Gareth 15 (Neferu)

Kategorien: 1013 BFDer Puls der StadtFeqzjianGarethNeferu
Zeitraum: TSA 1013

Die verzaubernde Entdeckung des Sternenhimmels im Blütenkelch, den Phexdans geheimes Gärtchen offenbart hatte, war bereits durch die Routine der darauffolgenden zehn Tage verblasst und soweit in den Hintergrund gerückt, das man kaum mehr daran dachte.
So war es mit besonderen Momenten – sie vergingen und blieben zurück als blasse Erinnerungen. Erinnerungen, an die man in einsamen Augenblicken dachte, in denen man sich nach dem sehnte, was lange her und damit verloren war.
Aber noch war kein melancholischer Zeitpunkt. An derzeit erster Stelle stand die Geduld. Und so dachte Neferu auch nicht an den hübschen Flecken Erde, den Phexdan da gefunden und zum Blumenaufpäppeln annektiert hatte.

Sie lag auf dem Rücken und kniff Augen und Mund zusammen, während das warme Öl über ihre Stirn floss. Sie entspannte sich, als der gleichmäßige Strahl der Flüssigkeit von ihrem Gesicht fortgeführt und über die nackte Haut ihres fröstelnden Leibes gegossen wurde. Trotz des Hypokaustums, das für stetig warme Füße sorgte, war die frische und hier im Tempel außerordentlich reine Morgenluft alles andere als bettwarm. Die Erfindung eines Feuers im Fußboden war faszinierend. Ununterbrochen roch es im Tempel gut, nach glimmender Holzkohle und gebranntem Ton. Neferu wunderte sich, dass diese fremdartige, aber doch zweifellos praktische Erfindung keine weitere Verbreitung erfahren hatte. Aber vielleicht war es dafür zu gefährlich. Immerhin ging es um Ingerimms unberechenbares Element, das da unter den Steinfliesen gefangen und genährt wurde.
Es tat gut, die Lider geschlossen zu halten und sich der salbenden Prozedur zu überlassen. Wie jeden Morgen der letzten Tage war sie so früh geweckt worden, dass sie die Hühner im Stall in Sachen Pünktlichkeit hätte neidisch machen können.
Draußen graute der Morgen, Raureif umfasste Gareth in streng-winterlichem Griff, bis sich die Praiosscheibe müßig über die Hauptstadt erhob und den nächtlichen Frost daran erinnerte, dass die Zeit stur und ohne Halten gen Frühling marschierte.
Das zähe Keimöl stieg literweise und verschloss ihr die Ohren, bis nur noch kleine Inseln ihres Körpers fleischfarben aus der eingelassenen Marmorwanne herausragten und sie den Worten des Gebets nicht weiter folgen konnte. Sie hatte beim ersten Mal befürchtet, wegen ihrer ausladenden Hüften nicht in diese sargförmige Einbuchtung zu passen, die wohl ursprünglich für weitaus zierlichere Damen in den Stein gehauen worden war. Und zugegeben – etwas eng war es. Auch von der Länge war sie zu groß, so dass ihre Knie als die spitzesten aller Hügel aus dem gelblichen Öl ragten. Sie hatte sich unwillkürlich gefragt, wo sehr viel korpulentere Frauen ihren Platz fanden. Aber vielleicht waren die auch zu schlau, sich von Vampiren beißen zu lassen. Oder sie gaben es nicht zu. Oder es gab diese Wannen in verschiedenen Größenordnungen. Sie hatte bisher allerdings in dieser Halle nur zwei davon erblicken können, eine für das starke Geschlecht und eine weitere, größere für die Herren der Schöpfung.

Die rote Hexe kam sich gar nicht mehr so Rot vor und das hatte einen Grund, denn sie war vollkommen nackt. Sie blinzelte in das schummerige Licht über ihr und blickte in das dunkeläugige Gesicht des jungen Geweihten Rohalides. Er und seine Frau Dimione waren beide der gütigen Göttin Peraine verpflichtet, jeder auf seine Art spezialisiert. So hütete sie die Pflanzen, goss, jätete und ließ wachsen, während er Salben anrührte und sich um das Wehe der Altstädter kümmerte. Das Paar stammte von den Zyklopeninseln. Neferu hatte einmal gehört, dass die Häuser auf diesem weit westlichen Eiland weiß waren und fast ein jedes Dach von Säulen getragen wurde. Sie fand, dass das gut passte, denn auch der Perainetempel hatte eine helle Tünchung und einiges an Rundpfeilern.

Der Mund des lockenköpfigen Zyklopäers bewegte sich langsam. Seine ernste, feierliche Miene unterstrich sein Beten zur milden Göttin. Neferu konnte es nicht hören, sie hatte immer noch die Ohren voll Öl. So wie das Bronzegefäß, das leer und präsentierend in Rohalides‘ Händen schwebte, war sie gewesen, nachdem Zerwas auf der Boroninsel mit ihr fertig geworden war.
Eigentlich hätte sie konzentriert sein sollen.
Die ersten Tage hatte sie es auch geschafft, sich zu sammeln, mitzubeten und im Stillen der Göttin dafür zu danken, dass sie sich – trotz ihrer bis zum Horizont reichenden Dummheit – ihrer annahm. Heute aber, machte sie sich nur Gedanken darüber, dass die da über ihr gehaltene Bronzeamphore herunterfallen und ihr ganz sicher einen fiesen blauen Fleck zufügen konnte. Oder sie versuchte aus der Entfernung ihrer liegenden Position die stattlichen Bögen von Rohalides‘ faszinierenden Augenbrauen nachzuverfolgen, die sich in auffächernden Härchen fast in der Mitte trafen. Sie hatten sich im Zusammenwachsen nur knapp verpasst.
Er sah viel älter aus als seine herbe, obgleich irgendwie aufreizende (sie hatte diese schweren Schlafzimmerlider) Frau Dimione, die beeindruckend schönes und volles schwarzes Haar zu einem dicken Zopf geflochten trug. Doch Nef hatte in Erfahrung gebracht, dass beide gerade erst kürzlich das zwanzigste Lebensjahr überschritten hatten.
Noch so jung…

Neferu war außerordentlich dankbar. Nicht nur, dass der Geweihte – entgegen der Therbuniten in Trallop – keine bare Münze für die Regeneration ihrer Lebensenergie verlangte (dass er trotzdem eine Tempelspende in Höhe eines zweistelligen Dukatenwertes erhalten würde, hatte sie beiläufig erwähnt, als sie vorstellig geworden war) und dass obwohl sie zwölf Tage lang das geweihte Gelände nicht verlassen durfte und zweimal täglich – zu Sonnenaufgang und Sonnenuntergang mit dem heiligen Keimöl geölt werden musste, sondern auch über die Tatsache, dass es gestattet worden war, Phexdan als Dauerbesuch zu tolerieren. Spätestens als der von seinen Gärtnertätigkeiten erzählt hatte, war der Tempelvorstand überzeugt gewesen, dass es keine Umstände machte, solange der junge Mann den Tempelalltag nicht behinderte und keinen zusätzlichen Platz kostete.
So war es gekommen, dass sie und Phexdan eine winzige Kemenate in einer Gangnische teilten, die sie nur zur Nachtruhe aufsuchten. Man hätte meinen können, dass das lauschige Zusammensein auf so engem Raum in kürzester Zeit romantische Gefühle und ein körperliches Näherkommen geradezu provozierte, aber so war es zumindest die erste Woche nicht gewesen.
Die Pritsche war einfach zu schmal für zwei Personen, so dass sich keiner von beiden im Schlaf drehen oder wenden konnte und regelmäßig Hüften einschliefen, die sich auf dem holzigen Gestell taub lagen. Außerdem hatte das Hypokaustum den Nachteil, dass es unter einer Wolldecke zu zweit schwitzig warm werden konnte und das nicht auf die rahjaische Art und Weise.
So hatte das nächtliche Gedränge in ihrer beider Kabuff die Wirkung, dass sie eigentlich beide nie ganz ausgeschlafen waren.
Ab und zu verbrachten sie ihre Nacht damit im Flüsterton über Raubzüge, das Wegweisernetz im Untergrund Gareths und die Zinken in der Kanalisation zu sprechen, die da überall an den Wänden verteilt den kundigen Dieb zu einem lohnenden Ziel schickten. Sie malten sich aus, wie sie den Stadtadvokaten te Guden einen überaus derben Dachstuhl errichten würden und kicherten leise dabei wie begeisterte Kinder, die sich eine ganze Fantasiewelt erdacht hatten. Und das mitten im Tempel der friedlichen Göttin.

Phexdan ließ sich in solchen Nächten selbstverständlich zu dem einen oder anderen Witzchen hinreißen, das darauf anspielte, dass sie doch lieber über- statt nebeneinander liegen sollten und sie selbst ertappte sich dabei, seine spaßhaften Andeutungen durch eigenes albernes Kokettieren noch zu befeuern. Nur ineinander liegen wär für diese derb schmale Pritsche Platz genug, hörte sie sich noch sagen und stieß peinlich berührt die Luft aus der Nase, während Rohalides weiterhin ungehört betete.

Und trotzdem… Die Wärme der kleinen Kammer hatte auch etwas für sich: Seit sie so lebensenergiearm war, fror sie bisweilen auch bei angenehmen Temperaturen. So glitt sie hin und her zwischen Schwitzen und Frieren und fühlte sich gerade in der Nacht ganz krank und elend. Aber Phexdan war da und ging mit ihr um wie ein anschmiegsamer Virtuose mit einer Harfe. Fror ihr Körper, kam er nah, drückte sie an sich und bewies ihr, dass sein Leib noch wärmer war, als die Heizung im Boden. Schwitzte sie, tat er sein Bestes auf Abstand zu bleiben – wenn auch halbherzig und sie stets im Auge behaltend, trotz der Düsternis der Kammer. Einmal war er sogar aufgestanden und hatte ihr mit der Decke Luft zugefächelt. Und dann.. an Tag acht hatte er versucht sie zu verlocken. Er küsste sie bei Neumond, erst einmal, dann zweimal. Es waren nur kurze, hitzige Küsse und entgegen ihrer Absicht, machten sie Neferu wütend. Sie hatte versucht sich ihre Wut zu erklären, aber die Antwort hatte sie nicht glücklicher gemacht. Sie spürte diesen unruhigen Zorn, weil sie dem Kuss entgegen gestrebt war. Vielleicht hatte sie Phexdan sogar unbewusst ermutigt. Und obwohl Luzelin und die Hexen vom Blautann ihr jahrelang vermittelt hatten, dass nichts richtiger war, als seine Gefühle auszuleben, dass es in ihrer Natur lag, dass sie nur so die Welt heilen konnte und dass die Konsequenzen belanglos waren, solange sie ein jedes Gefühl nur zuließ – trotz dem schämte sie sich und fühlte sich wie eine Ehefrau, deren unterdurchschnittliche Selbstbeherrschung sie zu einer lüsternen Rahjadienerin gemacht hatte, die sich vor sich selbst fadenscheinig rechtfertigte, dass Küsse bei Neumond gleichwertig waren mit solchen, die niemals passiert waren.
Sie hatte einen halben Tag darauf nicht mit ihm geredet und versucht mürrisch dreinzusehen. Dann aber war sie sich albern vorgekommen und hatte sich Phexdan gestellt. Neferu hatte Phexdan mit aller Intensität aufgefordert, sie aufzugeben. Mit bebenden Lippen hatte sie ihn gebeten, sein eigenes Glück zu suchen, aber er hatte nur gelächelt und sie auf diese warme Art angesehen, die ihr sagten sollte, was er ihr schon so oft gesagt hatte:
Ich weiß, dass du mich liebst, auch wenn du es erst wieder erkennen musst.
Sie liebte und bedauerte diesen Blick gleichermaßen.
Das war auch der Tag gewesen, der anders als alle anderen verlaufen war. Der Tag der Armenspeisung.
Der Tag an dem Neferu Theobald vom Scherbenmarkt kennengelernt hatte. Ein alter Mann, ein Bettler, ein Prophet. Andere hätten wohl gesagt: Ein Wahnsinniger, der schon vor Jahrzehnten durch Armut und Hunger seinen Verstand eingebüßt hatte. Sie hatte dem Alten versprochen, ihn neu einzukleiden, sobald sie den Tempel verlassen durfte. Sie wusste gar nicht mehr, wie es dazu gekommen war, aber sie hatte ihm den knochigen Rücken massiert und Phexdan war ebenfalls bei der Speisung an ein stattliches Bündel Regenbogenstaub gekommen, das ihm irgendwer aus der Menge der Versehrten, die einmal die Woche aus den Elendsvierteln der Stadt zur Speisung in den Perainetempel geleitet wurden, überantwortet hatte. Ein riesiger Batzen Rauschkraut. Sowas von verboten.

Rohalides endete seine morgendlichen Worte zu ihrer Reinwaschung. Eine ganze Stunde dauerte das Ritual. Wenn es vorbei war, drangen die ersten Strahlen durch die beglasten Fenster an denen sich Kondenströpfchen gesammelt hatten, die herunterperlten und so über die Jahre dunkle Stockspuren am Fensterrahmen hatten wachsen lassen.
Die Hände links und rechts von der Steinwanne aufgestützt erhob sie sich vorsichtig, peinlich darauf bedacht, nicht auszurutschen. Rohalides empfing sie mit einem reinweißen Tuch, das mit einer güldenen Ähre bestickt war. Langsam und behutsam tupfte sie ihren bloßen Leib, der vor Gänsehaut ganz stachelig aussehen musste, frei von Öl.

Es folgte das Tagwerk. Bußarbeit und Beten. Sie gingen den Novizen in der Apotheke zur Hand, schleppten Säcke in der Saatkammer und wuschen Geschirr in der Großküche.
Zugegebenermaßen war im Perainetempel auch gar nicht mehr so viel anderes möglich, als sich mit Pflanzen oder Heilkunde in irgendeiner Form zu beschäftigen. Es war eben ein Tempel Peraines. Alles war erst einmal von einer guten, schönen und friedlichen Aura erfüllt.
Sie – und auch Phexdan – halfen den Geweihten beim Hegen der Pflanzen. Sie gediehen wunderbar im Tempelinneren. In den Stein des Boden gehauen waren etliche große mit Muttererde ausgefüllte Beete, die die große Halle des Tempels zu einem sagenhaften, immerblühenden botanischen Garten machten.
Doch trotz dem der göttliche Segen der Mutter von Ackerbau und Heilkunde behütend auf diesen Mauern lag, musste sich ganz klassisch um die Pflänzchen gekümmert werden, denn das Gießen, Auflockern der Erde oder Beschneiden der Zweige übernahm die Göttin nicht.
So lernten sie neben hunderten anderen Pflanzen die unsterbliche und heilige Alveranie kennen, die ihre Farbe monatlich änderte und derzeit bunt war, wie der Tsa, die aber im kommendem Monat grau sein würde, wie der Schatten Alverans – Phex. Nur für zwölfgöttliche Rituale durfte ein Blütenblatt gepflückt werden. Neferu spürte dieses Gefühl in sich, der Drang sich selbst und der Welt zu beweisen, dass ein Leben in den Gassen Gareths keine Kutschenendstation bedeutete.
Kurz gesagt: Sie wollte irgendwann einmal eine Alveranie in ihren eigenen Garten pflanzen, um sagen zu können: Seht her, ich war ganz am Boden und heute blüht auf meinem Grundstück in der wunderschönen Weststadt diese noch wunderschönere Blume!