Gareth 6 (Salpico)

Kategorien: 1013 BFDer Puls der StadtGarethSalpico

Es war mitten in der Nacht und seine Kerze war schon deutlich herunter gebrannt. Salpico aber war das gleich. Seine Laune war so gut wie schon lange nicht mehr. Die letzten Wochen hatten sein Leben in einer Weise verändert, dass es Hexerei sein musste. In Gedanken beglückwünschte er sich zu diesem gedachten Wortspiel. Immerhin war es tatsächlich das Auftauchen einer Hexe gewesen, dass die Dinge zum Besseren gewendet hatte.
Auf dem Tisch vor ihm lag eine Grundrisszeichnung, die nicht weniger als drei Stockwerke eines Hauses zeigte, das noch nicht existierte. Seines Hauses. Beglückt lehnte er sich nach hinten in die Bank des Schankraumes der Smaragdnatter zurück. Die Taverne hatte schon vor einer – oder zwei, so genau konnte er das nicht sagen – Stunden geschlossen und so war es totenstill im Schankraum, in dem die flackernde Kerze des Adepten die einzige Lichtquelle darstellte. Lamiadon, der langohrige Eigentümer des Etablissements war im Bett und auch Langbart – der Magus mit dem beschränkten Eigennamen – hatte sich brummelnd verabschiedet.
Die langen Finger Salpicos verschränkten sich hinter seinem Kopf und stützten ihn, während er an die Decke sah, die im Dunkel des Raumes zu verschwinden schien. Die drückende Dunkelheit des leeren Raumes scherte ihn nicht. Brabak hatte beim Austreiben irrationaler Ängste ganze Arbeit geleistet. Beinahe jedenfalls, wie er eingestehen musste. Seit seiner Zeit in den fensterlosen Gemäuern der Zitadelle der Toten begleitete ihn die Furcht davor allein zu sein, schlimmer noch, einsam zu sterben. Vergessen von der Welt, ehemaligen Freunden, seinen Eltern und sogar Boron selbst. Um dieser Angst zu begegnen hatte er sich in das ungeliebte Studium gekniet. Ein einsamer Tod – der Tod überhaupt – so hatte er angenommen, ließe sich durch die Herrschaft über den Untod und Dämonen sicherlich verhindern. Und auf die eine oder andere Weise stünde er mit diesen Künsten niemals allein, wenn auch seine Freunde nicht immer atmeten oder auch nur körperliche Gestalt besaßen.

Zwar hatte keiner seiner Studienzweige den entsprechenden Erfolg gebracht, aber dennoch waren sie keine Fehlschläge gewesen. Von den potenten Helfern und Schergen einmal abgesehen, die sich sowohl in denen fanden, die der Ruhe des Todes entrissen waren, als auch in jenen, deren Chaos man in geregelte Bahnen zwingen musste, waren es die Grundlagen der Zeit, des Zerfalls und der Magie an sich gewesen, die ihm wichtige Erkenntnisse über seine Ängste und die Lösung seiner ärgsten Probleme geliefert hatten. Auf dem Weg in die Welt hinein, war er dann auf Neferu getroffen, hatte sich wohl und geborgen gefühlt. Sie selbst hatte erst wenige Jahre zuvor erfahren, dass ihr Leben kein natürliches Ende nehmen würde – und das hatte ihm nicht nur einen Freund oder sogar eine Geliebte für die Ewigkeit direkt auf seine Schwelle gestellt, sondern ihm auch die Sicherheit gebracht, dass Unsterblichkeit zu erringen kein vergebliches Unterfangen war.
Eine Weile hatte er ihre Gesellschaft genossen, bis wenige Worte ihn der neu gewonnenen Wärme beraubt und ihn zurück in die schwarze Kälte der Einsamkeit getrieben hatten.

Trübe blinzelte er in das Zwielicht des Raumes und setzte sich wieder aufrecht an den Tisch, während er an die ersten Tage nach seiner Trennung von Neferu zurück dachte. Jetzt schien ihm alles zu einem einzigen Wirbel verschmolzen zu sein. Einer Abfolge von Handlungen und Erlebnissen, die mit dem Wort „Existieren“ besser beschrieben waren als mit dem Wort „Leben“. Er hatte versucht, sich von seinen Ängsten zu lösen, sich vor ihnen zu verstecken. Zuerst war er mit Raj gereist, nach Al’Anfa, eine Stadt, die er mochte und zugleich mit traditionsreichem Hass strafte. Dort waren viele Menschen gewesen, aber seine Einmischung in die Geschicke einer Grandenfamilie und der magischen Fakultät der Universaluniversität der Stadt hatten das Pflaster wärmer werden lassen, als ihm lieb war. Die Lösung war gewesen, sich von dem verbliebenen Begleiter zu trennen, dem der Geruch dieser Stadt anhaftete. Wieder war er geflohen, hatte irrsinniger Weise versucht sich vor der Einsamkeit zu verstecken, indem er seinen Kleidungsstil änderte und herumreiste. Als er Nacht für Nacht in seinen Herbergszimmern eingeholt und überrumpelt worden war, hatte seine geistige Gesundheit ernsthaft auf dem Spiel gestanden. In dem Versuch vor dem Ertrinken einen rettenden Ast zu fassen zu bekommen, hatte er seine Pläne verworfen und hatte den einzigen Ort angesteuert von dem er annahm, dass es wahrhaft unmöglich sei, dort jemals einsam zu sein: Gareth.

Die Stadt war kein Allheilmittel, das war ihm bewusst. Aber sie war laut, überfüllt und unruhig. Hier pulsierte das Leben und hier wohnte der Tod. Die Ankunft in der Smaragdnatter, einem Ort, an dem sich Wissen zwanglos traf, an dem man ansprechen konnte, wen man wollte und an dem Lamiadon auf ein langes, glückliches Leben zurückblickte, hatte den Nekromanten vom Abgrund zurück gerissen. Zwar hatte es immer noch schwer auf seinen Schultern gelastet, dass er keine Seele auf dem Derenrund seinen Freund nennen konnte, aber wenigstens war die nahende Katastrophe abgewendet worden und er fand in den lärmenden Abendstunden paradoxer Weise die Ruhe, die er dringend benötigt hatte.
Eines Abends dann, nach einem Gespräch mit Langbart, hatte er über seine Suppe gebeugt gesessen, als eine Stimme ihn hatte zusammen fahren lassen. „Salpico!“ hatte er verstanden und war fest davon überzeugt sich verhört zu haben. Außer Langbart hatte er kaum jemandem seinen wahren Namen verraten. Aus dem Schutz seines Eckplatzes heraus hatte er Neferu erspäht, war erschrocken und hatte erst einmal den Mut sammeln müssen, sich an sie zu wenden.

Seitdem war eine Woche vergangen. Neferu hatte ihm vergeben – wenn er sich auch noch immer nicht sicher war, warum oder ob diese Vergebung vollständig war – und ein Grundstück in der Weststadt geerbt. Ohne zu zögern, hatte die freigiebige Hexe ihm angeboten, zusammen mit ihr und ihrem – ja was eigentlich? Ihrem Geliebten? Ihrem Verlobten? Beiläufig kratzte er sich an der Braue und sah noch einmal auf die Zeichnung vor sich zurück. Ihrem Vampir, beschloss er dann. Sie hatte ihm angeboten mit ihr und ihrem Vampir zusammen auf diesem Grundstück zu leben. Mehr noch – nach den ersten Planungen hatte sich herausgestellt, dass Salpicos Haus wesentlich kleiner und damit günstiger werden würde, als das der Hexe und ihres Mannes. Deswegen hatten sie den Entschluss gefasst das Haus – sein Haus – zuerst zu errichten. Die finanziellen Mittel dafür waren vorhanden, das Grundstück auch.
Vergnügt strich er sich über den Bart. Er würde in weniger als einem Götterlauf ein Haus mit eigener Bibliothek und _Glasfenstern_ in der Weststadt Gareths besitzen. Einer Stadt, die sicherer kaum sein konnte und in der niemand einen Nekromanten vermutete. Und besser noch – Neferu hatte einen Bund aufgetan, der sich selbst ‚Zirkel der freien Wissenschaften‘ nannte. Ein loser Zusammenschluss grauer und schwarzer Magier, die ihren Forschungen dort weitestgehend ungestört von moralischen und juristischen Grenzen nachgehen konnten. Er saß mit Freunden und Verbündeten auf einem großen Grundstück in einer der teuersten Gegenden Gareths in seinem eigenen Haus, während eine Forschungseinrichtung mit geringen Einstiegsvoraussetzungen fußläufig zu erreichen war.

Ein weiterer Blick streifte den Grundriss, der vor ihm auf dem Tisch lag. Eine Sache gab es noch, die ihm Sorgen bereitete. Der Vampir und der Phexgeweihte waren sich Spinnefeind, weil sie beide hinter der anziehenden Hexe her waren. Aber obgleich davon auszugehen war, dass dieser Konflikt sich irgendwann sehr handfest äußern würde, war es nicht die vernichtende Gewalt karmaler und vampirischer Kräfte – Untote und Dämonen hatten sich im Laufe der Zeit als hervorragende Leibwächter herausgestellt – vor der er sich fürchtete. Viel eher plagte ihn die Sorge vor seiner Beziehung zur Hexe. Er liebte sie, ja. Und natürlich vermisste er es auch in ihren Leib eindringen zu dürfen, aber ihm war – wenigstens für den Moment – sehr wohl dort wo er war. Die vorsichtige Freundschaft, die zwischen ihnen aufkeimte war etwas, das ihm wichtiger war als jeder gehauchte Liebesschwur und jedes Stelldichein. Ein Mensch, der ihm nahe war, besaß mehr Wert, als das Magnum Opus der Nekromantie. Das war ein unumstößlicher Fakt. Aber – würde die Hexe das auch so sehen? Oder würde sie – ernüchtert von der fehlenden abgöttischen Verehrung, die sie gewohnt war – wieder Abstand von ihm nehmen? Ihn aus seinem Haus, aus der Stadt und zurück in die einzige Dunkelheit treiben, die er fürchtete?
Als er sich seiner Umgebung wieder bewusst wurde, stellte er fest, dass er an seinem Daumennagel kaute und einige Spähne davon auf dem Blatt verteilt hatte. Rasch fegte er sie mit der Handkante beiseite und sah wieder auf den Plan hinab. Vielleicht sollte er sich erklären. Reinen Tisch machen. Nichts war schlimmer als die Ungewissheit darüber, ob ein Unheil oder die Erleichterung vor der Tür stehen. Mit beiden Händen hob er das Pergament vom Tisch und nickte sich selbst zu. Er würde das Gespräch mit der jungen Hexe suchen, sobald ein wenig Ruhe in ihr Leben eingekehrt wäre. Bis dahin – wollte er sich über das freuen, was er im Augenblick hatte.

…und sich diesen Zirkel einmal näher ansehen.