Schwarze Studien

Kuslik 1 (Salpico) (TRA 1014)

Ein Botenreiter erreicht am Nachmittag eines Tages im Travia des Jahres 1014 BF das Redaktionshaus des Hesindespiegels in Kuslik. Bei sich trägt er einen ledernen Botschaftenbehälter, dessen Deckel mit einem siegellosen Stück Wachs verschlossen wurde. Die Übergabe der Sendung wird von keinerlei weiteren Hinweisen begleitet. Nach Öffnung des Behälters allerdings präsentieren sich dem geneigten Leser gleich zwei Schriftwerke in schwarzer Tinte. In dem ersten – offenkundig einem Begleitschreiben – findet sich Folgendes.

„Geschätzte Herausgeber des Kusliker Hesindespiegels,

Ich wende mich an Euch, um einem Themenbereich Geltung zu verschaffen, der meiner Ansicht nach sowohl in der Lehre als auch in der praktischen Arbeit junger Magier deutlich zu kurz kommt. Zu oft verkommt unsere Kunst zum Selbstzweck an den Höfen der Adeligen oder gerät unter die Knute älterer und wohlhabenderer Magier. Mit dem beiliegenden Traktat möchte ich das Interesse jüngerer Kollegen auch an von der Lehrmeinung als abwegig eingestufte Forschungen wecken und stärken.

Zu diesem Zweck beschäftigt sich der Tractatus Temporalis mit der Erforschung temporaler Phänomene und versucht aufzuzeigen, welchen Nutzen die Forschung auch in phantastischen Dimensionen ihr eigen nennt.

Wissen ist Macht
Adeptus Salpico Monterey

Das zweite Schriftstück ist ungleich länger und lautet wie folgt.

 

 

Tractatus Temporalis – Erster Teil


Betreffend die zaubermaechtige Wirkung des Eisenrost und Patina

Von Adeptus Salpico Monterey, Halle der Geister zu Brabak
Gegeben zu Gareth im 1013ten Jahre nach dem Untergang Bosparans

Der ungewoehnlichen Wahl des Themas wegen will ich mich dem geneigten Leser kurz erklaeren. Die Reihe Tractatus Temporalis – und hier insbesondere ihr erster Teil – markiert den Wendepunkt meiner Forschungen. Bisherige Ergebnisse auf dem Gebiet der Temporalmagie waren stets das Produkt zufaelliger Beobachtungen oder Aufeinandertreffen.
Nun aber ist es an der Zeit sich der Forschung ernsthaft zu widmen. Das Tractatus Temporalis soll dabei zugleich Forschungsbericht, Erinnerung und Ansporn sein. Zugleich ist jedem Mitglied der drei Gilden bekannt wie prekaer der Umgang mit der Magie der Zeit ist und welche immensen Gefahren jemand auf sich nimmt, der ernsthaft Satinav selbst die Stirn zu bieten versucht. Auch wird diese Spielart der Magika in vielerlei Landen als Frevel sogar als Ketzertum betrachtet.
Um daher weder meine eigene Forschung zu sabotieren, indem ich es Nachahmern allzu einfach mache meine Ergebnisse zu nutzen, noch unnoetig den Unmut der zwoelfgoettlichen Kirchen zu wecken, sind die hier praesentierten Ergebnisse lediglich beschnitten. Sie werden meinen Fortschritt zwar skizzieren, ein wahres Portrait – um im Rahmen kuenstlerischer Metaphern zu bleiben – werde ich aber nicht liefern.
Mir ist vielmehr daran gelegen meine werten Collegae mit dieser Schriftenreihen zu ermutigen. Zu ermutigen ihre Forschungen auch ungewoehnlichen und nuetzlichen Forschungsgebieten zuzuwenden. Wenn man den Meinungen und Spezialgebieten anderer folgt, dann kommt man sicher ans Ziel, aber wahre Wunder wird man nur erleben, wenn man eigene Fußabdruecke hinterlaesst – und nicht in denen anderer wandelt!
Bei meinen vorhergehenden Studienreisen und Forschungsansaetzen waren mir nur wenige Menschen eine Stuetze und wahre Hilfe. Um ihre Muehen nicht zu unterminieren, will ich ihnen das Leben nicht erschweren, indem ich ihre Namen nenne. Moegen die Goetter ihre Leben und Seelen gnaedig betrachten.

Introduktion
Die Matrix des so genannten Eisenrost und Patina ist seit Jahrzehnten bekannt. Sie kursiert in den Kreisen der Gildenmagie, sowie unter Druiden und auch Schelmen. Ihr Hauptanwendungszweck ist in diesen Zeiten eine Demonstration magischer Macht. Die Vernichtung von eherner Wehr, von Schloessern oder solcherlei mehr.
Tiefergehende Untersuchungen sind ob des offensichtlichen Erfolges bisher ausgeblieben. Vielfach wird in Forschungsberichten und Feldstudien darauf verwiesen, dass jedem Gegenstand auch die Kraft seiner eigenen Vergaenglichkeit inne wohnt. Eine Kraft die den Verfall eines jeden Materials unaufhaltsam aber schwach und oft langsam vorantreibt und es schließlich zur Gaenze vergehen laesst. Der Eisenrost und Patina – so die verbreitete Ansicht – laesst diese Kraft nun anschwellen und ihre Wirkung staerker und weitaus schneller voranschreiten, sodass der Effekt mit bloßem Auge sichtbar und bald beendet wird. Das Material wird so aus sich selbst heraus vernichtet.

Meiner Ansicht nach ist diese Sichtweise zu kurz gedacht. Sie misst sich an der Annahme, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Sie formuliert eine These, die sie sodann aber weder beweist noch widerlegt. Stattdessen werden Beobachtungen, die nicht zu der gewuenschten Erkenntnis passen einfach ignoriert, waehrend schwache Indizien als Beweis gewertet werden.
Das, verehrte Collegae, ist keine belastbare Forschung! Das ist Geschichten erfinden, weil sie einem gefallen!
Dieser Aufsatz soll nun mit dem Auftrag ausgestattet sein, sich der pseudowissenschaftlichen Narretey entgegen zu stemmen und die Wahrheit ueber die Macht hinter der genannten Thesis offen und fuer alle Mitglieder unseres Standes erkennbar zu formulieren.

Vom Wesen der Zeit
Meine Erkenntnisse beruhen auf verschiedenen Faktoren. So habe ich zum einen empirisch gearbeitet, zum anderen aber philosophisch. Erst gemeinsam ergibt sich auf diese Weise eine Gesamterkenntnis, die meiner Ansicht nach verstaendlich und unumstoeßlich ist. Es ist daher von wesentlichem Wert zunaechst die philosophische Seite meiner Forschung zu verstehen.

Zeit ist ihrem Wesen nach nicht starr. Wechsel und Veraenderung sind ihr Wesen, sie sind es, was Zeit ausmacht, was sie fuer uns lebendige Wesen erst erfahrbar macht. Dabei ist Zeit aber nicht immer zerstoererisch. Vielmehr ist Zeit ihrem Kern nach ueber alle Maßen neutral. Sie betrifft jeden, bringt Tod, aber auch Leben. Sie nimmt ein Heim, wenn es zerfaellt, gibt aber auch eines, wenn der Baufortschritt sichtbar wird.

Aber all das tut sie nicht schlagartig. Merkmal einer temporalen Veraenderung ist, dass der Betroffene oder das betroffene Ding verschiedene Stadien der Veraenderung durchlaeuft. Ein Mensch wird geboren, waechst und wird reifer, ueberschreitet seinen Zenit, wird wieder kleiner und stirbt. Aber ohne Einwirkung von außen wird man nicht sehen, dass ein Mensch in seinem Zenit ploetzlich schlagartig runzelig und klein wird, um dann zu sterben.
Schlussendlich bleibt daher in diesem Abschnitt zweierlei festzuschreiben:

Ad primum: Zeit ist ein Kontinuum, werte Collegae. Sie schreitet voran, macht aber keine Saetze. Stets ist ein Ablauf zu beobachten, niemals eine ad hoc Veraenderung.

Ad secundum: Zeit hat Macht ueber jeden. Selbst jene, die sich unsterblich nennen, muessen anerkennen, dass die Zeit ihre Welt und ihre Ansichten zu aendern vermag.
Gerade ersteres ist konkret wichtig fuer meine Forschungen gewesen, wenn sie in diesem Fall auch nicht lange brauchten und waehrend meiner Reisen oder kurzer Aufenthalte in Staedten getaetigt wurden.
Eisenrost und Patina – Feldstudie

Nachdem die philosophische Betrachtungsweise erlaeutert wurde, will ich zu den Beobachtungen und Methoden meiner Empirie schreiten.
Fuer eine Testreihe habe ich mir zunaechst guenstige Gegenstaende aus Metall besorgt. Gebrochene Naegel, Schmiedeabfall oder alte Hufeisen. Sodann habe ich damit begonnen die kleinsten der Gegenstaende mit derselbigen Zauberformel zu besprechen.
Kleinere Proben, wie beispielsweise Nagelreste zerfielen dabei innerhalb von Sekunden. Ihre Aufloesung ging derart schnell von statten, dass eine Beobachtung zwar erfolgen konnte, allerdings wenige sichtbare Ergebnisse brachte. Einzig eines war bemerkenswert: Von den vernichteten Metallteilchen blieb stets ein Haeufchen Eisenoxid zurueck.

Dies war bereits ein erster Hinweis auf weitere Beobachtungen. Metalle, die zerschlagen werden, hinterlassen oft Splitter oder brechen nur an einer Stelle – lediglich altes Metall, dass laengere Zeit der Witterung und den Hoernern Satinavs ausgesetzt war, beginnt zu oxidieren. Dies allerdings wuerdet Ihr werte Collegae – mit Recht – bestenfalls als Indiz klassifizieren. Eine bloße Speculatio – kein Beweis.

Als ich mit meinen Studien fortfuhr, bemerkte ich eine weitere Besonderheit. Zwar zerfielen auch Hufeisen sehr bald, allerdings dauerte des dennoch laenger als bei Eisenspaehnen oder Nagelteilen. Fuer diesen Umstand gab und gibt es nur eine einzige Explanatio!

Die Dauer der Vernichtung eines Gegenstandes haengt von seiner Masse ab!

Diese Erkenntnis bereitete den Weg fuer weitere Forschungen. So besorgte ich mir Barren des Eisens, sowie groeßere Gegenstaende. Ein Schloss, sowie eine Metallschatulle waren ebenfalls Teil neuer Versuche.
Und tatsaechlich – ich sah‘ meine Vermutung bestaetigt. Je groeßer das Ziel des Cantus‘ war, desto laenger dauerte die schlussendliche Vernichtung. Und desto besser war der genaue Vorgang zu beobachten.
Die Metallbarren begannen sich zunaechst mit einer Patina zu ueberziehen, ehe sie in Windeseile zu oxidieren begannen. Dabei war gut zu beobachten, dass der Prozess – ganz wie in Natura – von außen nach innen verlief und stetig fortschritt, bis am Ende erneut das erwaehnte Haeufchen oxidierten Metalls als letzter, stummer Zeuge einstiger Pracht blieb.
Diesen Vorgang zu reproduzieren erwies sich als erstaunlich leicht. Zwar aenderten sich die Beobachtungen abhaengig vom Wesen des Gegenstandes der betrachtet wurde (so brachen Schwachstellen eines Schlosses selbstverstaendlich vor dem Rest seines Corpus unter der Last des Zaubers), im Allgemeinen aber blieb der Fortschritt der Vernichtung stets demselben Ablauf unterworfen.

Um nun ganz sicher zu gehen, galt es eine andere Perspektive einzunehmen. So geriet ich unlaengst unverhofft in den Besitz eines antiken Dolches, der mir selbst lieb und teuer ist. Dennoch – oder gerade deshalb – sollte er mir dienlich sein, um meine Erkenntnisse abzurunden.
Von einem lokalen Schmied ließ ich Kratzer in der Klinge vornehmen. Wichtig war: Sie wurden nacheinander beigebracht und waren deutlich voneinander unterscheidbar. Die Reihenfolge notierte ich mir gewissenhaft.

Darauf erfolgte die Anwendung des reversalisierten Eisenrost-Cantus auf die nunmehr beschaedigte Klinge. Die Beobachtung war die Folgende:
Die beschaedigte Klinge begann scheinbar wie von selbst die Kratzer und Kerben, die der Schmied geschlagen hatte zu beseitigen – in umgekehrter Reihenfolge! – ehe sie andere, kleinere Makel ausmerzte und schlussendlich in ungekannter Sauberkeit und Perfektion vor mir lag.

Conclusio
Der geneigte Leser der mir bis hierhin folgen kann wird sicherlich seine eigenen Schluesse gezogen haben. Auch, weil sie offenbar vor uns ausgebreitet sind.
Die bisherige Annahme ueber die Wirkweise des Zaubers muss davon ausgehen, dass jedem Gegenstand sowohl eine destruktive als auch eine kreative Kraft inne wohnt. Der Eisenrost und Patina – so die verbreitete Annahme – verstaerkt die destruktive Kraft, sodass der Zielgegenstand vergehen muss.

Hierbei aber tritt eine Ungenauigkeit zutage. Niemand kaeme doch auf die Idee zu einer verwitterten, alten Scheune zu sagen, sie sei „zerstoert“. Der Sprachgebrauch bestimmt dabei, dass eine Zerstoerung durch aeußere Einfluesse eintritt, die sehr rasch handeln. Ein Feuer beispielsweise oder eine Ramme.

Der Prozess, der hier zu beobachten ist, stellt aber keine ad hoc-Zerstoerung dar. Die Gegenstaende brechen nicht oder platzen. Sie altern. Das ist der einzig logische Schluss, der in Kombination der philosophischen Betrachtung des Problems mit den Beobachtungen ergeben darf.
Das Vergehen des Gegenstandes erfolgt in einem Kontinuum und auf eine Art und Weise, die nur der Zeit zu eigen ist: Er rostet und gibt schließlich nach. Bei groeßeren Gegenstaenden kann man dem Fortgang sogar zusehen.
Und dabei soll es nicht bewenden! Ebenso waere anzunehmen, dass der reversalisierte Versuch eine sofortige Besserung eintreten laesst, soll der Zauber doch lediglich die kreative Kraft des Gegenstandes anregen. Mehr noch: Es muesste dann sogar im Bereich des Moeglichen sein, dass der Gegenstand ueber seinen Urzustand hinaus waechst – vielleicht sogar einem gaenzlich anderem Zustand zustrebt. Das ist das Wesen der Kreativitaet – Neuschaffung!

Tatsaechlich aber erfolgt eine chronologisch korrekte(!) Aufwertung des Gegenstandes bis zu maximal seinem Ausgangszustand zurueck!
Damit bleibt endgueltig festzuhalten: Der Eisenrost und Patina ist mitnichten, wie es die bequemen Forscher unserer Zeit zu glauben wussten, weil es die einfachste Erklaerung war ein stumpfer Zerstoerungscantus. Kein besserer Hammer fuer die gebildete Schicht des Landes!

Der Eisenrost und Patina ist nicht mehr und nicht weniger als leibhaftige Temporalmagie! In seiner Wirkweise beschleunigt er die Zeit um den betroffenen Gegenstand herum, bis Satinavs Hoerner alles von ihm abgeschabt haben, was ihn ausgemacht hat!

Offen bleibt, warum dieser Effekt lediglich bei Metallen oder – weiter gefasst – nur bei unbelebten Gegenstaenden auftritt. Es ist davon auszugehen, dass der Thesiskern auf solche Weise modifiziert werden kann, dass er sich auch auf andere Materie, wie auch auf lebende Wesen auszuwirken im Stande ist. Fakt ist dabei, dass gerade echsische Magier in ihrer Erkenntnis geradezu beschaemend viel weiter sind als wir!
Ich schließe daher mit der Aufforderung an alle Collegae und Studiosi sich keinesfalls auf den Erkenntnissen vergangener Generationen auszuruhen. Wissen ist Macht! Keinesfalls darf man aufhoeren danach zu streben, noch – moegen die Goetter bewahren – an Wissen verlieren. Wendet euch Forschungen zu, die obskur erscheinen! Greift nach Themen, die euch interessieren und vielversprechend sind. Redet mit den alten und wirren, den ausgestoßenen. Seid dabei nur einer Sache stets sicher: Achtet darauf, dass ihr kontrollieren koennt, was ihr erfahrt. Jede Macht der Welt ist gefaehrdet, wenn es eine groeßere Macht gibt, die sie vernichtet – schlimmer noch – die alles vernichtet!

Salpico Monterey
Adeptus der Bruderschaft der Wissenden

Gareth 26 (Salpico) (RON 1014)

Als er vor die Tür trat atmete er erst einmal tief ein. Es war noch früh am Morgen, die Sonne hatte noch nicht geruht in die Schatten der Schnittengasse hinab zu steigen und dennoch war es nicht ruhig. Obgleich die Straße, die der Magier hinab sah von nur wenig Menschen bevölkert war, so drangen doch aus anderen Gebieten der Stadt von den größeren Straßen her die Geräusche des Lebens auf ihn ein. Ohne jedes Anzeichen von Eile nahm Salpico sich einen Moment, um den Eindruck wirken zu lassen. Man nahm die Geräusche und einzelne Blickwinkel sehr viel genauer wahr, wenn man das tat. Es waren Momente an die man sich Jahre später noch erinnerte. Mit denen man auch dann noch ein Gefühl verband.
Solche Momente waren wichtig – umso wichtiger, wenn man ein langes und gefährliches Leben führte. Wenn man in der Lage sein wollte die Gesundheit seines eigenen Geistes auch dann noch zu erhalten, wenn die Welt um einen herum einen radikalen Wandel durchlief. Soviel hatte sein Mentor ihm unwissentlich bereits beigebracht und er wollte verdammt sein die Fehler des alten Mannes zu wiederholen, wenn er es denn vermeiden konnte.

Ein kurzer Blick über die Schulter zum Haus zurück zeigte ihm die Fassade hinter der er nun wieder lebte. Nun, da er aus Fasar endlich nach Gareth zurückgekehrt war. Die Fassade hinter der Sjören Vanderbloom sich mit ihm eine Wohnung teilte.
Langsam setzte er sich in Bewegung und folgte der Straße nach Westen. Die letzten Wochen waren voller neuer Erkenntnisse gewesen: Seine Sterblichkeit war ihm schmerzlich bewusst geworden, als er hilflos unter der attackierenden, brennenden Mumie gelegen hatte. Ohne seine Begleiter hätte Boron sich an diesem Tag seiner Seele bemächtigt. So erschreckend dieses Wissen war, so formend war es doch gewesen. Prioritäten hatten sich geändert, er hatte eine neue Seite an sich entdeckt – den Stolz – und er hatte erkannt, was seine Zukunft ausmachen sollte.
Aus seiner jetzigen Position heraus hatte er sich in einigen schlaflosen Nächten Gedanken gemacht, deren Ergebnisse er nun bewahrte.

Erstens: Er würde leben – und zwar nach seinen Wünschen. Dazu war es notwendig Entscheidungen zu treffen, die seinen Charakter festigen und formen würden. Entscheidungen wie die, sich von der Totenbeschwörung endgültig abzuwenden. Leichen zu erheben mochte in Notsituationen nützlich sein, aber es hatte sich als nicht alltagstauglich erwiesen. Zweifellos war das Detailwissen wertvoll – und sei es nur, weil er in seinen Lehrjahren viel über die Anatomie der Lebenden erfahren hatte. Und diese Lehrjahren waren es, die ihn in Form von Schulden noch immer verfolgten. Sie zu tilgen bedeutete einen Schritt hin zu der persönlichen Freiheit nach der er strebte.

Zweitens: Es gab Menschen, die waren wichtiger als andere. Das auszusprechen hätte vermutlich Empörung bei seinen Mitbürgern hervor gerufen, aber niemand konnte widersprechen ohne zu lügen. Und man musste sich zu jeder Zeit in seinem Leben bewusst sein, wer diese Menschen waren. In Gefahrensituationen galt es schnell und effektiv zu ihrem Schutz zu handeln. Neferu und ihre Familie gehörte dazu, Richard und auch sein Mentor. Vanderbloom ebenfalls. Von letzterem wusste er wo er sich befand. Was die anderen anging so war das nicht der Fall – das musste sich ändern.

Drittens: Er war ein stolzer Mensch. Was nicht meinte, dass er arrogant war – jedenfalls nicht offen. Vielmehr betrachtete er seine eigene Würde als unantastbar für Außeneinwirkungen. Sollte ärgerlicherweise der Fall eintreten, dass ein solcher externer Einfluss doch an seiner Würde kratzte, so war es notwendig und angemessen dieses Geschehen sofort aufzuhalten und wenn möglich umzukehren. So lächerlich es erscheinen mochte – das aktuellste Ärgernis war das antike Kleidungsstück, das sein Mentor ihm geschenkt hatte und das ein Opfer der Flammen geworden war. Seine Reste zu restaurieren war eines der vordringlicheren Ziele.

Viertens: Selbstbewusstsein war ein wichtiger Punkt jeder herausragenden Persönlichkeit, die als solche wahrgenommen werden wollte. Es war daher notwendig nach den eigenen Stärken und Schwächen zu forschen und sie auch dort zu finden, wo man sie nicht erwartete. Eines dieser eher überraschenden Talente hatte er erst kürzlich in Fasar entdeckt. Bei einer Operation am offenen Hirn hatte er erstaunliche Kunstfertigkeit bewiesen – auf einem Gebiet, das sich die Menschen besseren Standes einiges kosten ließen: Gesundheit.
Zu seinem Unglück beherrschte er lediglich die Wundbehandlung, wenn auch sehr gut. Was bedeutete, dass er sich eingehender mit der Behandlung von Krankheiten beschäftigen musste, um einen Wert für die Gesellschaft zu erhalten, die ihm einen Lebensunterhalt und auch die Verfolgung seiner Pläne langfristig garantierte.

Er bog auf die Puniner Straße ein und begann ihr nach Süden zu folgen. Da die Häuser von Nef wie auch von Rychard am gestrigen Abend leer gewesen waren, war es notwendig geworden das aktuelle Ziel zu korrigieren. Die Zeit bis zur Rückkehr der Hexe würde er damit verbringen jemanden zu finden, der ihn in die Kunst der Krankheitsbehandlung würde einweisen können. Aus den Erzählungen und Erfahrungen Neferus wusste er von einer Medica, die nahe am Puniner Tor eine Art Praxis betrieb. Sie war sein Ziel. Indem er ihr Hilfe anbot war es vielleicht möglich von ihrem Wissen zu profitieren. Wenigstens weit genug, um eine soldige Grundlage zu schaffen auf der er selbst während eigener Behandlungen weiter lernen konnte, worauf es zu achten galt. Davon abgesehen hatten die Echsen nahe Brabak ihm bereits einen gewissen Einblick gewährt.

Auf dem Platz vor dem Puniner Tor hielt er noch einmal inne, um den Anblick der wehrhaften Anlage in sich aufzunehmen. Seine Schulden zu tilgen war im jetzigen Augenblick möglich ohne seine eigene Barschaft endgültig zu erschöpfen. Außerdem hatte er die Erlaubnis Sjörens. Allerdings galt es danach rasch an gutes Gold zu kommen. Aus mehreren Gründen. Zwar war die Handlungsfreiheit nach Abzahlung seiner Ausbildungsschulden von einiger Relevanz, aber es gab noch andere Prioritäten für die das Edelmetall notwendig war.
Die Erste und Wichtigste davon war das Gestüt zu gründen. Nur mit ihm war es möglich weiteres Geld zu generieren, ohne seine ganze Lebenszeit hinein zu stecken.
Mit diesem Geld wollte sodann ein Zweitstudium der Heilung für Vanderbloom bezahlt sein – das Stipendium war Salpicos Versprechen an den liebgewonnenen Freund geworden, nachdem der seine Kräfte derart strapaziert hatte, um das Äußere des Adepten wieder zu dem zu machen was es einmal war.
Von dem was dann noch über war, sollten zunächst vier weitere Personen profitieren: Abdul Rethag, Tair, Mohammed und Lawin. Jeder dieser vier hatte entweder sein Leben für das seine in die Waagschale geworfen oder sein Leben auf andere Weise gerettet. Und es war ihm wichtig ihnen – und der Welt – zu zeigen, dass er das nicht auf die leichte Schulter nahm. Es war daher unausweichlich sie noch einmal zu entlohnen – oder in Abduls Fall anzustellen.

Ja, Loyalitäten waren wichtig. Sie bedeuteten Sicherheit, Ruhe und – ein Zuhause. Ein Zuhause wie das, was er aus dem Mittelreich zu machen gedachte. Hier im Kern des Reiches würde er leben und wirken. Natürlich würde er es verlassen um zu lernen, zu wachsen und zu helfen. Aber er hatte vor immer wieder hierher zurückzukehren. Aber dafür galt es seinen frommen Gedanken auch Taten folgen zu lassen.
Mit diesem Wissen setzte er sich wieder in Bewegung und hielt auf die Heilerstube zu.

Brabak 1 (Salpico) (TSA 1013)

Mit einem tiefen Ausatmen schob der Adept die Tür hinter sich ins Schloss und wandte sich dem Raum zu, den er gerade betreten hatte. Die Gästekammer spiegelte auf wenigen Rechtschritt alles wider, was die dunkle Halle der Geister ausmachte. Keine Fensteröffnung durchbrach die massiven, dunklen Steinwände des Raumes. Es war kalt und roch ungesund muffig und nach Schimmel.
Nach einem Augenblick in dem er sich selbst im Stillen für seine klamme Barschaft verfluchte, ließ er die Tasche, die er als Gepäck mit sich führte auf den Boden fallen. Dann entsandte er einen geistigen Befehl in den langen Stab in seiner rechten Hand. Nur den Bruchteil einer Sekunde später war die blaue Kugel an seinem Ende in bläuliche verzehrend flackernde Flammen gehüllt, die unheimlich tanzende Schatten an die Wände warfen.

Aus der tiefen Dunkelheit des Raumes erhoben sich die Umrisse einiger Möbelstücke. Links von der Tür befand sich eine zweiteilige Kommode, deren Holz schon auf diese Distanz aufgeweicht und morsch wirkte. Gleich rechts daneben stand ein Schreibtisch, auf dem sich eine herunter gebrannte Kerze und ein eingetrocknetes Tintenfässchen samt altersschwacher Feder befanden. Die Sitzgelegenheit davor bestand aus einem seltsam geformten Stuhl, dessen größter Teil aus Brabaker Rohr, etwas Holz und viel gutem Glauben zu bestehen schien. Dahinter, gleich in der Ecke des Raumes stand ein winziges Regal, auf dessem obersten Brett eine Blume dahin geschieden war. Für einen Moment fragte Salpico sich, ob das eine Aufforderung zur Wiederbelebung sein sollte oder ob die Geste nicht dem verschrobenen Humor der Magister entsprungen war.
Dann richtete er den Blick nach rechts. Nahe der Tür stand dort ein kurzes Bett, das ebenso wie der Rest des Mobiliars bessere Zeiten gesehen hatte. Daran schloss sich ein Rechtschritt freien Platzes an, auf den ein Stehpult folgte, das bereits direkt an der Wand stand.
Zwischen dem Stehpult und dem Eckregal, gleich an der Stirnseite des Zimmers lag, kalt und vergessen, ein ausladender Kamin. Auf seinem Sims standen einzige Kerzen – ebenfalls schon älter.
Über der Feuerstelle seines Gästezimmers war eine Holzplatte angebracht, die zu ihrer Zeit sicher teuer gewesen und mit einem Schutzkreis beschnitzt worden war. Wie so vieles in den finsteren Tiefen der Akademie. Den krönenden Abschluss bildete ein farblos gewordener Tulamidenteppich auf dem Boden.

Im Licht seines Stabes ließ der Adeptus Minor sein neues Heim auf sich wirken. Der ganze Raum hinterließ den faden Beigeschmack von zuviel Schminke auf einem verlebten Gesicht. Mit einem Schulterzucken durchquerte er das Zimmer und beugte sich vor, um die Flammen seines Stabes in das im Kamin aufgestapelte Holz zu schieben. Der Raum war allemal besser als die Scholarenquartiere, die er hier beinahe ein Jahrzehnt lang bewohnt hatte. Aber etwas Licht und Wärme würden in keinem Fall schaden.

Kurze Zeit später brannten alle Kerzen, die an der Wand oder auf verschiedenen Regalbrettern verstreut zu finden gewesen waren und in der breiten Kaminöffnung leckten unpassend fröhliche Flammen an den Scheiten. Ohne rechte Eile kehrte die Wärme in das Gemäuer zurück.
Der Magier lehnte an dem Kamin und genoss die Wärme, während er den hölzernen Bannkreis betrachtete. Gleich davor auf dem Sims standen zwei Kerzenhalter von jeweils drei Kerzen. Mit der leeren Stelle zwischen ihnen hinterließ die Szenerie den Eindruck eines Schreines, den jemand seines Heiligtumes beraubt hatte.
Ohne weiter über den Grund nachzudenken, wandte Salpico sich um und öffnete die Tasche, die er bei sich getragen und die inzwischen ihren Weg auf den Schreibtisch gefunden hatte. Aus ihren tiefen zog er einen Zierdolch hervor, dessen Scheide mit Blau und Gold verziert war. Kurz unter dem Heft zeigte sie ein Wappen, das ihm weder etwas sagte, noch ihn weiter interessierte. Sobald er die Zeit und das Geld dafür hatte, würde er es gegen das von Brabak oder Gareth austauschen lassen.
Mit ruhiger Hand platzierte er die Waffe zwischen den Kerzenhaltern unter dem Zentrum des Bannkreises und trat einen Schritt zurück. „So“, befand er, „sieht es doch gleich sehr viel weniger, wie ein Greis mit Zahnlücke aus.“

Einen Augenblick sah er in das Feuer hinab. Was sollte er jetzt tun? Er war schon vor einigen Stunden in der Akademie angelangt – am Vormittag, mitten in der Zeit der Studien. Ihre Spektabilität Terbysios – eine Frau um die 50 mit einem Charme, der diesem Zimmer um nichts nachstand – war wider erwarten selbst mit der Unterweisung von Scholaren beschäftigt gewesen und so hatte er warten müssen. Als sie dann schließlich Zeit gefunden hatte mit ihm zu reden, hatte er sich erst einmal dafür rechtfertigen müssen, warum er mit drei Tagen Verspätung eingetroffen war. Und obgleich er argwöhnte, dass seine Ausrede vergleichsweise sparsam gewesen war, hatte ihre Spektabilität nicht weiter nachgehakt, sondern war schlicht auf den Grund seines Daseins zu sprechen gekommen.
Das Wissen und die Macht, die er im Gegenzug für eine Teiltilgung seiner Schulden der Akademie gegenüber angeboten hatte, mochte mehr wert sein, als er vermutete, wenn Demelioë ihn derart leicht vom Haken ließ – aber sei’s drum. Jedenfalls waren nach der Besprechung seine Unterrichtsvorbereitungen einbehalten worden, weil Demilioë sie prüfen wollte. Den Beginn seiner Unterweisungen hatte sie auf den nächsten Tag verschoben. Jetzt war es gegen Mittag – auch wenn die Tageszeit innerhalb der stets finsteren Akademie schwer zu bestimmen war – und er hatte nichts zu tun.

Kurz erwog er in den Konventssaal hinab zu gehen und nachzusehen, ob Kaspar Eulertin – ein alter Klassenkamerad und inzwischen Magister Minor – dort war. Obgleich Kaspar alles, einschließlich nachgezogener Augen, gepuderter Hautblässe und (sicherlich gefärbten) langen schwarzen Haaren, dafür getan hatte wie das abgeschmackte Klischee eines Schwarzmagiers auszusehen, mochte Salpico ihn. Kasper war schon früher stets nett zu ihm gewesen. Und die herzliche Begrüßung am Morgen ließ vermuten, dass sich daran nichts geändert hatte.
Nur, dass dem Magister heute die Blicke der Schülerinnen folgten war wenig erbaulich. Rasch schüttelte der Nekromant den Kopf. Kaspar war nett, aber er sagte und tat immer dieses Quäntchen zu viel. Er konnte von Glück sagen, dass er sich nicht schwerpunktmäßig mit der Alchemie beschäftigte.

Magistra Zeforika, seine ehemalige Mentorin war wesentlich angenehmer. Sie war bekennende Borbaradianerin, offen, konnte gut zuhören – und war sicher im Unterricht. Damit blieb noch Pôlberra, dessen Unterricht er heute Morgen gestört hatte. Der ehemalige Geweihte und Kultist war mit „misanthropisch“ noch zurückhaltend beschrieben. Er bespuckte, kratzte und würgte seine Schüler, legte sich mit jedem, aber auch wirklich jedem an, der sich in seine Belange einmischen wollte und verfluchte Störenfriede mit einer Kunstfertigkeit, die jeden Seemann und Kesselflicker hätte erbleichen lassen. Nein – wenn Salpico so darüber nachdachte, dann war Pôlberra vielleicht auch nicht der Weisheit letzter Schluss.

Als er sich setzte, entlockte er dem Stuhl ein kraftloses Knacken und verharrte einen Moment, um sicherzugehen, dass er nicht im nächsten Augenblick rücklings vom nachgebenden Stuhl rollen würde. Als nichts dergleichen geschah, rutschte er näher an den Schreibtisch und legte das einzige Buch, das er mit sich genommen hatte darauf. Auf seinem nachgedunkelten Ledereinband stand in Kusliker Zeichen geschrieben Die Macht der Elemente. Der Octavo hatte einen Umfang von 350 Seiten und war eine originalgetreue Abschrift des 690 nach Bosparans Fall geschriebenen Buches. Darin hatte der Hesindegeweihte Pheredonis Melenaar von Zorgan die praktischen Grundlagen der Alchemie niedergeschrieben. Laborausstattungen, Vorgehensweisen, Analysen und jede Menge Rezepte. Kurzum: Genau das was Salpico brauchte. Er hatte das Buch mitgenommen, um in den ruhigen Stunden, die ihm zwischen den Unterrichtseinheiten blieben darin zu lesen. Immerhin war es nur eine Leihgabe und er hatte nicht ewig Zeit dazu. So schnell wie nur möglich wollte er es Neferu zurückgeben.

Ehe er es aufschlug hielt er noch einmal inne. Mharba! Sie war eine interessante Gesprächspartnerin – eine Studiosa – aber mit Hesindes Gaben gesegnet wie nur Wenige. Sie zählte 19 Götterläufe und interessierte sich für Temporalmagie, Dämonen, Artefakte und Alchemie. Anders gesagt: Für alles was auch Salpicos akademisches Leben im Augenblick formte. „Eine Schande, dass sie noch Scholarin ist. Das bedeutet, dass sie zu dieser Zeit bei ihren Studien ist.“ Er klappt das Buch vor sich auf dem Tisch auf. Warum sollte er sich grämen? Mharba käme wie verabredet nach ihren Studien zu seiner Kammer und bis dahin konnte er etwas essen und noch ein wenig lesen.