Grangor

Grangor 4 (Neferu)

Die nachfolgenden zwei Monate entpuppten sich als Chaos und als ein Netz der Ungewöhnlichkeiten.
Sie hatte sich ihrem verworrenen Gefühl Phexdan gegenüber nicht hingeben wollen (außerdem wollte sie ihm den Triumph nicht gönnen, sie auf die endlose Liste seiner Eroberungen zu schreiben) und Grangor auf dem Seeweg hinter sich gelassen. Nestor war gut bezahlt worden, damit er sie nicht verriet.

In Ferdok gelangte sie durch Zufall in das Haus eines Magus, der sie mittels Zauberei mit nach Maraskan nehmen wollte, um irgendein arkanes Phänomen zu studieren – gegen gute Bezahlung natürlich.
Maraskan. Scheijian. Ihr kam der Name des Mannes in den Sinn, den sie Jahre lang zu lieben geglaubt hatte. Wenn sie jetzt an ihn dachte, war er ein schemenhafter Geist mit schwarzen Augen, in kurzer Zeit um Monate verblasst. Sie versuchte sich an die Konturen seiner Gestalt in ihrem Geist zu klammern und ihre Ideale in dieses Mitglied des Zweiten Fingers Tsas zu projizieren, den sie kaum kannte. Lange hatte sie ohne Erfolg nach ihm gesucht. Allein um Phexdan weiß zu machen, es gäbe da bereits den Mann ihres Lebens, hatte sie dem Gaukler von Scheijian erzählt. Auch wenn es stimmte und sie noch vor einigen Wochen so gedacht hatte, war er in dem Moment nur ein Mittel gewesen, um sich unerreichbarer und interessanter zu machen. Leider hatte diese Masche bei Phexdan nicht gefruchtet. Sicher war er sie gewöhnt von all den Frauen, die um ihn herumscharwenzelten und um seine Gunst buhlten.
Wie auch immer – der Magier wollte mit ihr nach Maraskan und sie war nur allzu bereit diesen Zufall als Wink der Götter zu verstehen, die versuchten, sie wieder auf den Weg Scheijians zu führen.
Leider hatte die ganze Geschichte dann doch wenig mit den Zwölfen zu tun: Der Zauber schlug fehl und sie landete allein auf einem Baum im Regenwald südlich von Al’Anfa und stieß unglücklicherweise (oder glücklicherweise?) auf eine Gruppe Eingeborene, die sie gefangen nahmen, ihr die geliebten Haare gewaltsam schnitten und sie zwangen einen Hund zu mimen – denn mehr war sie für diese Eingeborenen vom Stamme der Oijianijias nicht wert.
Als das Dorf der Waldmenschen angegriffen wurde, konnte sie sich beweisen. Sie rettete die Häuptlingstochter und erschlug einige Angreifer des feindlichen Stammes. Fortan änderte sich die Situation, sie wurde in den Stamm integriert, bekam ihre eigene Hütte und von beinahe allen Respekt. Besonders zu dem alten Schamanen Hanah-Kau-Kee hatte sie ein gutes Verhältnis, was in einer Blutsbruderschaft mündete. Sie besiegte noch einen untoten, uralten Feind des Dorfes, einen Yaq-Hai und durfte sich von nun an den Titel „Bezwinger des Yaq-Hai“ in der Sprache der Oijianijia nennen, die sie in den Grundzügen erlernt hatte. Der Abschied ergab sich dadurch, dass sie ein bösartiges, Unfrieden bringendes Artefakt in die Zivilisation tragen musste, nicht ohne die Bitte des Dorfes zurückzukehren.
Im Spiegel eines ruhigen Waldsees erkannte sie sich selbst kaum wieder. Ihre Waffe war ein biegsamer Holzstab, umwickelt mit Krokodilsleder und mit den Federn eines Regenbergadlers geziert. Ihr kurzes Haar war durch mehrere Flechtzöpfe wieder bis auf die Brust verlängert worden. Ihre Haut war dunkel, die tulamidische Abstammung in ihr – die auch Phexdan wohl nicht verleugnen konnte – hatte dafür gesorgt, dass sie farblich mittlerweile eher einem Moha glich. Ihr Haar hingegen war ausgeblichen und zusätzlich rötlich getönt worden. Die Kleidung ähnelte grob der, mit welcher sie aufgebrochen war – mit der Ausnahme, dass diese hier, sowohl was das Hemd, als auch den kurzen Rock anging, aus gleichfarbigen Flicken bestand, die kreuz und quer zusammengenäht worden waren – von ihr selbst.
So erreichte sie die Zivilisation und in selbigem Zustand auch nach 50 Tagen Fortbleiben wieder Grangor.
Sie hoffte nach dieser langen Zeit geheilt zu sein von dieser lästigen Vernarrtheit, aber kaum hatte sie das Stadttor passiert, als sie auch schon merkte, dass ihre Füße sie schnurstracks zur „Offenen Hand“ führten.
Sie versuchte sich kurzzeitig zu konzentrieren, um einen Plan zu fassen und aus ihrer Schwäche das Beste zu machen, aber ihr Herz schlug ihr dermaßen zum Hals, dass sie ihre eigenen inneren Worte nicht verstehen konnte. Gelassenheit und Selbstbewusstsein – diese zwei Merkmale versuchte sie zwanghaft und unterstützt durch ein stummes Mantra auszustrahlen, als sie dann doch etwas zu kräftig die Tür zur Pilgerherberge aufstieß. Es wurde still und viele Augen richteten sich auf die dunkelhäutige Frau mit den ungewöhnlichen Zöpfen, die grangoruntypisch komplett in Rot gewandet war.

Ihr erster Blick fiel auf Richard und Garion, die zusammen mit Phexdan an einem Tisch saßen und sie so massiv in ihrer dortigen Kombination irritierten, dass sie wie nach überzogenem Auftritt heischend mehrere Minuten aufrecht und wortlos in der offenen Tür stehen blieb.
„Neferu! Da bist du ja wieder!“ lächelnd und mit ausgebreiteten Armen kam ihr zu allererst Phexdan entgegen, was ihre Irritation in die Grenzenlosigkeit Alverans erhob. Sie hoffte inbrünstig erhaben und ernsthaft zu wirken – glücklicherweise hatte sie darauf geachtet ihren Mund geschlossen zu behalten, um nicht Maulaffenfeil zu halten. Das war doch schon mal was.
Garion wirkte alles andere als glücklich und hatte einen auffälligen Schnitt im Gesicht. Als er zu ihr eilte, besann sich der Fuchs und klopfte ihr nur kurz auf die Schultern, ehe er recht schnell die Herberge verließ.
Neferu wartete immer noch auf sein Zurückkommen, als ihre zwei Begleiter sich lange zu den Hortemanns begeben hatten.
Sie blieb wach und studierte sein Zimmer, wie sie das Durchwühlen und Nachstellen und das stehlen eines Briefes in Geheimschrift gedanklich positiv verpackte. Erst als die Praiosscheibe sich in rotem Licht über Grangor erhob, ging sie schweigend und müde zum Hause Hortemann zurück.

Ein Auftrag erreichte eben jenes Anwesen – Treffen zur 14. Stunde am Rahjatempel. Alle drei folgten dem Aufruf.
Aber stattdessen, wurde ihre Welt aus den Fugen geworfen.
Noch jetzt schluckte Neferu ihre Angst herunter, wenn sie an ihren Tod dachte. Sie war gestorben, weil Ingerimm, Efferd und Rondra so entschieden hatten. Ein Kult des Namenlosen beherrschte insgeheim die Stadt und eine ausnahmslose Zerstörung sollte diese Gefahr bannen. Doch Rahja liebte Grangor und vollzog einen Pakt mit Satinav – die Zeit hatte still gestanden.
Neferu hielt kurz inne. Es war bereits dunkel und etwas windig. Sie rieb wärmend die Arme und blickte sich zögerlich um. Ihre Gedanken hatten sie weit fortgerissen und sie versuchte ihren momentanen Standort zu identifizieren. In der Ferne erblickte sie den Rahjatempel. Sie war wohl mehrfach im Kreis gelaufen. Matt atmete sie aus. Der Rahjatempel.
Sie war Rahja persönlich begegnet, sie hatte die personifizierte Liebe getroffen. Enttäuschung und Verbitterung hatte sie die Göttin spüren lassen, was sie längst bereute. Was sollte folgen auf unglückliche Liebe, wenn man der Liebesgöttin für diese Umstände zürnte? Doch nur noch unglücklichere Liebe. Ihr wurde kalt.
Sie hatte es gewagt die große Göttin anzusprechen.
„Warum quälst du mich?“ War ihre törichte Frage gewesen und die Antwort der Bewohnerin Alverans war folgendermaßen ausgefallen: „Liebe ist Freude und Schmerz.“ Sie hatte in dem Moment die Antwort der Göttlichen als Hohn empfunden, nun gingen ihre Gedanken vollkommen andere Wege. Vielleicht suchte sie die Freude an falscher Stelle? Hatte sie nur ein Talent? Den Schmerz des Gefühls zu spüren und zu entfachen?
Immerhin hatten sie drei es allein geschafft Grangor zu retten. Alle 8000 Menschenseelen – gerettet durch ihre Hand. Weil sie ein Haar rechtzeitig verbrannten, das dem Namenlosen Höchstselbst gehört haben sollte. Auch die Seele von Phexdan… flüsterte es sanft in ihren Gedanken und sie erinnerte sich an den Moment, die letzten Sekunden des zeitlichen Stillstandes, in denen sie wie um ihr Leben rennend zu eben jenem fand, und ihm das Schneeflockenamulett umlegte, bevor sie sich so rasch entfernte wie sie gekommen war. Was er wohl gedacht haben mochte, als ganz plötzlich die Kette an seinem Hals erschienen war?
Sie lächelte in Melancholie bei diesem Gedanken und malte sich in den schillerndsten Farben aus, dass er sie heimlich liebte – ihr Geschenk küsste und es nah bei seinem Herzen trug. Schnell schüttelte sie den rührseligen und unwirklichen Gedanken von sich.

Was hatte sie anschließend getan, nachdem bekannt geworden war, dass die Fremde aus Gareth und ihr Begleiter (von Garion hatten die Bewohner von Grangor wohl noch nicht viel mitbekommen) sie alle gerettet hätten? Sie war ins Haus Hortemanns gegangen, hatte zielstrebig das Zimmer vom spielenden Phexje aufgesucht und war dem Kind heulend wie ein Klageweib um den Hals gefallen.
Aus irgendeinem Grund erschien ihr der kleine Fuchs in dem Moment als der einzige Trost. Er bat ihr seinen Holzfuchs an, doch sie erneut Mut und Kraft nach diesem Einbruch schöpfend, erhob sich und sprach in leiser Ruhe: „Behalte ihn, Phexje. Ich muss meinen eigenen Fuchs finden.“
Die Antwort des Kleinen kam unerwartet.
„Wenn du das Füchschen suchst… versuch es mal hinter dem Efferdtempel.“
Wenige Sekunden war sie perplex gewesen. Das Füchschen? Phexdan?
Zwar hatte sie mit ihren Worten ausdrücken wollen, dass sie denjenigen, der durch Rahja für sie bestimmt worden war noch würde finden müssen, aber der sofortige Hinweis auf Phexdan durch seinen kleinen Bruder, gab Neferu seltsame Hoffnung, die sie aus Angst mit Pessimismus zu vertreiben suchte.
Dennoch, sie drehte sich um und rannte, nicht achtend auf die Menschen, die ihr den Weg versperrten, die stechenden Lungen kaum spürend.
Sie gelangte zu jenem Garten, spähte über die hohe Mauer, die sie unter skeptischen Blicken erklommen war und sah ihn. Phexdan, wie er sich sorgsam um die Pflanzen des Tempelgartens kümmerte.
Ihre Gedanken hatten einen Ausflug in die Vorstellung einer perfekten Zukunft gewagt und zeichneten sie selbst, wie sie nach ihm rief – er, wie er sich erhob und auf sie zulief – und sie beide, wie sie sich innig und in endlich erkannter, gegenseitiger Liebe umarmten.
Wunschträume, die sie auch aufgrund ihres Kitschgehaltes peinlich berührt fortwischte.
Sie fasste sich ein Herz und näherte sich so leise es ihre Schritte vermochten, ehe sie sich noch ungesehen neben ihm niedersetzte. Er schien wirklich überrascht.
Wieder begann sich ein Redeschwall von ihren Lippen zu lösen. Sie hatte noch immer nicht herausgefunden, worauf dieses Phänomen möglichst viel in seiner Gegenwart sinnlos und haltlos zu plappern rührte. Hatte sie Angst er könne etwas sagen, dass sie mehr verletzte als Klinge oder Pfeil?
Sie gab ihm den gestohlenen Brief mit der Geheimschrift aus seinem Zimmer zurück und zeigte deutliche Reue.
„Du kannst alles haben, was ich am Leib trage.“ Dieser Satz fiel während des Gespräches über die Aneignung des Briefes. Für was hielt er sie? Sie wollte keinen schnöden Mammon, sie wollte …-
„Ich will nicht, was du am Leib trägst!“ brüskierte sie sich etwas zu ereifernd.
Seine Antwort war ein Grinsen.
„Willst du etwa den Leib?“ Unter wildem Verneinen versuchte sie das Erröten ihrer Wangen zu unterdrücken.
Sie erzählte ihm außerdem, wie die Kette um seinen Hals gelangt war.
„Ich denke, die Kette reicht mir als Erinnerung.“
Ihr Herz wurde schwer. Er hatte sie gedanklich bereits weit fort geschickt und sich mit einem Souvenir zufrieden gegeben. Ihre Fantasievorstellung beidseitiger Liebe zerbrach schmerzhaft in zwei Teile.
Nachdem sie Rahjarosen gepflanzt und währenddessen monologisiert hatte, wie ungut sie und eben diese Göttin der Liebe sich verstünden, verließ sie den Garten.
Doch kaum hatte sie das Tor passiert, rebellierte alles in ihr und sie musste sich die ungeheure Blöße geben, umzukehren. Sie hatte doch glatt vergessen, sich lächerlich zu machen.
„Willkommen Zuhause.“ Begrüßte er sie lächelnd.
Sie hatte ihr Versäumnis nachgeholt und ihm erklärt, dass sie seine Zeitstarre nicht ausgenutzt hätte. Dann… verließ sie den Garten endgültig.

Ihre Gedankenfahrt neigte sich dem Ende, ebenso ihr zurückgelegter Weg.
Sie stand vor den noch offenen Toren des Rahjatempels. Unschlüssig, frierend und doch in gewisser Weise festen Willens, spendete sie dem Tempel der Göttin von Schönheit, Liebe und allen Wonnen zwanzig Dukaten.
„Betet für mich..“ raunte sie den Tempelwachen durch die Zähne zu und begab sich hinein.
Als sich die nächstbeste geweihte Person an sie wandte, sprach sie in melancholischer Ruhe:
„Ich glaube… Rahja liebt mich nicht. Ich fühle mich starr und erfroren, jenseits von Küssen und Zärtlichkeit in wahrhaftiger Liebe. “

Grangor 3 (Rahjard)

Missmutige Blicke striffen zur Traviastunde immer wieder das hölzerne Einzelbett, in dem seine Begleiterin und zeitweise auch der Knappe der Göttin ihre Ruhe gefunden hatten. Voneinander getrennt. Neferu hatte ohnehin kaum bis kein Interesse an Garion – oder war sehr talentiert, tiefergehende Gefühle für den Rondriten mit reiner Schauspielkunst zu übertünchen. Kurzerhand legte sich ein mildes Schmunzeln auf seine Lippen und er hob den Blick schließlich zum Fenster an. Eigentlich konnte es ihm herzlich egal sein, mehr Hoffnungen durfte sich in diesen Stunden wahrscheinlich Phexdan machen. Dieser Bettler – und Gaukler. Immer diese Gaukler. Das Schmunzeln wich zunehmend einem ernsteren Gesichtsausdruck, ehe es durch ein Augenrollen endgültig abgelöst wurde. War er denn der einzige, der diesen Leuten nichts abgewinnen konnte?

Sein Brechreiz hätte ihn schon damals in Andrafall beinahe übermannt, als sich der Rondra-Geweihte Hals über Kopf in den hübschen und keuschen Gauklerburschen Wilbur verliebt hatte und ihn am liebsten mit sich genommen hätte. Tragisch, dass Wilbur gegenüber seiner Familie einige Verpflichtungen hatte. Sonst würde er es, damit rieb Rahjard sich mit beiden Händen ruhig über das Gesicht, an diesem Praioslauf mit gleich zwei passabel dreinblickenden Gauklern zu tun haben, die seiner Begleitung den Kopf verdrehten.

Seufzend erhob er sich und öffnete eine seiner Gürteltaschen – ein Wunder, noch war es Grangor nicht gelungen, Rahjard seiner Reichtümer zu berauben. Dann schüttelte er kurz den Kopf. Selbst wenn es Zeit war zu versuchen, Neferu von Phexdan zu trennen und Garion von einem etwas dickeren, hässlicheren Wilbur – wo zog es ihn nach diesen Ereignissen, den Morden an den Altvorderen und der Zerstörung des Namenlosenkultes überhaupt hin?

Vielleicht Neersand, Hinterbruch… Mirhidan. Die einzige Frau seit Jahren, die er sich schon lange hielt. Sozusagen etwas ernstes oder auch nicht. So wie sie aussah, konnte sie sich vor Angeboten wahrscheinlich kaum retten und liebte es, mit irgendwelchen Fremden in den Rahja-Tempel zu gehen… um zu beten. Selbstverständlich. Was sollte sie auch sonst mit diesen Leuten tun, einmal davon abgesehen, dass sie sich um deren Wunden kümmern konnte?

In diesen Tagen war ihm aber nach allem, nur nicht nach dem Bornland. Was er benötigte war, so murmelte er es zumindest zu sich, „ein wenig Abwechslung.“ Ein wenig Vergnügen, nicht unbedingt in einem Tempel. Eher in einer Art und Weise, wie Dora es wohl verstanden hatte sie zu leben. Ein langgezogenes Seufzen drang mit einem Mal durch den Raum. Rahjard blinzelte – und sah zu dem Fuchs vor seiner Nase.

„Abwechslung – du willst gehen?“, fragte Phexje und umklammerte das Geschenk des garether Fräuleins wieder mit beiden Armen und Händen. Wortlos ließ sich Rahjard mit dem Rücken voraus in sein Bett zurückfallen. „Nein, noch… nicht“, raunte er dem Jungen zu.

„Nur das Haus verlassen, denn ich denke, wir sind deinem Vater lange genug zur Last gefallen.“

Grangor 2 (Neferu)

Die Erinnerungen spielten sich greifbar vor ihrem inneren Auge ab, trieben sie ziellos durch die kanalzerfurchte Stadt. Die Praiosscheibe begann hinter den Häusern Grangors zu versinken, während Neferu analytisch und nachsinnend darauf aus war, ihre Gefühlswelt zumindest in den Ansätzen zu begreifen und nötigenfalls systematisch zu bekämpfen.

Noch während der Ermittlungen waren Doran Harder und seine Immanspieler in einem Gässchen über sie und Richard hergefallen, da er die zwei für den Tod seines Vaters verantwortlich gemacht hatte, der ermordet worden war als beide sich erst knapp drei Tage in Grangor aufhielten – die Bettler, die unter ihren Lumpen auch Gaukler waren, retteten sie beide in letztem Moment vor dem Ende als blutiger Fleck auf einem Grangorer Müllhaufen. Auch Phexdan war unter den Spielenden und Tanzenden. Zwischen zwei halbbekleideten Frauen, die wie strahlende Ausgeburten Rahjas wirkten und ihm ihre üppigen Fronten zugewendet hatten, jonglierte er Messer.
Sie erinnerte sich, dass sie ihn angesprochen und er sie verlegen gemacht hatte. Die Stirn runzelnd schritt sie schnell die Straße entlang. Sie konnte sich beim besten Willen nicht an seine Worte entsinnen… Am selben Tag hatte sie den Gardisten Peffer nach Phexdan befragt.
…ständig wollen Frauen Informationen über ihn…
…er ist es gewohnt, dass er weibliche Aufmerksamkeit auf sich zieht…
…glaubt Ihr, Ihr seid die erste, die nach ihm fragt?

Einen Tag später war sie in die „Offene Hand“, die Pilgerherberge gegangen, um ihn zu suchen – sie hatte zwar weitgehend alle wichtigen Informationen zu den Mordfällen, aber das tat nichts zur Sache. Sie fand ihn. Nach geringem Wortwechsel wandte sie sich an einige Soldaten, die ihr bekannt waren und begann zu würfeln – Die Garetherin verstand es als ihre Pflicht ihm zu signalisieren, dass sie seine Anwesenheit nicht benötigte und auch nicht viel auf sie gab. Er verließ die Herberge, schnell folgte sie – leise und keinen Laut verursachend. Durch mehrere Gassen war sie sein Schatten. Dann plötzlich passte er sie hinter einer Hausecke ab. Ein zugemüllter Hinterhof, nur er und sie. Kurz hatte sie überlegt, ob sie sich ihm wie eine räudige, läufige Hündin um den Hals werfen sollte, ehe sie sich eine Minute lang für diesen entwürdigenden Gedanken verachtete. Sie war stolz und sie durfte keine Blöße zeigen. Auf seine Frage, wo sie hinwolle, fielen ihr nur schlechte Ausreden ein. Normalerweise war sie deutlich besser im Lügen, man konnte fast meinen, sie hätte diese Gabe perfektioniert, aber hier, vor ihm, hatte sie ein Gefühl wie vom Fieber. Ein ähnliches wie jenes, das einen unangenehm beengend überkommt, wenn ein Lehrender eine Frage stellt und man die Antwort nicht weiß, während andere lachen. Ähnlich, ja – nur erregender und weniger unangenehm.
Sie stellte rasch in einem armseligen Rettungsversuch ihres Gesichts die Gegenfrage.
„Ich wollte nur sehen, ob du mir folgst…“
Pause. Sie musste ihn angesehen haben wie… wie.. ja wie eigentlich?
Sie zog die bodenlos amateurhafte Zeichnung ihres Gegenübers aus der Tasche unter der in geschwungener Schrift sein Name prangte. Das Bedürfnis war in ihr gewachsen, ihm seine Unwichtigkeit vor Augen zu führen.
„Ich wollte nur das hier auf den Müll werfen.“
Er nahm ihr das Papier ab und steckte es in seine Jacke.
Ihre Hände berührten sich.
Sie betete zu Phex, dass sie ihn temporär würde brandmarken können und es gelang. Der Stern funkelte auf seiner Handfläche, während sie ihm in ruhiger, bemüht selbstsicherer Art zulächelte. Dann ging sie und ließ ihn zurück – wie immer schnell und ohne zurückzublicken. Sollte er nur nicht denken er sei ihr einen Blick zurück wert.
Als sie auf ihre eigene Handfläche sah, wurde sie beinahe geblendet. Ein Stern, wie sie nie zuvor einen gesehen hatte, leuchtete ihr eindrucksvoll entgegen.
Wieder einen Sonnenlauf später gingen sie und Richard mit Phexje auf den Markt, dem jüngsten Spross der Familie Hortemann. Nicht einmal ein dutzend Jahre alt und gewitzt, wie er bewies. Neferu kaufte ihm einen Holzfuchs. Sie empfand das nur als passend, nachdem er ihr eine gestohlene Dukate präsentiert hatte. Gemeinsam suchten sie Phexdan, der mit der Efferdhochgeweihten in eben jenem Tempel stand. Diesmal in gutbürgerlicher, blaufarbender Kleidung und dazu passendem Barett.
Kurze Aufruhr, Peinlichkeiten, ein knappes Gespräch – er hatte versucht sie auszufragen, sie war bemüht abzublocken.
„Ich werde dann erstmal nicht tiefer in dich eindringen.“ beschwichtigte er nachsichtig.
Innerlich war ihr die Kinnlade bei dieser eindeutigen Zweideutigkeit auf die Füße gefallen.
Unglaublich…
Er war ein Herzensbrecher. Ein Weiberheld, der ohne Zweifel, ohne einen winzigen Kratzer in seinem Selbstbewusstsein davon ausgehen konnte, dass die Frauenwelt Deres seinem Charme hoffnungslos verfiel.

Phexjes Fuchs fiel wenig später ins Wasser und der ältere Phex rettete ihn und zeigte seinen gut gebauten Körper anschließend in eng anliegender, nasser Kleidung.
Sie begleitete ihn auf sein Zimmer in die „Offene Hand“. Er zog sich vor ihr aus – nachdem sie dem Anblick des wohlgeformten Oberkörpers ansichtig geworden war, wandte sie sich gehetzt zur Tür. Sie hörte im Rücken seinen Gürtel klirren und schloss kurz die Augen.
Wenn jemand einen Strick um ihren Hals gelegt und fleißig daran gezogen hätte, wäre das Gefühl in ihrer Halsregion ähnlich gewesen, hatte sie in jenem Moment gemutmaßt.
Vier Stunden hatte sie ihn für sich. Sie erzählte viel und bot ihm ihre Schneeflockenkette an, was sie einen Wimpernschlag wieder bereute – zu aufdringlich. Er nahm die Halskette nicht an, aber gab ihr im Gegenzug eine von den seinen (eine beträchtliche Sammlung). Ein leeres Medaillon.
„Du hast gesagt, du sammelst Andenken an Dinge, an die du dich erinnern willst. Und ich will, dass du dich an mich erinnerst.“
An jenem Tag fand sie auch heraus, dass Phexje und Phexdan Brüder waren (dass es sich bei den beiden doch nur um Blutsbrüder handelte, erfuhr sie erst sehr viel später). Es wunderte sie nicht im Mindesten.
Den letzten Tag, bevor sie und Richard die Verstrickungen der Mordfälle gelöst hatten, mussten sie für beschuldigende Beweise gegen die alte Vanderzee sorgen. Sie hatten einen eher spärlich durchdachten Plan angewandt: Etwas schwachsinnige, stumme Schwester sucht Asyl bei fremden Leuten vor ihrem brutalen, besoffenen Bruder. Wie durch ein Wunder klappte es besser als erwartet und Neferu kam ins Haus, wo auf sie aufgepasst wurde. Richard schnauzte ihren Gastgebern irgendein Märchen entgegen, für dessen Kreativität Neferu ihn einen Augenblick lang bewunderte.
Sie glaubte also in ihrer Idiotie mit einem Mann verlobt zu sein, der nichts von ihr wissen wollte und versetzte ihre Eltern so in Gram und Schande – so die Geschichte.
Abwartend und über die schauspielerische Vorgabe des Freundes von den Pirateninseln nachdenkend, blieb ihr nichts anderes übrig als an ihrem „Zufluchtsort“ zu warten.
Lautes Klopfen. Richard war zurück mit Phexdan im Schlepptau, der der schwachsinnigen Stummen äußerst dramatisch bewusst machte, dass auch er sie liebte und dass sie zwei endlich wieder vereint sein sollten. Nur ein Schauspiel, das war ihr mehr als bewusst. Und Phexdan war gut darin, als er sie umarmte. Nichts anderes hatte sie von ihm erwartet. Er war ihr ähnlich. Spielerisch und vorgaukelnd – in dem Moment, durch diesen einen Gedanken wurde ihr tiefkalt und sie schüttelte sich leicht.
Im Nachhinein hatte sich ohnehin herausgestellt, dass Richard ihm für die Farce zwanzig Dukaten hatte zukommen lassen, auch wenn Phexdan es sich nicht nehmen ließ in seiner provokanten Art zu beteuern, dass er die Rolle des Verlobten auch für keinerlei Entgelt übernommen hätte.
Als die Belohnung ausgezahlt und Richard und sie in ganz Grangor als Helden bezeichnet wurden, führte ihr Weg sie erneut zu Phexdan.
In den vorangegangenen Tagen hatte sie viel über ihn erfahren. Noch immer lag einiges im Dunkeln, sprach doch meistens sie bei ihren Begegnungen, aber die Streunerin ging davon aus, ihn dennoch einschätzen zu können. Er war ein Bettler, gleichsam ein fingerfertiger Gaukler, Taschenspieler, Lebemann. Er schlief im Rahjatempel (was für sie schon Indiz genug war) oder in der „Offenen Hand“ in einem eigenen Zimmer. Er trug bunte Kleidung unter seiner Bettlerkluft. Und… Er war ein hoher Geweihter ihres Gottes.
Aus diesem Grund hatte sie vor gehabt, ihn ein allerletztes Mal aufzusuchen… auch wenn es nicht bei diesem Vorhaben blieb.
„Du musst dich mir… ganz öffnen. Vertrau mir.“ War seine Reaktion auf ihre Bitte sie zu lehren und ebenso eine anbietend ausgestreckte Hand.
Sie reichte ihm die Ihrige und er führte sie tief in den Efferdtempel.
Zugegebenermaßen hatte sie sich bereits auf etwas Tuchfühlung eingestellt. Sie hatte mit sich abgemacht spontan zu reagieren, da sie ihr Verhalten nicht zu planen im Stande war.
Was folgte war unbeschreiblich. In der Kammer legte er seine Hände auf ihre Schultern, nachdem er sie dazu angehalten hatte zu Phex zu beten. Ein unvergleichliches Gefühl durchströmte sie und sie warf den Kopf in den Nacken, während ihre Augen wie im Rausch glasig wurden. Eine Woche verbrachten sie beide zusammen in dieser Kammer.
Die Entrückung, die sie ihrem Gott näher denn je gebracht hatte, war bei ihr bereits nach drei Tagen verklungen, aber sie verließ die Kammer nicht. Sie wusste, es hätte genug gegeben, die sich um ihn kümmern wollten. Es hätte vermutlich genug gegeben, die sich darum rissen, ihn, der wie entrückt auf dem Boden lag, zu gesellschaften. Aber sie wollte all jene in diesen wenigen Stunden ausstechen.
Als er erwachte, schlief sie bei ihm auf dem Boden. Sie geleitete ihn zu seiner Kammer in der Herberge, nachdem er sich gewaschen und etwas gegessen hatte. Beide waren von echter Müdigkeit gezeichnet. Er bot ihr an in seinem Zimmer zu nächtigen.
„Du kannst bei mir schlafen.“
„Wie lange..?“
„Eine Woche..?“
„Nur eine Woche…?“
„Oder auch einen Monat. Ich lege mir eine Matte auf den Boden und du kannst im Bett nächtigen.“

Eine Nacht lang ging sie darauf ein. Als er tief und fest schlief, gab sie sich dem Gefühl, das in ihr keimte einen kurzen Moment hin. Sie betrachtete ihn und sank neben ihn auf den Boden. Vorsichtig und ohne ihn zu berühren, näherte sie sich. Tief einatmend, sog sie die Luft in ihre Lungen, die seine Haut in Schulterregion umgab. Rosenduft.
Am nächsten Morgen verließ er das Zimmer früh. Sie gab vor zu schlafen. Kaum war er fort, schrieb sie auf einen der herumliegenden Zettel (es war nicht gerade aufgeräumt in seinem kleinen Reich) eine Nachricht: Ich werde fortan wieder bei den Hortemanns schlafen. Du solltest dein Bett für dich haben.
Die folgende Nacht ließ sie die Worte wahr sein.
Dann, ohne ihren Rucksack, ihre Waffen oder ihre Rüstung verließ sie noch vorm Dämmerlicht so unauffällig wie möglich Grangor.

Grangor 1 (Neferu) ( –––)

Neferu ließ sich an der übermannshohen Steinmauer, welche den kaum von außen zu erahnenden Gartenbezirk des Efferdtempels abtrennte, langsam und in nachdenklicher Zögerlichkeit herabsinken.
Auf die gleiche Art und Weise taten es ihre Lider dem in sehr eigen und fast archaisch zusammengeschneiderten roten Kleidern steckenden Körper der Phexgeweihten nach.
Tief durchatmend verharrte sie eher erschöpft als aufrecht auf dem kopfsteingepflasterten Boden, den Rücken an den kühlen Stein der aufragenden Abgrenzung gelehnt.

Die letzten vier Monaten hatten sie nach ihrer eigenen Einschätzung zu einem neuen, anderen Menschen geformt, sinnierte sie in theatralisch angehauchter Grübelei.
Während sie mit geschlossenen Augen und umwölkter Stirn die Kälte des Untergrundes in ihrem Leib heraufkriechen ließ, was ihr eine Gänsehaut bescherte, drangen leise und dennoch einvernehmend die Laute der Gartentätigkeit jenseits der Mauer in ihr Ohr. Die metallene kleine Schaufel drang ruckartig in die Erde, welche anschließend beiseite geräumt wurde. Kurze Zeit Stille, dann das Festklopfen des Bodens.
Die Gänsehaut, die steil aufrecht auf ihren Armen prangte, wurde zu einem Frösteln, welches sie in sekundenschnelle und nur den Bruchteil eines Augenblicks durchflutete.
Phexdan. In ihrem Kopf rumorte es und die Bilder der letzten Tage und Wochen drangen ohne Warnung auf sie ein. Sie war aufgrund eines Auftrages nach Grangor gekommen, einem Ort von dem sie zuvor nur vage gehört hatte. War das Ziel, welches sie in besagter Theatralik beinahe schon als ihren göttergewollten Auftrag betrachtet hatte in der Vergangenheit Maraskan gewesen, so schwand dieses ehemalig drängende Gefühl diesen Ort betreffend Tag für Tag, während es von ihren Erlebnissen in der Kanalstadt Grangor erbarmungslos übermannt wurde.
Im Schnelldurchlauf ließ sie das Geschehene in ihren Gedanken noch einmal Wirklichkeit werden. Richard und sie waren mit der Nereide, einem Grangor-Hai in wenigen Tagen von Ferdok zu ihrem Ziel gelangt um einen der Altvorderen vor einem Serienmörder zu schützen, welcher sich als alte Druidin herausstellte, die bei Archon Megalon gelehrt worden war und die den unrechtmäßigen Tod ihres Sohnes an den damals Verantwortlichen rächen wollte. Neferu hatte Verständnis für das Handeln der Frau, aber dennoch hatte sie sich entschieden, diese fremde, aber augenscheinlich freundliche Person gemeinsam mit Richard ans Messer zu liefern.
Während der Ermittlungen, bereits am ersten Tag in Grangor war ihr einer der vielen Bettler aufgefallen, die in der Stadt der Wasserstraßen wie Könige zu residieren schienen. In der Nähe eines Schneiders hatte er seinen Platz. So wie er da saß, schätzte sie den Schwarzhaarigen nicht groß, vielleicht einen Finger höher gewachsen als sie selbst und ebenfalls nicht alt, vielleicht einen oder zwei Götterläufe mehr als ihr Alter betrug. Anfang zwanzig mochte er also sein und lockte mit seinem einnehmenden Äußeren die Passanten, dessen Spenden er mit einem uneinschätzbarem Lächeln quittierte. Seine Kleidung war schäbig und zum Teil zerrissen, das kurze Haar umgab struppig sein Haupt und auch sein Bartwuchs, den er seit mindestens einer halben Woche nicht gestutzt hatte, vermittelte den Eindruck einer gewissen Verwahrlosung, aber trotzdem passte sein den Augen schmeichelndes Erscheinungsbild nur schwerlich in die Szenerie der Alten und Krüppel, deren Bild man gemeinhin von Bettlern im Kopf hat.
Neferu kannte den Wissensschatz solcher Obdachlosen nur zu genau und so fokussierte sie den jungen Mann an und schritt mit zielgerichtetem Tunnelblick geleitet von ihrem Begleiter Richard auf ihn zu.
Wenn sie im Nachhinein darüber nachdachte, so hatte sich bereits beim ersten Blick ein Magnetismus ausgewirkt, der sie unweigerlich zu ihm gezogen hatte und nicht zu einem der vielen anderen hundert Bettler von Grangor.
Mit seiner Hilfe und seinen Informationen, die sie ihm gut bezahlte, lösten sie die Mordfälle. Währendessen kreuzten sich immer wieder ihre Wege. Na gut. Sie musste zugeben, ab und an ließ sie sie absichtlich kreuzen. Bei dem Gedanken, dass sie sich die Blöße geben könnte einem Mann ernsthaft nachzustellen, verzog sie ihre nachdenkliche Miene in deutlichem Unbehagen und erhob sich mit einem ertappten Blick zur Pforte, die in das Garteninnere führte, wo Phexdan sich noch immer um das Gedeien der Pflanzen bemühte.
Es gelang ihr sich von der Wand zu lösen, die zwischen ihr und dem Fuchs stand. Mit jedem Schritt widerstrebend, aber entschlossen entfernte sie sich. Die Richtung war ihr einerlei, nahm sie Grangor ohnehin nur durch den rauchigen Schleier ihrer eigenen Gedankenwelt war.

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