Der Tod trägt Rot

Havena 12 (Neferu)

Ihr entfuhr ein kurzer Schrei, als sie inmitten der Grabsteine gepackt und zu Boden gerissen wurde.
Sie gehörte nicht zu den schreckhaften Frauen, die bei jeder Gelegenheit ihr gellendes Organ zur Geltung brachten. Sie erinnerte sich nicht einmal daran, wann das letzte Mal gewesen war, dass sie geschrien hatte – sie musste noch ein Kind gewesen sein.
Während in einem Sekundenbruchteil der absurde Gedanke ihres eigenen Lauts ihr Ende fand, schlug sie auf den Boden auf und wurde von einer unmenschlichen Kraft in einen Rhododendron gezogen.
Sie hatte von roten Rhododendronblüten auf den Zyklopeninseln gehört.
Wieder ein irrsinniger, unpassender Gedanke. Das musste am Schock liegen.

Die einzigen roten Blumen in diesem Augenblick waren die Rosen, die sich ringsum auf dem Grabweg verteilten.

Sie machte keine Anstalten sich festzukrallen, sich zu wehren. Ihr war vor Überraschung nicht einmal in den Sinn gekommen, gegen zu halten und sich einen Grabstein zu suchen, an dem sie sich hätte festhalten können.
Statt dessen galt ihr stoßgebetartiger Gedanke Phex, dem Gott, der sie nächtens immer beschützt hatte und es zu ihrem eigenen, bitteren Erstaunen jetzt nicht mehr tat.

Havena 11 (Zerwas)

Augenblicklich war das Schlammblut zu seinen Füßen vergessen, aus dessen Körper langsam die Wärme zu weichen begann. Mit blutverschmiertem Gesicht und Händen richtete er sich auf und sog die kalt-feuchte Nachtluft tief in seine Lungen. Der Geruch war stark und deutlich wahrzunehmen. Ein zweiter Geruch, allerdings ein weniger interessanter, wurde zunehmend schwächer, als würde sein Träger sich entfernen.
Aber was interessierte ihn schon der Geruch eines zweitklassigen Nahrungsspenders?

Mit einem kräftigen Ruck seines rechten Arms zerrte er die Leiche des Meuchlers in den langen, blassen Schlagschatten der Statue, sodass sie vor flüchtigen Blicken verborgen sein würde und wischte seine Hände kurz am feuchten Gras ab. Dann drückte er sich mit dem Rücken an den kalten Stein und spähte vorsichtig daran vorbei in Richtung des Ufers. Dorthin, woher der anziehende Geruch kam. Unmöglich., dachte er. Sie kann nicht gekommen sein. Nicht gerade jetzt.
Er spürte wie Speichel in seinem Mund zusammenlief. Die Wunde an seiner Schulter hatte sich nach den ersten Schlucken des minderwertigen Blutes wieder geschlossen und das Gift jede Wirkung verloren oder von Anfang an nicht besessen. Mit zusammengekniffenen Augen ließ Zerwas seinen Blick über den Hang am Rande der Insel gleiten, ehe er sich an einer Bewegung verfing.
Dort hinten kam, in etwas mühsam anmutenden Bewegungen, eine Gestalt die Anhöhe hinauf.

Die Instinkte des Jägers setzten ein, als der kräftige Körper des Vampirs in einem Satz hinter dem Grabstein einer Familie verschwand um von dort ungesehen eine Richtung einzuschlagen, die den Pfad des neuen Opfers unweigerlich kreuzen musste. Das frische Blut rauschte in seinen Ohren und ein wohliger Schauer rann über seinen Rücken, als das schmackhafte Bouquet deutlicher wurde.
Während er sich an das ahnungslose Opfer heranpirschte, erhaschte er einen Blick an einem der Totenmäler vorbei. Sie trug irgendetwas im Arm. Rot glänzte vor Rot, ihr ganzer Körper schien im fahlen Licht der Sterne einer blutigen Verlockung zu gleichen.
Aber dies war eine magische Verführung – besser, wenn er sie weniger direkt anging. Ein schmales Lächeln verzog die blutigen Lippen zu einem grotesken Grinsen, das von weißen Reißzähnen noch in seiner abstoßenden Bizarrheit verstärkt wurde.

Im Schutz eines niedrigen Zierbusches wartete er ab, genoss die pulsierende Vorfreude auf das süße Blut, roch den Geruch von Rosen und glaubte sich einer Belohnung nahe zu fühlen, die Boron selbst ihm als Opfergabe für seine erretteten Geweihten gesandt hatte. Als die Frau an ihm vorübergehen wollte, packte er mit seiner rechten Hand wie mit einer Klaue nach ihrem rechten Knöchel und riss daran, um sie zu Boden zu stürzen und hinter das Gewächs zu sich zu ziehen. Ein Friedhof bei Nacht war den Toten gewidmet – und so sollte es auch bleiben…

Havena 10 (Neferu)

Jeder platschende Ruderschlag trieb das Boot voll Rosen näher zur Toteninsel.
Mit jeder Elle, die Edda und Neferu überwanden, wurde der gigantische Basaltbau mehr und mehr zu einem schwarzen Riesen, der sich aufragend vor ihnen aufbäumte, als erwache er aus tausendjährigem Schlummer.

Düster und voll Geheimnis präsentierte sich das Eiland, als sie anlandeten. Nächtliche Wolken schoben sich vor das Madamal und nahmen das Licht, so dass nur das Funkeln der Sterne blieb.
Im Haus der Geweihten, das sich unterwürfig neben den uralten Tempel kauerte, brannte kein Licht.
Neferu sog tief die kühle Salzluft in ihre Lungen. Sie zitterte, hielt den Unterkiefer nur mühsam unter Kontrolle.

Edda sagte kein Wort. Eilig, nahezu gehetzt machte sie sich daran die Rosen vom Boot zu heben und sie unsanft an die flache, sandige Uferböschung zu werfen. Für Romantik hatte sie angesichts des gespenstischen Ortes kein Gespür und keine Zeit mehr.
Neferu rieb die Hände aneinander, ihre Finger waren eiskalt. Dann half sie der Wehrheimerin, ebenfalls schweigend.

Sie konnte es spüren… vielleicht ebenso wie Edda, die hastig, aber bemüht lautlos ihr Boot bestieg und sich ohne große Umschweife in die Riemen legte, nur um verschwinden zu können… Irgendwas war in dieser Nacht anders.
Es war… weniger still.

Mit einem Mal fühlte sie es genauer. Ein ungutes Gefühl, dass ihr den Rücken hinaufkroch.
Doch wenn sie genau horchte… hörte sie nichts. Nur den Meereswind und das leise Geräusch von Leben, das da drüben, jenseits des Wassers mit hellen Lichtern sein Pulsieren zelebrierte.
Sie blickte auf all die Rosen ringsum, fühlte sich hilflos.
Da war sie nachts gekommen, um die impertinenten Blicke der Festlandskirchen von sich abzuschirmen und bekam es mit der Angst zu tun?

Sie schalt sich albern, lud die bronzefarbenen Arme voll mit jungen Rosen und erklomm die sanfte Böschung.

Havena 9 (Zerwas)

Die Zeit des Wartens war vorbei. Endlich konnte sein Hunger, seine Kraft und seine Gier Bahn brechen.
Das Geräusch seiner schnellen Schritte wurde von den Wänden zurückgeworfen und brach sich an Decke und Boden. Er spürte, dass er nicht mehr Herr über seinen Körper war. Die Triebe und Instinkte des Vampirs hatten übernommen – und sein Bewusstsein hatte die Leine losgelassen. Endlich ein Ziel, das er zerreißen konnte, ohne ein schlechtes Gewissen haben oder den Zorn der Götter fürchten zu müssen. Zerwas befand sich auf der Jagd.

Geschlossene Türen flogen an ihm vorüber, während sich sein Sichtfeld verengte und rot pulsierte. Seine Lippen zogen sich zurück und legten die scharfen Eckzähne frei. Als er die Stufen erreichte, die ihn zur Oberfläche hinauftragen würden, begann er sich auf allen Vieren fortzubewegen. Mit den ersten Atemzügen, die frische Luft an seine Nase trugen erfassten seine geschärften Sinne, was er begehrte. Er roch leichten Schweiß, Waffenöl, Fleisch und Blut – der Meuchler war bereits angekommen.
Der Narr…, schoss es dem Henker durch den Kopf. …er hält sich für den Jäger und ist doch die Beute. Diese Einsicht amüsierte ihn, während er – lediglich als Beobachter im eigenen Körper – die letzte Stufe überwand und in die Dunkelheit der Nacht hinaus glitt.

Lautlos wie ein Schatten überquerte er den Platz vor dem Tempelgebäude und schob sich in die Deckung eines Grabsteines. Seine Nasenflügel bebten, als er die Witterung des gedungenen Mörders ganz in seiner Nähe zwischen den Gräbern aufnahm.
Ein rascher Blick zeigte ihm, dass die gebeugte Gestalt des angeblichen Todbringers geduckt zwischen den Denkmälern der Verstorbenen hindurch auf den Tempel zuhielt. So selbstsicher – und sowas von tot…, durchzuckte es seinen Geist, während er mit ansah, wie sein Körper sich sprungbereit machte. Mit einem einzigen, langen Satz überwand er die Distanz zwischen sich und seinem Opfer und rammte ihn mit einem heiseren Fauchen gegen eine halbhohe Statue.
Der Mann reagierte überraschend schnell. Undeutlich nahm der Bluttrinker wahr, dass sich ein stechender Schmerz in seiner linken Schulter ausbreitete. Der kleine Mordbube musste ihn mit einem Dolch erwischt haben – einem vergifteten wie er vermutete. Wütend hieb er nach der Waffenhand seines Opponenten und schleuderte die Klinge zur Seite. Der Treffer war unbedeutend – oder würde es bald sein. Sobald frisches Blut seine Adern füllte, würde sie verheilen und vollkommen wirkungslos bleiben.

Zum Ärgernis des triebhaften Wesens zu dem er geworden war, endete die Gegenwehr des armseligen Menschlings allerdings nicht mit diesem ersten Stich. Als Fanatiker schien er es im Gegenteil als seine heilige Pflicht zu betrachten den Untoten, der ihn angefallen hatte vom Antlitz der Erde zu tilgen. Nach dem Verlust seines Dolches zückte er zwei silbrig glänzende Wurfmesser und rammte eines davon knapp unterhalb des Schlüsselbeins in den Leib des Angreifers.
Innerlich schüttelte Zerwas den Kopf. Er hatte keine Chance diesen Kampf zu überleben, aber tat als sei er von Boron persönlich gesandt. Nun…dann schicken wir ihn eben dorthin zurück., befand er gerade, als der Verteidigungsreflex dessen, was in diesem Moment die Kontrolle hatte, einsetzte. Die Finger, die er als seine eigenen erkannte, wurden von der Gewalt seines übernatürlichen Körpers in die Kehle des Mannes gerammt und packten den Adamsapfel, ehe sie ihn mit einem unappetitlichen Ruck herausrissen und zur Seite schleuderten.
Das Gesicht des Meuchlers zeugte von Unglauben. Seine Augen weiteten sich, als er versuchte etwas zu sagen, aber nur Blut aus seinem Mund kam. Dann verließ sie das Leuchten des Lebens und er sackte zurück.

Kaum dass nichts mehr zwischen ihm und dem Lebenssaft seines Opfers stand, begann er sich zu laben. Er spürte, wie die letzten Herzschläge des Toten ihm das Blut entgegen pumpten, wie es über seine Zunge seinen Hals hinab glitt. Es war ein Festmahl, wie er es selten genossen hatte. In einer Geste des Triumphs hob er sein Angesicht gen Sternenhimmel, lächelte und atmete tief ein. Einen Augenblick war da nichts als der Geruch der Nacht und des Blutes – dann aber mischte sich etwas anderes in die Duftnoten. Eine Nuance nur – aber eine süße, eine die die Flamme der Gier heller brennen ließ. Und eine, die dem wachen Teil seines Geistes auf furchtbare Weise bekannt vorkam: Der Geruch einer eigeborenen Hexe.

Havena 8 (Neferu) ( –––)

Zweimal schon war sie von den spärlich vertretenen Geweihten still der Insel verwiesen worden.
Nicht unhöflich natürlich und erst recht nicht wortreich, aber Neferu war boronfürchtig genug zu gehen, sobald eine der Schwarzkutten mit ernst-entschlossener Miene ausgestreckten Armes zum Festland deutete. Vorläufig zu gehen, zumindest.
Sie kam sich vor wie im Possenspiel eines unterdurchschnittlich begabten Autoren aus dem Horasreich. Und sie ahnte, dass es der Geweihtenschaft des dunklen Gottes ganz ähnlich erging.
Hier in Havena wurden sie allesamt gemieden. Kaum jemand hier besuchte je seine Lieben, sobald sie verstorben waren.
So konnte die Hand voll Priester friedlich und still auf ihrer Insel im Hafen vor sich her leben und keiner kam ihnen in die Quere oder belästigte sie.
Nur wenn jemand verstorben war, ruderten die Diener des Rabengottes zur Stadt hinüber, denn wann immer es soweit war, wussten sie davon.
Das musste sie noch unheimlicher machen, da sie wie von einem lautlosen Zeichen geschickt kamen, um die Leiche mit sich zu nehmen.
Neferu fragte sich in eben jenem Moment, was sie aßen… Ob sie, allesamt.. Vampire waren?
Es war nicht so, als ob sie das noch groß gewundert hätte, kannte sie doch bereits Cailan und Firuz und ebenso die ominöse, blasse Sagarta, eine junge Frau mit dem Auftreten einer tausendjährigen Statue.

Wie mittlerweile zu fast jeder Zeit hielt sich die Rote im Hafen von Havena auf.
Sie hatte gelernt, dass die meisten Fischer vorgaben sie nicht gehört zu haben, wenn sie von einer Passage zur schwarzen Insel sprach.
Oder aber sie starrten vollkommen entgeistert, als habe man sie gefragt, ob sie in einer Nussschale übers Meer ins Riesland rudern könnten.
Wie froh war sie gewesen Bekanntschaft mit Edda zu machen. Edda war vor zwanzig Jahren nach Havena gekommen, um den Mann ihrer Wahl entgegen dem Willen ihrer Eltern zu heiraten.
Sie war aus dem bodenständigen Wehrheim und scherte sich nicht um Tod noch Namenlosen.
Trotzdem hatte Neferu auch an die resolute Mittvierzigerin so einige Goldtaler verloren, denn die Frau ließ sich ihre Fahrten durch die Bucht wie eine Königin bezahlen.

Gerade für Neferus heutiges Anliegen musste sie tief in die eigene Tasche langen. Oder eigentlich… in Zerwas‘ Tasche, waren die Goldmünzen, die sie ihr Eigen nannte doch großteilig von seinen Ersparnissen abgezweigt.
Grabpflege. Mit wenigen Worten hatte Neferu es aushandeln können, dass sie auf der Boroninsel würde helfen dürfen zur Ehre der Toten die Gräber zu pflegen.
Wenn sie dabei eine schwarze Kutte trug. Und den Mund hielt.
Das war das beste Angebot, das sie sich von den störrischen Boroni hatte erhoffen können. Sicher wusste Sagarta nicht einmal davon, war es doch Cailans milde Zugeneigtheit, die ihr diesen Vorteil eingebracht hatte, wie sie überzeugt vermutete. Cailan.. und sein Rahjafluch. Ein schauderhafter Gedanke. Auch wenn die hexisch verspielte Schadenfreude in ihr belustigt eingestand, dass es sie nach wie vor schmeichelte, dass er wortwörtlich Feuer gefangen hatte.

Die Planken des Ruderboots knarrten, als Neferu mit einem beherzten Sprung von der Kaimauer ihren Platz einnahm.
Edda hatte sie erwartet. Es lief ab wie immer: Erst die Bezahlung, dann der Dienst.
Die blonde Fischerin half die zwanzig Pflanzen unter dem Gesicht des milchigen Vollmonds in das Boot zu verladen. Zwanzig junge Rosentriebe, dazwischen die zwei Frauen. Selbst Edda, die vorgeblich wie immer leise fluchte, konnte nicht umhin einige Male zu lächeln.
Neferu hatte es geahnt – eine Frau die für einen Mann an eine wetterwendische Küste zog, an der man albern-abergläubisch gegenüber Tod und Magie eingestellt war, die musste trotz ihrer herben Optik eine romantische Seele sein.
Nef schämte sich nicht für die handfeste Lügengeschichte, die sie der Wehrheimerin aufgetischt hatte. Im Gegenteil, sie wusste, dass die Geschichte über einen toten Geliebten, der kurz vor ihrer Heirat in fremden Gewässern umgekommen war und dessen Ort der Ruhe sie erst jetzt gefunden hatte, viel eher das war, was ein Mensch hören wollte. Eine hübsche, romantische Geschichte.

Die Geschichte vom Massen mordenden Erzvampir, den sie ganz zurückzuholen gedachte, eignete sich weniger.

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