Grangor 11 (Neferu)
Kategorien: 1008 BFBettler und GauklerGrangorNeferuSie fühlte sich gelähmt wie das Kaninchen vor der Schlange und starrte beirrt und wie die Personifikation der Konfusion geradeaus. Noch hatte sie nicht gewagt den Blick zu Phexdan zu wenden, der sich lächelnd neben ihr an das Brückengeländer gelehnt hatte.
Ihre Zunge fühlte sich an wie ein trockener Lappen, der am Gaumen klebte und die intensiv grünen Augen begannen zu brennen, da sie vergessen hatte sie auch ab und zu schließen zu müssen. Nie zuvor hatte sie so viele Stimmen gleichzeitig in ihrem Kopf gehabt, so dass sie vollkommen weggetreten in der Welt ihrer wirren und schnellen Gedanken gefangen war. Wo kam Phexdan so plötzlich her? Hatte er gelauscht? Wo war Maran? Hatte Maran Phexdan zu ihr geschickt? War Phexdan Maran? Wie konnte das sein? Fast gleichzeitig schlich sich ein Wort in ihr Unterbewusstsein. …Schattenlarve… Leise geflüstert übertönte der Begriff in einem Bruchteil von Sekunden alle anderen Spekulationen und Ideen, die sie in der Zeit des letzten Atemzuges innerlich im Zeitraffer ausgesprochen hatte.
Mit Hintern und Rücken lehnte sie gegen das steinerne Brückengeländer. Sie hatte sich mit nach hinten geführten Armen abgestützt, mittlerweile drückte sich jeder einzelne Finger schmerzhaft gegen das harte Material, so dass jegliche Farbe aus ihm wich.
Mühsam trennte sie ihre Zunge von ihrem Gaumen und schluckte schwer herunter. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sie es geschafft hatte in ihrer Entrückung den Kopf zu ihm zu wenden. Mit sanfter Leichtigkeit lächelte er ihr wissend entgegen.
„Wo… kommst du her..?“ wisperte sie schließlich heiser und hoffte inständig auf eine Antwort, die sie zufrieden stellen konnte. Doch seine Antwort, die sie angstvoll vorhergesehen hatte, traf sie wie ein weiterer Schlag mitten ins Gesicht:
„Ich war doch die ganze Zeit da…“
Ihr Blut wallte heiß und unkontrolliert in die Richtung ihres Kopfes und wurde in Schüben abgelöst von kalter Gänsehaut. Sie erwartete, dass ihr jeden Moment schwarz vor Augen werden würde, doch es kam anders. Ihr Fluchtinstinkt war ob dieser unvergleichlichen Verlegenheit, nein…Scham, oder besser noch angstvollen Panik angeschlagen. Und ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und rannte blindlings über die menschenbefüllte Brücke. Sie schob und stieß, und bahnte sich wie ein fliehendes Tier, das keinerlei Rücksicht mehr nehmen konnte, ihren Weg. Fort. Sie wollte einfach nur fort. Welchem Spott hatte sie sich ausgesetzt! Sie hatte ihm in Unwissenheit ihr Inneres nach außen gekrempelt, sich einmalig verletztbar gemacht und nun musste sie… weg. Weit weg, ehe sie sich weiter der Lächerlichkeit preisgeben konnte.
Natürlich hatte sie ihn unterschätzt. Sie musste zugeben, sie hatte in keinem Fall damit gerechnet, dass er ihr nachkommen würde. Er war nicht der Typ, der anderen nachlief – jemand der vor Phexdan davonlief hatte selbst Schuld.
Am Ende der etwa 50 Schritt langen Brücke hielt sie inne und sah zurück mit der absoluten Gewissheit, dass er nicht länger in Sichtweite sein würde, aber schon stand er neben ihr.
Er war ihr nachgekommen.
Ihr Kopf ruckte zur Seite und der letzte Ausweg schien das Wasser des Kanals. Sie sprang. Wieder hatte sie ihn verkannt… Er sprang hinterher.
Sie schwamm wie um ihr Seelenheil, aber unter einer der Brücken holte er sie ein, da sich ihre Kleidung an einem Nagel verfangen hatte, der aus einem der hölzernen Pfeiler ragte. Zu spät. Er schwamm ihr Gegenüber, dass er Neferus bleiches (trotz Bräune) Gesicht sehen konnte und sah sie an, während seine Schwimmbewegungen ihn auf der Stelle hielten. Sie war außer Atem und rang nach Luft – er hingegen hatte sich anscheinend nicht einmal abmühen müssen ihr hinterherzukommen, sein Atem ging fast normal schnell.
Ihr Haar lag nass an ihrem Kopf an, ebenso wie seines, während sie sich im Schlagschatten der Brücke begegneten. Ihre flammenden grünen Augen starrten ihm entgeistert und vollkommen perplex entgegen, während ihr verschnellter Atem den offenen Lippen entkam. Sie sagte nichts. Das plätschern des Wassers, wie es rhythmisch ans Kanalufer schlug dominierte ebenso wie der Lärm der Menschen über ihnen die Akkustik.
„Warum musstest du auch in den Kanal springen? Das kann gefährlich sein… So musste ich dir wohl oder übel hinterher.“ sprach er ruhig, die Stille zwischen beiden durchbrechend. Außer ihren stetigen Schwimmbewegungen, die sie über Wasser hielten, war an Neferu kein Lebenszeichen zu bemerken.
Er kam ihr näher und schlang den rechten Arm um ihre Hüfte. Ihre Steifheit übertraf die eines Brettes bei weitem. Ihrer Kleidung wurde ein Loch gerissen, wo sich der Nagel verwickelt hatte, als er sie an sich zog. Sie hielt endgültig den bereits flach gehaltenen Atem an.
Behutsam hob er die verstörte junge Frau aus dem Wasser.
Tropfnass saß sie auf dem Stein, mit angezogenen Beinen. Phexdan hob sich ebenfalls aus dem Nass und wieder wurde sie seines athletischen, schönen Körpers gewahr, der sich deutlich unter der tropfenden Bettlerkleidung abzeichnete, die zuvor Maran getragen hatte und setzte sich unmittelbar neben sie, ohne sie jedoch weiter zu berühren.
Noch immer fiel ihr das Blinzeln schwer und entrücktes Starren und Ausdruckslosigkeit dominierten ein nichtvorhandenes Mienenspiel.
Nach mehreren Minuten öffnete sie dann doch die mittlerweile vor Kälte lila gefärbten Lippen.
„Wie… geht es deinem Garten?“ raunte sie weit weg.
„Gut. Er gedeiht prächtig… Und, was sagst du zum Wetter heute?“
Schnell wie ein Pfeil, der von der Sehne gelassen wurde antwortete die Streunerin aus Gareth, noch immer ohne zu seiner nahen Gestalt herüberzusehen.
„Der Himmel ist blau und die Sonne scheint, aber… es ist dennoch recht kühl.“
Er lachte erheitert auf: „Eigentlich meinte ich nur… dass das eine ähnlich peinliche Frage sei wie die nach meinem Garten.“
Neferu runzelte matt die Stirn und wagte nun einen Blick zur Seite. Da saß er. Phexdan, zum Greifen nahe. Phexdan, der nun praktisch jedes Gefühl kannte, das ihr Geist und ihr Körper im geheimsten Inneren beherbergten.
„Wieviel lächerlicher kann ich mich denn heute noch machen… Ich habe mir die ultimative Blöße gegeben.“ Sprach sie bitter und brachte damit ihre verworrenen Gedanken auf den Punkt. Mittlerweile begann sie zu zittern. Die nasse Kleidung entzog ihrem Körper die Wärme und ließ sie beben wie Espenlaub. Als er ihres Zustandes bewusst wurde, legte er wärmend einen Arm um ihre Schulter. Die Bettler, die überall die Wege der nähe säumten, wandten sich sichtlich von der Szenerie der beiden ab.
„Warum denkst du, es sei etwas Schlechtes, dass ich nun weiß, was du für mich empfindest?“ erklang seine sanfte Stimme an ihrem Ohr.
Sie verstand die Welt nicht mehr. Hatte sie sich so in ihm getäuscht? War sie ihm tatsächlich aufgefallen?
„Ich will… wie ich auch Maran bereits sagte… nicht nur ein einzelner Finger von vielen für dich sein, sondern… gleich beide Hände.“ wiederholte sie tonlos flüsternd, was ihr augenscheinlich viel Überwindung kostete.
„Was hindert dich daran?“ sprach die männliche Stimme ruhig.
„Du schläfst mit den Geweihten im Rahjatempel.“ entgegnete sie fast beklommen. Wieder schmunzelte er fast nachsichtig.
„Ich schlafe bei ihnen, das ist richtig, denn es ist warm dort. Aber sicher nicht mit ihnen.“
„Und was ist mit den halbnackten Tänzerinnen, die dich begleiten?“ wollte sie misstrauisch wissen.
„Sie ziehen lediglich die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich, mehr nicht.“
Verhöhnte er sie? Oder konnte es wirklich sein, dass… Sie blinzelte mehrfach und wagte nicht, den seligen Gedanken weiterfortzuführen, während ihre Lippen noch immer durch die Kälte in Bewegung waren. Sie beschloss seine Ernsthaftigkeit zu prüfen.
„Küss mich, Phexdan.“ provozierte sie ihn ernst und sah ihn fest an.
„Noch nicht…“ raunte er seine Antwort. „Ziehen wir dir erst einmal trockene Sachen an.“
Statt zu den Hortemanns zu gehen (Neferu sperrte sich dagegen), nahm er sie dann doch mit in die „Offne Hand“ in sein Zimmer, das ihr mittlerweile bekannt war.
Beide zogen sich um, während der andere wegguckte und sie musste unweigerlich lächeln, als seine nasse Kleidung an ihr vorbeiflog, an die Wand klatschte, herunterfiel und dort liegen gelassen wurde. Sie liebte ihn allein schon dafür, stellte sie innerlich in seltsamer Heiterkeit und Beschwingheit fest.
Blaue, sehr bequeme und gemütliche Kleidung hatte er ihr gegeben. Schnitt und Qualität waren recht bürgerlich und Hose, sowie Hemd passten ihr nur mäßig, da der Stoff um die Hüften herum etwas spannte und ihren gerundeten Po übermäßig betonte und widerrum um die Schultern und die Taille schlackerte.
„Man müsste es hier etwas enger machen…“ raunte sie und hielt mit den Fingern den Stoff an ihren Seiten fest, so dass er die weibliche Eieruhrfigur ihres Oberkörpers nachformte.
Als sie den Kopf hob und den Mann musterte, der mit ihr allein in diesem kleinen Zimmer stand, begann ihr das Herz wieder einmal bis zum Hals zu schlagen, bis sie das Blut in ihren Ohren rauschen hören konnte. Phexdan… Es war so ein Hochgenuss ihn einfach zu betrachten und selbst wenn sie die Augen schloss, konnte sie seine Präsenz weiterhin spüren, die ihr so angenehm war wie es nichts Vergleichbares auf Dere gab. Was hatte er nur mit ihr gemacht? Ohne wirkliche Kontrolle über ihr Handeln kam sie bedächtig auf den ebenfalls Blaugewandeten zu.
Er sah sie an und mit bebenden Gliedern, diesmal abern nicht mehr aus Kälte, kam sie vor ihm zum stehen.
Sie wollte ein für alle Mal wissen, was wahr und was falsch war. Sie hatte in den letzten Stunden und Tagen gelernt, dass sie sich auf ihre Spekulationen und Vermutungen alles andere als verlassen konnte, bei ihm hatte ihre hochgelobte Menschenkenntnis komplett versagt.
„Hast du.. das ernst gemeint?“ wisperte sie voll Festigkeit und Drängen in der sanften Stimme, während sie beide nur ein halber Schritt Abstand trennte.
„Was meinst du..?“ flüsterte er zurück.
„Den Traviabund…“ huschte es ihr schnell und gleitend über die wohlgeformten, roten Lippen.
„Ja, ich denke… ja.“ raunte er ihr mit weicher Stimme zu und der Blick seiner grünen Augen drang tief in die selbe Farbe der ihrigen.
Ihr wurde schwindelig und ein Hochgefühl bemannte sich ihrer. Eines, das ihr so fremd war, dass es sie fast von den Füßen warf. Sie bemühte sich hartnäckig um einen klaren Kopf.
„Seit wann? …Seit wann fühlst du etwas für mich?“ Setzte sie ihr zärtliches Gespräch fort, das bisher ohne Berühungen auszukommen schien. Sie war gehemmt und wollte sich nicht aufdrängen, denn er blieb auf Abstand.
„Seit wann… kennen wir uns?“ War seine leise Gegenfrage, die er ruhig stellte, nicht ohne das Grün ihrer beider Augen aus der Verschmelzung zu entlassen.
„Unsere erste Begegnung war vor.. vier Monaten. Auf der Brücke in der Nähe des Schneiders. Ich kam durch die Menschenmenge auf dich zu, auf der Suche nach Informationen.“ atmete sie schnell. Sie konnte ihrem Körper das Verlangen nach ihm nicht austreiben und ihr Leib reagierte auf seine Nähe und die leisen Worte.
„Von dem Moment an.“ beantwortete er ihre Frage dann ernst.
Wie auf Stichwort umarmte sie ihn innigst. Neferu vergrub ihr Gesicht in seiner Kleidung und drängte ihren warmen Körper an seinen. Auch er schlang für den Moment wie in Eile die kräftigen Arme um die etwa gleichgroße Frau und drückte sie so fest an sich, dass ihr beinahe die Luft wegblieb, doch das war ihr vollkommen gleich, im Gegenteil. Die Intensität seiner Nähe war Balsam für ihre Seele und sie fühlte sich in diesen wenigen Sekunden vollkommen wie nie: Sie hielt ihr Gegenstück, ihre Liebe in den Händen.
„Küss mich…“ bat sie erneut leise in die Richtung seines Ohres raunend.
Sogleich war der Spuk vorbei. Er beendete die Umarmung so abrupt wie sie entstanden war und alles in ihr setzte sich einem Trennen ihrer beiden Leiber entgegen, aber sie sagte nichts.
„Glaub mir.. Ich würde nichts lieber. Doch ich kann nicht…“ war seine niederschmetternde Antwort. Sie verstand die Welt von einer Sekunde auf die andere nicht mehr, als er seinen Blick von ihr fort zum Fenster wandte und ein melancholischer Glanz in seinen Augen beängstigende Überhand nahm.
Kurz blickte sie ihn fassungslos an und alles schrie in ihr in aufgebrachter Panik, dass die Liebe, die eben noch so sehr die ihre gewesen war schon wieder dabei war fortgerissen zu werden. Was hatte sie falsch gemacht? Warum konnte er sie nicht küssen…?
„Phexdan…“ flüsterte sie sanft seinen Namen und legte ihre Hand an seine Wange, die gleich darauf durch sein dunkles, zerzaustes, aber weiches Haare glitt. Sie hatte sich so oft vorgestellt eben das tun zu können.
„Warum kannst du mich nicht küssen…? Was ist los…?“ sprach sie mit Vorsicht und einem Hauch Angst in der Stimme.
Die Melancholie in seinem Blick nahm nicht ab. „Die Zeit wird es dir zeigen…“ raunte er eine mysteriöse Antwort, die sie alles andere als zufrieden stellte.
Neferu nahm seine Hand, sie zitterte. Mit vorsichtigen, samtigen Fingerspitzen streichelte sie Finger, Handfläche und Handrücken, ehe sie sie anhob und auch mit ihren Lippen streichelte, nicht küsste. Sie bemerkte, wie die Härchen seines Handrückens sich aufstellten und flüsterte ihm leise zu:
„Es ist… nicht schlimm, dass ich dich nicht küssen kann. Solange du nur bei mir bist.“
Er lächelte schwermütig. „Eigentlich… war die Umarmung schon zuviel..“
Sie ließ von seiner Hand ab und runzelte die Stirn.
„Ist es ein Fluch? Tut es dir weh? Wenn das so ist… werde ich dich nie wieder-„ mischte sich verwirrte Verzweiflung in ihre Worte. Sie durfte ihn also nicht berühren? Welche Art von bösem Zauber war das?
Mit immernoch traurigem Lächeln schüttelte der schwarzhaarige Gaukler den Kopf.
„Das ist es nicht… Aber.. ich muss jetzt gehen, Phexje und ich haben ein Treffen geplant.“
Sie nickte langsam und kam ihm sehr nahe und konnte sich nicht in soweit beherrschen, dass sie ihren Kopf hätte hindern können sich an den seinen zu schmiegen. Er reagierte nicht auf diese Annäherung.
„Kann ich nicht… mitkommen?“ bat sie leise, aber eindringlich.
„Ich fürchte Phexje hat soetwas wie einen Männerabend geplant.“ war die ernüchterne Antwort. Sie seufzte, wollte sie sich doch nicht von ihm lösen.
Doch die für die niederschlagenste Neuigkeit kam erst noch.
„Ich werde für einige Zeit weg sein.“ setzte er sie in Kenntnis. Langsam nickte sie. „Für wie lange…?“
„Etwa zwei Monate…“
„Zwei Monate?!“ Ihr zärtlicher Blick verwandelte sich wieder in ein fast entsetztes Starren.
Er schmunzelte sachte, die Melancholie hatte sich erbarmungslos und hartnäckig in seine grünen Augen gesät.
„Ja… zwei Monate. Ich muss gehen…“
Er drehte sich von ihr fort und schritt zur Tür. Schweigend sah sie ihm nach. Und einen Augenblick später… war Phexdan wieder wie aus ihrem Leben getreten.
Sie hatte geglaubt mittlerweile recht viel von ihm zu wissen. Aber in dem Moment, in dem sie wieder allein in seinem Zimmer stand, musste sie einsehen, dass sie eigentlich gar nichts wusste.