Grangor 18 (Neferu)
Kategorien: 1008 BFBettler und GauklerGrangorNeferuZwei volle Wochen noch gingen ins Land, ehe Neferu ihr Reiseziel erreichte: Grangor, die Inselstadt an der Westküste.
Sie trug die zweite Gestalt, die boronsweiße Schönheit mit dem schwarzen Haar und den Eisaugen, an deren Körper sie sich beinahe gewöhnt hatte, da er ihr die letzte Zeit gute Dienste erwies. Der Hexenleib, der ihr vom magischen Armband verliehen wurde, war nicht nur durchweg charismatisch – er bewahrte sie auch davor, dass die Dämonenpaktierer, mit denen sie den Handel um Phexjes Leben eingegangen war, ihr Antlitz je wiedererkennen konnten. Zudem hatte sie ihre schwarze Robe wohlweislich eingepackt und ihren ansehnlichen Leib unter der bodenlangen Boronskutte verborgen.
Ob alles gut gegangen war? Ob Phexje wirklich wieder lebte? Sie biss sich auf die blutrote Unterlippe, die eigentlich nicht die Ihrige war. Natürlich vertraute sie den düsteren Gestalten aus Tobrien nicht, denen sie die dreitausend Dukaten überlassen hatte. Sie war sich aber auch nicht vollends darüber bewusst, was sie tun sollte, wenn die Paktierer aus dem Osten sie über den Tisch gezogen hatten.
Schnell schüttelte die dunkelhaarige Schöne die grimmigen Gedanken ab. Nur nicht daran denken… Keinen Gedanken an den schlechtesten Ausgang ihrer Einzelmission verschwenden. Sie musste sich vergewissern. Sie musste Phexdan aufsuchen… Und gleichzeitig konnte sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Es brauchte nicht lang den Bettlerkönig zu finden. Mittlerweile hatte sie vom Hörensagen herausgefunden, dass es tatsächlich so war, wie sie es sich erhofft hatte: Ein totgeglaubter Junge war in Grangor wiederauferstanden. Ein Wunder Tsas!
Phexdan saß unrasiert und mit abgespanntem Gesicht auf seinem Stammplatz – auf der Brücke beim Schneider. Während die Menschenmassen den Übergang von beiden Richtungen passierten, nutzte Neferu deren Bewegungen, um für einen Moment ungesehen zu verharren. Der stehengebliebenen vermeintlichen Boroni wurde kommentarlos ausgewichen.
Die jetzt blauen Augen der Halb-Tulamidin-Halb-Thorwalerin wanderten über die sitzende Gestalt. Ein ganz normaler Bettler unter vielen, oder nicht? Zerzaustes, ungebändigtes Haar, fahle Haut, übernächtige Augenringe, zerlumpte Kleidung, ein Verband über dem Nasenbein – Phexdan reihte sich an diesem hellen, wolkenlosen, aber doch kühlen Herbsttag besser als sonst in die Reihen der bettelnden Hilfsbedürftigen ein.
Die fremde Schwarzhaarige hielt auf den jungen Mann zu, der im Schneidersitz auf seiner Matte hockte und ein Loch in die Luft starrte. In eleganter Manier ging sie vor ihm auf ein Knie und grüßte ihn samtig, während sie ihm einige Silber spendete. Er hob den Blick… als sähe er durch sie hindurch.
Säuselnde Worte entkamen den sinnlichen Lippen der Frau. Versprechende, lockende Töne erzählten von Nahrung, Wärme und Gold. Nährten seine Eitelkeit und sprachen zu ihm von seinem anziehenden Äußeren. Phexdan gab ihr einen Handkuss.
Raureif legte sich frostig klirrend um Neferus Herzregion, während sie sich gleichermaßen innerlich gut zuredete, dass der Mann, den sie vom ersten Augenblick ins Auge gefasst hatte, lediglich seine Höflichkeit spielen ließ.
Oder würde er die außergewöhnlich hübsche Fremde tatsächlich an sich heranlassen? Jetzt, wo sein Versprechen Phexje gegenüber eingelöst war, wo sein Leib frei war zu tun, wonach auch immer ihm Sinn und Lust standen. Sie schluckte knapp den bitteren Geschmack herunter und der Drang zu prüfen woran sie war, nahm stetig zu und ließ sie die Kiefer aufeinanderbeißen.
Der Strom der Pilger ebbte nicht ab, der die zwei umsäumte.
Phexdan erhob sich – er willigte ein mit ihr in eine Taverne zu gehen und sich ein gutes Essen ausgeben zu lassen. Neferu riet sich zur Vorsicht. Ihr einstiger Goldsegen war für das Leben des kleinen Jungen so dermaßen geschrumpft, dass sie acht geben musste nicht selbst zu verhungern. Ein äußerst unglücklicher und leidlicher Umstand, den sie besonders in diesem Moment verfluchte. Sie spielte eine Rolle, deren Mittel sie nicht länger zur Verfügung hatte. Ein Faktum, an das zu gewöhnen sie sich nun stärker einzuprägen gedachte.
Aus dem Augenwinkel sah sie zu dem Bettler, der ihr gefolgt war. Was hatte er vor? Würde er mit der Fremden mitgehen und geradewegs in Neferus aufgestellte Falle laufen? Seine Mimik wirkte alles andere als begeistert. Entweder ein gutes Zeichen oder lediglich ein Merkmal seiner offensichtlichen Müdigkeit oder was auch immer es war, das an seiner Erscheinung genagt hatte.
Da… noch dreißig Meter. Die Taverne näherte sich rasant.
Neferu entschied sich, alles auf eine Karte zu setzen und machte dem Gauklerbettler eindeutig unzweideutige, unmoralische Angebote:
„Bist du dir sicher, dass du nach dem reichlichen Mahl, das ich dir bezahlen werde nicht doch noch Nachtisch willst? Ich nehme dich mit auf mein Zimmer… Es ist sehr bequem dort. Natürlich werde ich dich reich für diese Unannehmlichkeit bezahlen…“
Er verneinte. Phexdan lehnte strikt ab – trotz der Aussicht auf Gewinn, hatte er nicht vor mit der atemberaubenden Schönheit in ihr Bett zu steigen. Die blasshäutige Frau atmete tief durch und bog in eine etwas minder belebte Seitengasse der Kanalstadt ein.
Phexdan folgte ihr – möglichweise mit einem Stirnrunzeln.
„Ich darf dich also nicht berühren?“ entkam es der Borongläubigen sanftmütig, als sie ihm den Rücken zuwandte. Schwarzes, glattes Haar fiel gesund und dicht bis auf den Ansatz ihres wohlgerundeten Pos, der sich nur angedeutet unter der Robe abzeichnete.
„Nein…“ raunte Phexdan.
Neferu konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, welches er aufgrund ihrer Abgewandtheit glücklicherweise nicht wahrnehmen konnte.
„Ach… Ich rettete deinen kleinen Phexje, indem ich Onkel Boron bat, ihn mir zurückzugeben und als Dank darf ich dich immer noch nicht berühren?“ schmunzelte sie gewitzt, während sie im Innern ihrer weiten schwarzen Ärmel das Armband dreimal zurückdrehte, dass der Spuk vor Phexdans grünen Augen ein Ende nahm und das lange, gepflegte schwarze Haar sich direkt eine Armlänge von ihm entfernt in die vielen rotbraunen Zöpfe Neferus verwandelten, die nur bis zu ihren Schulterblättern reichten.
„Neferu?“ wisperte der Verwirrte mit weit geöffneten Augen.
Langsam drehte sie ihm ihr Gesicht zu, gefolgt von ihren Schultern und dem Rest ihres Leibes, der zwar immernoch in der schwarzen Robe steckte, aber jetzt durch und durch das Original war.
Ihre geschwungenen Lippen zierte ein neckisches Lächeln.
„Wer sonst?“ grinste sie ihn an, wohl wissend, dass ihr Auftritt allerlei Fragen mit sich brachte. Was hätte sie alles dafür gegeben in diesem Moment seine Gedanken lesen zu können.
Noch während sie dieser verlockenden, aber unmöglichen Vorstellung nachhing, wurde sie aufs Heftigste von dem nur einen Finger größeren Fuchs umarmt. Seine kräftigen Arme schlangen sich um sie und drückten ihren Körper an sich, in der sehnigen Kraft geschult durch lange Jahre als Gaukler.
Phexdan… Sie nutzte augenblicklich die Gunst der Stunde und vergrub ihre Nase an seinem Hals. Sein Duft… Wie hatte sie ihn vermisst. Ihre Hände strichen besitzend über den groben Stoff der Bettlerkleidung seines Rückens.
„Wo warst du…? Wie hast du das alles gemacht? Bist du eine Magierin? Oder… eine Hexe?“ huschten die ersten verwirrten Fragen an ihr Ohr.
„Nein, ich… bin keine Magierin… und auch keine Hexe.“ Flüsterte sie lachend, „…bitte..frag nicht weiter.“
Er ging ihrer Bitte ohne das kleinste Murren nach und stellte ebenfalls eine stumme Bitte, als sein Mund sich ihren Lippen näherte, sich zögerlich herantastete, um sie dann zu küssen.
Ihr erster Kuss mit dem Füchschen raubte ihr den Atem. All die Jahre der fleischlichen Entbehrung durch ein willensstark eingehaltenes Versprechen und die plötzliche, innige Nähe der lang Vermissten veranlassten ihn dazu, sie mit einer Leidenschaft und Tobsucht zu küssen, dass ihr schwindelig wurde. Immer wieder pressten die Muskeln seiner Arme den Körper des geliebten Menschen an den seinen, während er Küsse an ihren warmen Lippen in erkundender Neugier und gleichzeitiger innerer Hitze probierte und das erste Mal erfuhr.
Sein Mund streichelte, liebkoste, küsste, schmiegte sich an und öffnete sich leicht, um seiner Zunge freies Geleit zu verschaffen. Mehrere Minuten standen sie so in der Seitengasse Grangors und liebten sich mit Zärtlichkeiten durch Hände und Lippen. Neferu ließ ihre Finger in sein schwarzes Haar gleiten. Sie liebte die vielen Wirbel und Drehungen, die es immer und überall unordentlich und wild aussehen ließen.
Endlich durften sie sich berühren und ihre ersten Berührungen prägten sich verheißungsvoll auf Haut und Seele des anderen und schienen nachholen zu wollen, was schon im ersten Moment leise und noch ungehört in beiden geflüstert hatte, als sich die gleichfarbenen Augen das erste Mal mit Blicken begegnet waren.
Beide waren müde von den vergangenen Tagen und Wochen. Beide sehnten sich nach Schlaf, so dass ihre Schritte sie in die nicht weit entfernte „Offene Hand“ lenkten. Noch war Neferu das Bett zu schmal für sie beide, so dass Phexdan zwei Matratzen auf dem Boden aneinanderschob. Endlich wurde sie diese schwarze Boronsrobe los unter der sie die blaue Kleidung Phexdans trug, die sie sich in Trallop auf den Leib hatte schneidern lassen. Königsblaue Kleider. Wie sie sich doch ähnelten, die smaragdäugigen, fast gleichgroßen Phexdiener, die beide in dieselbe Farbe gewandet waren. Königsblau.
Stirn an Stirn gelehnt schliefen sie ein, jeder unter seiner Decke. Lediglich hier ein Streicheln und dort eine Hand, die zu der nahen anderen Person herüber tastete.
„Sind Richard und Garion in der Stadt?“ wisperte Neferu leise beim Einschlafen, sich über den Verbleib ihrer Gefährten vergewissernd.
„Ja, Richard schläft bei den Hortemanns, soweit ich weiß und Garion…. Ist im Kerker. Er hat mich geschlagen… Deswegen auch der Verband…“ Phexdan tippte sich mit leidender, müder Miene an die Nase.
Neferu seufzte resigniert. Die hinter sich gelassene Odyssee saß noch zu tief in ihren Knochen, um sie zu einem weiteren Nachfragen hinreißen zu lassen. Sie ließ sich in Borons Arme sinken und empfing süßen Schlaf.