Havena

Havena 13 (Zerwas)

Der spitze Schrei der Frau kam nicht unerwartet, aber ungelegen. Hatte er auf der stillen Insel Aufmerksamkeit erregt?!
Die Beute zu überwältigen war ein Leichtes. Die Rosen, die sie auf ihrem Arm getragen hatte, fielen um ihn und sein Opfer, wie blutiger Regen.
Der nervenzerfetzend schmackhafte Geruch des süßen Hexenblutes schien beinahe in seine Nase zu beißen und heißer Hunger ließ ihn erbeben, als er sich übernatürlich schnell auf sie stürzte.

Auf kürzestem Weg fanden seine Eckzähne in ihre pulsierende, lebend-warme Halsschlagader. Nur den Bruchteil eines Augenblicks später schoss das lebensspendende Nass in seinen Mundraum, ließ seine Sinne verrückt spielen und versetzte ihn in einen Rausch. Die Erfüllung des blutigen Traums eines jeden Vampirs. Das Leben einer Eigeborenen. Sumus eigenes Blut, reinstes Sikaryan.

Unter ihm bewegte sich die panisch zappelnde Hülle, die das Sikaryan umgab. Sie kämpfte um ihre Freiheit, kämpfte darum, dem eisernen Griff zu entkommen, der zu stark für sie war. Sie schrie und schlug mit all der Kraft ihres Körpers, aber blieb chancenlos.
Dann durchschnitt ein stechender Schmerz an seiner rechten Wange das Hochgefühl. Drängte sich in seinen Triumph – und rührte an seinem Zorn. Sie hatte sich in seiner Wange verbissen. Ihre Zähne drangen jetzt ironischerweise in sein Fleisch.
Kraftvoll bäumte er sich auf und wurde so die Kiefer der Hexe los. Die geschlagene Wunde begann bereits sich zu schließen, als er ausholte und einmal kräftig zuschlug, um dem Widersetzen endgültig ein Ende zu bereiten.

Ein befriedigendes Knacken war die Antwort. Ein Knacken, das dieser anmaßenden Neferu sicherlich ihr Genick gebrochen-…Neferu? Nein! Er erstarrte über ihr, sein Angriff hielt inne. Seine Augen wurden klarer, die animalische Gier verflog. Verzweiflung schmeckte bitter in seiner Kehle und begann sie brennend zuzuschnüren. Sie lag still und reglos unter ihm, wehrte sich nicht mehr, schrie nicht mehr. Mit schreckensweiten grünen Augen und leicht geteilten, noch immer triefend blutigen Lippen begriff er das Ausmaß seines wild-hemmungslosen Blutwahns.
Das war unmöglich. Über die letzten Jahre war ihm die Kontrolle niemals derart entglitten. Die Götter kannten keine Gnade, wenn das…

Ehe er den Gedanken zu Ende führen konnte, verlor er den Boden unter den Füßen, spürte, wie er von dem warmen Leib seiner Geliebten fortgerissen wurde und durch die Luft geschleudert an einer nahen Mauer endete. Stein bröckelte und dunkle Punkte tanzten vor seinen Augen, als er sich fauchend, aber durch den Schock geschwächt wieder aufzurichten versuchte. Er musste zurück, musste wieder gut machen, was er angerichtet hatte. Er war der Panik nahe, als sein Blick sich vor Schmerz nicht sofort fokussieren konnte.
Dann traf ihn ein weiterer unerbittlicher Angriff Sagartas. Wieder spürte er, wie er angehoben, aber sofort mit immenser Wucht auf den Boden geschmettert wurde.

Er konnte einen letzten Blick auf den leblosen Körper in Rot neben dem Rhododendronbusch werfen. Er selbst konnte kaum unterscheiden, wo der Stoff endete und das Blut begann. Nein… Nein, nein!
Drang es hoffnungslos und schwach durch seinen Geist, dann raubte ein letzter scharfer Schmerz ihm das Licht des Bewusstseins.

Havena 12 (Neferu)

Ihr entfuhr ein kurzer Schrei, als sie inmitten der Grabsteine gepackt und zu Boden gerissen wurde.
Sie gehörte nicht zu den schreckhaften Frauen, die bei jeder Gelegenheit ihr gellendes Organ zur Geltung brachten. Sie erinnerte sich nicht einmal daran, wann das letzte Mal gewesen war, dass sie geschrien hatte – sie musste noch ein Kind gewesen sein.
Während in einem Sekundenbruchteil der absurde Gedanke ihres eigenen Lauts ihr Ende fand, schlug sie auf den Boden auf und wurde von einer unmenschlichen Kraft in einen Rhododendron gezogen.
Sie hatte von roten Rhododendronblüten auf den Zyklopeninseln gehört.
Wieder ein irrsinniger, unpassender Gedanke. Das musste am Schock liegen.

Die einzigen roten Blumen in diesem Augenblick waren die Rosen, die sich ringsum auf dem Grabweg verteilten.

Sie machte keine Anstalten sich festzukrallen, sich zu wehren. Ihr war vor Überraschung nicht einmal in den Sinn gekommen, gegen zu halten und sich einen Grabstein zu suchen, an dem sie sich hätte festhalten können.
Statt dessen galt ihr stoßgebetartiger Gedanke Phex, dem Gott, der sie nächtens immer beschützt hatte und es zu ihrem eigenen, bitteren Erstaunen jetzt nicht mehr tat.

Havena 11 (Zerwas)

Augenblicklich war das Schlammblut zu seinen Füßen vergessen, aus dessen Körper langsam die Wärme zu weichen begann. Mit blutverschmiertem Gesicht und Händen richtete er sich auf und sog die kalt-feuchte Nachtluft tief in seine Lungen. Der Geruch war stark und deutlich wahrzunehmen. Ein zweiter Geruch, allerdings ein weniger interessanter, wurde zunehmend schwächer, als würde sein Träger sich entfernen.
Aber was interessierte ihn schon der Geruch eines zweitklassigen Nahrungsspenders?

Mit einem kräftigen Ruck seines rechten Arms zerrte er die Leiche des Meuchlers in den langen, blassen Schlagschatten der Statue, sodass sie vor flüchtigen Blicken verborgen sein würde und wischte seine Hände kurz am feuchten Gras ab. Dann drückte er sich mit dem Rücken an den kalten Stein und spähte vorsichtig daran vorbei in Richtung des Ufers. Dorthin, woher der anziehende Geruch kam. Unmöglich., dachte er. Sie kann nicht gekommen sein. Nicht gerade jetzt.
Er spürte wie Speichel in seinem Mund zusammenlief. Die Wunde an seiner Schulter hatte sich nach den ersten Schlucken des minderwertigen Blutes wieder geschlossen und das Gift jede Wirkung verloren oder von Anfang an nicht besessen. Mit zusammengekniffenen Augen ließ Zerwas seinen Blick über den Hang am Rande der Insel gleiten, ehe er sich an einer Bewegung verfing.
Dort hinten kam, in etwas mühsam anmutenden Bewegungen, eine Gestalt die Anhöhe hinauf.

Die Instinkte des Jägers setzten ein, als der kräftige Körper des Vampirs in einem Satz hinter dem Grabstein einer Familie verschwand um von dort ungesehen eine Richtung einzuschlagen, die den Pfad des neuen Opfers unweigerlich kreuzen musste. Das frische Blut rauschte in seinen Ohren und ein wohliger Schauer rann über seinen Rücken, als das schmackhafte Bouquet deutlicher wurde.
Während er sich an das ahnungslose Opfer heranpirschte, erhaschte er einen Blick an einem der Totenmäler vorbei. Sie trug irgendetwas im Arm. Rot glänzte vor Rot, ihr ganzer Körper schien im fahlen Licht der Sterne einer blutigen Verlockung zu gleichen.
Aber dies war eine magische Verführung – besser, wenn er sie weniger direkt anging. Ein schmales Lächeln verzog die blutigen Lippen zu einem grotesken Grinsen, das von weißen Reißzähnen noch in seiner abstoßenden Bizarrheit verstärkt wurde.

Im Schutz eines niedrigen Zierbusches wartete er ab, genoss die pulsierende Vorfreude auf das süße Blut, roch den Geruch von Rosen und glaubte sich einer Belohnung nahe zu fühlen, die Boron selbst ihm als Opfergabe für seine erretteten Geweihten gesandt hatte. Als die Frau an ihm vorübergehen wollte, packte er mit seiner rechten Hand wie mit einer Klaue nach ihrem rechten Knöchel und riss daran, um sie zu Boden zu stürzen und hinter das Gewächs zu sich zu ziehen. Ein Friedhof bei Nacht war den Toten gewidmet – und so sollte es auch bleiben…

Havena 10 (Neferu)

Jeder platschende Ruderschlag trieb das Boot voll Rosen näher zur Toteninsel.
Mit jeder Elle, die Edda und Neferu überwanden, wurde der gigantische Basaltbau mehr und mehr zu einem schwarzen Riesen, der sich aufragend vor ihnen aufbäumte, als erwache er aus tausendjährigem Schlummer.

Düster und voll Geheimnis präsentierte sich das Eiland, als sie anlandeten. Nächtliche Wolken schoben sich vor das Madamal und nahmen das Licht, so dass nur das Funkeln der Sterne blieb.
Im Haus der Geweihten, das sich unterwürfig neben den uralten Tempel kauerte, brannte kein Licht.
Neferu sog tief die kühle Salzluft in ihre Lungen. Sie zitterte, hielt den Unterkiefer nur mühsam unter Kontrolle.

Edda sagte kein Wort. Eilig, nahezu gehetzt machte sie sich daran die Rosen vom Boot zu heben und sie unsanft an die flache, sandige Uferböschung zu werfen. Für Romantik hatte sie angesichts des gespenstischen Ortes kein Gespür und keine Zeit mehr.
Neferu rieb die Hände aneinander, ihre Finger waren eiskalt. Dann half sie der Wehrheimerin, ebenfalls schweigend.

Sie konnte es spüren… vielleicht ebenso wie Edda, die hastig, aber bemüht lautlos ihr Boot bestieg und sich ohne große Umschweife in die Riemen legte, nur um verschwinden zu können… Irgendwas war in dieser Nacht anders.
Es war… weniger still.

Mit einem Mal fühlte sie es genauer. Ein ungutes Gefühl, dass ihr den Rücken hinaufkroch.
Doch wenn sie genau horchte… hörte sie nichts. Nur den Meereswind und das leise Geräusch von Leben, das da drüben, jenseits des Wassers mit hellen Lichtern sein Pulsieren zelebrierte.
Sie blickte auf all die Rosen ringsum, fühlte sich hilflos.
Da war sie nachts gekommen, um die impertinenten Blicke der Festlandskirchen von sich abzuschirmen und bekam es mit der Angst zu tun?

Sie schalt sich albern, lud die bronzefarbenen Arme voll mit jungen Rosen und erklomm die sanfte Böschung.

Havena 8 (Neferu) ( –––)

Zweimal schon war sie von den spärlich vertretenen Geweihten still der Insel verwiesen worden.
Nicht unhöflich natürlich und erst recht nicht wortreich, aber Neferu war boronfürchtig genug zu gehen, sobald eine der Schwarzkutten mit ernst-entschlossener Miene ausgestreckten Armes zum Festland deutete. Vorläufig zu gehen, zumindest.
Sie kam sich vor wie im Possenspiel eines unterdurchschnittlich begabten Autoren aus dem Horasreich. Und sie ahnte, dass es der Geweihtenschaft des dunklen Gottes ganz ähnlich erging.
Hier in Havena wurden sie allesamt gemieden. Kaum jemand hier besuchte je seine Lieben, sobald sie verstorben waren.
So konnte die Hand voll Priester friedlich und still auf ihrer Insel im Hafen vor sich her leben und keiner kam ihnen in die Quere oder belästigte sie.
Nur wenn jemand verstorben war, ruderten die Diener des Rabengottes zur Stadt hinüber, denn wann immer es soweit war, wussten sie davon.
Das musste sie noch unheimlicher machen, da sie wie von einem lautlosen Zeichen geschickt kamen, um die Leiche mit sich zu nehmen.
Neferu fragte sich in eben jenem Moment, was sie aßen… Ob sie, allesamt.. Vampire waren?
Es war nicht so, als ob sie das noch groß gewundert hätte, kannte sie doch bereits Cailan und Firuz und ebenso die ominöse, blasse Sagarta, eine junge Frau mit dem Auftreten einer tausendjährigen Statue.

Wie mittlerweile zu fast jeder Zeit hielt sich die Rote im Hafen von Havena auf.
Sie hatte gelernt, dass die meisten Fischer vorgaben sie nicht gehört zu haben, wenn sie von einer Passage zur schwarzen Insel sprach.
Oder aber sie starrten vollkommen entgeistert, als habe man sie gefragt, ob sie in einer Nussschale übers Meer ins Riesland rudern könnten.
Wie froh war sie gewesen Bekanntschaft mit Edda zu machen. Edda war vor zwanzig Jahren nach Havena gekommen, um den Mann ihrer Wahl entgegen dem Willen ihrer Eltern zu heiraten.
Sie war aus dem bodenständigen Wehrheim und scherte sich nicht um Tod noch Namenlosen.
Trotzdem hatte Neferu auch an die resolute Mittvierzigerin so einige Goldtaler verloren, denn die Frau ließ sich ihre Fahrten durch die Bucht wie eine Königin bezahlen.

Gerade für Neferus heutiges Anliegen musste sie tief in die eigene Tasche langen. Oder eigentlich… in Zerwas‘ Tasche, waren die Goldmünzen, die sie ihr Eigen nannte doch großteilig von seinen Ersparnissen abgezweigt.
Grabpflege. Mit wenigen Worten hatte Neferu es aushandeln können, dass sie auf der Boroninsel würde helfen dürfen zur Ehre der Toten die Gräber zu pflegen.
Wenn sie dabei eine schwarze Kutte trug. Und den Mund hielt.
Das war das beste Angebot, das sie sich von den störrischen Boroni hatte erhoffen können. Sicher wusste Sagarta nicht einmal davon, war es doch Cailans milde Zugeneigtheit, die ihr diesen Vorteil eingebracht hatte, wie sie überzeugt vermutete. Cailan.. und sein Rahjafluch. Ein schauderhafter Gedanke. Auch wenn die hexisch verspielte Schadenfreude in ihr belustigt eingestand, dass es sie nach wie vor schmeichelte, dass er wortwörtlich Feuer gefangen hatte.

Die Planken des Ruderboots knarrten, als Neferu mit einem beherzten Sprung von der Kaimauer ihren Platz einnahm.
Edda hatte sie erwartet. Es lief ab wie immer: Erst die Bezahlung, dann der Dienst.
Die blonde Fischerin half die zwanzig Pflanzen unter dem Gesicht des milchigen Vollmonds in das Boot zu verladen. Zwanzig junge Rosentriebe, dazwischen die zwei Frauen. Selbst Edda, die vorgeblich wie immer leise fluchte, konnte nicht umhin einige Male zu lächeln.
Neferu hatte es geahnt – eine Frau die für einen Mann an eine wetterwendische Küste zog, an der man albern-abergläubisch gegenüber Tod und Magie eingestellt war, die musste trotz ihrer herben Optik eine romantische Seele sein.
Nef schämte sich nicht für die handfeste Lügengeschichte, die sie der Wehrheimerin aufgetischt hatte. Im Gegenteil, sie wusste, dass die Geschichte über einen toten Geliebten, der kurz vor ihrer Heirat in fremden Gewässern umgekommen war und dessen Ort der Ruhe sie erst jetzt gefunden hatte, viel eher das war, was ein Mensch hören wollte. Eine hübsche, romantische Geschichte.

Die Geschichte vom Massen mordenden Erzvampir, den sie ganz zurückzuholen gedachte, eignete sich weniger.

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