Havena 1 (Neferu)

Kategorien: 1013 BFDer Tod trägt RotHavenaNeferu

Zeit vergeht wie im Flug. Manchmal erscheint sie einem wie eine Flüssigkeit, die man nicht festhalten, nicht aufhalten und nicht verlangsamen kann. Oder wie Wind. Einmal hatte Satinav für Rahja die Zeit gefrieren lassen. Erstarrt wie ein Fluss, der kurzweilig gebändigt wird durch Winterkälte. Aber nichts kann in ihrem Lauf dauerhaft angehalten werden.
Oder doch?
Und wenn ein Mensch, ein Spross der Mutter des Lebens höchstselbst, eine Tochter Satuarias unverändert blieb, in der Zeit innehielt – war er dann überhaupt noch ein Mensch?

Neferu beobachtete die Wassertropfen, die von außen gegen die Schweinsblase prasselten und perlten, in Rinnsalen ihren Weg nach unten fanden.
Die Sicht durch die dünne Membran war vergilbt und milchig gleichermaßen. Die graue Menschenmasse wogte gekrümmt über den Markt der Hafenstadt. Winter war auf Sommer gefolgt, es war wieder kälter geworden, nur um von der Hitze Praios’ abgelöst zu werden. Aber wie es zu erwarten gewesen war, hatte die Zeit der wohligen Wärme nicht angehalten. Sie hielt nie an. Sie lief und rannte gehetzt wie ein Tier bei der Treibjagd. Und wie die Regentropfen am Fenster, die der Spätherbst mit sich brachte.

Sie hatte in den letzten Jahren mehr Herbergsfenster gesehen, als sie zählen mochte. Unterschiedlich wie der Schlag von Menschen, der in der jeweiligen Stadt gelebt hatte: Luftige Spitzbögen im Süden. Geviertelte Butzenfensterchen in Greifenfurt. Und solche mit breiten Simsen und gemütlichen Vorhängen wie die in Weiden.
Herbergsfenster, Herbergen waren gekommen und gegangen wie die Menschen in ihrem Leben. Einige luftig, nie ganz zu greifen und trotz aller Nähe uneinschätzbar wie der Phexhochgeweihte oder der Grandenbastard. Andere regenverhangen und in ihren Augen voll Schwermut wie der Bornländer oder der Inquisitor – die man tröstend berühren wollte, um gleichzeitig den Blick abzuwenden, weil man die ansteckende Traurigkeit nicht ertragen konnte.

Ihre langen Finger strichen langsam über die alte Oberfläche der verregneten Schweinsblase, die ihr Tor nach draußen war. Ledrig, unregelmäßig. Irgendwann einmal lebendig… Und irgendwann würde der Schutz gegen Kälte und Nässe reißen. Den Regen einlassen, ausgetauscht werden.
Der Phexhochgeweihte, der Grandenbastard, der Inquisitor und der Bornländer – sie alle würden abblättern, reißen, sterben.
Wie die Fenster der Herbergen wären sie alle und weitere irgendwann nur noch Erinnerungen.
Bis auf das weit offene Fenster. Durch das man klare Sicht hatte. Es war dunkel, groß und man drohte durch seinen Rahmen ins tiefe Innere zu fallen, aber es war da. Auch in Jahrhunderten noch. Sie würde dafür sorgen, dass es nie wieder jemand zuschlug.

Als hätte sie einen Schlag bekommen, zuckte ihre Hand fort von der Membran.
Sie wandte den Kopf ab vom nassen, herbstlichen Havena, über das sich die Nacht zu senken begann.