1014 BF
Gareth 32 (Neferu) (TRA 1014)
23. Efferd 1014 BF
„Was ist mit Garion, Phexdan und Salpico?“
Nepheruna saß mit Voltan und Rychard am Frühstückstisch, in einer Hand ein Honigbrot, in der anderen einen Kohlestift mit dem sie sich Notizen machte.
Voltan hatte einen Stapel von Briefen und kurzen Nachrichtenzetteln vor der Nase und mit der Geschwindigkeit eines aktengeübten Bürokraten, arbeitete er sich durch den Wust.
„Kommen. Salpico bringt als seine Plus-Eins Sjören Vanderbloom mit – wohl auch ein Schwarzmagier.“ Voltan seufzte nicht hörbar, aber Neferu konnte mittlerweile sein stilles Durchatmen ausmachen, wenn er sich resigniert und ohne Auffälligkeiten in den Umstand fügte, dass seine zukünftige Braut nicht nur selbst eine magiebegabte Tochter Satuarias war, sondern auch viele ihrer Freund- und Bekanntschaften aus arkanem Umfeld stammten.
Der Albernier hatte Akzeptanz gelernt, aber gewöhnt hatte er sich noch nicht an all diese Fingerfuchtler jedweder Couleur, die in letzter Zeit um ihn herumtingelten.
„Auch Phexdan hat zugesagt?“ Ihre dunkle Stimme klang tatsächlich verwundert. Auch wenn sie es erhofft hatte: Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte ohnehin nicht sicher sagen können, ob Phexdan – immerhin ihr ehemaliger Gefährte – Lust hatte, sich dieses traviagefällige Spektakel anzusehen, noch weniger hatte sie erwartet, dass er tatsächlich eine schriftlich, manierliche Antwort zukommen lassen würde.
Voltan wedelte zur Antwort mit einem Stück Hadernpapier.
„Hm. Gut!“ Anerkennend nickte sie.
„Magister Horrigan? Ich hoffe ja immer noch, ihn mit Ahlemeyer zu verkuppeln.. kommt sie?“
„Kommen beide!“
„Lamiadon und Willimay?“
Voltan blätterte erneut und schrieb seinerseits eilig einige Namen auf seine Liste.
„Ja, der hat auch zugesagt. Auch wenn sie wohl nicht allzu lange bleiben, immerhin muss Willimay in ihrem Alter früh ins Bett.“ Das stimmte wohl. Willimay war keine sechs Sommer alt – eines der Waisenkinder, die Nef in eine Familie vermittelt hatte.
Der Inspektor ergänzte weitere Zusagen: „Von meinen einstigen Kameraden des Schwadron haben 32 zugesagt. Auch das Ehepaar Gesse kommt. Von der Wachmannschaft des Puniner Tors kommen zehn – darunter auch Helchtruta, Rumpo und Helme…Und Torfstecher hat zugesagt.“ Seine letzten Worte kamen gedehnter. Er mochte Jereminas nicht, von dem er heute wusste, dass er irgendwie mit einem der Garether Phextempel verbandelt war – mehr wollte er gar nicht in Erfahrung bringen. Damals jedoch, als sie beide Kinder gewesen waren, hatte ihn der schneidige, selbstbewusste und ältere Jereminas gehänselt. Dickfinger. Voltan hörte noch heute die schäbige Schadenfreude in den Spitznamen, die der Ältere ihm gegeben hatte. Er war als Kind nicht eben schlank gewesen und das hatte andere Jungen dazu animiert, ihn auf dem Kieker zu haben. Kinder waren grausam.
Die Hexe schrieb mit, biss beiläufig in ihr Brot. Noch eine Woche, dann sollte der große Tag sein, der sie und Voltan für immer vereinen würde. Sie spürte Aufgeregtheit, Vorfreude und Angst in sich streiten.
Rychards ewig gelangweilte Stimme mischte sich ein – als Trauzeuge der Braut war in die Vorbereitungen der Hochzeit eingespannt worden. Auch wenn seine Aufmerksamkeit sich zwischenzeitlich auf das bildlich ausgeschmückte Rahjasutra gelenkt hatte, das Neferu aus einer wenig zünftigen Laune heraus vor einigen Tagen aufgetrieben hatte.
„Absagen haben wir von Meinloh von Gareth – er weilt derzeit gar nicht in der Stadt -, Nerix Sandsteiner, Visalyar Wassertänzer und Phygius II. Letzterer war sogar… aufgebracht, dass man ihn aufgespürt hatte.“ Er rollte mit den Augen.
„Was ist eigentlich.. das da? Das kleine Einmaleins des Fremdgehens der Rahjakirche?“ Voltan deutete mit einem zweifelnden Blick zur Seite auf das aufgeschlagene Rahjasutra.
„Dafür bist du noch nicht bereit. Nicht bereit für das maraskanische Schandrad…“ Der Al’Anfaner lächelte verschmitzt.
Voltan verzog fast angewidert das Gesicht.
„Klingt… ungewaschen..“ murmelte er in Skepsis.
„Keine Absage von Dexter Nemrod..?!“ Die Frau mit der offensichtlichen Lieblingsfarbe rot lenkte das Frühstücksthema zurück auf ihren großen Tag.
„Er kommt.“ erwiderte Voltan schlicht.
Neferu gluckste amüsiert.
30. Efferd 1014 BF
Der Tag der Hochzeitszeremonie stand unmittelbar bevor. Nur noch einmal schlafen! Seit dem viel zu frühen Erwachen noch vor dem Sonnenaufgang war die Nervosität der Braut Stunde um Stunde hartnäckig gestiegen und hatte sie in einen hitzköpfigen Gemütszustand zwischen greifbarer Panik und alveranhochjauchenzender Vorfreude versetzt.
An diesem Morgen hatte das zukünftige Ehepaar – und Rychard, denn er wohnte derzeit bei den Sprenglers, solange sein eigenes Haus renoviert wurde – Besuch aus Eschenrod: Die kleine Hex, ein fingerfertiges Mädchen, das eigentlich Ardare hieß, die wunderhübsche 14-jährige Jarla und den geschickten Kletterer Hakon. Alle drei waren Zöglinge des Waisenhauses, das die Stadthexe unterstützte.
Es war organisiert worden, dass sowohl blumenstreuende Kinder als auch junge Mädchen in den gleichen Kleidern als Brautjungfern aus dem Haus der Findelkinder stammten.
Und heute gab es eine Anprobe.
Auch Nepherunas beste Freundin Duridanya war zugegen. Wegen einer anderen Anprobe: Das Brautkleid war da – angepasst, das zweite Mal. Ein bisschen umfangreicher war der Bauch der Braut geworden – immerhin wuchs dort drinnen ein Tsawunder zu menschentauglicher Größe heran, das bemerkte man mit bloßem Auge zwar noch nicht, aber das eng taillierte Kleid schon.
Während die künftige Frau Sprengler also auf einem Hocker stand und Duridanya das traumhafte Kleid aus roter Seide, einer Menge Drôler Spitze und Perlen ein letztes Mal begutachtete, indem sie mit grüblerisch-kritischer, aber letzten Endes glücklicherweise zufriedener Miene um die lebende Schneiderpuppe herumlief und mal hier, mal da zupfte und zog, kam Rychard durch die Tür.
Rychard – so nannte nur sie ihn.
Sein eigentlicher Name war Rahjard Karinor und er war der Bastard einer Grandenfamilie in Al’Anfa, die sich auf die Reederei spezialisiert hatte.
Rychard oder Rahjard hatte sich die Haare machen lassen – verlängern und schwärzen. Und er hatte sein schwarzes Hündchen Cyri bei sich – wie immer. Nef da auf dem Hocker blinzelte einmal. Es sah gut aus, was Rychard da fachkundige Hand hatte mit sich veranstalten lassen. Und irgendwie fand sie, dass sich Herrchen und Hündchen nun ähnlicher sahen.
Sie schmunzelte abgelenkt und stieg dann von ihrem nötigen Brautkleidpodest. Beim Raffen ihres Kleides zeigte sie einen Eindruck von dem, was darunter war: Rote, lange Strümpfe aus feinstem Stoff und neue dunkelrote Schuhe, die gelackt glänzten. Duridanya hatte sie mit einem blauen Strumpfband ausgestattet. Das bringe Glück, hatte die Blonde beteuert.
Der Schönling mit dem eigentlich kastanienfarbenen, jetzt aber schwarzen Haar warf selbiges zurück. Auf ihr Kleid ging er nicht ein.
„Talafeyar und sein Mann Velun sind schon in der Stadt.“ verkündigte er prompt mit einem sachten Ton Unzufriedenheit. Das war meistens so und einfach Teil von Rychards Sprachkultur. Wenig war eben gut genug für ihn und das pflegte er dezent auch auszudrücken. Und was alles andere als gut war, hatte er soeben ausgesprochen: Sein Techtelmechtel, das zweifellos ansehnliche, blonde Spitzohr Talafeyar, seines Zeichens Geweihter der Rahjakirche, hatte den Ehemann mit nach Gareth gebracht.
Nef nickte nur langsam.
Schade – sie war selbst Zeuge gewesen, wie es zwischen ihrem Freund Rychard und dem Priester aus Perricum geknistert hatte. Aber.. das war wohl die alltägliche Wirkung des Rosenpaters.
„Und wie geplant schläft Voltan heute Nacht im Hotel ‚Alter Kaiser‘ bei seinen Eltern und deren neue Anhängsel, die ja seit gestern und vorgestern schon da sind wie du weißt. Und..“
Er brach ab, hob sachte seine feingeschnittenen Brauen, in denen kein Haar in eine verkehrte Richtung zu wachsen schien – und das von Natur aus – und musterte die Frau in rot.
„Du siehst gut aus.“ Er hob sachte einen Mundwinkel. „Aufgeregt?“
01. Travia 1014 BF
Sie öffnete die Augen, als der Nagel aus der Kerze fiel – diese war weit heruntergebrannt über die letzte Nacht und sollte sie zur sechsten Stunde des Morgens wecken. Der einfache Weckmechanismus verfehlte seinen Zweck nicht. Neferu setzte sich auf.
Sie hatte überraschend gut geschlafen – von alten Abenteuern hatte sie geträumt, großer magischer Macht und eingekerkerten Vampiren. Mit zwei Fingern rieb sie sich den Schlaf aus den Winkeln der Mandelaugen.
In der Stille des Morgens blickte sie zu dem Menschen, der da ruhig neben ihr schlief: Duridanya mit geflochtenem Zopf.
Nach einem Anfall von Übelkeit am Abend zuvor – aufgrund der Aufregung, nicht der Schwangerschaft – hatte ihre beste Freundin es eingerichtet, zu bleiben. Korobar hatte die zwei Kinder der beiden ausnahmsweise alleine zu Bett bringen müssen.
Dann sprang Ineri auf die Schlafstatt und maunzte. Das junge Parderweibchen tatzte in die Decke und beharkte sie mit stetigem Milchtritt.
Nef griff beherzt nach dem lebenden kleinen Abbild ihres Seelentieres und ließ sich noch einmal zurück in die Kissen fallen.
Morgendliches Katzenkuscheln wollte sie sich auch an ihrem Travienstag nicht nehmen lassen!
Und dann… schienen dem Tag Flügel zu wachsen, er erhob sich und flog.
In einem Taumel aus tranceartiger Euphorie, dem Lachen von Freunden und der Angst vor großen Veränderungen, half Duridanya ihr mit der spitzenbesetzten Wäsche, dem Kleid, der Schminke.
Auch Rychard war da, stand der Braut in spe zur Verfügung. Er hatte sich ein neues Kleidungsstück schneidern lassen und strahlte ungewohnte Seriösität und Sicherheit aus. Ein Wandel, der ihm gut stand.
Er band Ineri und Cyri die Schleifen um die Hälse und… er hatte eine Kutsche organisiert, die von einem gut gekleideten Kutscher gelenkt wurde.
Nef erhielt ihren Brautstrauß: Rote Rosen, Efeu und kleine weiße Blümchen dazwischen, wie Schneeflocken oder Sterne.
Ein Blinzeln.
Die Kutsche war immer noch da. War sie in einem Märchen?
Ein weiteres Blinzeln.
Sie fuhren sanft holpernd in dem prunkvollen Gefährt über die Kopfsteinpflaster Gareths.
Neferu wollte jeden Moment festhalten und gleichzeitig wollte sie ihre Spuren verwischen und verschwinden. Ihre allgegenwärtige Angst, die Angst aufgespürt und gerichtet zu werden, die Angst verlassen zu werden, hintergangen zu werden – all das kam in ihr hoch wie ein innerer roter Drache, der kämpfte um zu zerstören, was sie sich aufgebaut hatte.
Sie sah sich in der Kutsche um. Wie im Traum verschwommen saßen da die Gestalten von Duridanya und Rychard. Und auch die tierischen Begleiter Ineri und Cyri waren da, irgendwo im inneren des luxoriösen Gefährts.
Nef schloss die Augen.
Voltan war der einzige für sie. Der einzige, dem sie gänzlich vertraute, dem sie Geheimnisse anvertraut hatte, die sonst niemand kannte. Sie wusste mit einer inneren Gewissheit, dass sie auch die letzten Hüllen der Wahrheiten würde fallen lassen können, wenn sie es zuließ.
Er würde sie niemals verurteilen.
Die Braut öffnete ihre Augen, die Kutsche hielt. Zeit schien kaum eine Bedeutung zu haben.
Türen öffnete sich – helles Tageslicht des frühen Herbstes fiel herein.
Waren Augenblicke vergangen? Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie griff sich an die Kehle – ihr war, als würde sich ein zu warmer Schal darum winden, doch sie trug keinen. Nur eine einzelne Kette, die viel zu tief hing, um zu schnüren. War ihr Kopf ebenso rot wie ihr Kleid?
Sie klammerte sich an den Strauß, schritt bedächtig und aufrecht auf den Traviatempel zu, auf das schlichte Gebäude mit den Gänsepfeilern. An den Türen standen zwei Sonnenlegionäre und zwei Stadtwachen. Mittig, direkt vor dem großen Eingangsportal wartete Dexter Nemrod.
Die nervöse Braut hörte auf sich zu wundern. Sie hatte beschlossen nicht ohne wirklich guten Grund stehen zu bleiben. Neben sich sah sie Rychard, der beide Vierbeiner an Leinen führte. Sie fragte sich in dem Bruchteil eines Wimpernschlags, was der schöne Al’Anfaner den Tieren in ihr Futter gemischt hatte, denn sie verhielten sich ruhig und artig, fast als hätten sie die Feierlichkeit des Augenblicks begriffen – oder eben als hätten sie ein Alchemikum der Beruhigung verabreicht bekommen.
Nepheruna, namentlich noch Banokborn, kam direkt vor dem Großinquisitor zum Stehen. Er war etwas kleiner als sie – das war ihr zuvor nie aufgefallen. Er klackte hörbar mit dem Mechanismus an seinem Gehstockgriff und fixierte sie mit dem für ihn typischen Falkenblick.
Sie war heilfroh ihn zu sehen, auch wenn ihr Verstand ihr sagte, dass sein so demonstrativ dominantes Auftreten auch Ärger bedeuten konnte. Sie lächelte – unsicherer als sie wohl gesollt hätte.
„Reichsgroßgeheimrat..“ grüßte sie ihn mit ehrlicher Freundlichkeit.
Er nickte ihr knapp zu und ergriff das Wort: „Wollt Ihr das wirklich, Fräulein Banokborn?“ fragte er ohne Umschweife mit der Direktheit einer Guillotine, nur um zu ergänzen: „Noch ist Zeit alles abzublasen..“
Überrascht sah sie ihm in die Augen. Wollte sie das hier alles wirklich? Mit einer solchen Frage hatte sie weniger gerechnet als mit einer Festnahme wegen irgendwas.
Ja, sie wollte. Dexter Nemrods strenge Frage hatte das väterliche Vergewissern eines Menschen, der sich ernstlich interessierte und vielleicht sogar sorgte, erfolgreich verschleiert. Und diese Frage hatte ihr geholfen. Ebenso wie sein Rat zum Ehegelübde. Voltan war seit Stunden im Tempel, wartete, lief Linien in den Boden. Ihm war Angst und Bange, sie würde nicht erscheinen. Das hatte der Großinquisitor Nemrod ihr stoisch verraten.
Aber sie war nicht fortgelaufen! Ihr war ein für alle Mal klar geworden: Sie hatten sich einander anvertraut. Sie und Voltan waren längst eins.
Die Tempeltüren wurden weit geöffnet, Musik spielte, begleitete die Braut und die kleine Schar, die sie umgab, während sie festlich in die heilige Stätte der Travia hinein schritt.
Viele stehende Menschen. Ein Meer von Gesichtern. Lächelnde, solche mit Tränen in den Augen, grinsende, ernst feierliche… Da waren die Hortemanns aus Grangor mit Phexje, der zu einem jungen Mann herangewachsen war, der heitere Weißmagier Eulrich Durenald von Amt 7 der CriminalCammer und seine thorwalsche Frau, der Alchemist Grabensalb – ohne seinen Riesenhirschkäfer Paramanthus -, Gesine van Straaten, deren Vater zur Schneiderzunft Gareths gehörte; ernst stand da der weißmagische Inquisitor Calfang Rodebrannt aus Trallop, mit seiner Haushälterin Praia, die verschmitzt lächelte und der roten Braut gewieft zuwinkte, Neferu sah Helchtruta und Rumpo von der Stadtwache feixen, aufrecht und in ihren besten Praiostagskleidern Fricken und seine Mutter aus dem Viertel der Armen vor der Stadt und zwischen mehreren Legionären und Kriegsveteranen machte sie auch Phexdans ausdrucksloses Gesicht aus.
Ihr Blick glitt wie ein Schiff über Wogen und Wellen. Und Neferus Rastlosigkeit kam erst zum erliegen, als sie ihren Hafen erblickte: Voltan stand auf der anderen Seite des Tempels, direkt beim Altar mit der Statue der Muttergöttin. Als sich ihre Blicke trafen und sie sanft lächelte, mit Tränen der Freude in den Augen, änderte sich sein blass-befürchtender Gesichtsausdruck. Er wurde friedlich, erwartete sie.
Als sie beim Altar angelangte, Mutter Harina auf der Kanzel ihr feierlich zunickte und Voltan ihre Hände ergriff, fiel auch der letzte Zweifel von ihr ab und gab eine Zuversicht und Wärme frei, die sie nie zuvor gespürt hatte. Ihr wurde warm, sie drückte seine Finger, musste schmunzeln.
Die Musik verstummte und die Geweihte der Göttin des sicheren Zuhauses, der Geborgenheit, der Familie sagte einige Worte des Willkommens. Eine Ankündigung der Feierlichkeit.
Neferu, die Voltan immer nur ‚Vesper‘ nannte, erinnerte sich schon wenige Wimpernschläge später nicht mehr daran, was gesagt worden war – sie sah nur Voltan.
Von der Geweihten aufgefordert, teilte Voltan Sprengler, der Inspektor der CriminalCammer, der Weibel des Puniner Tors, der Leutnant eines Schwadron der kaiserlichen Reiterei, seine Lippen. Seine angenehme, mitteltiefe Stimme brach sich vielfach an den Wänden des Tempels und erfüllte die Halle.
„Von heute an verspreche ich Dir diese Dinge: Ich werde mit Dir lachen in Zeiten der Freude und Dir Trost spenden in Zeiten der Sorge. Ich werde Deine Träume teilen und Dich unterstützen, Deine Ziele zu erreichen.
Ich werde Dir mit Begeisterung und Verständnis zuhören und Dir aufbauende Worte sagen.
Ich werde Dir helfen, wenn Du Hilfe benötigst und Dir Deinen Freiraum lassen, wenn Du ihn brauchst.
Ich werde Dir in guten und in schlechten Zeiten vertrauen, in Zeiten von Krankheit und Gesundheit.
Du bist mein bester Freund. Ich werde Dich immer respektieren und lieben.
Ich glaube an Dich, an die Person, die Du sein wirst und an das Paar, das wir zusammen sein werden.
Ich nehme Dich von ganzem Herzen zu meiner Ehefrau, Ich kenne deine Schwächen und Stärken und akzeptiere sie, so wie Du meine kennst und akzeptierst.
Ich verspreche, vertrauensvoll und unterstützend zu sein und immer das Glück und die Liebe unserer Familie zu meiner wichtigsten Priorität zu machen.
Ich bin Dein Partner in Reichtum und in Armut, in Krankheit und in Gesundheit, im Scheitern und im Erfolg.
Ich werde mit Dir träumen, ich werde mit Dir feiern und ich werde immer an Deiner Seite gehen, ganz gleich, welche Hürden unsere Leben bereithalten.
Du bist mein Ein und Alles – meine Liebe, mein Leben, mein Heute und der Rest meines Lebens.“
Niemand unterbrach ihn in seinem Versprechen. Atemberaubt blickte seine Braut ihn an. Ihre Augen waren voller Liebe. Sie wusste, dass er sein Gelübde vorbereitet hatte. Sie hatte das nicht getan – verrückterweise nicht, weil sie es nicht gewollt hatte. Sie hatte es immer wieder verschoben, nie die richtigen Worte zu Papier bringen können.
Nepheruna-Vesper atmete tief ein, füllte ihre Lungen mit Luft. Ihr Herz machte einen Satz. Hätte sie doch nur etwas vernünftiges auf Papier zu Stande bringen können…
Sie hörte die Worte in sich, die ihr Dexter Nemrod vor dem Tempel gesagt hatte.
Lass einfach dein Herz sprechen.
Und das tat sie.
„Als ich dich das erste Mal sah, Voltan- das war am Puniner Tor – da sahst du so unglücklich aus. Verbittert, zornig und hoffnungslos. Schon damals wollte ich dich unbedingt lächeln sehen.
Ich weiß, dass wir uns noch nicht allzu lange kennen, kein ganzes Jahr. Aber das spielt keine Rolle – wir teilen soviel, dass ich mir sicher bin, dass wir uns jetzt schon besser kennen als andere nach vielen Jahren. Und immer noch, will ich dich lächeln sehen.
Wir haben beide viel Leid erfahren in unserem Leben und wir haben uns einander anvertraut. Und ich weiß, auch ich bin nicht immer einfach. Ich stelle mich selber gerne in den Mittelpunkt. Aber als ich dich kennengelernt habe, da konnte ich nicht locker lassen – ich wollte unbedingt wissen, warum du so unglücklich bist, um es zu brechen!
Und als ich dann wusste, welch schlimmes Schicksal dich plagt, da wollte ich alles tun, um dich zu retten. Alles. Und wir haben es geschafft. Gemeinsam haben wir dein Leben gerettet.
Meine Ziele sind jetzt deine und deine Ziele sind meine. Und auch deine Sorgen waren und sind jetzt meine. Du bist mein Glück, Voltan.
Ich kann dir alles sagen und weiß, dass du Verständnis hast und nicht urteilst. Du bist der einzige. Ich kann deine Hand greifen und weiß, du lässt mich ein in dein Leben und mich ein Teil davon werden. Du bist ein Teil von mir Voltan, wie ich ein Teil von dir bin. Und zusammen werden wir zu einem Ganzen. Ich liebe dich so sehr.“
Beide tauschten Ringe. Sie küssten sich. Die Gäste klatschten. Es erschien ihr wie ein wunderschöner Traum – ein glückliches Ende. Mit dem Unterschied, dass es keine Geschichte war, kein Märchen, kein Roman von Rosenkron: Alles geschah wirklich.
Nach der Tempelzeremonie speisten sie gemeinsam die Armen, wie es Brauch war und anschließend ging das frischvermählte Paar hinüber zu dem Tanzsaal, dem Essen, der Feier.
Reden wurden von Braut und Bräutigam gehalten, sie nahmen die vielen Geschenke entgegen. Sehr viele Geschenke. Die Trauzeugen hatten vorausschauend vorgesorgt. Rychard und Rank drapierten die Präsente auf mehreren bereitgestellten Tischen. Um Cyri und Ineri – die beiden einzigen Vierbeiner auf der Veranstaltung, kümmerten sich zwei Tsa-Geweihte, die Nef nicht einordnen konnte, aber in ihr trotzdem ein Gefühl von Frieden auslösten – was auch sonst: fremd hin oder her, es waren Geweihte der jungen Göttin.
Als alle Gäste – fast 170 Anwesende – an der überlangen Tafel Platz genommen hatten, hatte die Braut in rot den Eindruck Teil eines Festessens zu sein, das für eine Königsfamilie hätte angerichtet worden sein können.
Nach dem Essen wurde getanzt.
Der Saal war überwältigend hergerichtete worden. All die Rosen, das Licht, die vielen Gesichter von Menschen, die einem nahe waren.
Prinz Kasparbald hatte selbst zwar nicht kommen können – Nef hatte das bereits im Vorfeld geahnt, die Prinzen und Prinzessinnen Aventuriens hatten wohl Sinnvolleres zu tun, als wochenlang zu reisen, um eine Bürgerhochzeit weit, weit weg zu besuchen – aber er hatte von einem persönlichen Gesandten seine Glückwünsche übermitteln lassen.
Der Abend verging bis in die Nacht hinein wie ein Tanz bei dem man seinen Partner wechselte, sich unterhielt, zum nächsten hüpfte und Neuigkeiten aus aller Welt zu Ohren bekam.
Besonders im Gedächtnis blieben ihr vier Dinge: Dass Dexter Nemrod mit ihr übers Parkett geschwebt war und ihr in seiner gestrengen Art mitgeteilt hatte, dass er sich in gewisser Weise für ihre Existenz verantwortlich fühlte, da er für seine Sonnenlegionäre verantwortlich ist – und ihr Vater nun einmal einer davon war, der dummerweise mit einer Hexe ein Kind gezeugt hatte, dass der Weißmagier Calfang und der Schwarzmagier Salpico mangels Alternativen einmal miteinander tanzten, dass Brin überraschend vorbei gekommen war – Prinz Brin – der der Heldin von Greifenfurt gratulierte und gefolgt von seinen Mannen auch gleich wieder ging und zu guter letzt, dass Voltan in seiner Rede dazu gestanden hatte, dass sie eine Tochter Satuarias war. Vor allen hatte er dazu gestanden und zwar nicht auf eine Weise, dass er es nur tolerierte – sondern mit liebevoller und starker Akzeptanz.
02. Travia 1014 BF
Der wunderschöne Spuk war vorüber. Voltan und seine frisch angetraute Vesper hatten nicht genug getrunken, um einen Kater zu haben und deshalb fanden sie sich zeitig unten im gemütlichen Schankraum ein, der zu einer Frühstückstafel umfunktioniert worden war. Voltan hatte ihr direkt nach dem Aufstehen nun seinerseits ein Geschenk gemacht: Wertpapiere als Brautgeschenk.
„Damit du abgesichert bist.“ hatte er liebevoll und gleichsam sachlich betont.
Noch einige Gäste waren zum Frühstück geblieben – die Braut schätzte sehr, dass sie einige Gespräche vom Vortag weiterführen konnte.
Und noch etwas kam ihr wieder in den Sinn: Sie hatte Garion noch am gestrigen Abend eines ihrer bisher größten Verschwiegenheiten offenbart: Dass sie gemeinsam einen Sohn hatten, den sie an den Donnerbacher Rondratempel übergeben hatte, als er noch ganz klein gewesen war.
Der Rondrianer war dementsprechend in Aufbruchstimmung, aber weniger traurig oder nachtragend als die jetzt traviagefällig verheiratete Hexe erwartet hatte.
Er berichtete, dass er die Zorganpocken überlebt hatte, in der Gor gewesen war, dass er Zirkel von Paktierern aufgespürt hatte, ja sogar, dass dunkle Mächte versuchten, den Dämonenmeister aus alten Sagen – Borbarad – zurück ins Leben zu holen!
Die Hochzeitsstimmung war unrettbar dahin, aber das machte nichts. Sie hatte sich in etwas anderes gewandelt.
Die Schönheit der idyllischen Augenblicke hatte nicht gerastet, das taten sie nie. Ein Eindruck von Lichtern, Geschenken und Tanz bliebe zurück und verankerte sich als wundervollste Erinnerungen in Voltans und Vespers Herzen. Aber nun mussten sie erkennen, was da draußen dräute: Ein Morgen, der weniger traumhaft war – eine Welt im Wandel. Und in ihnen beiden entstand keine Angst, sondern ein Gefühl von Wachsamkeit, von unbeugsamem Zusammenhalt und dem Drang etwas zu tun – etwas Bösartiges gemeinsam aufzuhalten.
Kuslik 1 (Salpico) (TRA 1014)
Ein Botenreiter erreicht am Nachmittag eines Tages im Travia des Jahres 1014 BF das Redaktionshaus des Hesindespiegels in Kuslik. Bei sich trägt er einen ledernen Botschaftenbehälter, dessen Deckel mit einem siegellosen Stück Wachs verschlossen wurde. Die Übergabe der Sendung wird von keinerlei weiteren Hinweisen begleitet. Nach Öffnung des Behälters allerdings präsentieren sich dem geneigten Leser gleich zwei Schriftwerke in schwarzer Tinte. In dem ersten – offenkundig einem Begleitschreiben – findet sich Folgendes.
„Geschätzte Herausgeber des Kusliker Hesindespiegels,
Ich wende mich an Euch, um einem Themenbereich Geltung zu verschaffen, der meiner Ansicht nach sowohl in der Lehre als auch in der praktischen Arbeit junger Magier deutlich zu kurz kommt. Zu oft verkommt unsere Kunst zum Selbstzweck an den Höfen der Adeligen oder gerät unter die Knute älterer und wohlhabenderer Magier. Mit dem beiliegenden Traktat möchte ich das Interesse jüngerer Kollegen auch an von der Lehrmeinung als abwegig eingestufte Forschungen wecken und stärken.
Zu diesem Zweck beschäftigt sich der Tractatus Temporalis mit der Erforschung temporaler Phänomene und versucht aufzuzeigen, welchen Nutzen die Forschung auch in phantastischen Dimensionen ihr eigen nennt.
Wissen ist Macht
Adeptus Salpico Monterey“
Das zweite Schriftstück ist ungleich länger und lautet wie folgt.
Tractatus Temporalis – Erster Teil
Betreffend die zaubermaechtige Wirkung des Eisenrost und Patina
Von Adeptus Salpico Monterey, Halle der Geister zu Brabak
Gegeben zu Gareth im 1013ten Jahre nach dem Untergang Bosparans
Der ungewoehnlichen Wahl des Themas wegen will ich mich dem geneigten Leser kurz erklaeren. Die Reihe Tractatus Temporalis – und hier insbesondere ihr erster Teil – markiert den Wendepunkt meiner Forschungen. Bisherige Ergebnisse auf dem Gebiet der Temporalmagie waren stets das Produkt zufaelliger Beobachtungen oder Aufeinandertreffen.
Nun aber ist es an der Zeit sich der Forschung ernsthaft zu widmen. Das Tractatus Temporalis soll dabei zugleich Forschungsbericht, Erinnerung und Ansporn sein. Zugleich ist jedem Mitglied der drei Gilden bekannt wie prekaer der Umgang mit der Magie der Zeit ist und welche immensen Gefahren jemand auf sich nimmt, der ernsthaft Satinav selbst die Stirn zu bieten versucht. Auch wird diese Spielart der Magika in vielerlei Landen als Frevel sogar als Ketzertum betrachtet.
Um daher weder meine eigene Forschung zu sabotieren, indem ich es Nachahmern allzu einfach mache meine Ergebnisse zu nutzen, noch unnoetig den Unmut der zwoelfgoettlichen Kirchen zu wecken, sind die hier praesentierten Ergebnisse lediglich beschnitten. Sie werden meinen Fortschritt zwar skizzieren, ein wahres Portrait – um im Rahmen kuenstlerischer Metaphern zu bleiben – werde ich aber nicht liefern.
Mir ist vielmehr daran gelegen meine werten Collegae mit dieser Schriftenreihen zu ermutigen. Zu ermutigen ihre Forschungen auch ungewoehnlichen und nuetzlichen Forschungsgebieten zuzuwenden. Wenn man den Meinungen und Spezialgebieten anderer folgt, dann kommt man sicher ans Ziel, aber wahre Wunder wird man nur erleben, wenn man eigene Fußabdruecke hinterlaesst – und nicht in denen anderer wandelt!
Bei meinen vorhergehenden Studienreisen und Forschungsansaetzen waren mir nur wenige Menschen eine Stuetze und wahre Hilfe. Um ihre Muehen nicht zu unterminieren, will ich ihnen das Leben nicht erschweren, indem ich ihre Namen nenne. Moegen die Goetter ihre Leben und Seelen gnaedig betrachten.
Introduktion
Die Matrix des so genannten Eisenrost und Patina ist seit Jahrzehnten bekannt. Sie kursiert in den Kreisen der Gildenmagie, sowie unter Druiden und auch Schelmen. Ihr Hauptanwendungszweck ist in diesen Zeiten eine Demonstration magischer Macht. Die Vernichtung von eherner Wehr, von Schloessern oder solcherlei mehr.
Tiefergehende Untersuchungen sind ob des offensichtlichen Erfolges bisher ausgeblieben. Vielfach wird in Forschungsberichten und Feldstudien darauf verwiesen, dass jedem Gegenstand auch die Kraft seiner eigenen Vergaenglichkeit inne wohnt. Eine Kraft die den Verfall eines jeden Materials unaufhaltsam aber schwach und oft langsam vorantreibt und es schließlich zur Gaenze vergehen laesst. Der Eisenrost und Patina – so die verbreitete Ansicht – laesst diese Kraft nun anschwellen und ihre Wirkung staerker und weitaus schneller voranschreiten, sodass der Effekt mit bloßem Auge sichtbar und bald beendet wird. Das Material wird so aus sich selbst heraus vernichtet.
Meiner Ansicht nach ist diese Sichtweise zu kurz gedacht. Sie misst sich an der Annahme, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Sie formuliert eine These, die sie sodann aber weder beweist noch widerlegt. Stattdessen werden Beobachtungen, die nicht zu der gewuenschten Erkenntnis passen einfach ignoriert, waehrend schwache Indizien als Beweis gewertet werden.
Das, verehrte Collegae, ist keine belastbare Forschung! Das ist Geschichten erfinden, weil sie einem gefallen!
Dieser Aufsatz soll nun mit dem Auftrag ausgestattet sein, sich der pseudowissenschaftlichen Narretey entgegen zu stemmen und die Wahrheit ueber die Macht hinter der genannten Thesis offen und fuer alle Mitglieder unseres Standes erkennbar zu formulieren.
Vom Wesen der Zeit
Meine Erkenntnisse beruhen auf verschiedenen Faktoren. So habe ich zum einen empirisch gearbeitet, zum anderen aber philosophisch. Erst gemeinsam ergibt sich auf diese Weise eine Gesamterkenntnis, die meiner Ansicht nach verstaendlich und unumstoeßlich ist. Es ist daher von wesentlichem Wert zunaechst die philosophische Seite meiner Forschung zu verstehen.
Zeit ist ihrem Wesen nach nicht starr. Wechsel und Veraenderung sind ihr Wesen, sie sind es, was Zeit ausmacht, was sie fuer uns lebendige Wesen erst erfahrbar macht. Dabei ist Zeit aber nicht immer zerstoererisch. Vielmehr ist Zeit ihrem Kern nach ueber alle Maßen neutral. Sie betrifft jeden, bringt Tod, aber auch Leben. Sie nimmt ein Heim, wenn es zerfaellt, gibt aber auch eines, wenn der Baufortschritt sichtbar wird.
Aber all das tut sie nicht schlagartig. Merkmal einer temporalen Veraenderung ist, dass der Betroffene oder das betroffene Ding verschiedene Stadien der Veraenderung durchlaeuft. Ein Mensch wird geboren, waechst und wird reifer, ueberschreitet seinen Zenit, wird wieder kleiner und stirbt. Aber ohne Einwirkung von außen wird man nicht sehen, dass ein Mensch in seinem Zenit ploetzlich schlagartig runzelig und klein wird, um dann zu sterben.
Schlussendlich bleibt daher in diesem Abschnitt zweierlei festzuschreiben:
Ad primum: Zeit ist ein Kontinuum, werte Collegae. Sie schreitet voran, macht aber keine Saetze. Stets ist ein Ablauf zu beobachten, niemals eine ad hoc Veraenderung.
Ad secundum: Zeit hat Macht ueber jeden. Selbst jene, die sich unsterblich nennen, muessen anerkennen, dass die Zeit ihre Welt und ihre Ansichten zu aendern vermag.
Gerade ersteres ist konkret wichtig fuer meine Forschungen gewesen, wenn sie in diesem Fall auch nicht lange brauchten und waehrend meiner Reisen oder kurzer Aufenthalte in Staedten getaetigt wurden.
Eisenrost und Patina – Feldstudie
Nachdem die philosophische Betrachtungsweise erlaeutert wurde, will ich zu den Beobachtungen und Methoden meiner Empirie schreiten.
Fuer eine Testreihe habe ich mir zunaechst guenstige Gegenstaende aus Metall besorgt. Gebrochene Naegel, Schmiedeabfall oder alte Hufeisen. Sodann habe ich damit begonnen die kleinsten der Gegenstaende mit derselbigen Zauberformel zu besprechen.
Kleinere Proben, wie beispielsweise Nagelreste zerfielen dabei innerhalb von Sekunden. Ihre Aufloesung ging derart schnell von statten, dass eine Beobachtung zwar erfolgen konnte, allerdings wenige sichtbare Ergebnisse brachte. Einzig eines war bemerkenswert: Von den vernichteten Metallteilchen blieb stets ein Haeufchen Eisenoxid zurueck.
Dies war bereits ein erster Hinweis auf weitere Beobachtungen. Metalle, die zerschlagen werden, hinterlassen oft Splitter oder brechen nur an einer Stelle – lediglich altes Metall, dass laengere Zeit der Witterung und den Hoernern Satinavs ausgesetzt war, beginnt zu oxidieren. Dies allerdings wuerdet Ihr werte Collegae – mit Recht – bestenfalls als Indiz klassifizieren. Eine bloße Speculatio – kein Beweis.
Als ich mit meinen Studien fortfuhr, bemerkte ich eine weitere Besonderheit. Zwar zerfielen auch Hufeisen sehr bald, allerdings dauerte des dennoch laenger als bei Eisenspaehnen oder Nagelteilen. Fuer diesen Umstand gab und gibt es nur eine einzige Explanatio!
Die Dauer der Vernichtung eines Gegenstandes haengt von seiner Masse ab!
Diese Erkenntnis bereitete den Weg fuer weitere Forschungen. So besorgte ich mir Barren des Eisens, sowie groeßere Gegenstaende. Ein Schloss, sowie eine Metallschatulle waren ebenfalls Teil neuer Versuche.
Und tatsaechlich – ich sah‘ meine Vermutung bestaetigt. Je groeßer das Ziel des Cantus‘ war, desto laenger dauerte die schlussendliche Vernichtung. Und desto besser war der genaue Vorgang zu beobachten.
Die Metallbarren begannen sich zunaechst mit einer Patina zu ueberziehen, ehe sie in Windeseile zu oxidieren begannen. Dabei war gut zu beobachten, dass der Prozess – ganz wie in Natura – von außen nach innen verlief und stetig fortschritt, bis am Ende erneut das erwaehnte Haeufchen oxidierten Metalls als letzter, stummer Zeuge einstiger Pracht blieb.
Diesen Vorgang zu reproduzieren erwies sich als erstaunlich leicht. Zwar aenderten sich die Beobachtungen abhaengig vom Wesen des Gegenstandes der betrachtet wurde (so brachen Schwachstellen eines Schlosses selbstverstaendlich vor dem Rest seines Corpus unter der Last des Zaubers), im Allgemeinen aber blieb der Fortschritt der Vernichtung stets demselben Ablauf unterworfen.
Um nun ganz sicher zu gehen, galt es eine andere Perspektive einzunehmen. So geriet ich unlaengst unverhofft in den Besitz eines antiken Dolches, der mir selbst lieb und teuer ist. Dennoch – oder gerade deshalb – sollte er mir dienlich sein, um meine Erkenntnisse abzurunden.
Von einem lokalen Schmied ließ ich Kratzer in der Klinge vornehmen. Wichtig war: Sie wurden nacheinander beigebracht und waren deutlich voneinander unterscheidbar. Die Reihenfolge notierte ich mir gewissenhaft.
Darauf erfolgte die Anwendung des reversalisierten Eisenrost-Cantus auf die nunmehr beschaedigte Klinge. Die Beobachtung war die Folgende:
Die beschaedigte Klinge begann scheinbar wie von selbst die Kratzer und Kerben, die der Schmied geschlagen hatte zu beseitigen – in umgekehrter Reihenfolge! – ehe sie andere, kleinere Makel ausmerzte und schlussendlich in ungekannter Sauberkeit und Perfektion vor mir lag.
Conclusio
Der geneigte Leser der mir bis hierhin folgen kann wird sicherlich seine eigenen Schluesse gezogen haben. Auch, weil sie offenbar vor uns ausgebreitet sind.
Die bisherige Annahme ueber die Wirkweise des Zaubers muss davon ausgehen, dass jedem Gegenstand sowohl eine destruktive als auch eine kreative Kraft inne wohnt. Der Eisenrost und Patina – so die verbreitete Annahme – verstaerkt die destruktive Kraft, sodass der Zielgegenstand vergehen muss.
Hierbei aber tritt eine Ungenauigkeit zutage. Niemand kaeme doch auf die Idee zu einer verwitterten, alten Scheune zu sagen, sie sei „zerstoert“. Der Sprachgebrauch bestimmt dabei, dass eine Zerstoerung durch aeußere Einfluesse eintritt, die sehr rasch handeln. Ein Feuer beispielsweise oder eine Ramme.
Der Prozess, der hier zu beobachten ist, stellt aber keine ad hoc-Zerstoerung dar. Die Gegenstaende brechen nicht oder platzen. Sie altern. Das ist der einzig logische Schluss, der in Kombination der philosophischen Betrachtung des Problems mit den Beobachtungen ergeben darf.
Das Vergehen des Gegenstandes erfolgt in einem Kontinuum und auf eine Art und Weise, die nur der Zeit zu eigen ist: Er rostet und gibt schließlich nach. Bei groeßeren Gegenstaenden kann man dem Fortgang sogar zusehen.
Und dabei soll es nicht bewenden! Ebenso waere anzunehmen, dass der reversalisierte Versuch eine sofortige Besserung eintreten laesst, soll der Zauber doch lediglich die kreative Kraft des Gegenstandes anregen. Mehr noch: Es muesste dann sogar im Bereich des Moeglichen sein, dass der Gegenstand ueber seinen Urzustand hinaus waechst – vielleicht sogar einem gaenzlich anderem Zustand zustrebt. Das ist das Wesen der Kreativitaet – Neuschaffung!
Tatsaechlich aber erfolgt eine chronologisch korrekte(!) Aufwertung des Gegenstandes bis zu maximal seinem Ausgangszustand zurueck!
Damit bleibt endgueltig festzuhalten: Der Eisenrost und Patina ist mitnichten, wie es die bequemen Forscher unserer Zeit zu glauben wussten, weil es die einfachste Erklaerung war ein stumpfer Zerstoerungscantus. Kein besserer Hammer fuer die gebildete Schicht des Landes!
Der Eisenrost und Patina ist nicht mehr und nicht weniger als leibhaftige Temporalmagie! In seiner Wirkweise beschleunigt er die Zeit um den betroffenen Gegenstand herum, bis Satinavs Hoerner alles von ihm abgeschabt haben, was ihn ausgemacht hat!
Offen bleibt, warum dieser Effekt lediglich bei Metallen oder – weiter gefasst – nur bei unbelebten Gegenstaenden auftritt. Es ist davon auszugehen, dass der Thesiskern auf solche Weise modifiziert werden kann, dass er sich auch auf andere Materie, wie auch auf lebende Wesen auszuwirken im Stande ist. Fakt ist dabei, dass gerade echsische Magier in ihrer Erkenntnis geradezu beschaemend viel weiter sind als wir!
Ich schließe daher mit der Aufforderung an alle Collegae und Studiosi sich keinesfalls auf den Erkenntnissen vergangener Generationen auszuruhen. Wissen ist Macht! Keinesfalls darf man aufhoeren danach zu streben, noch – moegen die Goetter bewahren – an Wissen verlieren. Wendet euch Forschungen zu, die obskur erscheinen! Greift nach Themen, die euch interessieren und vielversprechend sind. Redet mit den alten und wirren, den ausgestoßenen. Seid dabei nur einer Sache stets sicher: Achtet darauf, dass ihr kontrollieren koennt, was ihr erfahrt. Jede Macht der Welt ist gefaehrdet, wenn es eine groeßere Macht gibt, die sie vernichtet – schlimmer noch – die alles vernichtet!
Salpico Monterey
Adeptus der Bruderschaft der Wissenden
Gareth 31 (Feqzjian) (TRA 1014)
Der versteckte Garten hatte viel von seinem einstigen Glanz verloren. Die ausgetrocknete Erde sah versandet aus und die Reste verkümmerter Blumen lagen wie umgestürzte Bäume überall auf den Beeten. Die grünen Augen des Besuchers glitten von einer Ecke des vergessenen Fleckchens Erde in die andere. Was vor ihm lag war eine kleine Wüstenei, verborgen vor den Augen der Außenwelt durch Mauern, die ungebetene Blicke fernhielten. Was er hier sah – war eine Katastrophe.
Feqzjian von Tuzak ließ seine Beine einknicken und sich damit auf den Hosenboden fallen, ehe er hemmungslos zu schluchzen begann. Er war es gewohnt mit sich auszumachen, was ihn beschäftigte – ganz wie sein Großvater es ihn gelehrt hatte. Aber wo er sich normalerweise kontrollierte, gab es dazu jetzt keinen Anlass. Er ließ alle Zügel fahren, krümmte sich auf dem Boden zusammen und machte sich keine Gedanken mehr darüber, wer ihn sehen konnte.
In seinem Kopf gellte seine eigene Stimme überlaut als sie schrie. Sie schrie die Götter an und verlangte immer und immer wieder eine Antwort auf dieselbe Frage „WARUM ICH?!“. Ohne es zu ahnen begann er die Worte leise zu flüstern, dem Wahn nahe und in steter Wiederholung, als er sich vor und zurück zu wiegte.
Es mochten Stunden oder Wochen vergangen sein, als ihn endlich die Kraft zu weinen verließ. Seine wirbelnden Gedanken allerdings brauchten keine Körperkraft. Neferu – die Frau, die er über Jahre überall hin verfolgt hatte, für die er alles aufgegeben hatte, um stets zur Stelle zu sein, wenn es nötig war – hatte einen Mann geheiratet, den sie kein Jahr kannte. Wieder spürte er, wie ihn eine Flut der Verzweiflung überkam – aber es wollten keine weiteren Tränen kommen – stattdessen stellten sich Kopfschmerzen ein. Er schluckte und realisierte wie trocken und rau seine Kehle war. Weder hatte es geholfen sich erwachsener zu verhalten und seinen Zielen zu folgen, noch seine Gefühle zu zeigen und deutlich zu machen, wann ihn etwas überforderte. Auch die Anhänglichkeit und sein Begehren waren ins Leere gelaufen. „Warum ich?“ hallte es wieder durch seinen Kopf. Warum war er der Mensch, der keinen deutlichen Pfad vor sich sah? Warum war er der Mensch, der trotz aller Bemühungen um Neferu scheiterte. Und warum war er der Mensch, der von bewaffneten Wachen umgeben war, während die letzte Möglichkeit alles noch abzuwenden an ihm vorbei zog?
Ein lautes Schniefen ertönte. Schon als er Nef das erste Mal gesehen hatte war ihm klar gewesen, dass es keine außer ihr geben konnte. Keine andere Frau, keine andere Mutter für seine Kinder und niemanden sonst, der an seiner Seite das Erbe seiner Familienlinie weiterführen konnte. SIE war sein Zwilling von einer anderen Mutter gewesen und nur SIE konnte seinem Leben geben, was es brauchte. Warum also hatten die Götter einen anderen Pfad für sie erwählt? DAS GAB KEINEN SINN!
„In dem Augenblick, in dem ein Mensch den Sinn und den Wert des Lebens bezweifelt, ist er krank.“, hallte eine zweite Stimme durch seinen Verstand. Diese Stimme war ruhiger als seine, selbstbewusster, älter. Und sie ließ keinerlei Zweifel daran, dass das was sie sagte nichts als die Wahrheit war. Großvater. Sinnsprüche wie diesen hatte Maran ihm immer und immer wieder zur Antwort auf seine Fragen gegeben. Früher hatte Feqzjian das als seltsame Verschrobenheit eines alten Mannes abgetan, aber heute – heute ergab sein Handeln Sinn. Die beiden Männer hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen – aber noch immer hallten die Antworten auf derart fundamentale Fragen wie „Hat mein Leben einen Sinn?“ reflexartig im Kopf des Halbmaraskaners wider. Maran – da war Feqzjian sich sicher – hatte genau das beabsichtigt.
Aber gerade in diesem Fall, war die Antwort eine größere Bürde als die Frage. War er krank? Drohte sein Geist an diesem Verlust zu zerbrechen? Sein Vater begann zu vergessen und starrte ihn an wie einen Fremden. Hatte ihn sogar schon als verfluchten Rebellen bespuckt und den Tagrichter lobpreist. Der ehemalige Sonnenlegionär, den er liebte entglitt ihm in das graue Nichts des Vergessens, der Großvater, der ihn für eine Welt geformt hatte, die sich mit der Zeit verändert hatte und heute nicht mehr existierte, war verschollen. Seine Mutter litt an der Krankheit seines Vaters beinahe ebenso sehr wie ihr Mann selbst. Wo Feqzjian ihren Konsequenzen durch Abwesenheit entfliehen konnte, musste sie den Verfall ihres Mannes für den sie die Grenzen des Hochverrats an ihrem eigenen Volk überschritten hatte jeden Tag, jede Stude und jeden Augenblick ihres Tages mit ansehen.
Und zu all diesem Wissen gesellte sich der Verlust Neferus an Voltan. Ein Verlust der sich so endgültig anfühlte, als habe die Welt hohe, feste Mauern um ihn herum errichtet, die ihn von allen Gaben Phexens aussperren sollten. Plötzlich begannen die Hofmauern des kleinen Gärtchens sich erdrückend anzufühlen. Obgleich sie ihm mehrere Schritt Raum ließen, schoss das Feuer durch seine Adern, dass eine ungerechtfertigte Verfolgung auszulösen Pflegte. Der Freiheitsdrang eines eingesperrten Wildtieres bahnte sich Weg und brach an die Oberfläche. Als sein erschöpfter Körper sich in Bewegung setzte, kehrten die Worte seines Großvaters zurück. „Der Unglückliche muß auch Unmöglich’s fürchten. Gegen ihn erheben die stummen Steine selber sich als Zeugen; die Wand hat Ohren, Mauern sind Verräter.“
Mit einer Kraftanstrengung seiner Arme zog er sich auf eines der nahe gelegenen Dächer und begann zu rennen. Wann immer er auf das Ende eines Dachen stieß, sprang er auf ein anderes hinüber. Zwei- oder dreimal ahnte er mehr, als dass er es sah, dass unten auf der Straße jemand etwas rief oder ihm dort unten sogar ein Stück weit folgte – aber bald war diese Ablenkung wieder verschwunden. Schließlich stand er mit brennenden Lungen und schwer keuchend in einem dunklen Hinterhof – wo auch immer in Gareth er gerade sein mochte. Und als das Feuer in seinen Adern erlosch, kehrte die Verzweiflung zurück. Neferu war schwanger von einem anderen Mann, hatte den Antrag dieses Mannes angenommen und ihn geheiratet – in der Hauptstadt des größten Reiches der Welt und mit Gästen, die der Zeremonie durch ihre pure Anwesenheit schwerstes Gewicht verliehen hatten. Und vor seinem Antrag war sie geflohen. Mitten in der Nacht hatte sie ein Schiff bestiegen und hatte die Stadt verlassen – nur um in Al’Anfa zu landen. Der Dunkelhaarige griff nach seinen Schläfen, als könnte das die stetig stärker werdenden Kopfschmerzen lindern. Es schien ihm, dass sein Antrag der Wendepunkt gewesen war. Von dort aus war es nur abwärts gegangen. Und er hatte es nicht abwenden können – obgleich er sein Bestes getan hatte.
„Es ist sinnlos zu sagen: Ich tue mein Bestes. Es muss dir gelingen, das zu tun, was erforderlich ist.“, echote sein Großvater mit einem Tonfall, der Feqzjians Zorn erweckte. Es war die überhebliche Mundart eines Mannes, der mehr verlangte als er zu geben bereit war. „Sei still…“ flüsterte er fordernd in die lautlose Dunkelheit des Hofes.
„Ein Widerstand um jeden Preis ist das Sinnloseste, was es geben kann.“ höhnte die Stimme. „Sei still…!“ forderte Feqzjian lauter. „Sei still, sei still, SEI STILL!“
„Deine götterverfluchten Ratschläge haben mich hierhin gebracht. Sie sind voller tiefer Sinnhaftigkeit, für ein Leben, das hier nicht existiert!“, zischte er wütend, wie um seinen Großvater selbst zu bannen. Und tatsächlich – die Stimme blieb stumm. In die entstehende Leere in seinen Gedanken sickerte Traurigkeit. Was auch immer er jetzt noch tat – sein Leben war verpfuscht. Selbst wenn er mit irgendeiner Frau die er mochte eine Familie gründete – er würde immer ein trauriger Vater bleiben, der sich fragte, ob diese Kinder dort wirklich die waren, die er haben wollte. Der die Mutter seiner Kinder immer mit Augen sah, die eine andere sehen wollten. Aber egal was er jetzt noch tat – er konnte nicht rückgängig machen, dass Neferu sich von ihm abgewandt hatte.
Die schlanken Finger in den dunklen Haaren vergraben und mit Spuren auf den Wangen, die Tränen hinterlassen hatten starrte er auf den schmutzigen Boden als fände sich dort die Lösung für die Probleme, die sein Leben auszumachen schienen.
Dann war es plötzlich eine andere Stimme, die ihm kam. Nicht die alte, feste seines Großvaters, sondern die einer jungen Frau. Eine Stimme, die wenig nach Lebenserfahrung klang, nicht nach der bitteren Endgültigkeit, die das Alter mit sich brachte. Eine Stimme, die Vergnügen mit sich trug, den Trotz des Neuen und seine Kraft. Die Stimme seiner Mutter zu einer Zeit an die er sich gerade noch zu erinnern vermochte. „Das größte Vergnügen im Leben besteht darin, das zu tun, von dem die Leute sagen, du könntest es nicht.“
Er hatte einmal gehört, wie sie das zu seinem Vater gesagt hatte, damals, irgendwann vor einem ihrer Umzüge in eine neue Stadt – ein neues Leben. Er hob den Blick ein wenig an, hinauf in den Himmel, der zwischen den dicht beieinander stehenden Häusern zu sehen war. Sterne funkelten hell am Firmament und versprachen Lichtinseln in einem Meer von Dunkelheit.
„Das Leben ist wundervoll. Es gibt Augenblicke, da möchte man sterben. Aber dann geschieht etwas Neues, und man glaubt, man sei in Alveran…“, ergänzte die Stimme.
Und ehe Feqzjian über das Gesagte noch ganz nachgedacht hatte, hörte er seine eigene Stimme rau und erschöpft von den nahen Wänden widerhallen.
„Und ein Mensch, der für nichts zu sterben gewillt ist, verdient nicht zu leben …“
Gareth 30 (Garion) (TRA 1014)
Die schwache Flamme der Kerze auf dem kleinen Beistelltischchen flackerte, als der hochgewachsene Mann sich das kühle Wasser aus der bereit gestellten Wasserschüssel zuerst ins Gesicht warf und dann benutzte, um seine Achseln zu waschen. Sein morgendliches Waschritual weckte ihn nicht nur endgültig auf, es hinterließ eine erfrischende Kühle auf seiner Haut, eine Reinheit, die er brauchte. Das schwere und nahezu allgegenwärtige Gefühl der Konsequenzen seiner Entscheidungen war nach der täglichen Reinigung eine Weile lang weniger stark.
Er hat soviel, das er bereuen konnte. Sein bornländisches Blut erinnerte ihn immer wieder daran, was hätte sein können, wenn er einen anderen Weg eingeschlagen hatte. Schwermut war ihm ein treuer Begleiter und er hatte schon vor Jahren aufgehört zu versuchen, ihn zu bezwingen.
Sein ganzes bisheriges Leben war eine Kette aus folgenschweren Entscheidungen gewesen. Seine Berufung hatte ihren Teil dazu beigetragen. So oft hatte er vor sich selbst rechtfertigen müssen, dass er getötet hatte. Aus Notwehr zwar, aber dennoch so zahllose Kerzen, die er zum Erlöschen hatte bringen müssen.
In der Stille des Raumes trocknete er sich das Gesicht. Ein Seitenblick flüchtete zum tanzenden Schein des zittrigen Flämmleins.
Er hatte keine Wahl gehabt. Hatte er?
Draußen vor dem kleinen Fenster der Herberge war es noch dunkel, bestenfalls das entfernte Glühen erster Sonnenstrahlen war zu erahnen, als der Rondrageweihte nach dem sauberen Tuch zu seiner Linken griff und sich damit abtrocknete. Dann ging er zu dem gemachten Bett hinüber, auf dem sein Ornat bereit lag. Vorbei an dem kleinen Tisch in seinem Zimmer, auf dem eine grobe Karte des nördlichen Mittelreichs ausgebreitet lag. Darauf – noch immer offen – das Notizbuch Garions, dessen Seiten mit seiner engen, sauberen Schrift gefüllt waren. Sein rechter Mundwinkel hob sich matt. Dieses Buch war ein Abbild seines Lebens. Es war eng, korrekt und ordentlich. Er schnaubte leise, um diesen Gedanken zu verscheuchen als sei er eine lästige Fliege, die seinen Kopf umschwirrte. Alle Entscheidungen die er getroffen hatte, hatten ihn hierher in dieses Zimmer geführt. Hatten ihn zu dem gemacht, der er jetzt war. Kurz hielt er inne und sah auf seine schwieligen Hände hinab. Menschen dachten immer, dass sie Entscheidungen machen würden – aber tatsächlich war es andersherum. Entscheidungen machten Menschen. Sie formten Leben oder beendeten sie. Kurz blinzelte er. An manchen Morgenden zwickte ihn das silberne Auge in seiner linken Augenhöhle, wenn er auch nie herausgefunden hatte warum. Kurz legte er zwei Finger auf das Augenlid, um das Gefühl zu ersticken.
Den gestrigen Tag hatte er damit verbracht seine Route nach Firun von Gareth bis hinauf nach Donnerbach zu planen. Gedankenverloren zog er sich das weiße Hemd über den Kopf und zurrte den Gambeson darüber, ehe das Kettenhemd folgte. Die neue Rüstung bestand aus mehr Teilen als die Alte – dafür war sie beweglicher und hatte einen passenden Helm – davon, dass sie weit weniger auffällig war einmal abgesehen. Nachdem er den Wappenrock übergestriffen hatte, beugte er sich noch einmal über seine Notizen während er seinen Waffengurt anlegte.
Zunächst war der Weg klar gewesen. Die Reichsstraße nach Firun, über Wehrheim und Altnorden bis hin nach Trallop. Ab hier allerdings begann der Norden sich seinen rauen Ruf zu verdienen. Die gut ausgebaute Reichsstraße fand in Trallop ihr Ende und von dort aus lag noch immer der ganze Neunaugensee zwischen ihm und Donnerbach. Von hier aus gab es drei Gangbare Wege – vier, wenn man davon ausging mehr als genug Zeit zu besitzen – und keiner von Ihnen war erbaulich. Der kürzeste Weg führte direkt über den See, dicht an der Küste des Nebelsmoors entlang in Richtung Firun.
Als der Waffengurt an Ort und Stelle saß lehnte er sich vor und stützte sich mit den rauen Händen auf dem Tisch ab, um ein weiteres mal einen genau Blick auf die Alternativen zu werfen. Der kürzeste Weg mochte immer noch gute 130 Meilen auf einem offenkundig gefährlichen See vorbei an der Küste eines der verrufensten Moorgebiete des ganzen Kontinents bedeuten. Die zweitbeste Strecke allerdings führte direkt durch das Nebelmoor, efferdwärts am See vorbei. Diesen Weg nahmen gelegentlich Handelskarawanen, aber niemand reiste allein. Zu groß war die Gefahr, dass ein einzelner Wanderer dort verscholl und niemals wiedergesehen wurde. Zumal auf die Wege dort nicht immer Verlass war – oft waren sie verschlammt, unterspült oder gänzlich im Moor versunken. Gedankenvoll griff er nach der ersten seiner beiden Schwertscheiden und riemte sie an sein Wehrgehänge.
Der dritte Weg umrundete den See im Rahja. Dieser Weg war der Komfortabelste und stützte sich auf Landstraßen oder Karrenpfade. Das Gebiet war relativ sicher und umging jedes Grauen, das im Efferd lauern mochte – war dafür aber deutlich länger. Der vierte Weg dagegen führte weit in den Efferd, umrundete auf der Gashoker Ebene das Nebelmoor und seine Ausläufer und führte dann in einem Bogen nach Donnerbach. Das Problem war: Dieser Weg existierte nicht. Die Ebene war wildes Land und es gab nur wenige Straßen dort – und noch weniger, die verzeichnet waren. Der Weg war lang und bestenfalls wenig gefährlich. Und schied deswegen aus.
Er drückte sich von dem Tisch hoch und befestigte eilig die zweite Schwerscheide an seiner Hüfte, ehe er die Halsberge anlegte. Es hatte wenig Sinn sich noch weitere Gedanken über die Strecke zu machen. Diese Entscheidung war bereits am Vortag gefallen. Sein Sohn wartete dort oben im Norden auf seine Eltern – und das schon viel zu lange – also würde er den kürzesten Weg wählen, falls sich ein Schiffer fand, der nach all den Sichtungen im Neunaugensee noch bereit war ihn zu befahren. Sollte das nicht der Fall, würde er prüfen, ob in Bälde eine Karawane durch das Nebelmoor aufbrach und sich ihr anschließen. Und erst, wenn auch das nicht der Fall war… dann würde er den sicheren Weg im Rahja nehmen. So oder so. Die Reise würde lang werden und wo er sich zu Beginn noch an die Reichsstraße und die an ihr befindlichen gastfreien Häuser würde halten können, so würde der Weg nach Trallop einsamer werden und die eine oder andere Nacht würde er sicherlich am Rande einer Straße unter dem Schutz seiner Zeltplane verbringen und sich fragen warum er schon wieder eine derart wichtige Reise alleine angetreten hatte.
Für einen Moment hielt er inne. In seiner Vorstellung konzentrierte er sich auf seinen Körper und begann dann langsam mehr und mehr der Welt um sich herum zuzulassen. Das Zimmer in dem er sich befand und das ihm nur deshalb zur Verfügung stand, weil er den Wirt dafür bezahlt hatte. Die Herberge in der das Zimmer lag und die ein anderer Mensch einmal hatte bauen lassen – von jemandem der sich Gedanken über die Lage des Zimmers gemacht hatte. In Gareth – einer Stadt die es seit mehr als 1000 Jahren gab und die stoisch jedes Einzelschicksal der vielen Tausend Seelen innerhalb ihrer Mauern zuließ und beobachtete. In diesen 1000 Jahren hatte es sicher andere Menschen gegeben, die sich allein gefühlt hatten. Die fürchteten zu unterlegen – viele von ihnen um einiges schlechter ausgebildet, mit weniger Freunden und weniger Geld als Garion selbst.
Ohne es wahrzunehmen schnallte er seinen Schild auf den Rücken, griff nach einer kleinen schmucklosen Kiste neben seinem Bett und verließ das Zimmer, hinaus in den Schankraum der Herberge Schwert und Schild. Seit Neferu ihm die Existenz seines Sohnes offenbart hatte, fiel es ihm schwer sich zu konzentrieren. Wofür blutete und kämpfte man, wenn nicht für die Familie? Wofür die langen Stunden der Ausbildung und der Entbehrung? Wofür ließ man sich verletzen und riskierte sein Leben, wenn nicht für die Familie? Nicht unbedingt die Eigene natürlich. Familien gab es überall in Aventurien und jede von ihnen in denen Liebe die Bande stärkte war schützenswert. Aber zu wissen, dass er einen Sohn hatte – ein Kind, dass die fleischgewordene Verbindung zwischen ihm und Neferu war, dass er selbst einen Nachfahren hatte – das hatte ihn aus der Bahn geworfen. Der Schutz all dieser Menschen war ihm stets eine Pflicht gewesen, ein Dienst an seine Göttin, ein offizieller Auftrag. Aber jetzt – jetzt war es etwas Persönliches. Jede Bedrohung für diese Welt war auch eine Bedrohung für sein Kind – und das Neferus.
Noch auf der umlaufenden Galerie des Hauses hielt er inne, beugte sich vor und legte seine Unterarme auf das Geländer. Neferu Banokborn… oder Vesper Sprengler wie man sie jetzt nannte. Er hatte geglaubt, was andere sagten – dass seine Zuneigung zu ihr zwar innig war, aber wie eine Art nachhaltiges Strohfeuer. Sie war schnell entflammt gewesen hatte sich dann langsam, aber merklich abgekühlt. Jetzt war er gezwungen einzusehen, dass es dumm gewesen war was die anderen behauptet hatten. Die Heirat Nefs schmerzte ihn – sogar sehr. Er mochte sich eingeredet haben über die Südländerin mit Hang zur Vermögensumverteilung hinweg zu sein, aber das war nicht mehr gewesen als der schwache Versuch die Wahrheit zu leugnen. Er liebte sie und daran würde sich niemals etwas ändern – und das machte ihr gemeinsames Kind unvorstellbar wertvoll. Die Vergangenheit war vorbei und er konnte nicht ändern was er getan hatte – und selbst wenn das anders gewesen wäre, war er sich nicht sicher, ob er es getan hätte. Aber ob sein Leben nun als wenig lebenswert oder als göttergefällig gewertet werden mochte: Das Leben seines Sohnes war in keinster Weise vorgeprägt und sollte allein in seiner Hand liegen. Rondradus sollte jeder Weg offen stehen, den zu nehmen er wünschte – und dafür würde er seine Eltern brauchen.
Er biss sich auf die Unterlippe, um in die Realität zurückzukehren. Der Schankraum war bis auf einen weiteren Gast leer, der alles andere als ausgeschlafen wirkte. Lediglich der Wirt hinter der Theke machte einen geschäftigen Eindruck. „Den Göttern zum Gruß, Herr Ummingshausen.“, ließ Garion seine tiefe Stimme ertönen. „Wenn es keine Umstände macht, dann wäre ich Euch dankbar, wenn ihr mir nur rasch zwei Scheiben Brot mit etwas dazwischen gebt. Ich habe es eilig.“
„Guten Morgen Euer Gnaden.“, erwiderte der Wirt mit einem gut gelaunten Lächeln und nickte ihm zu. „Sicher. Gebt mir einen Augenblick.“
Wenig später trat der Geweihte hinaus in die graue Dämmerung über der Hauptstadt des Mittelreichs. Es war ein kühler Morgen, der ihn mit Nieselregen begrüßte, den er aber nur an Händen und Gesicht spürte. Auf dem Krautmarkt waren einige der frühen Händler mit dem Aufbau ihrer Auslage beschäftigt, während Garion sich nach Praios wandte und bei nächste Gelegenheit nach Rahja abbog – in Richtung des Brig-Lo-Platzes. Sein Ziel war die hiesige Filiale der Nordlandbank. Die Erfahrungen der letzten Wochen und Monate waren furchtbar gewesen, aber sie hatten einiges an Geld bedeutet. Kurz fiel der Blick blauer Augen auf die Kiste, die unter seinem Arm klemmte – dann biss er in sein Brot. Es mit auf die Reise nach Firun zu nehmen war undenkbar – es handelte sich um beinahe 2000 Dukaten. Also hatte er entschlossen, den Großteil des Goldes auf sein Konto einzuzahlen und dafür zu sorgen, dass seine Gefährten im Fall der Fälle Zugriff darauf erhielten. Ohnehin war es notwendig gewesen sein Testament anzupassen. Nicht nur, dass das Geld auf seiner hohen Kante auf jeden Fall dem Kampf gegen Borbarad zugute kommen musste, sollte ihm etwas passieren – auch sein Sohn und dessen Mutter sollten versorgt sein. Geld war kein adäquater Ersatz für die Liebe und Geborgenheit, die ein anwesender Vater einem Kind angedeihen lassen konnte, aber zusammen mit einem Brief voller Erklärungen für verpasste Geburtstage, den Status als Bastard und die wenigen Besuche mochte es ein Mindestmaß an väterliche Sorge darstellen. Er sah in den Himmel hinauf und wischte sich ein wenig Feuchtigkeit von der rechten Wange. Die Wirkung der morgendlichen Waschung hatte heute nicht besonders lange vorgehalten.
Weniges später erreichte er das trutzige und schwer gesicherte Gebäude. Die Hoffnung, dass ein frühes Eintreffen ihm eine rasche Abwicklung ermöglichen würde zerschlug sich, als er der Schlange von Kaufleuten und Sekretären gewahr wurde, die sich vor den noch verriegelten Türen der Bank versammelt hatte. Er steckte sich das letzte Stück seines Brotes in den Mund, rieb sich dann das rechte Auge und stellte sich mit einem leisen Seufzen ganz hinten an, wobei er nicht vergass der Frau vor ihm einen „Guten Morgen.“ zu wünschen.
Etwas mehr als eine Stunde später hatte er das Gebäude wieder verlassen. Die Kiste, die er noch immer unter seinem Arm trug war deutlich leichter geworden. Nur etwa 100 Dukaten waren in verschiedenen Münzen in ihr verblieben. Daneben befand sich ein Wechsel der Nordlandbank über weitere 20 Dukaten. Zwar gab es in Donnerbach keine Filiale, aber vielleicht würde ihm das Stück Papier dennoch von Nutzen sein können. Wenn nicht jetzt, dann später.
Zurück auf seinem Herbergszimmer verstaute er den Inhalt der Kiste in seinem Rucksack und ließ die Kiste selbst als Geschenk an einen späteren Bewohner zurück. Sein restliches Habe war wenig genug. Er faltete die Karte zusammen, griff sich sein Notizbuch und klemmte sich einige andere Dinge unter den Arm, die er in den Satteltaschen Rotsturms verstauen würde, die in einem Stall nahe der Herberge wartete.
Die Vorbereitungen für seine Reise waren beinahe abgeschlossen. Sobald er das Pferd geholt hatte, würde er noch einen Halt bei Voltan und Neferu machen – dem frisch vermählten Paar, von dem er nicht anders konnte als es zu mögen, obwohl ihm der Gedanke der Verbindung noch immer mit jeder Faser seines Körpers widerstrebte. Kurz schoss ihm der Gedanke Rahjard lebewohl zu sagen durch den Kopf, aber er verwarf ihn rasch wieder. Raj bereitete sich selbst auf eine Reise vor, die ihn an genau das andere Ende des Kontinents führen würde. Die Entscheidung des Schönlings hatte ihn überrascht, sie war selbstlos gewesen – beinahe heldenhaft und jetzt wollte er ihn nicht bei der Umsetzung stören. Sicher – Rahjard würde sich darüber auslassen, dass er – Garion – wieder einmal gegangen sei, ohne sich um ihn zu kümmern. Aber genau genommen wollte Garion das auch nicht. Alles was der Al’Anfaner damals getan hatte war wie weggewaschen im Vergleich zu der Vergewaltigung einer Geweihten. Und genau genommen war seine Reise in den tiefen Süden nicht heldenhaft – sie war das Mindeste, was er tun konnte um sich von diesem dunklen Fleck auf einer ohnehin schon lange nicht mehr weißen Weste zu befreien. Nein – er würde nicht bei Rahjard vorbei sehen. Er würde sich direkt auf den Weg zu den Sprenglers machen. Danach würde er nach Norden aufbrechen. Noch heute wollte er Ginsterfeld erreichen und Donnerbach so wenigstens ein Stück näher sein. Sein Sohn hatte lange genug gewartet und vielleicht war Cyruion immer noch dort – und konnte ihm einen besseren Weg für die Zukunft vorschlagen.
Gareth 29 (Salpico) (TRA 1014)
Als Rychard am Abend eines langen und anstrengenden Tages von den Übungsstrecken des Rennstalls Winzberg nach Hause zurückkehrt, findet er einen Umschlag unter der Tür durchgeschoben, der mit schwarzer Tinte beschriftet ist. Die etwas krackelige Schrift verkündet „Rychard Lowanger-Greiber“. Die innen befindlichen Pergamentbögen sind ebenfalls schwarz beschriftet und offenbaren folgenden Text.
„Friede sei mit dir Rychard,
Da das Schicksal uns zusammen auf die Reise nach Selem schickt, will ich dir erläutern, was ich bei meiner letzten Reise herausgefunden habe und was davon wir auch auf dieser Reise wieder nutzen können. Außerdem beinhaltet dieser Brief so etwas wie eine Grobplanung dessen, was wir benötigen werden.
Zuletzt war ich von Praios bis Efferd des Jahres 1013 BF in Selem und habe die Stadt versteckt auf einem Frachtschiff verlassen. Es ist davon auszugehen, dass die Familie Musten’Cha nach dem Tod ihrer Enkelin nicht begeistert sein wird mich lebend zu sehen.
Eine zweite große Familie sind die S’Za Temen’Cha. Allerdings befinden sie sich auf dem absteigenden Ast. Die wenigen Familienmitglieder, die noch existieren haben viel Geld verloren und sind kaum noch magisch. Wir werden sehen, wie weit sie uns zu helfen bereit sind. Zuletzt haben wir gut zusammengearbeitet, aber dafür habe ich auch mit Magie nachgeholfen.
Selem war vor ewigen Zeiten als Elem eine blühende Stadt und Sitz mächtiger Magier. Es beherbergte sogar eine Magierakademie von der Heute nur noch gefährliche Ruinen – halb verborgen im Sumpf – übrig sind. Irgendwann straften die Götter den Hochmut der Bewohner indem sie einen riesigen Felsen auf die Stadt stürzen ließen. Danach war die Stadt bestenfalls ein Schatten ihrer selbst und wurde zu dem sumpfigen Nest, das es heute ist.
Da viele der Bewohner tatsächlich nach einiger Zeit zu degenerieren beginnen, halte ich es für möglich, dass der Stein außerdem eine Art Aura mit brachte, die dazu dient die Bewohner des Umlandes zu verdummen. Nur sehr starke Geister halten diesen Einfluss langfristig aus – und davon gibt es dort wenige genug. Irgendwann ist der eigenen Geist weit genug geschrumpft, um Selem nicht mehr verlassen zu können oder zu wollen. Das ist unser zweites Problem.
Zu erreichen ist die Stadt am besten per Schiff, da sie trotz allem als Umschlagsplatz für Händler aus aller Herren Länder dient. Die im Hafen vorgelagerten Inseln werden den einzelnen Regionen zugeordnet und oft als “Klein Zorrigan, Klein Festum” und so weiter bezeichnet. Dort kommen die jeweiligen Matrosen unter und löschen dort zumeist auch ihre Fracht.
Unser Ziel ist “Klein Perricum”. Dort gibt es eine Herberge mit Namen “Hotel Selemer Hof”, deren Besitzerin Edra Korninger mit mir befreundet ist. Sie wird uns – trotz des vermuteten Kopfgeldes – sicher Unterschlupf gewähren. Außerdem ist der Hafen vor einiger Zeit von einem Piraten mit Namen “El Hakir” übernommen worden. Die einzelnen Stadtteile Selems sind wie eigene Städte, daher trat man seinem Angriff nicht koordiniert gegenüber und verlor die Kontrolle beinahe umgehend. Bei meinem letzten Aufenthalt habe ich mit ihm (besser einem seiner Unteroffiziere) einen Waffenstillstand ausgehandelt, damit seine Männer mich in Ruhe lassen und ich niemanden von ihnen umbringe. Zwar ist der Gedanke dieses Abkommen wieder aufleben zu lassen reizvoll – allerdings bin ich mir einigermaßen sicher, dass diese Leute das Risiko ein paar Männer zu verlieren auf sich nehmen, wenn dafür ein Kopfgeld winkt. Wir unterrichten sie also besser nicht ohne Not von unserer Ankunft.
Wichtig ist zu verstehen, dass ein Leben in Selem nicht viel wert ist. Die Wachen – so sie denn vorhanden sind – helfen dir nur, wenn du für sie wichtig bist (also ein Verbündeter ihres Herrn, ein Geldgeber, und so weiter). Die Bewohner werden so tun, als würden sie einen Angriff nicht bemerken, um selbst keinen Ärger zu bekommen. Wenn uns also irgendwelche Verbrecher angreifen, dann dürfen wir nicht zögern sie möglichst grausam zu töten und einen entkommen zu lassen. Das ist der sicherste Weg sich den Abschaum langfristig vom Hals zu halten.
Es gibt dort zwar ein paar Tempel der Zwölfe, aber sie sind im Grunde nicht ernst zu nehmen. Die Geweihten stehen alleine und werden toleriert – mehr aber auch nicht. Möglicherweise kann uns allerdings die Efferdgeweihte weiterhelfen. Das letzte mal war ich mit ihr essen – sehr sympathisch.
Neben ihr scheint mir die beste Quelle, um uns rasch wieder auf den aktuellen Stand des Tagesgeschehens zu bringen, ein Echsenmensch mit Namen Chrmtschk zu sein. Ich habe ein paar Mal mit ihm zusammengearbeitet und ihn äußerst großzügig entlohnt. Er lebt direkt in der Stadt und hat als Hehler sicher einige Neuigkeiten anzubieten. Aber Achtung – die Achaz halte es für Schwäche wenn jemand Gefühle zeigt!
Da die Stadt im Sumpf liegt, wimmelt es nur so von Moskitos. Da ein Biss irgendwo zwischen lästig und gefährlich rangiert, sollten wir uns vor ihnen schützen. Die Toca-Mujak benutzen dazu Sansaro-Salbe. Die kann ich zwar herstellen – aber nur wenn ich Sansaro-Seegras bekomme. Um da ranzukommen müssen wir einen Fischer bezahlen. Und ich muss dich warnen – das Zeug riecht eher mäßig.Vielleicht kriegen wir sogar etwas davon hier in Gareth. Unmöglich ist es nicht.
Wir werden nicht umhin können einigen unserer Anliegen auch in der Nacht nachzugehen und es ist möglich, dass wir dabei Zauber sehen, die in der Finsternis vom Himmel zum Boden oder in die andere Richtung zucken. Das sind nicht unsere Angelegenheiten. Die närrischeren Vertreter meiner Profession glauben, dass sie mit arkanen Duellen den Titel des Herrn über Selem erringen können. Bisher hat sich mir aber nicht erschlossen wozu dieser Titel gut sein soll, also werde ich diese Angelegenheit vorerst ignorieren.
Ich habe versucht mich bei einer Führerin über die Tiere der Gegend zu informieren. Das Ergebnis: Wenn es sich bewegt, dann will es dich üblicherweise umbringen. Das gilt insbesondere für Schlangen und Kaimane in den Sümpfen.
Zuletzt – und das ist äußerst wichtig: Selem wirkt auf den ersten bis dritten Blick wie eine Ansammlung verwirrter, sabbernder Degenerierter. Aber in dieser Stadt sammeln sich seit Jahrhunderten die brillianten und gefährlichen Schwarzmagier, die sonst nirgendwo mehr hinkönnen. Meine Aufzeichnungen sprechen von meinem Besuch in der Silem-Horas Bibliothek, an den ich mich schon jetzt kaum mehr erinnere. Das spricht wohl Bände. Eben diese Bibliothek war es, die unsere Zielperson angelockt hat – also werden wir dorthin müssen. Und ich verspreche nicht zuviel, wenn ich dir sage, dass der Bibliothekar eine – Herausforderung ist.
Neben einigem Gold werden wir uns auf unsere Fähigkeiten und die eher geringen Verbindungen vor Ort verlassen müssen. Da ich aber vermute, dass das nicht ausreichen wird, empfehle ich, dass wir noch wenigstens einen Söldner oder Abenteurer mit uns nehmen, um unseren Rücken zu decken. Es wird schwierig werden Liscoms Spur zu entdecken, wenn er einen anderen Namen angenommen hat, aber sicher nicht unmöglich – immerhin haben wir seine Beschreibung und er hat sich durchaus namhafte Feinde in der Stadt gemacht.
Triff deine Vorbereitungen. Uns erwartet eine Stadt, in der du jederzeit mit einem Angriff rechnen musst. Wir brauchen Rüstungen und Verbände, die Zauber in meinem Stab und Tränke.
Und wir brauchen ein klein wenig Paranoia. Also tu’ mir den Gefallen und verbrenne diesen Brief sorgfältig, ehe wir Gareth verlassen.
Wissen ist Macht
Salpico“
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