Die Zeichen der Sieben

Tobrien 1 (Cyruion) (5NT 1013)

Ein weiteres Mal blickte der Bergadler für einen Augenblick zurück, um sich ausbleibender Gefahr durch Blaufalken und ähnliche Feinde zu vergewissern. Das Federkleid des Tiers erschien selbst im Licht der aufgehenden Sonne eher matt denn glänzend und wenn ein genauerer Blick erhascht werden konnte, schienen die Flügel unter der Anstrengung einer mehrstündigen Etappe gen Warunk zu zittern. Obgleich keine Schweißperlen über die gefiederte Stirn liefen, das Tier segelte vorrangig und versuchte weitere Flügelschläge weitestgehend zu vermeiden.

Cyruion war mit seinen Kräften am Ende und konnte nur erahnen, wie es seinen Gefährten möglicherweise ging. Sie waren vielleicht tot, niedergestreckt von einer Feuersbrunst, kaum dass er sich in die Lüfte aufgeschwungen hatte. Angefangen hatte alles vor einigen Praiosläufen als sie die Trollzacken, einen Ogerangriff wie Geländerutsch gerade so überlebt und wieder zusammengefunden hatten. In der schwülen, beinahe schon unangenehmen Hitze des Rahjamondes setzten sie ihren Weg fort. Eines Abends bemerkte die Reisegruppe, dass der Himmel sich rötlich, fast schon übertrieben blutrot eingefärbt hatte und das Firmament klar war, wie nur einmal im Götterlauf. Sie waren inmitten der Wildnis in die Namenlosen Tage geraten, jene Zeit, in der sich die meisten Menschen in ihren Häusern verschanzten und die Straßen selbst in Gareth stets leerer gewirkt hatten.

Der Auelf erschauderte bei dem Gedanken jedes Mal wieder, denn nicht nur, dass er das Dunkle nicht besonders mochte, in diesen fünf Tagen war die Dunkelheit bedrohlich wie sonst nie, alles angetrieben vom Einfluss dessen, was für den Untergang der Kultur seiner Vorfahren verantwortlich war. Leise atmete er durch. Nicht aus der Fassung bringen lassen.

Wenige Zeit später riss ein Blitz den Elfenmagier aus seinen Gedanken und kurze Zeit später traf die berittene Gruppe um Garion einen am Boden befindlichen Reiter und sein Pferd. Die Sichtung des Geschehens ergab schnell, dass der unbekannte Reiter ein Geweihter des Götterfürsten gewesen und offenbar in einen Kampf verwickelt gewesen war. Verschlüsselte Nachrichten, Tand und eine undefinierbare, große magische Macht, die  offenbar von einer Statuette ausging, fanden sich in den Taschen des Mannes wieder. Dann wurden sie angegriffen, noch an Ort und Stelle, von Kultisten des Namenlosen und weiteren Schergen der Schlechtigkeit.

Unnötigerweise zusätzlich, trotz Verwundung oder gerade deshalb, gejagt und getrieben von Hetzern, die die Gruppe immer in eine bestimmte Richtung zu lenken schien, ohne dass dies zunächst zu erkennen war. Besonders absonderlich war jedoch ein Dorf, Salwynsfelden, dachte der Elf, das sie nach einigen Tagen erreicht hatten. Natürlich waren sie nicht Willkommen, alleine der Umstand, dass sie ein Spitzohr dabei hatten verschärfte die Situation. Genauso wie die Geburt eines Kalbes mit zwei Köpfen, der einen wütenden Mob aufziehen ließ und die vom Rondra-Geweihten angeführte Gruppe weiterziehen ließ. Ungeachtet dessen, dass die drückende Hitze mit jedem Tag schlimmer wurde.

Zumindest, wenn es nicht gerade Merkwürdigkeiten waren, die die Aufmerksamkeit auf sich zog. Denn wer hätte erwartet, dass an einem Sommertag plötzlich Eiseskälte vorherrschte, Nebel aufzog? Doch der Verstand wusste es zuzuordnen, denn überall dort machte das Wetter Firun vermeintlich alle Ehre, wo sich die Kreaturen des Dhaza aufhielten, wie die Hetzer, die sich nach und nach verstofflichten und wahrscheinlich am letzten Tag des Namenlosen zu ihrer vollen Kraft kommen und der Gruppe das Leben schwermachen würden. Noch waren sie nicht besonders gefährlich. Auf der anderen Seite war für den Elfen auch ein altes Kloster der Gütigen, Peraine, recht befremdlich. Er hatte es jedenfalls noch nicht gesehen, dass weibliche Geistergestalten mit Ghulen tanzen. Wenn er obskures sehen wollte, sollte er in den Tagen des Namenlosen des Öfteren vor die Türe, auch wenn immer die Frage nach der Gefahr bleibt und ob es das wert ist. 

Am wahrscheinlich dritten oder vierten Tag, was er schon nicht mehr recht zuordnen konnte ob der wirren Geschehnisse, als jeder Regentropfen weiter ein Segen gewesen wäre, passierten sie einen reichlich unheimlichen Boronanger, trafen wenig später auf eine Gauklertruppe mit ihren Wagen. Darunter befand sich auch Wilbur, ein alter Freund des Rondra-Geweihten aus Andergast, der seine Familie offenbar vor längerer Zeit verlassen hatte. Doch nicht alles am Zusammentreffen mit den Gauklern zog Positives nach sich. Schon bei der ersten Begegnung hatte eine Gauklerin versucht, den Elfen um einen Teil seiner Habe zu erleichtern. Abgesehen davon vergnügten sie sich jedoch rege in der illustren Runde und der Elf war sehr zufrieden, dass ihm eine Gauklerin recht schnell einen Schlafplatz bei sich feilbot. Endlich wieder in einem Bett schlafen. Womit er nicht gerechnet hatte war, dass das Schlimmste noch bevorstand an diesem Abend. Denn kaum, dass sie mit den Vagabunden gespeist und getrunken hatten, legte sich Müdigkeit über die Freunde des Elfen und ihn. So viel zum gemütlichen Schlafplatz. Waren sie vergiftet worden?

Dunkel.

Die Nacht war bereits über Dere und Tobrien hereingebrochen als der elfische Zauberer aus Donnerbach erwachte. Die Gauklerinnen waren fort, zumindest jene, die sich noch mit William vergnügen wollten. Doch der Pirat und der Heiler, Vitus, waren im Wagen. Ansonsten herrschte befremdliche Stille. Rasch, aber vorsichtig sah sich der Elf um und musste mit Erschrecken feststellen, dass das Feuer erloschen war und die Gaukler offenbar aufgebrochen waren. Zwei Wagen hatten sie zurückgelassen…

…und die Statuette war fort, wie auch alle Pferde bis auf zwei. Dieses offenbar mächtige, magische Artefakt, es war fort. Jenes, weshalb sie von Namenloskultisten angegriffen worden waren und für das ein Diener des Götterfürsten sein Leben gelassen hatte. Cyruion zog die Brauen zusammen und sah nach den Gefährten. Während er Garion und Tarambosch schnell erreichte und wecken konnte, schlugen sämtliche Versuche bei William und Vitus in diese Richtung fehl.

Sie wachten nicht auf. Doch, lebten sie überhaupt noch oder träumten sie selbst?

Obgleich die schiere Dunkelheit Unbehagen beim Elfen auslöste, versuchte er sich für einen BLICK IN DIE GEDANKEN zu konzentrieren. Auf diese Weise ließ sich zumindest herausfinden, ob Vitus nur ein Abbild des Heilers war und ansonsten so lebendig wie ein Stein oder ob er der Heiler war, der fest schlief, träumte. Zum Glück des Elfen gelang der Zauber und er konnte den Heiler aus seinen märchenhaften Träumereien reißen, während sich Garion und Tarambosch auf rabiatere Weise um William kümmerten.

Anschließend machten sie sich auf, die Gaukler auf den übrigen zwei Pferden und dem Pony des Angroschim zu verfolgen, unter Einsatz ihrer, mehr oder minder vorhanden, Kenntnisse im Umgang mit der Natur. Sie waren in diesem Moment die Hetzer, die jagten und etwas trieben, zumindest bis sie unweit eines Baumes innehielten, der auf den Elfen obskur wirkte. Denn die Äste waren übersät von Nachtwinden, jenen Vögeln, die Magie etwa so sehr verabscheuen wie die Angroschim Drachen. Nachdem eine Eule am Baum vorbeigezogen und angegriffen worden war, folgten alle bis auf Cyruion und Vitus dem Kampf zwischen Eule und Nachtwind. Denn die Eule könnte schließlich, wenn sie angegriffen wurde, ein Elf sein und unter der Wirkung eines ADLERSCHWINGE stehen.

Aus der Ferne konnte Cyruion vernehmen, wie insbesondere Garion und Tarambosch schnellen Prozess mit dem Nachtwind machten und ihn – wie die Garether Metzger sagen würden – buchstäblich zerhackten. Anschließend näherten sich auch die beiden Zurückgebliebenen dem Rest der Gruppe, nur um festzustellen, dass es sich bei der Eule um keinen Elfen handelte. Eine ältere, blinde Frau hatte die Eule zum Vertrauten und nutzte es, um sehen zu können. Da das Tier geschwächt war und nicht weiterfliegen konnte, brachten sie die ältere Frau noch zu ihrer Hütte… weiterhelfen konnte sie ansonsten aber, leider, nicht wirklich. Sie war nur zum Beweis dafür geworden, dass er sich niemals einem Nachtwind nähern durfte, wenn er sich als Adler in die Lüfte erhoben hatte.

Es wäre wahrscheinlich sein Tod.

Leise schluckte Cyruion, während sie die Jagd nach den Gauklern fortsetzten.

Auf dem Weg den Gauklern hinterher, konnten sie noch ein ums andere Mal die Hetzer erspähen, auch wenn sich diese nicht mehr für sie interessierten. Diese Kreaturen des Namenlosen waren demnach ausnahmslos auf jene angesetzt, die die Statuette in ihrem Besitz hatten. Aber was genau war so wichtig an diesem kleinen Stück, das wahrscheinlich das Abbild eines Drachen oder Daimoniden zeigte?

Cyruion verschnaufte einen Moment, er durfte nicht zu sehr in Gedanken schweifen, denn noch hatte er sein Ziel, Warunk, nicht erreicht. Zwar zeichneten sich die Konturen und Umrisse der Stadt bereits ab, doch noch war er nicht dort, konnte nicht sagen, wo er konkret hinsollte und wie viel Zeit überhaupt vergangen war. Es war ein unpraktischer Gedanke, jetzt, da ihm die Flügel allmählich schwer wurden. Zwar hatte er den Zauber in der Vergangenheit bereits ausgereizt, jedoch nie unter solchem Stress, nie mit dem Wissen, dass das eigene Zeitgefühl in diesen vergangenen Tagen abhandengekommen war.

Seine verbliebene, astrale Kraft hatte er für das zweimalige Wirken des ADLERSCHWINGE aufgeopfert, riskierend, dass ihm irgendwo im Wald noch während der Rückverwandlung, einem Durchatmen sowie einem längeren, sorgenvollen Blick zurück in Richtung seiner Gefährten, Diener oder Kreaturen des Dhaza auflauern konnten. Wenn er sich nicht völlig verkalkulierte, dann würde er es gerade so nach Warunk schaffen und falls nicht, noch vor den Stadttoren wie ein Stein vom Himmel fallen. Es war daher ohnehin erforderlich, dass er nicht zu weit über den Wipfeln der Bäume flog, sofern es sich anbot noch tiefer ging, um im Falle eines Absturzes nicht zu viel körperliches Gebrechen zu riskieren. Spätestens die Arie mit dem Fenster in Zackenberg hatte ihm wieder vor Augen geführt, dass sich jeder Schaden, den er in Tiergestalt nahm, entsprechend auf seinen gewöhnlichen Elfenleib auswirkte. Ein Gedanke, den er verdrängt hatte, wo er den Zauber sonst eher wirkte, um auszukundschaften, oder sich der Natur schlicht näher zu fühlen.

Doch sei es, wie es wollte, all die Gedanken um einen elfischen Kollateralschaden waren nicht besonders förderlich und für das eigene Empfinden hatte er die letzten Wochen genug gelitten. Leid schien ohnehin das große Thema dieses Lebensabschnitts zu sein. Während er seinen Weg beschwingt fortsetzte, musste er an die heiligen Tiere der Zwölfe denken, die ihm vor einigen Tagen unter die Augen gekommen waren. Eine Jagdgesellschaft hatte sich offenkundig die Mühe gemacht, diese Tiere zu erlegen. Und zwar ausschließlich solche. Wie bei der Haijagd von Bacha und Phileasson hatte er dafür kein Verständnis, als ihm jedoch deutlich gemacht wurde, dass es sich beinahe um einen Frevel handelte, wurde er schon wieder nachdenklich. Namenloskulte, eine mächtige Statuette und die zwölfgöttlichen Tiere erlegt und zu einer schwer befestigten Burg geschliffen?

Nur ein Narr hätte dahinter, spätestens ab diesem Zeitpunkt, nichts Größeres erwartet. Daher war es nur folgerichtig, den Gauklern und ihren Wagenspuren über Stock und Stein zu folgen. Über der besagten Burg selbst schwebte ein Blaufalke, nach der Eule nicht das erste, zu bewundernde Federvieh. Der König der Lüfte… abgerichtet, sicherlich zur Warnung oder Jagd genutzt. Jedoch sollte das nicht helfen. Aus einem kurzen Gespräch ging ein Impuls von William aus und er versuchte sich über karges Feld zur Burg zu bewegen, nur um von zwei Bolzen zerschlissen zu werden. Garion konnte ihn mit einem geschickten Manöver retten, doch dann zogen sie einmal mehr weiter. Es war zu erwarten, dass die Burg die gesuchten Antworten beinhaltete, doch sie wirkte uneinnehmbar mit solch einer kleinen Gruppe, aus der ein Streiter noch verletzt war.

Es wurde allmählich dunkel, wenn er sich recht entsann, warteten sie ab. Denn irgendwann würde schon irgendetwas passieren – und nach einer ganzen Weile konnten die erschöpften Gefährten einen Lichtschein fernab der Burg erblicken, dem zu folgen war. Tarambosch schlich, ohne Rüstung, am Waldrand entlang und verschaffte sich einen ersten Blick, erschlug dazu ein kleines Mädchen und kam auf diese Weise in den Besitz einer Kultistenrobe wie -maske. Offenbar sammelten die Kultisten noch Holz. Sachen, die nur ihm passten. Sie näherten sich, nachdem sie den Gedanken verworfen hatten, die Kultisten zu infiltrieren. Denn es erschien unmöglich, noch an diesem Abend in kürzester Zeit hinreichend passende Gewandung zu erlangen, ohne dass es irgendwann auffällig wurde.

Aus etwa 150 bis 200 Schritt Entfernung war der Platz gut zu überblicken. Eine große Statue des Namenlosen im Zentrum, eine Statue, die ihn erhaben und nicht etwa in Ketten zeigte… dazu ganze dreizehn Scheiterhaufen. Dreizehn. Es war seine Zahl. Seit jeher.

Noch während die anderen und der Elf anfingen sich Gedanken machten, wie vorzugehen war, begab sich ein ganzer Tross aus Dienern des Namenlosen zum Kultplatz. Darunter obskure Gestalten wie ein Junge mit fast schon schneeweißem Haar, einer der wenigen, der keine Maske trug oder vielleicht sogar der einzige. Offensichtlich kamen sie aus Richtung Burg und hatten, zu allem Überfluss, die zwölf Tiere dabei. Kurz darauf wurden die Scheiterhaufen, gespickt mit den heiligen Kreaturen der Zwölfgötter, angezündet. Ihnen lief allmählich die Zeit davon – und noch immer hatten sie keinen richtigen Plan, was auch immer dort geschehen sollte zu verhindern. Denn, so viel war sicher, es würde keine gute Tat sein, die heute hier in diesem Ambiente verrichtet werden sollte. Im Gegenteil. Es brauchte eine zündende Idee…

Eine gefühlte Ewigkeit später hatten sie sich auf eine Möglichkeit, die weniger Unmöglichkeit in sich barg als viele andere Gedanken, verständigt. Zumindest, nachdem sie die Statuette auf dem Kultplatz in der Nähe eines blassen Elfen sichten konnten. William hatte sich indes weiter nach vorn geschlichen, um den Kultplatz aus nächster Nähe zu erleben, vielleicht von dort etwas vornehmen zu können und gegebenenfalls für Ablenkung zu sorgen. Es war jedenfalls heikel, denn er begab sich mitten in die Höhle des Löwen, am späten Abend des fünften Tages des Namenlosen.

Cyruion zog sich etwas zurück, sammelte sich. Es war nie wichtiger gewesen, dass seine Verwandlung gelang und dass er selbst, zum Glück, unversehrt war. Nach den Worten „ADLERSCHWINGE WOLFSGESTALT“, setzte der Verwandlungsprozess ein und kaum einen Augenblick später stand der gefiederte Elfenmagier inmitten des heldenhaften Trüppchens, das aus nicht mehr als einer Hand bestand.

Ein Alveranskommando.

Im Gegensatz zu den Menschen fürchtete der Auelf das bevorstehende Ende allerdings nicht wirklich. Denn, so dachte er, die Sagen und Legenden seines Volkes sangen immer wieder von Reinkarnation oder dem Weg ins Licht. Es war ein beruhigender Gedanke, nicht die Niederhöllen fürchten zu müssen, sondern schlicht eins mit dem eigenen Volk zu werden, gleich wann sie das Schicksal geholt hatte. Kein möglicherweise ewiges Warten in Borons Hallen, ehe eines der zwölfgöttlichen Paradise sich öffnet. Die Situation war angespannt, doch eine gewisse Ruhe konnte er sich nicht absprechen. Wenn er hier starb, dann war es wenigstens für eine größere, eine wahrscheinlich nicht unbedeutende Sache, wenn er nur an das Artefakt und seine Macht dachte.

Dann war es soweit…

Tarambosch gehörte der erste Schritt, es war an ihm, das Ritual und den Ablauf des Abends in erster Instanz zu stören und er hatte sich das Ziel für seinen Bolzen gut gewählt. Der schwarzäugige Elf, der nahe der Statuette offenbar in einem Beschwörungskreis stand. Von der Wucht des Bolzens wurde dieser verräterische Elf umgeworfen. Vorab hatte sich Cyruion ein Stück abseits bereits in die Lüfte erhoben.

Er brauchte eine Menge Anlauf wie Höhe, dass Angriff und Flucht in so kurzer Zeit passierten, dass eine Reaktion nahezu unmöglich wurde. Während der namenlose Elfenmagier zu Boden ging, setzte der verwandelte Auelfenzauberer an. Es war das Signal für sein Eingreifen – jetzt oder nie.

Sturzflug. Dere zischte an ihm vorbei, doch der geschärfte Blick des Elfen hatte die Statuette längst fokussiert. Er hörte nichts mehr außer dem Rauschen der Luft, die die eigenen Flügel durchschnitten. Ein ohrenbetäubender Lärm, an den er sich einen Moment gewöhnen musste. Die Fänge waren gespreizt, etwa 80 Schritt die Sekunde. Hoffentlich packte er im rechten Moment zu. Sonst war alles umsonst…

 

Geschafft!

 

Allerdings, wie er in einem kurzen Anflug von Euphorie bemerkte, hatte er nicht alles zu Ende gedacht. Noch auf den ersten Metern weg vom Ritualplatz bemerkte der zum Bergadler gewordene Auelf, dass er keinen Gedanken an den Blaufalken nahe der Burg verschwendet hatte. Dieser war ebenfalls am Ritualplatz. Cyruion versuchte das bestmögliche aus seinem Überschuss an Geschwindigkeit zu machen, konnte die Gefahr jedoch nicht abschütteln. Der Falke rückte ihm allmählich auf die Federn, in leichter Hektik und Panik drehte Cyruion bei in Richtung seiner Gefährten und ließ einen Schrei ab. Er brauchte sie, oder zumindest eine Klinge, einen Bolzen, sonst würde er das Nachsehen haben. Unablässig rückte der Falke näher. Eine weitere Runde im weiten Radius, dazu hatte der Elfenmagier des Namenlosenkultes sich gefangen und setzte seine Kraft gegen den Bergadler ein. Es wurde schwerer, sich überhaupt in der Luft zu halten, voranzukommen.

Hilfe.

Verzweiflung machte sich im Blick des Adlers breit. Ein weiteres Mal überflog er die Gefährten, machte sich bemerkbar – dann traf endlich ein Bolzen. Erleichterung überkam den Elfen als der Blaufalke zu Boden sank und sich nicht mehr erhob. Bei aller Liebe zu Tieren, dieser Tod war kein nutzloser, sondern diente einer größeren Sache. Angeschlagen von den Einflüssen der luftelementaren Magie stieg Cyruion wieder auf, die Statuette noch immer fest in den Fängen und setzte sich ab. Dorthin, wo er Warunk vermutete; jene Richtung, die sie zuletzt eingeschlagen hatten, als sie nach Warunk wollten.

Dann die Feuersbrunst, unter einem lauten Knall und schier endlosem Knarzen und Knirschen verendete der Wald, offenbar eine Auswirkung der Macht des Knaben, der um seinen Ritus gebracht wurde. Cyruion war jedoch weit genug weg. Nur die Bekannten… ob sie es geschafft hatten?

Ächzend und krächzend kreiste Cyruion wenige Minuten später über Warunk und setzte vor dem auf, was er aus der Luft als Tempel des Götterfürsten Praios vermutete und verwandelte sich vor zwei Sonnenlegionären ungeniert zurück. Die Statuette übergeben, das Erlebte schildern, wo sie gewesen waren. All das hatte er vor, doch für mehr als die Statuette reichte es nicht. Völlig erschöpft, physisch wie psychisch, fragte er noch im Tempel Praios‘ nach dem nächstmöglichen Bett, das er beanspruchen könnte… und nach Tempelasyl. Denn zumindest solange, wie die alte Reisegruppe nicht zusammengefunden hatte, wollte er sich inmitten Götterdienern wissen, die mit den Schrecken des Dhaza besser umzugehen wussten.

 

1014.

 

Es konnte nur besser werden..

Perricum 10 (Cyruion) (PER 1013)

Nachdenklich betrachtete Cyruion Garion. Doch in diesem Moment sparte er sich trotz aller Neugier eine Nachfrage. Es war sicherlich nicht der richtige Moment, eine andere Wunde mit Salz zu bestreuen und zu sehen, wie unglücklich die Reaktion darauf vielleicht ausfiel. Ohnehin waren die Tage in Perricum bislang eine einzige Ablenkung gewesen, so dass es sowieso falsch erschien nachzubohren, weshalb sein Weg nicht steiler verlaufen war. Eben gerade vielleicht wegen der vielen Ablenkungen? Zumindest wollte Cyruion jetzt keine darstellen.

In die Rolle der Ablenkung würde sicherlich bald eine andere Person schlüfen, mit Wonne. Vitus schien mit seiner zweifelhaften Vergangenheit in Perricum prädestiniert dafür und William, nun, vielleicht. Dem Blick auf das Wesen des Piraten, Seeräubers und liderlichen Mannes war geschuldet, dass sich Cyruion über einen Umstand im Klaren war: William gab vor dümmer zu sein, als es der Wahrheit entsprach. Er war befähigt zu kämpfen, oder zumindest seine Haut zu retten, bis es an der Zeit für die Flucht war. Auch eine gewisse, handwerkliche Befähigung war dem Mann mit zerschlissenen Kleidern – im Gegensatz zu Bücherwissen – zu attestieren. Womöglich ging es dabei um solcherlei Dinge, die er sich selbst beigebracht oder auf See gelernt hatte, wie etwa eine Planke zu schrubben oder notdürftig zu reparieren.

Dann stockte der auelfische Schneider und sah aus dem Augenwinkel in Richtung des monumentalen Portals des Tempels, in dem sie immer noch standen. Eine Person, die den Eindruck machte auf und ab zu gehen, sich nach etwas umzusehen, vielleicht nervös war. Sein Gebahren passte nicht ganz zu dem, was andere taten: den Tempel schlicht verlassen. Doch vielleicht wartete er auch nur auf seine Begleiter, obgleich der Mann in feinem Zwirn nicht unbedingt den Eindruck machte, als gehörte er einer Schicht an die oft oder sonderlich gerne wartete. Cyruion zog die hellen Brauen zusammen und sah wieder in die Runde.

Unlängst hatte er den Gesprächsfaden verloren, weshalb er sich lediglich die Mühe machte die Gruppe während einer Gesprächspause, einem kurzen Moment des Schweigens nur,auf die Gestalt am Eingang aufmerksam zu machen. Wenig verwundertlich war, was folgte, dass zumindest der Geweihte ein reges Interesse zeigte die Gestalt zumindest zu fragen, ob sie Hilfe benötigte oder vielleicht etwas anderes brauchte?

Zügig stellte der Fremde klar, dass er auf die Mischung aus Geweihtem, Angroschim, Elfen und anderen, recht willkürlich aussehenden Menschen aufmerksam geworden war und tatsächlich Hilfe benötigte. Er, der sich als Valadus von Darrenfurt vorstellte, kam nach eigener Aussage aus Perricum. Und er benötigte Hilfe? Ein Hauch von Neugier veranlasste den Elfen dazu, den anderen zu folgen und sich die Sorgen des Darrenfurt anzuhören und gemeinsam begaben sie sich auf den Weg zur Stadtvilla des, offenkundig, reichen Mannes, der einen ausschweifenden Lebensstil prägte. Sein ganzes Haus war voll und beinahe Überladen von Kunstwerken und anderen Dingen, die als Schätze bezeichnet werden konnten – und durften.

Sein Problem war jedoch ein anderes – die Liebe. Eine der wenigen Sachen, die nicht käuflich war, wie er bitterlich hatte feststellen müssen. In dieser Hinsicht duldete der Auelf keinen Widerspruch, denn das was William und andere sich für einige Dukaten erkauften, war keine Liebe, sondern ein Trostpflaster für einen verletzten, einsamen oder brünstigen Geist. Ansonsten wären auch all die Geschenke, die Darrenfurt seiner Herzensdame wohl unterbreitet hatte, genug gewesen um einen Traviabund herbeizuführen. Darrenfurt ging auf Nachfrage weiter ins Detail. Er hatte um die Tochter des Barons von Zackenberg gefreit, die so schön war, dass er sie unbedingt seiner Sammlung hinzufügen wollte. Cyruion betrachtete den Mann skeptisch, der wirkte wie ein verzweifelter Schatzsammler, aber gleichwohl von Liebe und Heirat sprach, obwohl er über die begehrte Dame gar nichts zu wissen schien.

Ihre Lieblingsblume waren Blumen. Frauen mochten schließlich Blumen.

Das gesprochene Wort des Edelmannes war dem Elfen beinahe ein Augenrollen wert. Er konnte das, was er erzählte, nicht wahrhaftig ernst meinen oder zumindest nicht in dieser Form.

Cyruion tat sich demnach schwer, dem Mann zu glauben, umschmeichelte er doch auch den Elfen und hoffte auf eine Gesangsdarbietung oder die Möglichkeit ihn vielleicht zu einem seiner Feste zu laden, sei es nur für die musikalische Untermalung. Es gab etwas, das ihn daran störte. Weniger der Umstand, dass er einige Dukaten verdienen konnte, sondern mehr die Besorgnis am Ende in einer Kiste auf dem Dachboden zu enden – als Teil einer großen Sammlung, irgendwo abgelegt und nur mehr zu besonderen Anlässen herausgeholt, wie gegebenenfalls auch die Tochter des Barons von Zackenberg. Cosima.

Cosima, der besondere, seltene und begehrenswerte Schatz, der, wie Darrenfurt erzählte, zusätzlich unter einer verhängnisvollen, schlechten Konstellation der Sterne den Weg nach Aventurien gefunden hatte, wie schon ihre Mutter, die bei der Geburt verstarb. Wieder wurde der Elfenschneider hellhörig. Die Sterne – tatsächlich vermochten sie einiges auszusagen, doch leider konnte Valadus keine hilfreichen Informationen als das liefern, was sicherlich auch der Volksmund sprach: schlechte Omen, Unheil, schlechte Menschen?

Zum Glück gab es in Perricum eine Akademie, die dem Elfen sicherlich mehr verraten konnte.

Bedächtig strich Cyruion eine Strähne hinter eines der spitzen Ohren zurück. Nur vielleicht war es die Wahrheit, die Valadus sprach. Vielleicht war es tatsächlich Liebe, vielleicht war sie nicht nur ein Stück Beute, sondern das, was ihm zu seinem Glück fehlte und er vermochte sein Leid nicht besser in Worte zu fassen? Nach einem längeren Gespräch sagte die Gruppe ihre Unterstützung zu. Doch benötigten sie noch weitere Informationen, wie auch eine gute Idee, wie überhaupt auf die Burg oder die Tochter heranzukommen war. Immerhin war es Adel, den sicherlich nicht jeder ohne weiteres besuchen konnte.

[…] Am darauffolgenden Morgen hatte Cyruion wenigstens den Umstand verdaut, dass William am Vorabend beinahe beharrlich den Weg von Vitus einschlagen und Bekanntschaft mit dem Perricumer Kerker machen wollte. Valadus hatte ein Bild seiner Geliebten gezeigt und der Seefahrer alle erforderlichen Anstalten gemacht, dieses unauffällig in seiner Tasche verschwinden zu lassen. Zum Glück war jedoch mehreren der bloße Versuch aufgefallen. Noch immer wurde der Elf aus dem Mann hinter der dämlichen Fassade nicht schlau. Warum stellte er sich so an, wie er es tat, wenn er insgeheim doch so intelligent schien?

Vielleicht hatte ihn die raue See verdorben.

Cyruion schüttelte den Kopf. Über den Barbaren, der an der Flasche hing, konnte er sich noch viele Jahre den Kopf zerbrechen. Den Morgen selbst wollte er nach einer kurzen Wäsche und einer Begegnung mit Garion und den anderen jedoch für etwas sinnvolles aufopfern. Die Schule der Austreibung war sein Ziel. Auch wenn ihnen das Datum noch fehlte, das sie benötigten, immerhin konnte das Alter der Dame auf 19 Jahre festgelegt werden.

[…] Gegen Mittag war der elfische Zauberer ernüchtert aus der Akademie zurückgekehrt. Ohne ein Datum konnten sie ihm keine Auskunft geben und empfanden auch den Zugang zur Bibliothek als wenig zielführend oder sinnvoll. Daher war es erforderlich, dass sie Valadus noch einmal befragten, der am Vorabend nicht den Eindruck gemacht hatte, irgendetwas über Cosima von Zackenberg zu wissen, das ins Detail ging.

[…] Valadus hatte tatsächlich helfen können und seinen Diener oder Schreiber bestellt, das Tagebuch heranzuschaffen, in dem er den Vermerk hatte machen lassen. Eifrig schrieb Cyruion mit, damit der nächste Gang zur Akademie nicht wieder sinnlos sein würde und er mehr über Cosima und die Sterne herausfinden konnte. 5 ING 993. Neugier machte sich in den Gedanken des Elfen breit. Was er wohl herausfinden würde, was ihm die Bibliothek über Cosima anhand der Sterne verraten mochte?

[…] Es dämmerte bereits, als der auelfische Zauberer mit ungewohnt steinerner Miene in die Ordensburg der Ardariten zurückkehrte. Der bloße Ortswechsel ermutigte ihn nicht, bessere Laune zu haben. Er fühlte sich, wie die nach außen scheinende, grinsende Fassade von William allzu oft wirkte: Dumm.

Die Schule der Austreibung hatte dem Elfen gegen einen Obolus den Zugang zur Bibliothek gewährt und er, er war unachtsam gewesen. Kaum, dass er eines der ersten Werke zur Sternkunde aufgeschlagen hatte, war ihm die Henkelkerze umgefallen und hatte einen Brand ausgelöst, der das Buch in seine Bestandteile aufzulösen begann. In seinem blanken Unverständnis für dieses Missgeschick hatte der Auelf sich später herauswinden wollen, bemühte sich um Erklärungen, die den Schaden abschwächen sollten, ehe er den fatalen Umstand wieder berücksichtigte, dass seine mangelnde Sorgfalt verantwortlich für all das war.

Das liebgewonnene Geld, das er die letzten Wochen verdient hatte, verknappte sich durch dieses Missgeschick in seinem Geldbeutel deutlich. Eine Strafe von mehreren Dukaten wurde dem Elfen abverlangt, wie auch entschuldigende Worte an den Verfasser der Schrift, der zu seinem Glück jedoch erzählte, dass dem Elfen nur eine Abschrift in Flammen aufgegangen war.

Glück im Unglück. Dennoch behagte dem Elfen die Situation nicht und wäre er in dieser Situation ein Mensch gewesen, hätte er rege Scham für sein Verhalten empfunden. Ungewohnt enerviert über die eigene Unzulänglichkeit bließ der Elf die Backen auf. Glück im Unglück.

Denn es war nur eine Abschrift – und der Verfasser erbarmte sich zumindest, dem Elfen die Antwort auf seine Frage aus dem Original und seinen Unterlagen herauszusuchen. Ein mäßiger Erfolg. Auf diese Weise erfuhr er zwar, und vielleicht schneller als durch eigene Recherche, worum es dabei ging, doch ohne Feuer und den Verlust der Münzen wäre es ihm lieber gewesen, wäre es eine eigene Leistung, ein tatsächlicher Erfolg gewesen und sich unterschwellig weniger das Gefühl von Mitleid einschleichen.

Durchatmenderweise erzählte er seinen Begleitern von diesem Unfall, am Rande, versuchend die wesentlichere Information auffällig in den Vordergrund zu stellen und von seinem Versagen abzulenken. Sie sollten hauptsächlich wissen, dass die Sternenkonstellation nicht unbedingt so negativ war, wie sie generell empfunden wurde. Tatsächlich war von der Geburt weiser Anführer die Rede, die des Öfteren den Versuchungen der Macht erlagen. Nicht immer, aber oft. Gab es nicht schlechtere Omen für die Geburt eines Kindes, als die Erwähnung der Geburt eines Anführers? Es kam dem Donnerbacher Magier fast so vor, als hätten alle vor ihm nur den zweiten Teil des Satzes gelesen und die Worte vor dem Beistrich ignoriert.

Weshalb, das verstand Cyruion nicht, doch dieser Tag war sowieso nicht seiner. Insofern freute es ihn umso mehr, dass sie die Unternehmung mit den gewonnenen Informationen schlicht weiter konkretisierten und ihm dabei Aufgaben zuteil wurden, der er sich annehmen konnte – wohl ohne dieses Mal zum Scheitern verdammt zu sein.

Der restliche Abend, die Planung und weiteres, zogen ansonsten eher am Elfen vorbei.

Dieser eine Moment in der Bibliothek ließ ihn nicht los.

Perricum 9 (Cyruion) (PER 1013)

Während Vitus mit den anderen über sein Schicksal brütete und überlegte, auf welche Weise er die Strafzahlung im besten Fall leisten konnte, hielt sich der auelfische Zauberer weitestgehend zurück und streute seine Gedanken nur sehr sporadisch in das Gespräch ein. Sein Bedürfnis war nicht gewesen, den zurückhaltenden Menschen in diesem Moment mit seiner Weisheit zu erleuchten. Dazu kam, dass er mit fortschreitender Zeit bemerkte, dass ein Hauch von Aufregung bis hin zu Vorfreude in ihm aufkeimte. Der Nachmittag war bereits angebrochen und der Sinn und Zweck seiner Reise sollte sich an diesem Abend endlich erfüllen.

Das neue Schwert der Schwerter würde im Tempel zu den Menschen sprechen.

In bester Laune zuckten die Mundwinkel des Elfen nach oben und nachdem die Angelegenheiten des Vitus Arres geklärt waren, machten sie sich auf den Weg zur Burg, um letzte Vorbereitungen zu treffen. In der Löwenburg schien es vielen ähnlich zu gehen, wie dem Elfen. Zwischen Aufregung und Sorge meinte er alle nur erdenklichen Stimmungen ausmachen zu können. Das wunderte ihn nicht, denn so wie er es verstand, war die Person hinter dem Titel maßgeblich mitverantwortlich für die Richtung, die die Rondra-Kirche in den darauffolgenden Jahren einschlagen würde. Auch Donnerbach, auch Aldare und selbst Narond konnte und würde dieser Umstand dann beeinflussen.

Cyruion schwelgte in Gedanken, während er seine Sachen ordentlich zusammenlegte und sich in das Reisegewand kleidete. Die Robe war dem Anlass angemessen, davon abgesehen würde er anschließend wohl nicht mehr all zu lange auf der Löwenburg weilen und sich anderweitig umsehen müssen, außer er trat mit der Donnerbacher Delegation direkt dem Heimweg an, Dem stand jedoch noch ein Ardarit im Wege, den er gerne als Freund bezeichnete und an dessen Seite er sicherlich auch einen Moment verweilen konnte. Dort, wo es ihn hinführte, würde es schließlich auch andere Mode geben, Inspiration und weitere, sonstige Möglichkeiten Wissen mitzunehmen, zu lernen, die Zeit sinnvoll zu nutzen.

Es klopfte.

Mehr in einer Randnotiz wurde er darüber informiert, dass die Meisterin der Senne Nord und ihre Gefährten sich auf den Weg machten. Er, als Magier des Trosses, wollte und sollte dabei vielleicht nicht fehlen. Mit einem dankbaren Nicken verließ er die Kammer und begab sich an der Seite von Thali und den anderen in den Perricumer Tempel der Rondra. Der Weg war zum Glück nicht all zu weit und einen guten Blick konnte er ebenso erhaschen. Nebst seiner Größe gerieten ihm hier auch die guten Augen zum Vorteil. Ihm fielen die Wachen auf, die im vorderen Teil unauffällig auffällig ihre Position bezogen hatten.

Der Saal füllte sich, immer mehr, bis jedes Bisschen Luft im Raum für einen der Anwesenden reserviert war.

Gemurmel und Getuschel an allen Ecken und Enden. Einige Menschen zählten sicherlich die Sekunden oder Minuten die vergingen, bis sich eines der Portale öffnete und ein Mann den Raum betrat, sich im Zentrum des abgeschirmten Bereiches postierte und nach einem Augenblick zu sprechen begann. Es war offensichtlich, dass er es war, er, das neue Schwert der Schwerter. Langer, wallender Umhang, dunkelblondes Haar und die Fraise blieben dem Elfen im Gedächtnis, neben einem auffallend langen Namen. Doch so schien es gang und gäbe bei den menschlichen Herren von Stand.

Dragosch Aldewîn Ferlian Corrhenstein von Sichelhofen.

Leise murmelnd wiederholte Cyruion den Namen des Mannes, ehe er den Blick schweifen ließ.

Freude, Besorgnis, Unsicherheit, Glück – wieder schien jede Gemütslage vertreten zu sein.

Viel sprach der Mann von Sichelhofen nicht, dafür, dass so ein Tamtam um seine Person, sein Amt und einen möglichen Neuanfang für die Rondra-Kirche gemacht wurde. Nach kaum zehn Minuten schien das Spektakel vorbei. Cyruion musste zumindest sich selbst eingestehen, dass er etwas anderes oder schlicht mehr erwartet hatte, wie einen Gottesdienst. Doch dazu kam es nicht. Nachdem Dragosch von Sichelhofen den Raum verlassen hatte, machten einige Fraktionen und Gruppen Anstalten es ihm gleichzutun.

Auch Aldare und ihre Gefolgsleute wollten sich besprechen.

Sang und klanglos hatte sein Dienst damit, einmal mehr, sein Ende gefunden. Thali hatte ihn darüber in Kenntnis gesetzt.

Während die Rondra-Geweihten und geladenen Gäste sich gen Ausgang orientierten, hielt der Auelf Ausschau nach dem bornländischen Ardariten und seinen bunt gemischten Begleitern – dem Angroschim, dem Verbrecher und William. Nach einem Moment wurde er fündig und gesellte sich dazu, um zumindest Garions Meinung über Dragosch einzufangen. Bedauerlicherweise gab er wenig preis, außer dass er offenbar mit Dragosch gerechnet hatte – oder es bereits im Vorfeld erfahren hatte. Der Mann, der nun die Kirche führte, schien jedenfalls einer von denen zu sein, die sich ihre hohe Stellung innerhalb der Geweihtenschaft eher in kurzer Zeit verdient hatten.

Vielleicht schwang deshalb etwas Unmut in der Stimme des Ardariten mit?

Perricum 8 (Cyruion) (PER 1013)

Perricum, die Stadt mit Delphin im Wappen und Löwin im Herzen, präsentierte sich dem Auelfen an diesem Morgen ähnlich wie bereits in den vergangenen Tagen. Die Praiosscheibe stand hoch am Himmel und erhitzte mit jeder Stunde die verging, zumindest bis Mittag, zunehmend die Gemüter. An einen Regenschauer oder vergleichbares war gar nicht zu denken, zu sehr trieb der Wind die wenigen Wolken offenkundig in Richtung Trollzacken, um sich dort in aller erdenklichen Fülle und Pracht zu entladen. Die nicht vorhandene Wolkendecke hatte etwas beunruhigendes, an einem Tag, der sich für ganz Perricum um Blitz und Donner drehte. Das neue Schwert der Schwerter würde offenbart und zudem würde bereits in wenigen Stunden über Vitus geurteilt werden.

Cyruion schmerzte die rechte Hand etwas; diese Nacht hatte er schlechter geschlafen als die Woche zuvor. Die einzige Erklärung, die sich ihm dafür bot, war der Umstand, dass sein Geist auch des späten Abends noch mit den Umständen um die Arrestierung von Vitus beschäftigt war. Allerdings war diese Antwort nur auf einen Teil der Sache bezogen. Nicht zu erklären wusste er sich den Umstand, dass er aufgewacht war, weil er an die Tür klopfte – und warum er seine Hose zuvor ausgezogen und in den Raum geworfen hatte. Selbst wenn es ihn beschäftigte, so pflegte er normalerweise nicht mit seinen Sachen umzugehen. Doch, und das war ihm sehr wohl klar, war er in der Nacht nicht immer er selbst, nicht alles erklärbar, wenig machte Sinn. Er konnte nur froh sein, dass Narond die Zimmertüre am Abend abgeschlossen und den Schlüssel mit sich genommen hatte, um dem Elfen am Morgen wieder aufzuschließen. Ansonsten… Cyruion mochte gar nicht darüber nachdenken. Er schüttelte kurz das Haupt und legte sich eine Haarsträhne hinter das Ohr.

Sein Vorgehen war in der Angelegenheit mit der Perricumer Stadtwache und Vitus nicht allzu galant gewesen, nicht so, wie die Menschen es sicherlich von jemandem erwarteten, dessen Ohren derart spitz waren. Jedoch hatten die Geweihten und Löwenritter ihn nach der Erzählung bestärkt, grundsätzlich richtig gehandelt zu haben. Der Mann wurde gesucht, insofern war es verständlich die Wache zu informieren. Sein alter Freund, Garion, war allerdings wenig begeistert. Der Magier war sich unsicher, ob dies nur daher rührte, dass er so gehandelt hatte oder die mäßige Laune des Geweihten mehr daran lag, dass zu diesem Zeitpunkt bereits ausreichend viele Probleme existierten.

William hatte sich der daimoniden Charyptoroth angebiedert, buhlte entweder um ihre Gunst oder sehnte sich nach Aufmerksamkeit oder vielleicht, und nur vielleicht, war törichter als es anzunehmen war. Der Seemann mit der Duftnote „stark alkoholisierter Mensch ohne Obdach“ redete viel, besonders wenn der Tag lang war und es für ihn wenig zu tun gab. Am Abend war er hingegen in das Lesen und Vorlesen vertieft, beschäftigte sich mit dem Vademecum der Rondra. Garion hatte es ihm ausgehändigt, in bester Absicht, damit William zumindest noch etwas über Rondra lernte oder um ihn von der aufkeimenden Panik im tiefsten Inneren ein wenig abzulenken.

Das Frühstück in der Löwenburg brachte der Elf rasch hinter sich, denn in der Burg des Ordens der Heiligen Ardare zu Arivor warteten die Probleme auf seine Gefährten und ihn. William würde sicherlich bald aus dem Efferd-Tempel zurückkehren, das stand zumindest zu hoffen, und der Geweihte Bronnjar wollte noch erörtern, inwieweit sie dem fahnenflüchtigen Medicus bei seiner Verhandlung behilflich sein konnten.

Früh wurde dabei für den Elfen klar, dass er sich weitestgehend heraushalten würde, da er die Absichten des Menschen nicht unbedingt verstand. Dies wurde ihm insbesondere bewusst, als er sich im Verhandlungssaal befand. Die eine Seite äußerte die Anschuldigungen gegen Vitus. Vitus selbst bemühte sich um eine Erklärung, die jedoch mehr schwer denn leicht über seine Lippen kam, als wisse er selbst nicht um das „Warum?„. Der Ardarit und ein Freund des Heilers, seines Zeichens Leutnant der Stadtwache und einstiger Kamerad,  hatten die Absicht die unbekannte Frau schließlich zur Hexe zu erklären und sie zu verdammen. Es musste oder würde wohl ein Zauber gewesen sein, der dafür gesorgt hätte.

Ein bedächtiges Nicken des Auelfen. Die Erklärungen klangen zumindest denkbar, dass es sich um eine Frau mit magischem Potential handelte. Doch weder war sie da, noch ließ sich diese Vermutung beweisen. Er selbst kannte Zauberformeln wie den Bannbaladin und seine mögliche Wirkung, besonders bei entsprechend willensschwachen Zielen. Eine Formel, die dazu nutzen konnte, großen Schaden anzurichten – oder einfach nur, um mehr Informationen zu erhalten.

Seltsam an Vitus‘ Fall war jedoch, dass eine Anwendung solcher Zauber für den auelfischen Magier keinen Sinn ergeben wollte. Denn selbst wenn Vitus, als einfacher Straßenwächter, etwas erzählt hatte – geschehen war danach nichts und auch langfristig war kein Schaden entstanden. Solche Zauber als eine Art Liebeszauber zu wirken, konnte sich Cyruion zwar vorstellen, doch gab es dafür sicherlich bessere Lösungen, etwa alchimistiche Gebräue oder Tinkturen. Doch auch dann wäre es nicht nötig gewesen, eine Pflichtverletzung des Mannes herbeizuführen.

Schlüssiger schien es dann zu sein, dass der Mann vernarrt in die Frau war, sich entfernt hatte um den Akt zu vollziehen und sich als Lückenbüßer ausnutzen ließ. Das machte sie jedoch nicht direkt zur Hexe, es konnte andere Gründe für solches Verhalten geben. Zum Beispiel, dass sie ein schlechter Mensch war oder kurz nach Vitus auf eine Person gestoßen war, die ihre Bedürfnisse besser oder eher erfüllen konnte. Dann hätte der Straßenwächter dennoch zurückgehen können.

Im weiteren Verlauf wurden die selben Punkte wieder und wieder aufgegriffen, zudem ging es besonders zum Ende hin um Schuld und darum, dass Vitus vor dieser davon gelaufen wäre. Die Brauen des Elfen zuckten dabei, sporadisch, unmerklich nach oben. Denn er verstand dies schlicht und ergreifend nicht. Wenn er sich einen Tag von der Akademie entfernte, obwohl er dort sein musste, fühlte er sich bestimmt auch schlecht. Dann jedoch würde er zurückgehen, mit den entsprechenden Konsequenzen leben und weitermachen. Ob als Magier am Seminar in Donnerbach, Knecht auf einem Hof nahe Gareth oder Straßenwächter bei Perricum… Für jeden war dieser Weg möglich, auch wenn die Strafe hier und dort sicherlich härter ausfiel.

Jeder war eben für sein eigenes Handeln verantwortlich.

Es nützte demnach nichts, eine unbekannte Frau, von deren Existenz außer Vitus niemand wusste und nie gesehen ward, zur Hexe verunglimpfen zu wollen. Zudem waren Hexen, auch wenn es im Praiosglauben anders gesehen wurde, nicht unbedingt schlechte Menschen. Hexen waren Frauen. Frauen, die magisch waren und deren Wirken weniger dem gildenmagischen und mehr dem elfischen gleichen sollte. Zumindest hatte Cyruion es so verstanden, wenn die Magister sich am Seminar über die Besenreiterinnen aus Weiden und anderen Landen geäußert hatten. Auch hatte er sie nie derart erlebt, dass es bösartige Exemplare gab, war jedoch nicht auszuschließen, wobei er in der Verliebtheit keine Boshaftigkeit erkennen konnte. Nachdenklichen Blickes folgte er der Verhandlung.

Insgesamt überraschte das Urteil den Auelfen nicht, Vitus wurde schuldig gesprochen. Der, der ganze zehn Jahre vor den Konsequenzen seines Handelns weglief, ob aus Angst, Feigheit oder anderen Gründen, der war nicht ehrenhaft im Sinne Rondras, ohnehin schuldig und hatte es, auch wenn der Gedanke sich selbst für den Elfen bitter anhörte, nicht anders verdient. Inwieweit das Strafmaß angemessen war, wusste der Cyruion nicht zu beurteilen. Mehrere tausend Dukaten oder eine mehrjährige Haftstrafe hieß es, obwohl nichts passiert war, doch das war sicherlich auch der langen Abstinenz geschuldet.

Glücklicherweise verfügte Vitus noch über etwas Geld, wie er der Gruppe kurz nach Urteilsverkündung mitteilte, und musste sich daher lediglich Gedanken um die nächsten Raten in Höhe von eintausend Dukaten machen. Doch das, so viel war dem Elfen klar, war allen voran seine Sorge und sollte auch seine bleiben.

Cyruion war es nicht geheuer, sich überhaupt damit zu beschäftigen. Der, der sündigt, der soll auch Buße tun. So oder so ähnlich hatten es die Geweihten in Donnerbach den Menschen schon gepredigt und damit ging er konform. Soweit möglich würde er Vitus wohl helfen, doch es war nicht im Sinne des Erfinders oder Rondra, wenn man diese Last einfach von seinen Schultern nahm. Dann wäre es schließlich auch keine Strafe mehr.

Zackenberg 1 (Garion) (PER 1013)

Mit trübem Blick betrachtete er die Wand links von sich. Hinter ihr lagen Vitus und Cyruion und schliefen. Oder jedenfalls hoffte er das. Vor einer guten halben Stunde war er aufgewacht und hatte einfach keinen Schlaf mehr gefunden. Also hatte er die Wache abgelöst und sich seinen Gedanken hingegeben. Aus irgendeinem Grund beschäftigte ihn die Sicherheit seiner Begleiter heute Nacht besonders. Ein leise Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass Menschen selten waren, wie sie schienen – und niemals besser. Was also hatte er von dem Herrn dieser Burg zu erwarten? Von einem bequemen, vergnügungssüchtigen Answinisten? Am heutigen Abend hatte nur eine dralle Blondine auf seinem Schoß gefehlt, um den Eindruck des Lebemanns endgültig zu festigen.

Beide Hände auf den Knäufen seiner Klingen – jede auf einer Seite seines Waffengurts – trat er an das Turmfenster heran und sah hinaus in die Nacht. Im Grunde wussten sie nichts über diesen Ort. Er war abgelegen, klein und gemieden. Der kühle Hauch eines schneidenden Windes streifte sein Gesicht.
Warum hatte der Traviageweihte ihnen nur so ungern das Gastrecht gewährt? Warum war das Verlöbnis ihres…Auftraggebers…derart zerfallen? Den Blick nach draußen in die schwarze Tiefe gerichtet, die nach wenigen Metern den Erdboden zu verschlucken schien, schüttelte er den Kopf. Warum genau waren sie eigentlich hier? Nichts an dem bisher erlebten rechtfertigte seine Sorge. Ein trinksüchtiger Vater, der kurzfristig seine Meinung ändert, weil ihm das von Weingeist benebelte Hirn suggerierte Answin von Rabenmund sei der einzig wahre Herrscher des Mittelreiches und nur Answinisten waren gute Partien für seine Tochter. Das mochte alles sein. Der ganze Grund für ihre Anwesenheit fern der Heimat.

In seinen Ohren dröhnten die leisen Geräusche, die ein vollständig im Schlaf liegendes Haus von sich gab. Ein Knacken hier, ein Bröckeln dort. Waren das Schritte? Einen Augenblick sah er zur Tür hinüber, bis das was er für Schritte gehalten hatte, nahtlos wieder verhallte. Die Momente in denen Stille den Kopf klärte waren in den letzten Jahren stetig weniger geworden. Aber jede Nachtwache lud dazu ein. Er sah zu dem Bett hinter sich – zu William und Tarambosch. Beide schliefen friedlich, keiner von ihnen störte sich an der Nacht unter einem fremden Dach. „Ohne Heimat sein heißt Leiden.“, sagte Fjodor Alrikowitsch Sjerpenkewski. Konnte es das sein, was ihn umtrieb? Fehlte ihm das heimatliche Salderkeim? Oder Schossko?
Wieder sah er zu den beiden Schlafenden. Dann schüttelte er den Kopf. Nein – das war es sicher nicht. Wenn er dem Gefühl des Heimwehs nachspürte, dann war dort nichts. Und er hatte es schon immer eher mit Baron Ulllob Rakorium vom Eberstamm gehalten, denn mit Sjerpenkewski. „Wir sichern uns die Heimat nicht durch den Ort, wo, sondern durch die Art, wie wir leben.“

Wenn ihn aber kein Heimweh aus Borons Armen getrieben hatte – was dann? Mit leisen Schritten wechselte er den Raum. Der leere Türrahmen, der die Schlafräume voneinander trennte hatte nicht einmal einen Vorhang. Es gab allerdings von beiden Seiten Schränke, die man im Fall der Fälle vor die Öffnung schieben konnte, sodass aus zwei Räumen einer wurde. Sein Blick traf auf die Zugangstür zum zweiten Raum, ehe er auch hier zu den Schläfern sah. Ein Elf und ein Mensch, beide männlich und tief im Schlaf. Beide sicher.
Wie um sich dieses Umstandes zu versichern ging er zu der Tür hinüber und prüfte ihren Riegel, der fest an Ort und Stelle saß. Dann sah er wieder zu der Schlafstätte, wo sein Blick an dem Menschen hängen blieb. Vitus war ein Deserteuer, so viel war sicher, aber er war kein schlechter Mensch, niemand, dem man böse Absichten unterstellen wollte. Überhaupt geschah alles was aus Liebe getan wurde jenseits von Gut und Böse. Sicher war es gefährlich, verantwortungslos und kurzsichtig seinen Wachposten wegen einer Frau zu verlassen. Aber böse? Nein. Böse war es nicht.
Nachdem er noch eine Weile die Gesichter der beiden Schlafenden betrachtet hatte, seufzte er tonlos und kehrte durch die zähe Dunkelheit der beiden Räume zurück in das andere Schlafzimmer. Auch dort war alles still; die Tür verriegelt. Die Waffen lagen nahe bei den Schlafenden, alle waren auf einen Überfall vorbereitet. Alles war wie immer. Mit einem Angriff musste man jederzeit rechnen.

Auch als Schwert der Schwerter.
, dachte der Ardarit. Seine Nackenhaare stellten sich lautlos auf und ein kalter Schauer jagte seinen Rücken hinab. Ohne es zu beabsichtigen hatte er den Finger direkt in die Wunde gelegt. Das Gefühl der Unruhe wuchs in seiner Brust, als in seinem Kopf die Worte Dragosch von Sichelhofens nachhallten.„Ich war zugegen, auf dem diesjährigen Adelskonvent vor wenigen Wochen in Gareth, an dem unser hochgeschätztes Schwert der Schwerter, das wie ein Vater für alle Mitglieder unseres Bundes als leuchtendes Beispiel hier in Perricum, dem Hauptsitz unseres Glaubens, über Jahre unbeugsam residierte, niedergestreckt wurde von einem ungesehenen Angreifer mit einem Bolzen von hinten durch seine Brust.“
Gemurmel hatte den Mann unterbrochen, Raunen war durch die Halle des Tempels in Perricum gegangen und hatte beinahe überdeckt, was der Mann dann gesagt hatte. Was Garion aus irgendeinem Grund irritiert hatte. „Es trug sich zu, dass ich es war, der den langjährigen Repräsentanten in seinen Armen hielt, als er den letzten Atemzug auf Dere tat und die letzten Worte sprach, ehe Golgari seine Seele mit sich nahm. Demütig beuge ich – Dragosch von Sichelhofen – mich dem letzten Willen des Schwerts der Schwerter und übernehme das heilige Amt, die Verpflichtungen Viburn von Hengisforts und die Ehre an seiner statt fortan die Rondra-Kirche Aventuriens zu vertreten! Als neues Schwert der Schwerter hier in Perricum!“
Ein schaler Geschmack breitete sich in Garions Mund aus, sodass er einen raschen Schluck aus seiner Feldflasche nahm und ihn hinunterspülte. Die letzten Jahre hatten die Welt ins Wanken gebracht. Borbarad sollte zurückkehren, wenn die Rollen der Beni Rurech Recht hatten, das Schwerter der Schwerter wurde ermordet und Hal war tot. Die Zeiten für einen jeden gläubigen Menschen auf diesem Kontinent waren schlecht.

Mit düsteren Gedanken kehrte er ans Fenster zurück und starrte ungnädig nach draußen, als könne das die Finsternis in Welt und Geist zugleich vertreiben. Als die Stille auf ihm zu lasten begann, hörte er die Stimme in seinem Kopf erneut. Lauter diesmal, klarer zu erkennen. Ein voller Bass, eingefärbt von Zuversicht und der Belustigung die Ungläubigkeit über das Verhalten anderer mit sich bringt. Er erkannte die Stimme und vor seinem inneren Auge tauchte ein blonder Rondrageweihter auf. Er trug lange, offene Haare und einen Vollbart. Trotz der schweren Kettenrüstung hatte er die Arme geradezu leicht über seinem Wappenrock verschränkt. An seinem Kragen lag die einfache Schwertfiebel eines Knappen der Göttin. Seine Gnaden Gunvald von Njördhall hatte sich während der ganzen Ausbildung Garions seine thorwalsche Lebensart erhalten. Zwar hatte er Rondra immer voll aufrichtiger Inbrunst verehrt, aber nichts und niemand hatte seine Zuversicht und seine offene Art brechen können. Er hatte jedem Kirchenmitglied – gleich welchen Standes – lachend auf die Schulter geklopft als sei es Mitglied seiner Otta. Und niemals hatte er sich mit gutmütiger Kritik zurückgehalten. Ein Schlag ins Gesicht, den ihm niemand übel nahm – weil er recht hatte. So wie jetzt.

„Die Zeit ist schlecht, Garion? Wohlan. Du bist da sie besser zu machen.“

[1][2][3][4][5]