die Statuette in ihrem Besitz hatten. Aber was genau war so wichtig an diesem kleinen Stück, das wahrscheinlich das Abbild eines Drachen oder Daimoniden zeigte?

Cyruion verschnaufte einen Moment, er durfte nicht zu sehr in Gedanken schweifen, denn noch hatte er sein Ziel, Warunk, nicht erreicht. Zwar zeichneten sich die Konturen und Umrisse der Stadt bereits ab, doch noch war er nicht dort, konnte nicht sagen, wo er konkret hinsollte und wie viel Zeit überhaupt vergangen war. Es war ein unpraktischer Gedanke, jetzt, da ihm die Flügel allmählich schwer wurden. Zwar hatte er den Zauber in der Vergangenheit bereits ausgereizt, jedoch nie unter solchem Stress, nie mit dem Wissen, dass das eigene Zeitgefühl in diesen vergangenen Tagen abhandengekommen war.

Seine verbliebene, astrale Kraft hatte er für das zweimalige Wirken des ADLERSCHWINGE aufgeopfert, riskierend, dass ihm irgendwo im Wald noch während der Rückverwandlung, einem Durchatmen sowie einem längeren, sorgenvollen Blick zurück in Richtung seiner Gefährten, Diener oder Kreaturen des Dhaza auflauern konnten. Wenn er sich nicht völlig verkalkulierte, dann würde er es gerade so nach Warunk schaffen und falls nicht, noch vor den Stadttoren wie ein Stein vom Himmel fallen. Es war daher ohnehin erforderlich, dass er nicht zu weit über den Wipfeln der Bäume flog, sofern es sich anbot noch tiefer ging, um im Falle eines Absturzes nicht zu viel körperliches Gebrechen zu riskieren. Spätestens die Arie mit dem Fenster in Zackenberg hatte ihm wieder vor Augen geführt, dass sich jeder Schaden, den er in Tiergestalt nahm, entsprechend auf seinen gewöhnlichen Elfenleib auswirkte. Ein Gedanke, den er verdrängt hatte, wo er den Zauber sonst eher wirkte, um auszukundschaften, oder sich der Natur schlicht näher zu fühlen.

Doch sei es, wie es wollte, all die Gedanken um einen elfischen Kollateralschaden waren nicht besonders förderlich und für das eigene Empfinden hatte er die letzten Wochen genug gelitten. Leid schien ohnehin das große Thema dieses Lebensabschnitts zu sein. Während er seinen Weg beschwingt fortsetzte, musste er an die heiligen Tiere der Zwölfe denken, die ihm vor einigen Tagen unter die Augen gekommen waren. Eine Jagdgesellschaft hatte sich offenkundig die Mühe gemacht, diese Tiere zu erlegen. Und zwar ausschließlich solche. Wie bei der Haijagd von Bacha und Phileasson hatte er dafür kein Verständnis, als ihm jedoch deutlich gemacht wurde, dass es sich beinahe um einen Frevel handelte, wurde er schon wieder nachdenklich. Namenloskulte, eine mächtige Statuette und die zwölfgöttlichen Tiere erlegt und zu einer schwer befestigten Burg geschliffen?

Nur ein Narr hätte dahinter, spätestens ab diesem Zeitpunkt, nichts Größeres erwartet. Daher war es nur folgerichtig, den Gauklern und ihren Wagenspuren über Stock und Stein zu folgen. Über der besagten Burg selbst schwebte ein Blaufalke, nach der Eule nicht das erste, zu bewundernde Federvieh. Der König der Lüfte… abgerichtet, sicherlich zur Warnung oder Jagd genutzt. Jedoch sollte das nicht helfen. Aus einem kurzen Gespräch ging ein Impuls von William aus und er versuchte sich über karges Feld zur Burg zu bewegen, nur um von zwei Bolzen zerschlissen zu werden. Garion konnte ihn mit einem geschickten Manöver retten, doch dann zogen sie einmal mehr weiter. Es war zu erwarten, dass die Burg die gesuchten Antworten beinhaltete, doch sie wirkte uneinnehmbar mit solch einer kleinen Gruppe, aus der ein Streiter noch verletzt war.

Es wurde allmählich dunkel, wenn er sich recht entsann, warteten sie ab. Denn irgendwann würde schon irgendetwas passieren – und nach einer ganzen Weile konnten die erschöpften Gefährten einen Lichtschein fernab der Burg erblicken, dem zu folgen war. Tarambosch schlich, ohne Rüstung, am Waldrand entlang und verschaffte sich einen ersten Blick, erschlug dazu ein kleines Mädchen und kam auf diese Weise in den Besitz einer Kultistenrobe wie -maske. Offenbar sammelten die Kultisten noch Holz. Sachen, die nur ihm passten. Sie näherten sich, nachdem sie den Gedanken verworfen hatten, die Kultisten zu infiltrieren. Denn es erschien unmöglich, noch an diesem Abend in kürzester Zeit hinreichend passende Gewandung zu erlangen, ohne dass es irgendwann auffällig wurde.

Aus etwa 150 bis 200 Schritt Entfernung war der Platz gut zu überblicken. Eine große Statue des Namenlosen im Zentrum, eine Statue, die ihn erhaben und nicht etwa in Ketten zeigte… dazu ganze dreizehn Scheiterhaufen. Dreizehn. Es war seine Zahl. Seit jeher.

Noch während die anderen und der Elf anfingen sich Gedanken machten, wie vorzugehen war, begab sich ein ganzer Tross aus Dienern des Namenlosen zum Kultplatz. Darunter obskure Gestalten wie ein Junge mit fast schon schneeweißem Haar, einer der wenigen, der keine Maske trug oder vielleicht sogar der einzige. Offensichtlich kamen sie aus Richtung Burg und hatten, zu allem Überfluss, die zwölf Tiere dabei. Kurz darauf wurden die Scheiterhaufen, gespickt mit den heiligen Kreaturen der Zwölfgötter, angezündet. Ihnen lief allmählich die Zeit davon – und noch immer hatten sie keinen richtigen Plan, was auch immer dort geschehen sollte zu verhindern. Denn, so viel war sicher, es würde keine gute Tat sein, die heute hier in diesem Ambiente verrichtet werden sollte. Im Gegenteil. Es brauchte eine zündende Idee…

Eine gefühlte Ewigkeit später hatten sie sich auf eine Möglichkeit, die weniger Unmöglichkeit in sich barg als viele andere Gedanken, verständigt. Zumindest, nachdem sie die Statuette auf dem Kultplatz in der Nähe eines blassen Elfen sichten konnten. William hatte sich indes weiter nach vorn geschlichen, um den Kultplatz aus nächster Nähe zu erleben, vielleicht von dort etwas vornehmen zu können und gegebenenfalls für Ablenkung zu sorgen. Es war jedenfalls heikel, denn er begab sich mitten in die Höhle des Löwen, am späten Abend des fünften Tages des Namenlosen.

Cyruion zog sich etwas zurück, sammelte sich. Es war nie wichtiger gewesen, dass seine Verwandlung gelang und dass er selbst, zum Glück, unversehrt war. Nach den Worten „ADLERSCHWINGE WOLFSGESTALT“, setzte der Verwandlungsprozess ein und kaum einen Augenblick später stand der gefiederte Elfenmagier inmitten des heldenhaften Trüppchens, das aus nicht mehr als einer Hand bestand.

Ein Alveranskommando.

Im Gegensatz zu den Menschen fürchtete der Auelf das bevorstehende Ende allerdings nicht wirklich. Denn, so dachte er, die Sagen und Legenden seines Volkes sangen immer wieder von Reinkarnation oder dem Weg ins Licht. Es war ein beruhigender Gedanke, nicht die Niederhöllen fürchten zu müssen, sondern schlicht eins mit dem eigenen Volk zu werden, gleich wann sie das Schicksal geholt hatte. Kein möglicherweise ewiges Warten in Borons Hallen, ehe eines der zwölfgöttlichen Paradise sich öffnet. Die Situation war angespannt, doch eine gewisse Ruhe konnte er sich nicht absprechen. Wenn er hier starb, dann war es wenigstens für eine größere, eine wahrscheinlich nicht unbedeutende Sache, wenn er nur an das Artefakt und seine Macht dachte.

Dann war es soweit…

Tarambosch gehörte der erste Schritt, es war an ihm, das Ritual und den Ablauf des Abends in erster Instanz zu stören und er hatte sich das Ziel für seinen Bolzen gut gewählt. Der schwarzäugige Elf, der nahe der Statuette offenbar in einem Beschwörungskreis stand. Von der Wucht des Bolzens wurde dieser verräterische Elf umgeworfen. Vorab hatte sich Cyruion ein Stück abseits bereits in die Lüfte erhoben.

Er brauchte eine Menge Anlauf wie Höhe, dass Angriff und Flucht in so kurzer Zeit passierten, dass eine Reaktion nahezu unmöglich wurde. Während der namenlose Elfenmagier zu Boden ging, setzte der verwandelte Auelfenzauberer an. Es war das Signal für sein Eingreifen – jetzt oder nie.

Sturzflug. Dere zischte an ihm vorbei, doch der geschärfte Blick des Elfen hatte die Statuette längst fokussiert. Er hörte nichts mehr außer dem Rauschen der Luft, die die eigenen Flügel durchschnitten. Ein ohrenbetäubender Lärm, an den er sich einen Moment gewöhnen musste. Die Fänge waren gespreizt, etwa 80 Schritt die Sekunde. Hoffentlich packte er im rechten Moment zu. Sonst war alles umsonst…

 

Geschafft!

 

Allerdings, wie er in einem kurzen Anflug von Euphorie bemerkte, hatte er nicht alles zu Ende gedacht. Noch auf den ersten Metern weg vom Ritualplatz bemerkte der zum Bergadler gewordene Auelf, dass er keinen Gedanken an den Blaufalken nahe der Burg verschwendet hatte. Dieser war ebenfalls am Ritualplatz. Cyruion versuchte das bestmögliche aus seinem Überschuss an Geschwindigkeit zu machen, konnte die Gefahr jedoch nicht abschütteln. Der Falke rückte ihm allmählich auf die Federn, in leichter Hektik und Panik drehte Cyruion bei in Richtung seiner Gefährten und ließ einen Schrei ab. Er brauchte sie, oder zumindest eine Klinge, einen Bolzen, sonst würde er das Nachsehen haben. Unablässig rückte der Falke näher. Eine weitere Runde im weiten Radius, dazu hatte der Elfenmagier des Namenlosenkultes sich gefangen und setzte seine Kraft gegen den Bergadler ein. Es wurde schwerer, sich überhaupt in der Luft zu halten, voranzukommen.

Hilfe.

Verzweiflung machte sich im Blick des Adlers breit. Ein weiteres Mal überflog er die Gefährten, machte sich bemerkbar – dann traf endlich ein Bolzen. Erleichterung überkam den Elfen als der Blaufalke zu Boden sank und sich nicht mehr erhob. Bei aller Liebe zu Tieren, dieser Tod war kein nutzloser, sondern diente einer größeren Sache. Angeschlagen von den Einflüssen der luftelementaren Magie stieg Cyruion wieder auf, die Statuette noch immer fest in den Fängen und setzte sich ab. Dorthin, wo er Warunk vermutete; jene Richtung, die sie zuletzt eingeschlagen hatten, als sie nach Warunk wollten.

Dann die Feuersbrunst, unter einem lauten Knall und schier endlosem Knarzen und Knirschen verendete der Wald, offenbar eine Auswirkung der Macht des Knaben, der um seinen Ritus gebracht wurde. Cyruion war jedoch weit genug weg. Nur die Bekannten… ob sie es geschafft hatten?

Ächzend und krächzend kreiste Cyruion wenige Minuten später über Warunk und setzte vor dem auf, was er aus der Luft als Tempel des Götterfürsten Praios vermutete und verwandelte sich vor zwei Sonnenlegionären ungeniert zurück. Die Statuette übergeben, das Erlebte schildern, wo sie gewesen waren. All das hatte er vor, doch für mehr als die Statuette reichte es nicht. Völlig erschöpft, physisch wie psychisch, fragte er noch im Tempel Praios‘ nach dem nächstmöglichen Bett, das er beanspruchen könnte… und nach Tempelasyl. Denn zumindest solange, wie die alte Reisegruppe nicht zusammengefunden hatte, wollte er sich inmitten Götterdienern wissen, die mit den Schrecken des Dhaza besser umzugehen wussten.

 

1014.

 

Es konnte nur besser werden..

Zackenberg 1 (Garion) (PER 1013)

Mit trübem Blick betrachtete er die Wand links von sich. Hinter ihr lagen Vitus und Cyruion und schliefen. Oder jedenfalls hoffte er das. Vor einer guten halben Stunde war er aufgewacht und hatte einfach keinen Schlaf mehr gefunden. Also hatte er die Wache abgelöst und sich seinen Gedanken hingegeben. Aus irgendeinem Grund beschäftigte ihn die Sicherheit seiner Begleiter heute Nacht besonders. Ein leise Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass Menschen selten waren, wie sie schienen – und niemals besser. Was also hatte er von dem Herrn dieser Burg zu erwarten? Von einem bequemen, vergnügungssüchtigen Answinisten? Am heutigen Abend hatte nur eine dralle Blondine auf seinem Schoß gefehlt, um den Eindruck des Lebemanns endgültig zu festigen.

Beide Hände auf den Knäufen seiner Klingen – jede auf einer Seite seines Waffengurts – trat er an das Turmfenster heran und sah hinaus in die Nacht. Im Grunde wussten sie nichts über diesen Ort. Er war abgelegen, klein und gemieden. Der kühle Hauch eines schneidenden Windes streifte sein Gesicht.
Warum hatte der Traviageweihte ihnen nur so ungern das Gastrecht gewährt? Warum war das Verlöbnis ihres…Auftraggebers…derart zerfallen? Den Blick nach draußen in die schwarze Tiefe gerichtet, die nach wenigen Metern den Erdboden zu verschlucken schien, schüttelte er den Kopf. Warum genau waren sie eigentlich hier? Nichts an dem bisher erlebten rechtfertigte seine Sorge. Ein trinksüchtiger Vater, der kurzfristig seine Meinung ändert, weil ihm das von Weingeist benebelte Hirn suggerierte Answin von Rabenmund sei der einzig wahre Herrscher des Mittelreiches und nur Answinisten waren gute Partien für seine Tochter. Das mochte alles sein. Der ganze Grund für ihre Anwesenheit fern der Heimat.

In seinen Ohren dröhnten die leisen Geräusche, die ein vollständig im Schlaf liegendes Haus von sich gab. Ein Knacken hier, ein Bröckeln dort. Waren das Schritte? Einen Augenblick sah er zur Tür hinüber, bis das was er für Schritte gehalten hatte, nahtlos wieder verhallte. Die Momente in denen Stille den Kopf klärte waren in den letzten Jahren stetig weniger geworden. Aber jede Nachtwache lud dazu ein. Er sah zu dem Bett hinter sich – zu William und Tarambosch. Beide schliefen friedlich, keiner von ihnen störte sich an der Nacht unter einem fremden Dach. „Ohne Heimat sein heißt Leiden.“, sagte Fjodor Alrikowitsch Sjerpenkewski. Konnte es das sein, was ihn umtrieb? Fehlte ihm das heimatliche Salderkeim? Oder Schossko?
Wieder sah er zu den beiden Schlafenden. Dann schüttelte er den Kopf. Nein – das war es sicher nicht. Wenn er dem Gefühl des Heimwehs nachspürte, dann war dort nichts. Und er hatte es schon immer eher mit Baron Ulllob Rakorium vom Eberstamm gehalten, denn mit Sjerpenkewski. „Wir sichern uns die Heimat nicht durch den Ort, wo, sondern durch die Art, wie wir leben.“

Wenn ihn aber kein Heimweh aus Borons Armen getrieben hatte – was dann? Mit leisen Schritten wechselte er den Raum. Der leere Türrahmen, der die Schlafräume voneinander trennte hatte nicht einmal einen Vorhang. Es gab allerdings von beiden Seiten Schränke, die man im Fall der Fälle vor die Öffnung schieben konnte, sodass aus zwei Räumen einer wurde. Sein Blick traf auf die Zugangstür zum zweiten Raum, ehe er auch hier zu den Schläfern sah. Ein Elf und ein Mensch, beide männlich und tief im Schlaf. Beide sicher.
Wie um sich dieses Umstandes zu versichern ging er zu der Tür hinüber und prüfte ihren Riegel, der fest an Ort und Stelle saß. Dann sah er wieder zu der Schlafstätte, wo sein Blick an dem Menschen hängen blieb. Vitus war ein Deserteuer, so viel war sicher, aber er war kein schlechter Mensch, niemand, dem man böse Absichten unterstellen wollte. Überhaupt geschah alles was aus Liebe getan wurde jenseits von Gut und Böse. Sicher war es gefährlich, verantwortungslos und kurzsichtig seinen Wachposten wegen einer Frau zu verlassen. Aber böse? Nein. Böse war es nicht.
Nachdem er noch eine Weile die Gesichter der beiden Schlafenden betrachtet hatte, seufzte er tonlos und kehrte durch die zähe Dunkelheit der beiden Räume zurück in das andere Schlafzimmer. Auch dort war alles still; die Tür verriegelt. Die Waffen lagen nahe bei den Schlafenden, alle waren auf einen Überfall vorbereitet. Alles war wie immer. Mit einem Angriff musste man jederzeit rechnen.

Auch als Schwert der Schwerter.
, dachte der Ardarit. Seine Nackenhaare stellten sich lautlos auf und ein kalter Schauer jagte seinen Rücken hinab. Ohne es zu beabsichtigen hatte er den Finger direkt in die Wunde gelegt. Das Gefühl der Unruhe wuchs in seiner Brust, als in seinem Kopf die Worte Dragosch von Sichelhofens nachhallten.„Ich war zugegen, auf dem diesjährigen Adelskonvent vor wenigen Wochen in Gareth, an dem unser hochgeschätztes Schwert der Schwerter, das wie ein Vater für alle Mitglieder unseres Bundes als leuchtendes Beispiel hier in Perricum, dem Hauptsitz unseres Glaubens, über Jahre unbeugsam residierte, niedergestreckt wurde von einem ungesehenen Angreifer mit einem Bolzen von hinten durch seine Brust.“
Gemurmel hatte den Mann unterbrochen, Raunen war durch die Halle des Tempels in Perricum gegangen und hatte beinahe überdeckt, was der Mann dann gesagt hatte. Was Garion aus irgendeinem Grund irritiert hatte. „Es trug sich zu, dass ich es war, der den langjährigen Repräsentanten in seinen Armen hielt, als er den letzten Atemzug auf Dere tat und die letzten Worte sprach, ehe Golgari seine Seele mit sich nahm. Demütig beuge ich – Dragosch von Sichelhofen – mich dem letzten Willen des Schwerts der Schwerter und übernehme das heilige Amt, die Verpflichtungen Viburn von Hengisforts und die Ehre an seiner statt fortan die Rondra-Kirche Aventuriens zu vertreten! Als neues Schwert der Schwerter hier in Perricum!“
Ein schaler Geschmack breitete sich in Garions Mund aus, sodass er einen raschen Schluck aus seiner Feldflasche nahm und ihn hinunterspülte. Die letzten Jahre hatten die Welt ins Wanken gebracht. Borbarad sollte zurückkehren, wenn die Rollen der Beni Rurech Recht hatten, das Schwerter der Schwerter wurde ermordet und Hal war tot. Die Zeiten für einen jeden gläubigen Menschen auf diesem Kontinent waren schlecht.

Mit düsteren Gedanken kehrte er ans Fenster zurück und starrte ungnädig nach draußen, als könne das die Finsternis in Welt und Geist zugleich vertreiben. Als die Stille auf ihm zu lasten begann, hörte er die Stimme in seinem Kopf erneut. Lauter diesmal, klarer zu erkennen. Ein voller Bass, eingefärbt von Zuversicht und der Belustigung die Ungläubigkeit über das Verhalten anderer mit sich bringt. Er erkannte die Stimme und vor seinem inneren Auge tauchte ein blonder Rondrageweihter auf. Er trug lange, offene Haare und einen Vollbart. Trotz der schweren Kettenrüstung hatte er die Arme geradezu leicht über seinem Wappenrock verschränkt. An seinem Kragen lag die einfache Schwertfiebel eines Knappen der Göttin. Seine Gnaden Gunvald von Njördhall hatte sich während der ganzen Ausbildung Garions seine thorwalsche Lebensart erhalten. Zwar hatte er Rondra immer voll aufrichtiger Inbrunst verehrt, aber nichts und niemand hatte seine Zuversicht und seine offene Art brechen können. Er hatte jedem Kirchenmitglied – gleich welchen Standes – lachend auf die Schulter geklopft als sei es Mitglied seiner Otta. Und niemals hatte er sich mit gutmütiger Kritik zurückgehalten. Ein Schlag ins Gesicht, den ihm niemand übel nahm – weil er recht hatte. So wie jetzt.

„Die Zeit ist schlecht, Garion? Wohlan. Du bist da sie besser zu machen.“

Perricum 7 (Garion) (PER 1013)

Mit einem raschen Griff legte der Rondrit einen neuen Holzscheit in die züngelnden Flammen des Lagerfeuers, das tanzende Schatten an die Felswände der Trollzacken warf. Die Holz- und Schmutzreste in seinen Handflächen rieb er beiläufig an seiner Hose ab, ehe er sich wieder setzte und einen Blick in die Runde warf, deren Wächter er die kommenden drei Stunden war. Vor ihm, gebettet auf Schlafmatten oder dem Boden und geschützt von Decken oder Schlafsäcken lagen ein Elf, ein Zwerg und zwei Menschen. Einer von beiden Freibeuter – wenigstens – der andere Medicus und Deserteur. Und über ihnen alle spannte sich das Himmelszelt mit unzähligen funkelnden Sternen, dominiert vom fahlen Licht des Madamals.

Ein tiefer Atemzug des Kriegers riss die kühle Abendluft tief in seine Lungen und weitete seine Brust, ehe er den Atem wieder fahren ließ. Die Gruppe, die sich die schützende Wärme des Feuers teilte, war derart bunt gemischt, dass es Garion bisweilen wie ein Wunder erschien, dass sie zusammenhielt. Das Grün seines verbliebenen Auges verfing sich an den blonden Haaren des Elfen. Cyruions Alter war schwer zu schätzen, aber wie vermutet war er der Älteste der Runde. Es war schon einige Jahre her, dass sie sich kennengelernt hatten – damals zunächst an Bord eines Schiffes, dann zu Fuß auf dem Weg ins Landesinnere. Von Beginn an hatte der Elf sich durch eine beinahe absonderliche Tierliebe ausgezeichnet, gleichzeitig aber am Kreislauf des Tötens wie selbstverständlich teilgenommen. Empathie und Gnadenlosigkeit in gleichem Maß – wie Garion fand ein deutliches Zeichen für die naturnahe Lebensweise der elfischen Sippen, die sich vom Erbe ihrer Vorfahren distanziert hatten, um die Fehler derer die vor ihnen waren nicht zu wiederholen.
Trotzdem hatte Cyruion stets auf die eine oder andere Weise den Eindruck erweckt, seinen elfischen Wurzeln entrückt zu sein. Hatte sich menschlich gekleidet, hatte aber nie menschlich geklungen, hatte nach Wissen gedürstet wie ein Mensch, aber hatte den menschlichen Essensgewohnheiten weitgehend entsagt. Ihre Wege hatten sich getrennt, als der Magier sich einer Haijagd verweigert hatte und diese – wie er es genannt hatte – unnütze Grausamkeit nicht hatte mit ansehen wollen.

Garion strich sich gedankenvoll über seine rechte Braue und blinzelte etwas Rauch aus seinem tränenden Auge. Und jetzt – Jahre später hatte sie der Zufall wieder zusammengeführt. Cyruion hatte Perricum in Begleitung einer Gesandtschaft der Senne Nord erreicht, um sie in magischen Belangen zu beraten und im Notfall einzugreifen. Gemäß dem Gedankengut seiner Alma Mater in Donnerbach war er das Gruppenmitglied, das ihm am wenigsten Sorgen bereitete. Cyruion war bisweilen ein wenig weltfremd, aber er war umgänglich und geduldig, war um Völkerverständigung bemüht. Die üblichen Aversionen von Elfen gegenüber den Angroschim waren bisher nicht ruchbar geworden – nicht einmal als ‚Stummel‘ oder ‚Halbmann‘ hatte er Tarambosch betitelt.

Die Aufmerksamkeit des Wachhabenden glitt von dem blonden Elfen fort und kettete sich an den ebenfalls blonden Angroschim. Er wusste, dass der gedrungene Bartträger sich bereits zurückhielt. Trotzdem war es unverkennbar, dass offene Worte, Konfliktbereitschaft und ja – auch eine Spur rassistischer Vorurteile in seinem Blut kochten. Dennoch würde Garion niemals auf ihn verzichten wollen. Nach ihrem ersten Treffen in Ranak bei Kap Brabak hatte sich schnell herausgestellt, dass sie gerne und gut zusammenarbeiteten. Ihr Ehrverständnis und sogar Teile ihrer Weltsicht deckten sich, wenngleich ihr kultureller Hintergrund und ihre Ausbildung bisweilen für geteilte Meinungen sorgten.
So war dem Zwerg die Abneigung allem Echsischen gegenüber in Fleisch und Blut übergegangen, während in der Glaubenslehre Rondras der hohe Drache Farmelor als Gemahl der Göttin selbst gepriesen wurde. Die Diskussion über diesen Punkt war kürzlich aufgeflammt, war aber rasch (und vorläufig) beigelegt worden.
Gedankenverloren rieb der Wächter Daumen und Zeigefinger aneinander, während er die Gestalt des beinahe totengleich schlafenden Zwerges betrachtete. Doch obgleich die Emotionen des Zwerges von Zeit zu Zeit für Ärger innerhalb ihrer Gruppe sorgen konnten, betrachtete er ihn nicht mit Sorge. Selbst wenn der Axtschwinger sich mit seiner ganzen Gruppe stritt, so würde das Auftauchen eines gemeinsamen Feindes doch für eine geschlossene Front sorgen. Auch das lag den Kriegern Xorloschs im Blut – im Krieg dachte man praktisch, nicht emotional.

Als sich ein fremdes Geräusch in das Knacken des Feuers mischte, sah der Rondrit auf. Die Gegend in der sie sich befanden, galt im Allgemeinen als gefährlich, wenn sie auch bisher nicht angegriffen worden waren. Mit einer Hand am Griff seines Schwerts erhob er sich von dem kleinen Felsen, auf dem er saß, und ließ den Blick in die nähere Umgebung des Lagers fahren. Der Ort war gut ausgesucht. Die kleine Mulde war von drei Seiten von größeren und kleineren Felsen umgeben und öffnete sich mit der vierten zum Weg. Das Licht des Lagerfeuers war auf diese Weise nicht sehr weit zu sehen und der Wind nicht allzu harsch. Ein paar Schritte führten ihn auf den schmalen Weg hinaus, von wo aus er einen noch besseren Blick hatte. Eine Gefahr war aber nicht zu sehen – kein Grund also die anderen zu wecken und in Alarmbereitschaft zu versetzen. Nun wieder ruhiger setzte er sich an seinen Platz zurück und angelte nach seinem Proviantbeutel und Wasserschlauch. Während er etwas Proviant verzehrte, lenkte er seinen Blick zu den beiden Menschen hinüber. William und Vitus. Beide männlich und beide schwer einzuschätzen.

William hatte ein loses Mundwerk, flinke Finger, die nur zu gerne auch genutzt werden wollten und verbog sich die Realität auf eine Weise, dass eine leise Stimme in Garions Kopf aus jedem „Das ist wahr!“ ein „Das ist wahr!-scheinlich wahr.“ machte. Tatsächliche Talente hatte William seit Garion ihn kannte, nicht gezeigt. Wenn man von ‚Sich Ärger einhandeln.‘ und ‚Das Wirtshaus leer trinken.‘ einmal absah. Die Geschichten des jungen Seefahrers waren beinahe so groß wie sein Ego und hinter jeden Ecke lauerte ‚Die Eine‘, um sich ihm voll der Liebe an den Hals zu werfen.
William war ein Buch mit sieben Siegeln und Garions größte Sorge. Dabei ging es nicht einmal um die erfundenen Geschichten, die mangelnde Etikette, das mangelnde Wissen um das Pantheon oder die bisweilen vorgeschobene Inkompetenz. Wesentlich größeren Eindruck hinterließ der Umstand, dass William mit all dem so bereitwillig herausrückte. Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass Menschen selten ihren wahren Charakter offen legten, wenn sie ihr Gegenüber nicht kannten. Wenn der Seefahrer genauso war, dann stellte sich die Frage, was er hinter der Fassade verbarg. Das Bild eines plündernden Freibeuters oder – schlimmer noch – Piraten verfestigte sich immer mehr. Zuletzt als die Admiralität Perricums bestätigt hatte, Williams Vater aus ähnlichen Gründen zu suchen. Vor diesem Hintergrund hatte es ihn überrascht, dass der Mann in Zeiten der größten Not in der Ordensburg der Ardariten aufgetaucht war, um dort nach Hilfe zu suchen. Das war vernünftig gewesen – beinahe zu vernünftig für den Charakter, den er sonst an den Tag gelegt hatte. Aber – war es Vertrauen gewesen oder Opportunismus? Hatte er sich seinen Gefährten anvertraut oder nur gewusst, dass sie ihm helfen würden, die Suppe auszulöffeln, die er sich eingebrockt hatte?
Langsam massierte der Adelige sich seine Nasenwurzel. Früher oder später würden sie alle gemeinsam in die Klemme geraten und dann würde sich zeigen, ob in William jemand steckte, auf den man sich verlassen konnte oder ob er eher versuchen würde seine eigene Haut zu retten – egal wen oder was er dafür opfern musste. In jedem Fall hielt er es für besser sein Auge auf ihm zu behalten.

Erneut sondierte Garion die Umgebung des Lagers. Wachdienst nahm er stets ernst. Eine Einheit – egal wie gut ausgebildet – war zu ihren Ruhezeiten am verwundbarsten. Gelang es einem Angreifer die Wache lautlos auszuschalten, so war es ein leichtes die schlafenden Gruppenmitglieder im Schlaf zu töten oder kampfunfähig zu machen. Garion wollte verdammt sein, wenn das während seiner Wache geschah. Noch einmal drückte er sich von dem Stein hoch und drehte eine Patrouillen-Runde um das Lager. Einige Minuten lang hielt er den Blick in die Dunkelheit gerichtet, um sein Auge daran zu gewöhnen. Wieder war alles still – wenn man von den normalen Geräuschen einer Nacht in der Wildnis einmal absah. Der Wind rauschte durch einige der mageren Gewächse, hier und dort raschelten kleine Tiere und die Feuchtigkeit des Holzes ließ das Feuer krachen. Gute zwanzig Schritt vom Feuer entfernt, lehnte er sich an den Steilhang der den Weg begrenzte und sah von dort zu seinen Begleitern hinüber.
Vitus mochte ein Deserteur sein, aber er war als Heiler schon rein objektiv wichtig für die Gruppe. Und wenn man genau genug hinsah, dann war es nicht allzu schwer zu erkennen, wie schwer seine Schuld ihn belastete. In Perricum hatte er sich dem Urteil der heiligen Rondra ergeben und war bei der Gruppe geblieben, obgleich er Zeit und Gelegenheit zur Flucht gehabt hätte. Garion mochte nicht glauben, dass ihm oder den anderen von Vitus Gefahr drohte. Dennoch war der Mann schwer zu durchschauen. Kaum einmal sprach er – und wenn er es tat, dann war er oft offener und emotionaler als sein Handeln es hatte erwarten lassen. Er war gläubig, gut ausgebildet und soweit der Rondra-Geweihte das beurteilen konnte, aufrecht. Die Liebe war es, die ihn vom Weg abgebracht hatte – und da war er beileibe nicht der Erste. Sich auf ihn zu verlassen war noch nicht ohne jedes Risiko, aber es bestand Hoffnung, dass er sich beweisen würde. Gerade nachdem die Gruppe beschlossen hatte, ihm bei der Abzahlung seiner Strafe zu helfen, schien es Garion als habe die Bindung sich gefestigt. Und für Zwist innerhalb der Gruppe würde die verständige Art des Mannes aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht sorgen.

Er ertappte sich dabei, dass beim Anblick der vier Schlafenden ein Lächeln über seine Lippen rann. Die Gruppe mochte in ihrer Zusammensetzung untypisch sein, aber labil war sie nicht. Nach allem was er wusste, war es gut möglich, dass sich an diesem Feuer genug Talent, Fähigkeit und Wissen versammelt hatte, um alles was das Schicksal ihnen entgegen schleudern wollte zu überwinden. Es galt nur die beiden wichtigsten Regeln dieser Welt zu beachten. Erstens: Zu wissen, wann es an der Zeit ist etwas zu tun. Zweitens: Zu wissen, wann es an der Zeit ist nichts zu tun. Vorsichtig stieß er sich in der Plattenrüstung von dem Stein ab und hielt wieder auf das Feuer zu. Dort angekommen setzte er sich vorsichtig wieder, schabte aber mit seiner Rüstung über den Stein, was eine kurze Bewegung des Elfen zur Folge hatte. Es wurde wirklich Zeit für eine Kettenrüstung.

Von seinem Platz aus betrachtete er die ungleichen und bisweilen gefährlich unbekannten Gefährten. So oder so: Für die kommenden Stunden war es an ihm jeden einzelnen dieser Männer mit seinem Leben zu beschützen. Genau wie er es auch nach Ablauf dieser Stunden tun würde, Tag um Tag, Woche um Woche, Götterlauf um Götterlauf. So lange sie sich als gut erwiesen. Denn wenn es nach ihm ging, dann galt für diese Gruppe dasselbe, was für den Ardaritenorden galt: Wir stehen zusammen, wir fallen zusammen.

Perricum 3 (Vitus)

Vitus gelangte langsam zurück in die Ordensburg und genoss die Morgensonne auf seinem Gesicht. Er hatte sein Schicksal in die Hände der Götter gelegt und nun war er wieder hier in Perricum. Er hatte seit langer Zeit wieder einer Andacht beigewohnt und konnte seine Gedanken ordnen. Die Schwerter, besonders jenes aus Endurium, würden bei seinem Ableben oder einer Festnahme hier her gelangen. Dieser Tatsache war er sich sicher, besonders wenn er Garion darum bitten würde.

Gemeinsam nahm man das Mahl nach der Andacht in der Ordensburg zu sich. Die Frau mit der Garion sich im Tempel unterhalten hatte, setzte sich zu ihnen und sie stellte sich mit Ness ni Daire vor. William versuchte mit seinem Charme die schöne Ness von sich zu überzeugen. Diese jedoch hatte mehr Augen für Garion und schien ein recht diszipliniertes und kühles Dasein anzustreben. Das Gespräch kippte schneller als Vitus es mit bekam. William sprach von Gottheiten und nannte einen für Vitus unbekannten Namen. An den Reaktionen von Garion und Ness ni Daire erkannte er, es musste sich um eine Gotteslästerung handeln. William wiederholte auf Nachfrage den Namen, als wäre er unwichtig. Ness wäre ihm beinahe mit ihrer Waffe an den Leib gegangen. Jedoch konnte Garion sie gerade noch davon abhalten. Vitus verstand mit Hilfe der Geweihten, dass dieser Name von einem Erzdämon stammt und beim dritten Mal ausgesprochen einer Anrufung gleich käme. Garion entfernte William aus dem Speisesaal und ließ Vitus mit Ness  zurück.

Ness ni Daire zeigte Gefühle, auch wenn es nur Wut war. Vitus erkannte, dass sie sich Sorgen um Garion machte und wurde in diesen Gedanken bestärkt. Ness fragte nach der Reise mit Garion und wie Garion solche Leute kennen konnte. Vitus sah die Liebe in ihr, vielleicht von einer Schwester zu einem Bruder oder gar mehr? Garion und sie kannten sich auf jeden Fall. Sie wollte alles wissen, dabei hatte Vitus nicht viel zu erzählen und wollte sich auf seine Gedanken konzentrieren. Als auch Ness langsam ihren Pflichten wieder nach ging, blieb Vitus in der Ordensburg allein. Er war ohnmächtig einen Schritt aus diesen Räumlichkeiten zu den Straßenwächtern oder Gardisten zu machen. Tarambosch und Garion verließen die Burg, um nach William zu suchen.

Am Nachmittag kam Willian zur Ordensburg und konnte sich mit dem Namen von Garion von Arivor Zutritt verschaffen. Dabei geriet er jedoch an Ness ni Daire. William fühlte sich verfolgt und beteuerte, dass ein Schatten ihn verfolgen würde. Die sonst kühle Ness nahm diese Bedrohung sehr ernst und begann damit für William einen Unterschlupf zu finden. Er sollte mit dem Glauben Rondras geschützt werden. Vitus kam auf William zu, aber er wusste nicht, was er zu ihm sagen sollte. Er versuchte immer wieder Ansätze, ihn zu beruhigen, jedoch schien Vitus mit seiner unausgeglichen Art nicht viel zu bewirken. Vitus beschwichtigte William, dass ihm hier sicher geholfen werden könne. Immerhin beruhigte es ihn sich soweit, dass man sich auf eine Steinbank setzte und auf Ness wartete. Während dieser Zeit kamen Garion, Tarambosch und Cyruion dazu. Man berichtete von Williams Angst und versuchte eine Lösung zu finden. Diese Unterhaltung wurde jäh unterbrochen von Ness, die nun drängte in die Burg in ein Zimmer zu gehen.

Kaum im Zimmer angekommen bat Garion Vitus auf den Flur zu einer Unterredung. Garion zeigte Vitus einen neuen Steckbrief und die Sonne verfinstere sich für ihn. Vitus Gesicht verzog keine Miene mehr und er nickte nur noch. Er hatte im Tempel bereits der Göttin offengestellt ihn zu bestrafen. Man ging in Garions Zimmer in der Burg mit Tarambosch. Garion und Tarambosch schienen angespannt, aber von Vitus fliehen langsam die Sorgen. Seine Reise würde nun hier enden.

Vitus legte die Waffen in Garions Hände mit dem guten Gefühl, dass diese wenigstens noch etwas bewirken konnten. Die Schritte durch die Stadt zur Wache und in die Zelle waren nicht so schwer, wie die Enttäuschung, die er in den Augen von Garion und Tarambosch gesehen hatte. Beim Weg zur Zelle begann es langsam zu regnen. Efferd schenkte William ein Zeichen, dass seine Seele gerettet werden würde. In der Zelle angekommen, die wie zu erwarten nur kleine mit Gittern gesicherte Fenster in der Mauer und eines in der Holztür aufwies, setzte sich Vitus auf den Holzhocker hin. Sein Blick war leer geworden und auf den Boden gerichtet. Er begriff langsam, dass seine Abenteuer hier enden würden.

Der Regen hörte die ganze Nacht nicht auf und das Wasser floss an den Wänden, tropfte vom Fenster her in die Zelle. Diese Geräusche schienen wie Kriegstrommeln zur Hinrichtung. Vitus wusste, dass nach diesem Verrat keine Hilfe oder Anfrage bei Garion oder Tarambosch gerechtfertigt war. Er wollte jedoch eine andere Schuld begleichen und Boromir, seinen alten Weggefährten und Kameraden bei den Straßenwächtern, bei der Verhandlung haben. Damit dieser hören konnte, was geschehen war. Nach dieser letzten Tat waren alle Schulden auf Dere bezahlt und der Weg in Borons Hallen wäre kein schwerer mehr.

Am Morgen erbat Vitus, dass man nach Bormir schicken würde. Bei Bormirs Anblick hätte Vitus lieber einen Schlag ins Gesicht erhalten, als die Worte die er ihm sagte. Jede körperliche Wunde wäre zu ertragen gewesen, aber diese Verletzungen rissen alte Wunden auf und ließen jedes Wort in der Kehle verklingen.

 

Nach diesem Besuch war Vitus kaum im Stande noch über die Zukunft nach zu denken, er dachte an die schönen Tage seiner Kindheit und die Tage als Wächter der Straßen zurück. Er erinnerte sich an Eide und Gesetze vergangener Tage und an die Worte, die er in der Nacht einige Male wiederholte um seiner Schuld gerecht zu werden.

Die Schuld ist mein!
Mit Wort und Tat werde ich abbüßen, was ich Schlechtes getan habe.
Leite mich, damit ich das Gute vom Schlechten unterscheiden kann,
und damit ich für all jene, die meiner Hilfe bedürfen, nur das Beste leiste,
und damit ich meine Schuld an dir und deinen Geboten für immer reinwasche.
Dein Wille sei mein Befehl.

Perricum 2 (Vitus) (PER 1013)

Vitus wusste nicht, wie er durch diese Tore gehen sollte, ohne das Inneres von der Schuld zerstört werden würde. Er erinnerte sich an seine Freunde, Kameraden, die Frau und soviel Leid, das womöglich entstanden war durch seine Tat. Vielleicht war sogar Xeraan in dem Transport gewesen? Dann wäre er für die Taten, für die Verstümmelung seiner Base, den Tod vieler Unschuldiger verantwortlich. Seine Atmung wurde flacher und er hatte das Gefühl langsam von seinem Pferd zu gleiten, als der Ruf nach Garions Namen ihn aus diesen Gedanken riss.

Ein junger Seeräuber stand neben einer Lichtgestalt in Mitten von weißen und roten Wappenröcken. Eine Reisegruppe von Geweihten der Rondra mit einem Elfen und einem Piraten, dieses Bild verwirrte Vitus. Besonders, dass dieser Pirat nach Garion rief. Man näherte sich dieser Reisegruppe und Vitus konnte den Namen William dem Piraten zuordnen. Der Elf war ein ausgebildeter Magier im Rang eines Adeptus minor mit dem Namen Cyruion. Garion schien diese beiden Personen zu kennen. Vitus fielen viele Namen für diesen William ein, wie Seeräuber, Frauenschänder, Schwerenöter und Pirat. Er mochte ihn einfach nicht, aber vielleicht tat er ihm auch einfach Unrecht. Dagegen schien der Elf gebildet und aufrichtig, fast wie schwarz neben weiß standen die zwei dort.

Die Reisegruppe von Geweihten wurde nach und nach durch die Tore gelassen. Vitus spürte bereits die Ketten an seinen Handgelenken und rieb sich die Handgelenke leicht. Auf einmal sprach die Wache die Gruppe an und William versicherte, dass alle zusammen gehörten. Garion, Tarambosch, Cyruion und William durchschritten langsam das Tor, während Cyruion und William berichteten, wie sie hier her gelangt waren. Vitus‘ Blick fuhr unter dem Tor hindurch, war er nun doch in seinem Gefängnis angelangt.

Die Schritte von Vitus waren langsam und er führte mit verkrampfter Hand sein Pferd durch die Gassen von Perricum zur Ordensburg der Ardariten. In seinem Inneren wollte er Garion und Tarambosch alles zu schreien, jede Tat offenbaren. Sie wussten nicht, dass ein unehrenhafter Verbrecher unter ihnen war. In Vitus Gedanken sah er sich schon gefesselt an eine Säule und mit Peitschenschieben bestraft. Jeder Stein, der Vitus zum Stolpern brachte oder ihm den Weg erschwerte, führte zu einem weiteren Peitschenhieb auf seinem Leib. Sein Verstand wusste, dass die Strafe eine lange Haft oder eine hohe Ableiste sein würden, aber sein Herz forderte eine höhere Strafe.

Bei der Ordensburg der Ardariten angekommen trennten sich die Wege der Fünfe. Cyruion und William gingen weiter mit den Geweihten zur Löwenburg. Während Garion dafür sorgte, dass Tarambosch und Vitus in der Ordensburg der Ardariten einen Schlafplatz erhielten. Vitus beschlich langsam ein ungutes Gefühl, bereits der Vorsteher zum Schlafsaal hatte ihn erkannt. Er wusste, dass am nächsten Tag seine Reise enden würde. Nach dem Abendmahl versuchte Vitus Schlaf zu finden und nach einigen Stunden gelang es ihm auch.

Am Morgen wurden Vitus und Tarambosch von Garion geweckt und Vitus begann seine Sachen sorgsam zusammen zu legen, wie für eine Abreise bereit. Er war sich noch immer unschlüssig, was er nun tun sollte. Zum Glück riss Garion ihn aus seinen Gedanken. Er berichtete von der Morgenmesse im Rondratempel zu dem man sich aufmachte. Die Stufen zum Tempel hatte Vitus seit mehr als einem Jahrzehnt nicht gesehen. Die Sonnenstrahlen auf den Löwenstatuen ließen ihn die Augen feucht werden. Die Morgenandacht verfolgte er nur mäßig, immer seine unehrenhafte Tat im Hinterkopf.
Danach ging Vitus an der großen Rondrastatue vorbei, mit dem Worten im Kopf  „Rondra, die Schuld ist mein. Ich alleine stehe zu meiner Schuld, ich bin es, der die Verantwortung trägt. Ich bin es, der Buße tun muss, ich bin es, dem Strafe gebührt. Rondra, die Schuld ist mein. ließ er einige Münzen in den Schlitz des Opferstocks fallen. Er wollte nur noch in die Ordensburg der Ardariten zurück, er behauptete um zu speisen, aber eigentlich ertrug er die Schuld kaum noch und wollte sich verstecken.

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