Havena

Havena 18 (Zerwas)

Die Dunkelheit des Zimmers im ersten Stock des Heilerhauses war nicht derart vollkommen wie sie es in den Verliesen der Boronsinsel war, aber sie reichte um ihn vor den Blicken eines neugierigen Pflegers zu schützen. Er drang durch das Fenster in das Zimmer ein, in dem die rote Hexe ruhte. Ihr Geruch hing nur schwach in der Luft, beinahe so, als sei ihre Existenz, ihre Lebenskraft auf ein Weniges zusammengeschrumpft.

Schuld krampfte in seiner Brust, als ihm ein wesentlich deutlicherer Geruch in die Nase stieg – der nach Knochenmark und geronnenem Blut. Zwar hatte er ihn erwartet, da Sagarta ihn auf die Verletzung hingewiesen hatte, aber er traf ihn dennoch mit unerwarteter Härte. Nicht, weil er den Geruch schwerer Verletzungen nicht gewohnt gewesen war, sondern weil diese Verletzung von ihm herrührte, obgleich er sie niemals beabsichtigt hatte.

Seine Lippen waren trocken, sodass er darüber lecken musste. Es kam selten vor, dass er in eine Situation mit derart hohem Einsatz und derart ungewissem Ausgang geriet. Ein ungewohnt drückendes Gefühl lastete auf seiner Brust, als er sich lautlos dem Bett näherte – das Gefühl etwas Wunderbares zerstört zu haben. In wenigen Sekunden vernichtet zu haben, was sich über Jahre bewährt hatte. Das bittere Gefühl eines schweren Verlustes, das sich eines Herzens bemächtigte, wenn ein geliebter Mensch zu Boron gefahren war, stieg in ihm auf, als er neben der schlafenden Frau mit den dicken Verbänden um den Schädel auf das Bett sank.

Niemals zuvor war Neferu ihm derart zerbrechlich vorgekommen, wie in diesem einen Moment. Und ihn beschlich das ungute Gefühl, dass der Verband, der eine Hälfte ihres Gesichtes, einschließlich des Auges verbarg, ihm den wahren Schrecken noch vorenthielt.
Das Gefühl eines bevorstehenden Unheils sprang seine Brust hinauf, als die Atemzüge der jungen Frau unregelmäßiger wurden und sich eines ihrer Augen öffnete. Hätte er ein schlagendes Herz gehabt, es wäre dem zerspringen nahe gewesen. Der Moment der Wahrheit war gekommen. Sie würde vor ihm zurückzucken – um Hilfe rufen oder vielleicht sogar versuchen aus dem Bett zu gelangen, nur um ihm zu entkommen, da war er sich sicher.
Er hielt inne, rührte sich nicht – doch nichts geschah. Sie sah ihn einfach nur aus dem einen Auge wach und aufmerksam an, die Miene reglos. Ob sie unter Schock stand?
Ihm wurde klar, dass es an ihm war etwas zu sagen.
Mit brüchtiger Stimme wollte er sie gleich im Vorfeld beruhigen:„Hab keine Angst, ich will dir nichts tun.“
Noch immer war in den Atemzügen der Frau keine Panik auszumachen. Langsam und tief hob und senkte sich ihr Brustkorb.
In vorsichtigen Bewegungen, denn er wollte sie nicht verunsichern, nicht erschrecken, ließ er sich neben ihr auf das Bett sinken. Er musste sie aus der Nähe betrachten.
In die düsteren Misstöne der nagenden Angst mischte sich eine leise, hoffnungsvolle Melodie. Konnte es denn sein, dass ihre Liebe für ihn selbst diesen Angriff unbeschadet überstanden hatte? „Bitte hab‘ keine Angst vor mir…“, bat er sie leise, diesmal selbstsicherer.

Langsam schob er seinen Kopf weit genug vor, um mit seiner Stirn die ihre zu berühren. Kühles Fleisch stieß auf Warmes und blieb dort. Kein Zurückzucken ihrerseits, sie ließ es geschehen.
Zaghaft streckte er seine Rechte aus, um sanft mit einem Finger den Verband ihrer verwundeten Wange zu berühren. Was hatte er ihr nur angetan.. Er hoffte inständig, dass es eine Möglichkeit gab, die Verletzung schneller heilen zu lassen – ihr die Schmerzen zu nehmen.
Noch immer entzog sie sich ihm nicht. Blieb ruhig und nahe bei ihm liegen, machte weder Anstalten zu fliehen, noch zu schreien.
In einem Automatismus, der von vielen gemeinsam verbrachten Tagen und Nächten herrührte, suchte seine Hand unter der Wolldecke nach ihrer. Eine Welle der Erleichterung fuhr durch seinen Körper, als ihre schlanken Finger sich wärmend um seine schlossen und innig zudrückten.
„Bitte hass‘ mich nicht…“, flüsterte der Vampir seiner sterblichen Geliebten leise zu. Noch immer hielt das Gefühl, einer furchtbaren Katastrophe gegenüber zu stehen, sein Herz eng umfangen. Dass sie ihm tatsächlich bereits verziehen hatte, war irreal, lag so weit von seinen Erwartungen entfernt, dass sein Geist diese Möglichkeit nicht als Ergebnis seiner Handlungen einzuschätzen vermochte.

Während er mit seinen Gefühlen haderte, zweifelte und sich grämte, spürte er, wie der schwache, bettwarme Körper sich an seinen schmiegte, während Neferus Hand der seinen entglitt. Ihre Arme schlangen sich um ihn, schienen ihn so fest halten zu wollen, dass er nie wieder fort konnte. Zusammen mit der Wärme des Körpers neben sich, kam die Wärme in seinem Herzen. Obgleich sein schlechtes Gewissen ihn noch immer quälte, konnte er doch nicht anders, als dem Gefühl nachzugeben. Er drückte sie an sich, als könne sie ihm jederzeit wieder entrissen werden.
Obwohl er es nicht für möglich gehalten hatte, spürte er, dass der Kelch aus dem die Hoffnungslosen tranken, an ihm vorübergegangen war. Ein Umstand, für den er die Frau in seinen Armen nur umso mehr liebte.

Havena 17 (Neferu) (EFF 1013)

Trotz des weichen, fremden Bettes, des Blutverlusts und der allgemeinen Erschöpfung, konnte Neferu nicht einschlafen.
Ab und zu drifteten ihre Gedanken in weite Ferne, als kämen sie einem Traum nahe, aber das kleinste Geräusch ließ sie bemerken, dass sie immer noch wach war.
Eigentlich war es ja auch kein Wunder, dass sich ihr der Schlaf verwehrte.
Ihre linke Gesichtshälfte war geschwollen, verbunden und pochte wie ein zweites Herz.
Ihr war gesagt worden, dass der Unterkiefer an zwei Stellen des Knochens gebrochen war. Es konnte Monate dauern, ehe sie wieder anständig kauen konnte. Monate! Und das Trotz Behandlung eines Heilkundigen. An Sprechen war selbstverständlich auch nicht zu denken.
Argwöhnisch wühlend warf sie sich auf den Laken herum. Ein Fehler, wie ihr sogleich schmerzvoll alarmierend der geborstene Knochen signalisierte.
Ein schicksalsergebener Seufzer und sie drehte sich zurück auf die Seite, auf der zu schlafen sie eine ganze Weile verdammt war.

Sie nahm ihre Situation mit ungewöhnlichem Gleichmut.
Wie war sie doch selbst Schuld. Nicht umsonst gab es unzählige, warnende Geschichten über die Blutrünstigkeit der Kreaturen der Nacht.
Hatte sie all das so sehr auf die leichte Schulter genommen?
Zerwas war ein Vampir. Er hatte ihr schon gefallen, bevor sie das gewusst hatte, aber dennoch… Sie hatten sich beide in vollem Wissen auf die Gefahr eingelassen und hatte jetzt ihre Rechnung für diese Unvorsichtigkeit erhalten. So einfach war das.
Wenn sie jetzt für immer verunstaltet blieb, war das ein Jammer, aber vielleicht fand sie dann endlich heraus, auf wen es wirklich ankam…

Ob Zerwas sie liebte? Konnte ein Vampir dieses Gefühl überhaupt noch empfinden?
Oder ob er jetzt das Zähne bleckende Monster war, das er ihr offenbart hatte?
Endlich spürte sie Wut und Enttäuschung in sich aufkeimen. Es war fast erleichternd, etwas anderes zu fühlen als Resignation und Gleichgültigkeit.
Vesper war für ihn gestorben, um in Unsterblichkeit bei ihm zu sein.
Neferu hatte ihm ihr Blut gegeben, um ihn wieder in die Welt zurück zu holen.
Sie hatte die Anweisungen der Boronkirche missachtet, um ihn aufzusuchen.

Sie schloss die Augen, ließ die schiere Dunkelheit auf sich wirken. Eine ganze Zeit verharrte sie so. Hörte auf ihren Atem, spürte den abgekämpften Rest Leben in ihrem Leib.

War sie eingeschlafen? Nur ganz kurz?
Als sie die Lider wieder öffnete, saß eine dunkle Gestalt auf ihrer Bettkante.
Sie zuckte zurück, starrte die düstere Silhouette angestrengt an.
Neferu wusste, wer da durch das Fenster gekommen war und konnte es trotzdem nicht glauben.
Zerwas?
War er hier, um sie endgültig des letzten Tropfens zu berauben?

„Hab keine Angst, ich will dir nichts tun.“ Die dunkle melodische Stimme durchschnitt die Stille.
Er klang wieder wie er selbst. Das Raubtier war gewichen. Doch für wie lange?

Havena 16 (Sagarta)

Mit der Eleganz einer al’anfanischen Katze ließ sich die Vampirin auf den schwarzen Stoff eines der Kissen sinken, die um die Rabenstatue herum auf dem Boden lagen. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zum steinern-kalten Antlitz des Rabengottes auf. Warum…?, fragte sie stumm. Warum hast du mir all‘ diesen Tumult auf die Insel gebracht? War es dir hier zu still?
Der schweigende Gott bedachte sie mit keiner Antwort. Aber sie hatte auch keine erwartet. Statt sich weiter auf den einseitigen Austausch zu konzentrieren, schloss sie die Augen, um das Vergangene noch einmal Revue passieren zu lassen.

Begonnen hatte der gestrige Abend mit der recht kurzfristig eingetroffenen Information über die Gefahr, die den Geweihten auf der Insel zu drohen schien. Es war nicht nur seltsam, dass ein direkter Angriff auf die Boronsinsel derart spät an ihre Ohren drang – noch dazu hatte die Hand Borons ihr übliches Gebiet weit überschritten. Beides zusammen hatte sie zu der Erkenntnis gebracht, dass der Meuchler nur der Gelegenheit wegen einen Abstecher zur Insel gewagt hatte. Sein Hauptziel war mit Sicherheit ein anderes gewesen – also hatte es auch keinen Grund gegeben ihn weiter zu befragen. Es war ihr klug vorgekommen, den Neuen auf die Jagd nach einem Verbrecher zu schicken, während sie selbst die Geweihten bei einem späten Abendmahl im Auge behielt. Auf diese Weise war jeder Gefahr angemessen begegnet.

Ein leiser Seufzer drang in die Stille der dunklen Statuenhalle hinaus. Sie liebte es, wenn ein Plan funktionierte, aber der hier hatte nur gut begonnen und war dann zu einer kleinen Katastrophe geworden. Nachdem der erste Kampf – der des Meuchlers um sein Leben – erfreulich schnell ein Ende gefunden hatte – genau wie des Meuchlers Leben – hatte sie gewagt sich ein wenig zu entspannen. Hatte ein Gespräch mit dem klapprigen Kahlkopf Padraig begonnen, als ihr der spitze Schrei einer Frau das Rückgrat hinabgeschauert war.
Selten war sie so froh gewesen, dass niemand auf dieser Insel ihre Beweggründe zu hinterfragen wagte.
Sie war den Gang entlang gerannt, hatte die Doppeltür aufgestoßen und war in die Nacht hinausgestürzt. Zu ihrem eigenen Glück hatte die Hexe sich heftig gewehrt und war so leicht ausfindig zu machen gewesen.

Es hatte nicht lange gedauert ihrem Schützling die Grundregeln friedlichen Zusammenlebens durch Gewalt beizubringen. Aber nachdem auch das Geräusch des rieselnden Steins verklungen war, der an der Stelle von der Wand fiel, gegen den sie ihn geschmettert hatte, fand sie sich zwischen drei leblosen Körper wieder. Und einer war seltsamer als der andere gewesen!
Der Meuchler hatte einen ganzen Haufen kleiner Obsidianhände mit sich geführt, als habe er erwartet mindestens zweihundert Geweihte auf der Insel richten zu können. Und der stattliche Henker von Greifenfurt – von dem sogar sie schon Geschichten gehört hatte – hatte sich mit Blut bespritzt wie ein Jungvampir der als Dreijähriger gebissen worden war.

Aber am verstörendsten war die Hexe. Sie hatte – inmitten ihres eigenen Blutes – umringt von erblühten Rosen auf dem Rücken gelegen, ihre dunklen Haare um den Kopf herum aufgefächert. Dies Bild alleine hätte der Borongeweihten durchaus zusagen können. Eine Szene, die vor etwa zwei Jahrhunderten in Vinsalt sicher für tränende Augen gesorgt hätte. Aber nicht nur, dass diese Rosen aus irgendeinem ihr völlig unbekannten Grund noch ihre Wurzeln hatten – noch dazu hatte Zerwas der jungen Frau bei seinem Angriff offensichtlich den Kiefer gebrochen, sodass ihr Gesicht grotesk deformiert ausgesehen und die hübsche Szene vollkommen ruiniert hatte.
Und überhaupt…, schoss es ihr durch den Kopf. Wer trägt denn _nur_ Rot, wenn er auf eine Insel kommt, die das Heim von wenigstens zwei Vampiren ist?

Zugeben musste sie allerdings, dass ihr der Mut der jungen Frau imponierte. Und wenn sie ganz ehrlich war – und tief versteckte Wahrheiten an den Haaren an die Oberfläche zog – dann bewunderte sie auch die Liebe, die sie für diesen toten Mann empfinden musste. Mitten in der Nacht mit Rahjarosen auf einer solchen Insel anlanden und dann nicht einmal einen Zauber gegen den Geliebten zu richten, der einen tierhaft anfiel – so etwas vermochte nur ein wahrhaft liebendes Herz.

Sie öffnete die Augen nur kurz – ihre Laterne war offensichtlich erloschen, während sie nachgedacht hatte – aber die war ohnehin nur Tarnung. Einen echten Nutzen hatte sie nicht.

Den Körper des Meuchlers hatte sie noch an Ort und Stelle dem großen Fluss überantwortet. Wer ihre Geweihtenschaft angreifen wollte, der sollte sich doch mit dem Flussvater oder Efferd selbst herumschlagen. Sie jedenfalls würde sich nicht die Mühe machen, ihn zu begraben. Auch Zerwas hatte sie sich selbst überlassen. Seine Wunden würden heilen und er fände selbst zurück. Nur Neferu – so der Name des Hexenweibes – war tatsächlich in ihre Obhut gekommen. Die Wunde zu schließen war einfach gewesen – aber auch verführerisch. Das Blut dieser Frau hatte anziehend genug gerochen, um ihre Fangzähne hervorspringen zu lassen. Aber im Gegensatz zu dem besinnungslosen Möchtegern-Erzvampir hatte sie sich zu beherrschen gewusst.

Den Kiefer zu richten hatte allerdings ihre Fähigkeiten überschritten. Es war notwendig gewesen, die Rotgewandete durch den Tunnel, der die Insel mit der Stadt verband, in das Haus eines befreundeten Heilers zu schaffen. In seinen Keller – um ganz genau zu sein. Dort hatte die Vampirin sie zurückgelassen. Wohlwissend, dass sie vorerst am Leben, in Sicherheit und in besten Händen war. Auf dem Rückweg war sie gerade rechtzeitig zurück an die Oberfläche der Insel gekommen, um die ersten Versuche des Henkers mitzuerleben, der wieder auf die Füße zu kommen bestrebt war. Sie hatte sich seiner angenommen und ihn in seine Zelle eskortiert, in der er dann gänzlich zu sich gekommen – und vollkommen außer Kontrolle geraten war. Erst die wiederholte Versicherung, dass die Frau, die er liebte, leben würde, hatte ihn zur Ruhe kommen lassen – weit genug jedenfalls, um die Tür anständig zu verrammeln.

Nun, eine gute Stunde später saß sie vor der Statue und betrachtet sie müßig. Es war so schön ruhig gewesen…

Havena 15 (Neferu) (EFF 1013)

Irgendwann war da wieder ein Gefühl. Langsam entstand es, als wär es gerade erst erschaffen worden. Es war Schmerz.
Gemeinsam mit ihrem Bewusstsein, ihrer Wahrnehmung drang der Schmerz unerbittlich auf sie ein, wurde stärker – je mehr sie sich selbst wiederfand. Ein dumpfes, spitzes Pochen.
Trotz oder gerade wegen ihres benommenen Zustands musste sie an Zwerge in einer Binge denken. Erzhackende Zwerge mit langen Bärten und roten Nasen.
Entweder man hatte ihr irgendetwas Linderndes verabreicht oder ihr Körper setzte sie auf natürlichem Wege unter Drogen.
Sie lachte innerlich, als sie an die kleinen Männer im Stollen dachte, die ihre fiesen kleinen Spitzhacken geradewegs in ihren Schädel trieben und Bier auf ihr verkleckerten.

Kaum dass sie unfreiwillig einen Wangenmuskel bewegt hatte, musste sie einsehen, dass eigentlich gar nichts zum Lachen war.
Ihr Gesicht fühlte sich kaum mehr wie ihr Gesicht an.
War es noch da? Hatte er es zerschmettert, zerrissen? Lebte sie noch?
Sie hatte die Augen geöffnet und sah doch nichts, nur Schwärze.

Sie wollte die Rechte hastig erheben, nach ihrem zerschundenden Gesicht greifen. Ertasten, ob noch etwas von dem Spiegelbild vorhanden war, das sie kannte.
Sie vermochte es gerade einmal, mit drei Fingern schwächelnd zu zucken.
Zerwas hatte sie geleert wie einen Krug Meskinnes. Woher hatte sie mit einem Male diese alkoholischen Assoziationen?
Blöder Blutsauger.. schoss es träge durch ihren lädierten Geist.
Definitiv… Man hatte ihr etwas verabreicht. Mohn vielleicht. Oder Premer Feuer.
Wieder ein benebeltes Kichern in ihren Gedanken, das sie nur mühsam daran hindern konnte, an die Oberfläche zu glucksen.

Trotz des quälenden Schmerzes überraschte es sie, dass sie sich nicht schlecht fühlte.
Sie hatte geglaubt, wenn der Mann – das Monster – das durchaus liebenswert war, versuchte sie zu töten, fiele sie in ein elendiges Loch aus Verzweiflung, dem Gefühl von Verrat und tiefer Enttäuschung.
Aber nichts von alledem konnte sie in sich finden.
Da war nur Wärme… Wärme und Schmerz. Der rein körperlich blieb. Keine Sorge belastete ihr Gemüt, keine Angst hielt sie gefangen.
Sie konnte frei atmen. Auch wenn sie weder sah, noch hörte, noch roch.
War sie letzten Endes doch tot?
Der Gedanke beunruhigte sie nicht weiter. Wenn das Borons Hallen waren, dann hatten sich all die Kuttenträger handfeste Meineide geleistet.
Dann war der Tod beschissen, denn er tat genauso weh wie das Leben.

Die emsigen Angroschim in ihrem Kopf sangen ein Lied.

Havena 14 (Neferu) (EFF 1013)

Sie lag schneller unter ihm, als sie einen sinnvollen Gedanken fassen konnte.
Das vertraute Gesicht über ihr – den Bruchteil eines Moments nur – und sie erkannte in seinem raubtierhaften Blick, dass er ein Jäger war. Ein Geschöpf des Instinkts. Ob er sie überhaupt erkannte?
Er sah sie nicht an, nur die Seite ihres Halses. Und ohne Zögern durchstachen die Spitzen seiner Zähne unsanft ihre Haut und vergruben sich hemmungslos in ihrem Hals. Der Schmerz war immens – ihr traten Tränen in die Augen, als wilde Panik und Entsetzen in ihr losbrachen.
Nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich hilfloser gefühlt, kleiner, ausgelieferter.
Sie hatte vergessen auch nur an die Macht eines Zaubers zu denken, an den Dolch an ihrem Gürtel oder das Greifenamulett um ihren Hals.
Sie schrie erstickt in Todesangst auf. Mehrfach. Die fahrig ungezielten Hände drückten und schlugen gegen den schweren Leib des ausgewachsenen Mannes, der gierig über ihr war und wie ein Besessener das Leben aus ihr heraussaugte.

Wie sehr sie sich auch bemühte, sein Griff war wie eine Schraubzwinge. Sein Biss der eines Blutegels.
Über ihr leuchteten spöttisch die Sterne, klar und kalt.

Er war ihr so nahe, wie es ein einstiger Wunsch gewesen war.
Eine Nähe zu der es nie gekommen war.
Das lange, schwarze Haar des Vampirs lag wie ein Vlies über ihr, wie ein seidiges Leichentuch.
Seine kühle Wange schmiegte sich an die ihre, während sie sich vergeblich unter ihm wandt. Sollte sie hier sterben? Auf einem Boronsanger?
Nein! Sie biss mit einer ruckartigen Kopfbewegung zu. Die nahe Haut des Mannes bekam die Stärke ihres Kiefers zu spüren.
Sie schmeckte den metallischen Geschmack von Blut in ihrem Mund, ließ nicht los – wollte die Muskeln zerteilen, die sie zwischen ihren Zähnen spürte. Ihn zur Besinnung rufen,… ihn erinnern!

Er bäumte sich in einer kraftvollen Bewegung seines Oberkörpers auf.
Sie behielt kaltes Fleisch in ihrem Mund zurück, starrte ihn an. Ihr Blick verschwamm, war undeutlich – sie hatte zuviel Blut verloren.
Wo war das Band zwischen ihnen, an das sie so fest glaubte? Hatte sie ihn aus seiner Raserei zurückgeholt? War er wieder er?
Er nahm sich nicht die Zeit sein Opfer anzusehen. Noch während seine Unnatürlichkeit die entstandene Wunde schloss, holte er aus und hieb mit aller Macht seines Arms zu, sein Schlachtvieh ruhigzustellen.
Ihr Kopf ruckte zur Seite, als er sie genau dort traf. Ein gefährliches Knacken von Knochen, der Geschmack von frischem Blut in Mund und Nase. Ihr eigenes Blut. Sie konnte keinen Atem mehr holen! Zeitgleich dämmerte ihr Verstand und versank im Nichts, als sich ihre Augen verdrehten.

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