Der Puls der Stadt

Gareth 23 (Neferu) (TSA 1013)

Klimper..!
Später am Tage der überstürzten Morgenentscheidung bezüglich des Bordells ‚Rahjas Festung‘, saß Neferu im Schneidersitz in einer der Nischen des Tempels der Schatten und übte sich im Meditieren. Es wollte nicht klappen.. Ihre Hände waren zitterig, eigentlich musste sie schlafen. Sie würde noch den ganzen Tag Kopfschmerzen haben. Aber Zeit für Schlaf war nicht.
Ihre Astralkraft war aufgebraucht und dieser Zustand fühlte sich an wie schlimmer Hunger.
Klirr.. Die Münze war ihr schon wieder auf den Boden gefallen.
Jedes Geräusch riss sie aus der Konzentration.
Seufzend musste sie erkennen, dass es ihr heute nicht gelingen würde, das Silberstück über die Finger wandern zu lassen.
Morgen würde sie sich mit Voltan Sprengler treffen, dem mysteriösen Weibel von Tor Süd… Sie brütete immer wieder über seinem Geheimnis.
Es machte ihr Freude, Theorien aufzustellen, wer er war und woher er kam. Sie kannte diesen Mann nicht, hätte aber geschworen, dass er Phex nicht eben fremd war.
Sie fühlte sich durch ihn auf eine angenehme Art herausgefordert – auch wenn die Herausforderung selbst noch von Nebel umwoben war.

Als sie im Schacht nach oben kletterte, um den Tempel zu verlassen und die Seilerei zu betreten, lief Neferu Jereminas in die Arme.
Sie packte die Gelegenheit ganz nach Phexens Geschmack und versuchte einen Monat Schulunterricht für die Waisenkinder aus ihm herauszuüberreden. Alle Tricks der Argumentation fruchteten bei ihrem Vogtvikar nicht. Aber immerhin bedrängte sie ihn so sehr mit ihrer Herzensangelegenheit, dass er mit ihr zur Abendmesse des Tempels der Sterne ging.
Seiner Ansicht nach, tat er damit genug: Er gab ihr einen guten Tipp.
Der Sternentempel des Phex lag im Westen der Stadt, ganz in der Nähe des Hauptsitzes der Praioskirche.
Ein sehr offizielles, reich gestaltetes Gebäude, das als Tempel der Kaiserfamilie galt, war der Fuchs doch ihr Patron.
Ein Gerücht besagte, dass er sehr schnell errichtet worden war und dass die Finanzierung aus einem kollektiven Raubzug aller Phexgeweihten in Gareth bestand.
Das Bauwerk hatte etwas von einem Schloss mit seinen Flügeln und der Kuppel, all dem Weiß und Gold und Silber.
Auf dem Weg dorthin, den sie sich durch Nieselregen kämpften, erzählte Neferu ihrem Mentoren von den Almadanern. Sie beschönigte ein wenig und hob besonders präsentierend die Leiche in ihrem Garten hervor.
Torfstecher machte den Anschein, als hätte er von der Bande bereits gehört und sei gar nicht gut auf sie zu sprechen.
Das befriedigte Neferu. Diese Männer waren auf dem falschen Weg und das musste ihnen aufgezeigt werden. Sie fühlte sich bestärkt.

Zwar erhielt sie vom Phextempel nur eine einzige Dukate für ihr Waisenkinder-Vorhaben – und diese Dukate war hart errungen (Am Ende doch von Torfstecher!) – allerdings traf Neferu im Tempel der Sterne einen Mann, den sie da nicht erwartet hatte: Den Reichsgroßgeheimrat Dexter Nemrod.
Sie hatte in den Orkenkriegen als Spitzel für ihn gearbeitet und auch wenn er ein strenger und ernster Kerl war – sie hatte ihn immer gemocht. Ein Typ von Mann an dem andere zerschmetterten, ein Fels, ein Verhängnis für jedes Schiff – so einen Mann hätte sie sich als Vater gewünscht.
Der Fehler, diesen Gedanken Torfstecher gegenüber laut auszusprechen, amüsierte den Vogtvikar der Südstadt vortrefflich.
Neferu hatte keine Berührungsängste, sie wagte sich an den Großinquisitor heran, der sich auf seinen Gehstock stützte, grüßte ihn höflich.
Sie erzählte ihm lang und ausschweifend von der Geschichte der Waisenkinder, nutze all ihr Geschick im Argumentieren.
Zum Glück waren sie zu früh gekommen, die Messe hatte noch nicht begonnen.
Und auch wenn Nemrod ihr Ansinnen im Namen der Praioskirche nicht uneingeschränkt unterstützte, so gestand er ihr zu, acht Götternamen zu finanzieren.
Das war eine Machtdemonstration.
Und nicht nur das, er knüpfte Bedingungen an die Unterstützung: Die Bildung musste in der Stadt des Lichts stattfinden – für alle Kinder. Außerdem erwartete er, dass die fünf Klassenbesten nach Abschluss des ersten Jahres in den Dienst der Praioskirche Gareths treten und von da an zu Diensten sein sollten, je nach Neigung und Talent.
Sie konnte nicht ablehnen und das wusste er.

Der Geweihte des Fuchsgottes am Altar war komplett verhüllt. Man konnte schwerlich sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, denn auch die Stimme war dunkel und unbestimmt.
Unter der Sternenkuppel des Tempels fand ein Gottesdienst statt, wie Neferu ihn selten gesehen hatte. Ein Ritter in voller Rüstung, das Visier ein Fuchskopf, wurde im Namen Phexens einem Segen unterzogen.
Ein Fuchsritter…
Rituelle Worte wurden gesprochen, es wurde gebetet und die Kaiserfamilie geehrt.
Und anschließend, nachdem die Messe vorüber gegangen waren, richtete der Reichsgroßgeheimrat noch einmal das Wort an die Hexe.
Eine gute, hinterlistige Taktik, die den ‚Gegner‘ in Sicherheit wähnte, war dem Inquisitor nicht unbekannt und er setzte sie ein. Denn erst jetzt – nach dem Phexdienst – sprach er sie auf den Schmähzettel an, den sie vor Jahren in Greifenfurt hinterlassen hatte. Die Frage danach, wer so etwas geschrieben haben könnte, war so stechend formuliert, dass sie nicht anders konnte, als sofort zu gestehen. Sie wusste, ahnte, dass Nemrod einer war, der Lügen riechen konnte. Wie lange hatte sie nicht mehr an den Tag in Greifenfurt gedacht, als sie die Bannstrahler als Hundehurensöhne (was auch immer das sein sollte) bezeichnet hatte. Immerhin hatte sie keinen Geweihten beleidigt. Aber das hier reichte, um die Zunge herausgeschnitten zu bekommen. Sie unterlag Hitzewallungen und flehte die Götter an, für Nemrod als Informationsquelle wichtig genug zu sein, dass er sie nicht beseitigen wollen würde. Denn sie fühlte – jetzt hatte er sie in der Hand. Wie dumm war sie damals nur gewesen, einen Zettel zu hinterlassen!
„Ich erwarte Euch am Praiostag zum Gottesdienst. In der Stadt des Lichts.“
Ihr wurde schwindelig. Sie und Torfstecher blieben zurück, sahen dem Mann mit dem steifen Bein nach, der langsam auf den Gehstock gestützt, den Tempel durch offene Tore verließ und in den Hintergrund des bleigrauen Nieselabends überging.

Sie würde also bestraft werden für ihre Frechheit. Bei einem Praiosgottesdienst. Neferu war ernsthaft in Sorge, was dort mit ihr geschehen würde. Andererseits wusste sie, dass der Großinquisitor es leichter haben könnte, wenn er sie einfach nur vernichten hätte wollen. Er wusste wer sie war – nicht nur, dass sie auf die gefühlsstarke Art der Hexen Magie wirken konnte, er wusste auch, dass sie eine Geweihte der Zwölfe war. Dexter Nemrod war kein Idiot. Er gab sich nicht mit halbherzigen Informationen zufrieden. Er bohrte in jeden wackeligen Stein, bis er am Ende nur das sah, was darunter lag. Und es war ihm auch bekannt, dass sie vor einem Jahr nach Gareth in die Metropole des Praios gekommen war, um sie alle zu warnen. Sie hatte ihre Sicherheit aufgegeben, um die Welt zu warnen, vor dem, was vielleicht kam. Vor dem Weltenverschlinger von dem die Rollen der Beni Rurech sprachen. Selbst wenn es einen Disput ausgelöst hatte und einige der dahergelaufenen Satuarienstochter nicht geglaubt hatten, so war sie das Risiko dennoch eingegangen.
Und dazu kam, dass sie für die KGIA gearbeitet hatte und eine Heldin von Greifenfurt war – offiziell zumindest. Inoffiziell hatte sie sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert, zumindest nicht ausschließlich. Natürlich waren ihre Dienste für die damals belagerte Stadt außerordentlich, ohne Zweifel, aber irgendwann hatte der rote Tod sie zu sich geholt und sie ihm gleich gemacht.
Es schauderte sie, als sie daran zurückdachte.

Der frühe Abend tauchte Gareth in fast gänzliche Dunkelheit – Mada würde ihre Schleier in der heutigen Nacht verbergen, es war Neumond.
Sie schlenderte allein über den Eisenmarkt und ließ die Gedanken um ihre Pläne kreisen. Die meisten Stände der Verkäufer waren schon abgebaut, einige wenige handelten aber noch, ihre Waren anpreisend – wenn auch etwas heiserer, jetzt, wo sich ihr Arbeitstag dem Ende neigte.
Wenigstens wusste sie jetzt etwas mehr über den ominösen Voltan Sprengler und seinen Hintergrund: Bevor sich ihre Wege getrennt hatten, hatte sie Torfstecher nach dem Weibel gefragt. Und er kannte ihn. Sprengler sei ein dicker Junge gewesen, damals in Wallgraben, hatte der Vogtvikar ihr anvertraut. Klein-Voltan wollte mit den anderen Halbstarken spielen, aber sie hatten ihn nicht gelassen. Er hatte damals den Spitznamen ‚Dickfinger‘ bekommen, war auch körperlich angegangen worden. Neferu irritierte diese Neuigkeit. Ein fettleibiger Phexensdiener…? Was steckte dahinter? Waren ihre Vermutungen falsch?
Hatte er Verbindungen zu Eschenrod, die mehr waren als dienstlicher Natur? Oder nicht?
Und überhaupt: Wer kümmerte sich um die Belange von Eschenrod? Die Stadtvogtei wahrscheinlich.. Die Worte des Almadaners gingen ihr nicht aus dem Kopf. Feuerbrunnen.
Genau. Bis zum Sommer wollte sie wenigstens einige errichtet haben. Vielleicht fünf an der Zahl, das sollte vorerst genügen.
Sie konnte Sprengler fragen, ob er ihr half eine solche Idee umzusetzen. Und wenn nur, um seine Reaktion zu sehen und ihn dadurch besser einschätzen zu lernen. Es kam selten vor, dass sich Leute ihrer Menschenkenntnis derart entzogen.
Was bedeutete nur die weiße Feder, die in schmieriger Farbe an ihrer Mauer zurückgelassen worden war? Ein Bandenzeichen?
Wer von diesen verfluchten Almadanern hatte das Mädchen Jelka auf dem Gewissen und warum hatte man sie bei ihr abgelegt?
Da!
Neferu hielt auf einen Mann zu, der nach Feinschmied aussah. Zangen, Sägen und Feilen zeigten sich in seiner Auslage, die er gerade zusammenpackte. Sie kaufte eine feine Feile. Zur Schmuckherstellung gab sie an und ließ das Bürgerfräulein heraushängen. Exquisit. Damit würde sie die Münze, die um ihren Hals hing, anschleifen können, um immer ein Messer bei sich zu haben.
Im Notfall konnte sie damit hantieren, ohne dass jemand ahnte, dass sie einen scharfen Gegenstand bei sich trug.

Die Pflaster Gareths hatten sich verdüstert, seit die Almadaner da waren.
Was Neferu in ‚Rahjas Festung‘ und im Keller ihres Grundstücks gesehen und gehört hatte, war genug gewesen, sich vorzubereiten.
Sie wollte bekämpfen, was nicht im Sinne Phexens war: Gier ohne Maß, Ausbeutung ohne Skrupel und Kriminalität, die Menschen das Leben kostete.

Einst hatte Rychard ihr einen Freundschaftsdienst erwiesen. Oder eine Wiedergutmachung. Was es war, konnte sie nicht sagen, aber was er ihr gebracht hatte, veränderte seit dem ihr Leben: Durch die Magazine der Criminal-Cammer wusste sie, wer ihre Mutter gewesen war. Eine Hexe aus dem tiefsten Süden, die zwei Männer geliebt hatte.
Und sie wusste, wer dafür verantwortlich war, dass sie geboren worden war. Nicht der Ehemann der Kemi, sondern ein Inquisitor des Praios. So hatte es ihre Mutter in ihrem eigenen Tagebuch beschrieben, das in der Cammer jahrelang verwahrt worden war, ehe Rychard es für sie entwendet hatte.
Praionor von Wiesenfeld hatte das Haus ihrer Familie niedergebrannt, als er herausgefunden hatte, dass seine Geliebte eine Hexe war, die ein Echsenei zur Welt gebracht hatte, aus dem ein Kind geboren worden war.
So Neferus Theorie. Möglicherweise war es anders gewesen, aber wie auch immer die Vergangenheit gestrickt war, eines hatte sie daraus gelernt: Die CriminalCammer lagerte Wissen und Beweise.

Sie sah die Stadtmauer des Nordtores hoch über der Stadt aufragen. Sie hielt darauf zu, bog aber kurz vorher rechts ab.
Nach Wallgraben oder Rosskuppel wollte sie nicht.
Das Gebäude, das sie betrat, war groß – ein mehrstöckiger Komplex mit dunklen Schindeln, das einst ein Hotel gewesen war. ‚Tobrischer Hof‘ hatte es geheißen.
Ein Mann saß unten an einem Schreibtisch und blätterte durch Bücher. Er stellte sich als Firnmer Termoil vor. Ein Grangorer.
Sie erklärte ihm ihr Anliegen und mittels eines Glöckchens wurde ein weiterer Mann der Cammer herbeigeklingelt, um sie zum Büro der ‚Exzellenz‘ zu führen.
Neferus Überraschung war nicht klein, als derjenige, der auf das Klingeln reagierte, kein geringerer war als der heitere Eulrich Durenald, der Weißmagier, der gemeinsam mit Meinloh von Gareth in der Smaragdnatter gewesen war. Inspektor Eulrich Durenald von Amt 7, wie sie jetzt herausfand. Der Albernier mit der magischen Ausbildung in Thorwal hatte also durchaus auch seine Geheimnisse.
Die Exzellenz selbst entpuppte sich als noch größere Überraschung: Ihre Gnaden Isenbrook war Nandusgeweihte und die Frau, die ihr vor Tagen die Übernahme zweier Monate für den Unterricht der Kinder zugesagt hatte. Die nach Mohacca riechende Fremde, die sie im Hesindetempel getroffen hatte.
Jetzt ergab sich zumindest ein Sinn hinter dieser Sache, war Nandus doch der Sohn Hesindes und gleichermaßen der Gott, der die Bildung vorantreiben und unterstützen wollte und das überall in Aventurien.
Gerhalla Isenbrook saß in einem kleinen Büro am Ende eines langgezogenen Zimmers voller leerer Schreibtische und blätterte rauchend durch Stapel von Akten. Dicke, graue Schwaden von Mohacca erschwerten die Sicht auf die Leiterin der CriminalCammer und zwangen Neferu zu einem unterdrückten Husten.
Neben Isenbrook stand eine steinerne Schale voll von Resten aufgerauchter Zigarren.
„Euer Exzellenz, mein Name ist Neferu Banokborn. Ich bin Bürgerin der Stadt Gareths und heute morgen wurde eine weibliche Leiche im Keller meines unfertigen Hauses in der Weststadt gefunden. Ich habe das Mädchen untersucht – und war daraufhin in Rahjas Festung in Eschenrod. Ich habe dort Informationen über die Almadaner erfahren, die Euch vielleicht Interessieren.“

~

Gerhalla Isenbrook war an den Hinweisen und Beschreibungen bezüglich der Almadaner brennend interessiert.
Sie ging einen Handel mit Neferu ein, Informationen gegen Geld.
Um ein Inspektor der CriminalCammer zu werden, taugte Neferu zwar nicht – die Nandusgeweihte forderte unabdingbare Loyalität für die Cammer und andere, ältere Verbindungen hätte Nef niemals verraten können (und zudem hätte Isenbrook sie mit Sicherheit auch gar nicht genommen, bei so wankelhaftem Lebenslauf…), aber als Neferu ging, hatte sie das Gefühl, dass da hinter dem Schreibtisch ein Verbündeter mit ähnlichen Idealen saß. Jemand, der Phex nahe war und die Sicherheit der Stadt garantieren wollte.
Mittlerweile war es draußen gänzlich dunkel und Tag war Nacht gewichen.
Neferu war schnell unterwegs, als sie zurück zu Ahlemeyer in die wärmende Stube ging.
Eine Nandusgeweihte.. Mit Sicherheit konnte Gerhalla Isenbrook helfen, wenn es darum ging, einen geeigneten Lehrer für die Waisenkinder Südquartiers zu finden.

~

Mit dem nächsten Morgen brach der Markttag herein und mit ihm zahlreiche Karren und Händler.
Gareth war an diesem Tag der Woche noch überfüllter als sonst und lauter. Es war ein kalter, heller Morgen, ohne Wolken, aber mit viel Wind.
Die Praiosscheibe war deutlich am Himmel, aber dennoch rieben sich die Handelnden fröstelnd die Finger und stießen Atemwolken in die Luft.
Neferu zog die rote Tuchrüstung über ihre Kleidung – nur vorsichtshalber.
Sie bereitete sich darauf vor, Voltan Sprengler wiederzutreffen. Und sie wusste nicht, in welche Winkel Gareths sie die Ermittlungen führen würde.
Das Puniner Tor lag von Ahlemeyers alter Sattlerei aus nicht weit entfernt, so dass Neferu das Aufstehen hatte hinauszögern können.
Frühstück im Bauch und in dicke Lagen Stoff gepackt, schlenderte die Tulamidin zur Grenze Alt-Gareths.
Die Tortürme ragten hoch in den sonnigen Himmel und teilten sich sein Blau mit den vorbeigleitenden Tauben. Hier pfiff der Wind ganz besonders.
Im Tor beginnend ragte die Schlange an Menschen, die nach Gareth wollten weit über Sonngrund. Die Wachmänner hatten gut zu tun, all diese Leute zu kontrollieren und eine Übersicht zu bewahren.
Neferu trat aufs Gelände der Wachmanschaft zu Gareth. Sie durchmaß den Hof zu einem der Tortürme, wo ein Wachmann seinen Dienst tat.
„Entschuldigt, wo finde ich Weibel Sprengler? Ich bin heute morgen mit ihm verabredet.“
Sie wurde zum gegenüberliegenden Turm geschickt, wo eine Rampe hinaufführte, bis hin zu einer Tür.
Der diensthabende Wachmann führte sie hinein – ein Raum von dem mehrere Türen abgingen und in dem sich eine Stiege nach oben befand.
Kisten waren hier aufeinander gestapelt und ein Tisch, der ein wenig an die Seite gedrängt stand, verriet, dass Wachhabende hier Karten spielten.
Zwei Feuerschalen spendeten mattglimmendes Licht und mäßig Wärme.
Für sie ging der Weg nach oben, die Leiter hinauf. Eine hölzerne Luke mit Eisenbeschlägen wurde aufgeklappt.
„Weibel Sprengler? Hier ist eine Frau, die nach Euch fragt.“

Man hatte den Unteroffizier Sprengler in einen Raum quartiert, der eigentlich das Zeughaus war. Die ganze Etage des ersten Stocks war voll von Regalen, Truhen, Kisten und Waffenständern. Es war kalt und zugig – die muffige Luft roch nach Leder und Metall.
Sprengler selbst hatte man an einem Schreibtisch dazwischen drapiert. Neben seinem gab es einen weiteren Tisch, der leer war und als Ablage diente. Ansonsten, neben all dem Kram, den die Männer und Frauen der Garether Wache brauchten, sich auszustatten, gab es nur noch den Kamin, in dem das Feuer aufgescheucht flackerte. Er war vor Kurzem erst geschürt worden.
Voltan Sprengler hockte an seinem Tisch und betrachtete mit verkniffen-konzentrierter Miene ein Schriftstück, das er eben zur Seite legte.
Das dunkelblonde Haar hatte er zurückgebunden und wie sonst stand dieser übernächtige Zug um seine Augen.
Der Wachmann, der sie geführt und begleitet hatte, salutierte, klappte die Luke zu und sie hörte seine schweren Schritte die Stiege hinuntersteigen.
Ihre Augen glitten zu dem Mann, der sie an diesem Morgen herbestellt hatte.
„Ich wusste gar nicht, dass Ihr ein Schreibtischtäter seid.“ Sie lächelte ihn heiter an.
Sein Augenausdruck entspannte sich einen Deut.
„Da sagt Ihr was. Eigentlich ist das auch nicht, was ich gern tue, aber einer muss es tun. Die Wache ist heillos unterbesetzt. Es gibt zu wenig Gardisten verteilt auf zehn Wachstuben in ganz Gareth.“
„Ist der Sold so schlecht?“ Sie schmunzelte, er bot ihr einen Stuhl an, erhob sich und schob die Sitzgelegenheit ans Feuer, ehe er sich wieder setzte.
„Wollt Ihr etwas essen?“ fragte er. Sie verneinte.
Was für ein höflicher Mann… Sicher nur eine Masche, seine phexische Vergangenheit zu Kaschieren…
„Nun, es reicht zum Leben. Trotzdem – es ist mehr zu tun, für weniger Geld als anderswo.“
Neferu nickte sachte, noch immer mit einem neckenden Lächeln auf den Lippen. „Und was sind Eure eigentlichen Aufgaben, Weibel?“

Sie ließ sich von ihm den Aufbau der Wache erklären und ebenso die Aufgaben der einzelnen Ränge. Jede Wachstube hatte ihren eigenen Hauptmann und über ihnen allen stand der Obrist, der sich laut Sprengler wenig aus seiner Villa in Heldenberg hinausbewegte.
So, so.. Neferu hörte halbherzig zu, um dem Gespräch einen Vorlauf zu geben. Der Unteroffizier schien sich gar nicht in seiner Arbeit gestört zu fühlen. Sie hatte beinahe das Gefühl, dass dieser pflichtbewusste Mann froh darüber war, eine Rechtfertigung zu haben, sich eine Pause zu gönnen.
Die kleine Unterbrechung der Arbeit des Mannes wurde zu einer längeren.
Das Gespräch floss dahin, sein Interesse und die damit verbundenen Fragen kosteten beinahe soviel Zeit wie Neferus Ausführungen oder ihre Neugier.
Neferu spürte, dass sie ihm vertrauen wollte. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie misstrauisch bleiben musste.

„Ich bin gestern.. noch in Eschenrod gewesen.“ gab sie irgendwann preis, als sich ihr Dialog endlich der eigentlichen Aufgabe widmete: Dem Tod von Jelka.
Sie erzählte ihm vorsichtig von dem miserablen Versuch in Rahjas Festung an weitere Informationen zu kommen. Sie unterschlug, was auf ihre Phexdienerschaft hindeutete und malte alle satuarischen Gaben aus, die sie zur Flucht angewendet hatte. Der Schalk in ihr kicherte innerlich, als er wieder in dieses abergläubisch-skeptische Starren verfiel. Trotzdem war eher eine kindliche Ängstlichkeit in seinem Blick zu sehen, keine missgünstige Abneigung. Ohnehin, ihr Alleingang in ‚Rahjas Festung‘ erboste ihn nicht, wie sie erwartet hatte. Verwunderlich…
„Habt keine Angst, Sprengler – ich bin völlig harmlos. Das weiß auch die Praioskirche, deshalb habe ich es nicht nötig, ein großes Geheimnis aus meiner Kraft zu machen. Auch wenn die Kirche des Götterfürsten weiterhin davon ausgeht, dass ich keine Zauber mehr anwende. Was ich auch nicht tue, wenn ich nicht gerade in Lebensgefahr bin und mit der Hilfe der Magie zu entkommen versuche.“ Sie ließ etwas weg, übertrieb dafür an anderer Stelle. Die Hexe mühte sich, ihn auf seine Angst hinzuweisen, um sie dann zu zerstreuen. Er musste sich mit seinen bitteren Vorurteilen auseinandersetzen, um sie zu überwinden. Sie wollte ihm helfen.
Er fragte nach, wollte mehr wissen: Eine Hexe offen vor der Praioskirche?
Zuerst war sie unsicher, ob sie ihm anvertrauen konnte, warum sie bei den Garether Praioten einen Stein im Brett hatte.
Aber dann erzählte sie ihm von dem Geheimnis aus den Rollen der Beni Rurech. Dass etwas kommen würde, das die Welt vernichten konnte… Sie vermied den verheißungsvollen Namen Borbarad nicht. Selbst wenn er nur eine Theorie war.
Sprengler war ein Mann der Führungsebene der Wache – vielleicht war es nicht schlecht, wenn er davon wusste. Sie betonte mehrfach, dass es sein konnte, dass es sich um einen Übersetzungsfehler, ein schlicht falsches Gerücht oder ein Ereignis handelte, das noch hundert Jahre in der Zukunft lag.
Aber er.. nahm es ernst.
„Ich muss meine Männer darauf vorbereiten, Untote zu bekämpfen. Ihr kanntet doch einen Schwarzmagier? Macht Ihr mich mit ihm bekannt?“
Sie sah das Unbehagen in seinen Augen, den tiefen Aberglauben. Aber sein Pflichtbewusstsein, das Bedürfnis die Städter zu beschützen übermannte all die Furcht in ihm. Und das bewunderte sie, also versprach sie es ihm.

„Ich bin bei der CriminalCammer gewesen.“ Noch eine Offenbarung. Sie erzählte ihm gerne Dinge, die nicht jeder wissen sollte, aber deren Wissen letztendlich nicht viel mehr war, als ein Test. Gab er weiter, was sie ihm anvertraute?
„Ihr seid doch auch ein Inspektor der Cammer, nicht war?“ Sie riet ins Blaue, wollte einen Verdacht ausschließen oder bestätigt wissen.
„Nein, wir arbeiten uns lediglich zu.“ Antwortete er ruhig. Neferu nickte matt und setzte fort:
„Leider eigne ich mich nicht als Inspektor. Ich bin zu tief in Eschenrod verwurzelt. Ich könnte nie einen Verrat an alten Loyalitäten begehen. Aber ich kann eine Art Informant bleiben. Gutes Geld, gegen gute Informationen. Außerdem sprach Isenbrook vom ‚Stadtwachendienst in spezieller Verwendung‘. Hättet Ihr Verwendung für mich, Sprengler?“

Noch am selben Tag nahm sie von ‚Dickfinger‘ das rote Barett, den blauen Wappenrock und den Fuchsring der Wache entgegen. Sie hatte es wohl geschafft ihn zu beeindrucken.
Sie sollte wiederkommen. Am gleichen Tag. Zur siebten Abendstunde. Ans Puniner Tor.

~

Um die Zeit zu überbrücken, erledigte sie die Aufgaben ihrer Liste.
Bei einem Scheibenmacher im Glaserwinkel von Nardesheim erstand sie etwas Teerpappe. Die würde sie irgendwann für TeGuden brauchen.. Der blasierte Stadtadvokat war noch immer in ihren Gedanken, sie würde ihre Rache bekommen. Der Name des Glasarbeiters war Tsatin Muska. Sie versprach ihm, ihn Nerix Sandsteiner, ihrem Architekten, zu empfehlen.
Auch die Kindervermittlung nahm weiter Gestalt an. Lamiadon – der ein kleines Mädchen namens Wilimay adoptiert hatte, die ebenso gerne Rätsel mochte wie er, half ihr ein Flugblatt zu entwerfen – er bestand auf ein Gedicht darauf. Sie ließ es für einige Münzen von Schreibwilligen in der Smaragdnatter kopieren. Der Traviatempel und auch der Eidechsentempel der jungen Göttin, beteiligten sich daran, diese Information unter das kinderlose Volk zu bringen. Letzterer übernahm zwei Monate Ausbildung für die kleinen Eschenroder, denen der Luxus Eltern zu haben nicht vergönnt war.
Auf dem Eisenmarkt informierte sich die Phex-Hexe, gewandet in bürgerliche Kleidung über die Härte und Geldwerte von Adamanten (zur Schmuckherstellung selbstverständlich, nicht um Glas zu ritzen!) und besorgte sich guten Klebstoff aus backigstem Harz.
Sie traf sich mit Salpico, erzählte ihm von Sprenglers Wunsch, eine Lehreinheit bezüglich untoter Gefahr abzuhalten und aß mit ihm zum Mittag. Er tat geheimnisvoll, als er beteuerte, ihr einen Adamanten besorgen zu können.
Und das Beste: Sie würde am kommenden Tag mit ihm einkaufen, ihn in eine neue Robe stecken!
Mittels eines Ruhe Körper – Ruhe Geist legte der Schwarzmagier die Hexe für zwei Stunden schlafen. Sie sollte für den Abend ausgeruht sein…

~

Es dunkelte bereits, als sich fünfundzwanzig schwer gerüstete Veteranen zusammen mit Unteroffizier Sprengler und einer schwarzhaarigen Frau mit leuchtend blauen Augen namens Korporal Millheimer (das war Neferu mit Hilfe ihres Hexenreifs…), die sie nie zuvor gesehen hatten, am Puniner Tor sammelten, um allesamt durch die Mannluke nach Eschenrod zu marschieren.
Sprengler selbst, der schon ihr Anführer im Orkenkrieg gewesen war, hatte die Frau als „wichtig“ bezeichnet. Sie sollten alle auch dafür Sorge tragen, dass sie nicht abgestochen wurde.
Er selbst ging mit der Fremden vorne weg.
Neferu spürte, wie ihr Blut wallte. Das war das Südquartier nicht gewohnt: Eine ganze Mannschaft bewehrter Krieger, darunter Stadtgardisten. Noch marschierten sie die südliche Reichsstraße hinab.
Sie raunte leise zu Voltan: „Phex wird verkannt, weißt du das?“ Sie machte eine kleine Pause. Warum sprach sie davon? Wollte sie eine Ader bei ihm ansprechen?
„Er wird gesehen, als der Händler, der Dieb… Er ist soviel mehr. Er liebt die Menschen. Deshalb tut er, was er tut. Auf seine Art.“ Sie wollte ihm erklären, warum sie tat, was sie tat. Ihr fiel nicht ein, wie sie es besser formulieren konnte. Aber dann… erinnerte sie sich an eine Geschichte aus dem Vademecum und begann zu rezitieren:
„Phex aber liebte die Menschen aus tiefster Seele und sah, dass jeder Gott Alverans ihnen Gaben schenkte. Phex aber ward nur als listig gescholten. So ging er zu Rahja und Tsa und sah, wie die Menschen sich in Lust vereinten und Leben gebaren. Doch fand sich in der Lust nicht immer auch Freude und Leichtigkeit wieder. Und so sagte Phex voll List: Lasst mich den Menschen Heiterkeit schenken, auf dass sie eure Gaben noch vollkommener spüren. Und sie willigten ein und so brachte Phex uns den Witz.
Weiter ging er zu Ingerimm und Peraine und sah, wie die Menschen Werkzeuge formten und Äcker pflügten. Und er sprach zu ihnen: Seht dort im Norden formen sie Pflugscharen und pflügen die Felder, wissen aber nicht, sich zu verteidigen. Dort im Süden ist der Pflug fremd und sie schmieden Waffen, um sich die Nahrung zu nehmen. Weshalb ist das so? Und sie antworteten, dass jeder das schmiede und aus den Feldern hole, was er sich selbst erarbeite. So schenkte Phex den Menschen den Handel, auf dass sie Waren tauschen können und die Gabe, sich ein Handwerksstück einfach zu nehmen, statt es selbst mit Fleiß zu bauen.
Und als er sah wie Menschen Handel trieben und über Land und Meer reisten, ging er zu Travia und Efferd: Seht, die Menschen sind eurer Gnade unterworfen auf ihren Reisen, sie brauchen die Gastfreundschaft und das wärmende Feuer, kämpfen aber gegen die Gefahren der Meere und stürme. Lasst mich sie beschützen wenn sie auf Handelsreisen Unterkunft suchen und wenn sie ihre Schiffe zum Handel auf die Meere fahren. Und so wurde Phex der Patron der Händler auf ihren Reisen.
Dann sah er die Dunkelheit des Nachthimmels. Er erkannte Boron als den Vater der Dunkelheit und Hesinde als die Mutter Madas. Phex aber wollte Teil dieses wundervollsten Gebildes sein und sprach: Schenkt mir einen winzigen Teil eures Nachthimmels und ich werde ihn schmücken euch zum Gefallen. Und als ihm ein nur verschwind geringer Teil der Nacht zuteil wurde, da verteilte er diesen am hanzen Himmel: Hier ein winziger leuchtender Punkt, dort ein zierlicher Lichtschein, da ein klitzekleiner Schatz. Und so erstrahlen die Sterne heute für jeden sichtbar am ganzen Firmament, obwohl die dunkle Nacht doch den viel größeren Teil des Himmels ausmacht. So wurde Phex der Herr der Sterne.
Voll Bewunderung blickte er zu Firun und Rondra, die sich im Wettstreit maßen. Und er ging zu Firun und sprach: Herr der Jagd, lehre mich, wie auch ich ein Jäger werde, so will ich dir gegen Rondra beistehen. Firun willigte ein und Phex lernte die nächtliche Jagd. Zu Rondra aber ging er und sprach: Herrin des Kampfes, lehre mich, wie auch ich ein Kämpfer werde, so will ich dir gegen Firun beistehen. Rondra willigte ein und Phex lernte den listigen Kampf. Und so lehrte er die Menschen seine Weise zu jagen und zu kämpfen.
Zuletzt ging er zum Göttervater Praios. Er staunte über die göttliche Ordung, doch sah er auch, wie einige sich nicht scherten um Gesetz und Ordnung. So sprach er: Wie kannst du dulden, dass jene, die deine Ordnung nicht anerkennen, sich aufschwingen über die Braven, die dich vergöttern? Und Praios antwortete, er könne nicht jene bestrafen, die die nicht in seinem Licht wandeln, denn er sei die Gerechtigkeit. Phex aber sah sein Meisterstück vor Augen und sprach: Vater Alverans, lass mich für dich in Dunkelheit und mit List erkunden, was die Feinde deiner Ordung planen, lass mich sie betrügen und strafen, wo Unglauben waltet. Praios aber sah, dass Phexens Hilfe nötig war. Und auch wenn er Phex deshalb verachtete griff er von nun an auf den Listigen zurück, um das zu tun, was getan werden musste.
All diese Gaben seiner göttlichen Geschwister brachte er den Menschen, doch eine gab er ihnen von sich aus: Sie selber sollten entscheiden über den Einsatz dieser Gaben. Denn Phex liebte die Menschen. Aus tiefster Seele.“

Voltan Sprengler sah die Sprechende lange an, während die Meute von Bewaffneten gen Eschenrod marschierte. Dann nickte er leicht und seine Mundwinkel hoben sich einen Deut.
„Ich denke auch, dass Phex verkannt wird.“ sagte er nur.
Sie bogen nach Eschenrod ein.
Gestalten huschten in Gassen, starrende Augen verfolgten sie hinter kaputten Fenstern. Niemand wollte bei dieser Art von Razzia bei irgendetwas Illegalem erwischt werden.
Auch der Goblin Knüppel-Golle starrte der Großgruppe mit offenem Mund nach.
„Du solltest expandieren, Golle!“ rief Neferu in ihrer für ihn unbekannten Gestalt. Innerlich lachte sie befreit. Sie fühlte sich gut, in anderem Äußeren unter den Leuten zu sein. Sie hatte ihm schon als Neferu geraten, sein Geschäft zu erweitern, vielleicht half diese ‚Zweitmeinung‘, ihren Wunsch zu unterstreichen.

‚Rahjas Festung‘ lag vor ihnen – erleuchtet und in regem Betrieb.
„Sollen wir Lärm machen, Weibel?“ fragte einer der Armbrustschützen aus Voltans ‚Regiment‘.
Der Angesprochene nickte entschlossen. „Ja, aber umstellt nicht das Haus. Wer fliehen kann, kämpft nicht auf Leben und Tod. Wir wollen Tote vermeiden.“
Die groben Veteranen traten die Tür krachend aus ihren Angeln.
„Razzia! Keiner bewegt sich!“
Trotz des Rufes, warf ein Freier einen Tisch um, versuchte sich in Sicherheit zu bringen. Auch andere reagierten nicht gelassen auf diese Meute Bewaffneter.
Unten stellten die Soldaten die Personen in der Schankstube. Fenster splitterten. Es gab blutige Nasen.
Neferu lief zur Treppe.
„Wo ist di Calmo?!“ rief sie, rannte die Stufen hinauf.
Niemand antwortete ihr aus dem Tumult.
Sie riss die Tür auf von der sie wusste, dass sich keine Hurenkammer dahinter befand.
Drei Männer sprangen auf, die gesessen hatten. Ein Almadaner, zwei heimische Eschenroder.
Geld lag auf dem Tisch, sie hatten sicher gerade um eine Anstellung verhandelt.
Die Schläger hatten noch keinen Vertrag unterzeichnet. Sie wollten sich aus diesem Ärger heraushalten und verpissten sich. Nef ließ sie durch.
Unten wurden Armbrüste gespannt.
Auf der Empore wartete Neferu auf den Almadaner. Sie erkannte ihn: Er war bei ihrem letzten Besuch gestern gewesen – er war es, den sie bewusstlos gewürgt hatte.
Er kam auf sie zu, versuchte sich an einem schmeichelnden Lächeln.
„Ich weiß, wer ihr seid – was ihr seid. Wo ist Di Calmo!?“ spie ihm Nef entgegen.
Der Schwarzhaarige mit dem Federhut grinste schmierig. „Ich weiß nicht, wovon Ihr redet! Dies hier ist ein angesehenes Bordell..!“
„Ich habe gesagt, ich komme zurück. Da bin ich! Ich habe andere mitgebracht! Wie geht es dem Glatzkopf? Haben sich seine Sehstörungen gegeben?“ zischte sie.
Sein Gesicht wurde schlagartig ernst. Er erkannte sie.
„Du bist das, Metze… Du hast keinerlei Beweise gegen uns, du Schlampe. Du wirst bezahlen..“
„Wir haben Beweise. Wir haben einen Magier. Und er befragte Jelkas Geist. Glaubt Ihr immer noch, Ihr kommt davon?“ sie war von der Eisigkeit ihrer Stimme überrascht und log in Vollendung.
Aber es half. Er wurde blasser.
„Ich werde dich töten!“ zischte er schlangengleich und akzentvoll.
„Dann versuch es..!“ forderte Nef ihn kampfbereit auf, mit einem bissigen Lächeln. Sie konzentrierte sich. Gleich würde sie ihn zu Boden hechten…
Der Almadaner zog sein Rapier…

Zwei Bolzen durchbohrten ihn sofort und er sank Blut hustend in sich zusammen, als er starb.

~

Neferu nahm die fünfunddreißig verängstigten Mädchen mit, als das Gebäude geräumt war, die letzten Freier flüchteten. Kehrten die Almadaner zurück, würden sie keine Huren mehr haben, die für sie arbeiteten. Die Hexe untermauerte ihren Plan mit einigen Münzen, die die Verbreitung des Gerüchts gewährleisteten, dass die Südländer ihre Mädchen misshandelten, sie töteten – und schlimmer noch – mit den Nichtzwölfen im Bunde waren und man seine unsterbliche Seele riskierte, wenn man für sie arbeitete.
Von ihren neuen Schützlingen erfuhr ‚Korporal Millheimer‘, dass di Calmo der Vetter des Conde war. Und dass der Conde derjenige mit der roten Feder war… Irgendwann würde sie diesen Mann finden und ihn zur Rechenschaft ziehen! Jelka würde gerächt werden.
Mit Sprenglers Hilfe fand sie eine Unterkunft für die verstörten Frauen: Die Herberge Heldenrast im Schlossviertel. Zu dieser Jahreszeit hatte sie immer leere Betten.
Sie handelte zwei Mahlzeiten am Tag aus und zahlte für einen Monat im voraus.
Als sie die vielen Dirnen untergebracht hatten, begleitete Sprengler sie ein Stück.
„Und?“ Sie drehte ihren Armreif in der Dunkelheit des Neumondes und war wieder sie, „was gefällt dir besser – grün oder blau?“ Sie hielt es für angemessen ein wenig neckisch zu kokettieren, ihn aus der Reserve zu locken.
„Grün.“ sagte er nur, ohne sie anzusehen.

~

Als sie in der Stille ihres Bettes bei Ahlemeyer lag, drehte sich Phexdan zu ihr um.
„Ich bin euch gefolgt.“ raunte er ihr leise zu. „Von den Dächern aus, habe ich euch zugesehen. Und da waren andere. Im Schatten verborgen. Sicher sechs bis acht an der Zahl. Almadaner. Sei vorsichtig…“

Die Almadaner kannten also ihrer aller Gesichter.
Theoretisch.
Wieder einmal war sie froh, dass Luzelin ihr einst diesen Armreif als Belohnung für einen großen Dienst gegeben hatte. Sie berührte das Mondsilberschmuckstück mit dem blauen Stein, atmete tief durch und schmiegte ihren Kopf an Phexdans Schulter.
Kurz bevor Borons seeliger Schlaf sie umfing, dachte sie an Voltan Sprenglers starrend-faszinierten Blick, als sie sich der Huren angenommen hatte. Es war ein erstauntes Innehalten gewesen.
Sie dachte an sein Gesicht. Und an die Almadaner.
Er war in Gefahr.

Gareth 22 (Neferu) (TSA 1013)

Katzen hatten dem Volksmund nach neun Leben. Neun, die heilige Zahl des Phex.
Und nicht nur das, es gab sie überall – auf dem Land, in der Stadt, in schmutzigen Gassen und auf prachtvollen Anwesen.
Suchet, dann werdet ihr finden, hieß es und Neferu war nach einigen Stunden fündig geworden: Eine kleine weiße Katze hatte den Mann, der die Leiche bei ihr abgelegt hatte, gesehen.
Das gepflegte Kätzchen war auf ihn aufmerksam geworden, weil die große rote Feder an seinem enormen Hut so lustig und verführerisch gewippt hatte. Wie gerne hätte die Samtpfote mit dem herrlich tanzenden Federchen getollt, aber leider war der Kerl, der das Ding auf dem Kopf getragen hatte, zu weit weg gewesen.

Nachdem die Hexe diese Bilder aus dem Kopf der Katze gesehen hatte, war sie nach Eschenrod gegangen.
Zwar wusste sie, dass Voltan Sprengler, der Weibel des Puniner Tors am kommenden Morgen mit ihrem Erscheinen rechnen würde, aber es war doch einiges wert, wenn sie eine Information dabei hatte, die er noch nicht kannte. Vielleicht würde er sich ihr dann irgendwann offenbaren – der Schein-Wachmann, als phexischer Hintermann. Sie schmunzelte genüsslich bei dem Gedanken, einen Jünger der Geheimnisse dazu zu bringen, sich ihr anzuvertrauen.
So früh am Tag war außer Knüppel-Golle, dem Festumer Goblin mit seinen stumpfen, schlichten Waffen fast noch niemand auf den Beinen. Einige Menschen lagen oder saßen herum, lungernd, hustend – aus leeren Augen starrend oder noch den Rausch der letzten Nacht ausschlafend. Aber fast niemand stand.
Rahjas Festung war ein altes Doppelhaus aus Holz. Es erinnerte Nef an die Häuser, die sie in Baliho gesehen hatte.

Sie klopfte hart.
„Hallo? Ich muss mit Euch reden!“
Ein zweites Mal.
Dann endlich eine Reaktion von innen: Ein Murren, eine Beleidigung, dann ein Verriegeln der Tür.
Verblüfft stand Nef vor dem Gebäude. Sie war es nicht mehr gewohnt, derart rüde abgefrühstückt zu werden. Aber vor der Mittagsstunde ging hier wohl gar nichts.
Sie war gekränkt und weigerte sich, so schnell auf eine Sackgasse zu stoßen.
Gleichzeitig hatte die in den Morgen gedehnte Nachtruhe des Etablissements vielleicht auch seine Vorteile: Sie könnte unbehelligt mit einem oder zweien der Mädchen sprechen, wenn sie sich reinschlich…
Die Tür war kein Hindernis. Der Dunkelheit im Inneren begegnete sie mit dem Zauber der Katzenaugen.
Auf leisen Sohlen durchquerte sie einen leeren, muffigen Schankraum mit runden Tischen. Sie drehte ihren Armreif in der Finsternis und ließ den Zauber wirken. So würden sie sie wenigstens nicht wiedererkennen, wenn sie einen dummen Fehler machte und gesehen werden würde.

Die Ereignisse im Bordell überschlugen sich mit einem Eifer, den Neferu nicht erwartet hatte. Sie hatte einige Informationen und Begriffe hinter einer verschlossenen Tür aufschnappen können. Namen, vielleicht Orte, aber dann schon, hatten sie nach ihr gesucht. Zehn Männer aus dem oberen Stockwerk, alle mit Floretten bewaffnet. Spitzenkrägen und Hüte waren bei diesen Kerlen offenbar in größter Mode. Sie sprachen mit einem Akzent – almadanisch?
Weitere fünfzehn kamen von unten. Es waren Schlagetots aus Eschenrod, sicher bezahlte Tagelöhner und gewalttätige Nichtsnutze.
Sie hielt sie mit einem Hexenknoten auf, einer Mauer, die das Schlimmste zeigte, die einem das Blut gefrieren ließ – der selbe Zauber mit dem sie vor Kurzem in der Kanalisation ein paar vermeintliche Schmuggler vertrieben hatte.
Niemand hatte die Hexe bisher gesehen – und das allein Dank eines Zaubers. In harmloser Gestalt floh sie in das Zimmer eines der Mädchen, fragte die Verängstigte nach Jelka. Die abgerissene junge Frau schluchzte, als sie von dem Schicksal der anderen erfuhr.
„Den Almadanern gehört hier alles…!“ gab sie leise flüsternd, zitternd vor Angst, zu verstehen.
Ihnen gehörte der Laden, gut zu wissen.
Die Zimmertüren wurden brachial aufgerissen, Frauen schrien und heulten – es hörte sich an, als würden sie auf den Flur des Obergeschosses, auf die Balustrade geschleift werden.
Neferu rettete sich unter das Bett, wo sie selbst fast geschrien hätte: Die Hinterlassenschaften von Ratten warteten da auf sich. Mit glasigem Blick starrte sie die Unterseite des durchgelegenen Bettes an, presste beide Hände auf den Mund. Ratten…! Das Mädchen, mit dem sie eben noch gesprochen hatte, wurde aus ihrem Zimmer gezerrt.
Fast sah Neferu rot. Beinahe hätte sie Laut gegeben. Doch das Schließen der Lider und das Konzentrieren auf die Atmung, retteten ihr Versteck.
Oh Schatten Alverans, aus dem Dunkel komme ich, ins Dunkel gehe ich…
„Wo bist du, Mäuslein…?“ Hörte sie eine melodiöse Stimme, bösartig fragen. Ihr Herz raste. Sie hielt sich beide Handflächen vors Gesicht.
Gewähre mir die Gnade, zu schwarzer Nacht zu werden…
Schritte kamen in die stickige, fensterlose Kammer. Seine Stiefel hatten hörbare Absätze. Er ließ sich Zeit, keine Eile war ihm anzumerken. Er fuchtelte mit seinem Degen herum.
Riss den Schrank auf, der sich halbhoch in eine staubige Nische kauerte. Es war, als würde es ihm Spaß machen, sie zu jagen.
…und im Grau untergehen. Wie der Neumond am Sternenhimmel.
Er kam auf das Bett zu, sie schob sich zeitgleich in bedächtigen Bewegungen darunter hervor.
Der Almadaner blickte an ihr vorbei, als sei sie gar nicht da.
Sie kniff die Augen zusammen, aber hielt in der befreienden Bewegung nicht inne, als seine Waffe mit der Spitze zuerst zu Boden sauste und das Bett durchstach. Halb war sie noch drunter!
Als er ein zweites Mal zustach, waren wie in Zeitlupe auch ihre Beine der Gefahr entronnen. Sie lag auf dem Boden, direkt neben ihm und hielt den Atem an. Sie betete inbrünstig, dass er ihr trockenes Schlucken nicht hörte.
Dieser Mensch hätte schön sein können, hätten seine harten Züge ihn nicht zu einem Scheusal gemacht, stellte sie beobachtend fest. Auch er trug einen großen Lederhut mit Feder – doch war sie weiß. Nicht rot wie in der Erinnerung des Kätzchens.
„Na gut…“ schnurrte er gespielt, „Wenn du nicht herauskommen willst, mein Mäuslein, dann muss ich eben ein Mädchen töten.“ Er wendete sich zum Gehen der offenen Tür zu.
Nef riss in Panik die Augen auf, starrte ihm nach. Nein!
Ihre nächste Entscheidung war nicht geplant, aber das Gefühl obsiegte, die Tat verhindern zu müssen.
Sie bat Phex um Kraft. Stärke ihres Körpers. Es war ungewöhnlich, aber nicht unmöglich.
Nach nicht einmal drei Sekunden sprang sie auf, hechtete den Mann um, dessen niedergerissener Körper die Tür zuwarf, die nach innen aufging.
„Du wirst sie nicht töten!“
Sprach sie aus dem Schatten des Neumondes und würgte ihn.
„Schlampe!“ krächzte er wütend. „Das wirst du büßen..!“
Er rang mit ihr, doch Phex hatte Rondra überzeugt, ihrem Körper die nötige Stärke zu geben, dem Schurken Einhalt zu gebieten.
Sie überwältigte ihn, doch hörte sie bereits seine Kumpanen auf der Treppe! Schnell spreizte die Phex-Hexe die Finger auf dem Boden, schob den bewusstlosen Körper aus dem Weg, warf den Türflügel auf und sprang die Brüstung der Balustrade an. Noch würden sie sie nicht sehen, höchstens hören – also hing sie am Geländer und verhielt sich still.
Sie musste irgendwie aus dieser Schnapsidee wieder rauskommen!!
„Hier ist niemand! Di Calmo regt sich nicht mehr!“ brüllte einer aus der Kammer, in der sie eben noch festgesteckt hatte.
„Findet den Eindringling!“ war der allgemeine Tenor der bewaffneten Männer. Sie sah keine einzige Frau unter ihnen… Nur die zehn Mädchen knieten leise oder laut wimmernd in der Mitte des Schankbereiches, als seien sie Geiseln. Oder Verurteilte vor ihrer Hinrichtung.
„SanRebra!“ kläffte eine Stimme – „Töte eines der Mädchen! Das Hässlichste! Dann zeigt sich die Schlampe!“
Dieser Idee schienen diese Almada-Hunde generell nicht abgeneigt. Und sie wussten, dass ihr ungewünschter Besuch eine Frau war. Natürlich – sie hatte gesprochen, als sie um Einlass gebeten hatte.
Ein bulliger Schrank von einem Mann schälte sich in die Raummitte, direkt unter ihr kam er her.
Phex, verlass mich jetzt nicht…
Was trieb sie da? Einem Alveranskommando gleich, sprang sie gezielt auf den Rücken des glatzköpfigen Bullen.
„Ihr alle seid verflucht!“ brüllte sie mit so tiefer, eindringlicher Stimme, wie sie es vermochte. Er versuchte sie abzuschütteln. „Die zwölf Götter werden euch für eure Sünden zerschmettern! Eure Seelen werden nicht mehr euch gehören, sondern als Spielzeuge für die grauenhaftesten Foltermeister der Niederhöllen dienen, wenn ihr euch nicht besinnt!“ orakelte sie kreischend.
SanRebra hatte seine Waffe gezogen, stach ungezielt nach ihr. Sie sah keinen anderen Weg… Die unsichtbare Angreiferin rammte ihrem wildgewordenen Gegner zwei Finger in die Augenhöhlen. Blut spritzte.
Zumindest die angeworbenen Schläger des Südquartiers zeigten Reaktion. Die Ermahnung, ihr Seelenheil zu verlieren, schlug einige wenige von ihnen in die Flucht.
Trotzdem war sie deutlich in der Unterzahl.
Und jemand anders aus ihren Reihen tötete das hässlichste Mädchen. Neferu sah zu, wie der verletzte Stiernacken in den hinteren Bereich gebracht wurde, eine Tür klappt.
Sie musste hier irgendwie raus!
„Da läuft sie! Sie ist eine Hexe, die unsere Sinne täuscht!“ Wenn sie wüssten, wie Recht sie hatten…
Ihre Schritte waren nicht zu überhören.
Sie hielt den Spinnenlauf aufrecht, rannte die Wand hoch, klebte dann in sicherem Abstand an der Decke. In diesem Augenblick, als ihr das Blut unangenehm in den Kopf floss, war sie heilfroh schwindelfrei zu sein. Die Decke des Schankraumes maß sicher vier Schritt Höhe, vielleicht sogar fünf, die umlaufende Balustrade war von Männern gespickt.
„Ihr habt ein Mädchen getötet! Jelka! Der Mann mit der Roten Feder hat ihren Körper beseitigt! Dafür werdet ihr bezahlen! Ich bin eine Geweihte der Zwölfe! Warum habt ihr das getan?!“
polterte Nef von ihrem Deckensicherheitsabstand aus. Noch immer war sie ungesehen. Aber sie war nicht gerade leise. Phex verbarg zwar ihre Gestalt, aber nicht die Geräusche, die sie von sich gab. Unbequem hing sie an der hölzernen Decke.
Sie versuchte, die Männer zu überzeugen, sprach von Phex, der Seele und den Versuchungen von Nicht-Phex. Sie appelierte an die Vernunft, an die Tugenden der Zwölfe, an Gerechtigkeit und Respekt. Und alles, was sie erhielt war Spott und Hohn. Dem Anschein nach waren die Männer keine Paktierer oder Erzbösewichte.
Ihre Argumente waren ernüchternd und erschütternd. Sie waren skrupellos, aber sie waren einfache Menschen.
Es gab Geld, es hielt sie am Leben, wenn nicht sie ein Bordell unter diesen Umständen führten, dann jemand anders.
Und was Jelka anging.. sie fand zumindest heraus, dass eine schön anzusehende Schlampe, die in der Weststadt baute, Ärger machte. Sie glaubte, sich darin zu erkennen… Aber welchen Ärger konnte sie diesen Gesellen machen? Sie hatte keine Ahnung. War es wegen des Waisenhauses? Wegen des Wunsches nach Bildung und einer Zukunft für die Alleingelassenen?
Die unsichtbare Götterdienerin, die an der Decke klebte, distanzierte sich von dieser Frau – erfand ein glaubhaftes Konstrukt, wer sie war: Eine im Schatten agierende Phexdienerin, die keinen Mord an einfachen Mädchen zulässt. Jemand, dem die Belange der gut situierten Bürger aus der Weststadt egal waren. Jemand, der für Eschenrod und seine Menschen kämpfte. Und für Hoffnung.
„Warum lässt du dann keine Feuerbrunnen bauen?“ patzte ein Almadaner verhöhend. „Und lässt uns in Ruhe? Niemand fragt nach einer toten Hure…“

Sie konnte nicht mehr.
Das Brennen in ihrem Leib nahm zu. Die Energie ihres Zaubers ging zur Neige – das qualvolle Gefühl, die letzte Astralmacht durch die Finger rinnen zu spüren, saugte sie aus – wie es sonst nur Zerwas vermocht hatte.
Vorsichtig entfernte sie sich von der Decke, überkletterte die Wände. Unter sich sah sie die Männer, die nach ihrem Blut gierten.
Jemand war vor der Tür postiert.
Mit dem letzten Rest an magischer Macht, überzeugte sie den Türsteher, für sie zu öffnen… Taumelnd rannte sie in die Hinterhöfe. Mehrfach krümmte sie sich zusammen.
Sie war leer und ausgelaugt. Der Kopfschmerz näherte sich der Unerträglichkeitsgrenze.
Durchhalten!
Sie würde wiederkommen…
Durch Gassen, die sie von Jugend an kannte, hielt sie auf den Tempel der Schatten zu, den nur Eingeweihte kannten.
Sie brauchte Ruhe! Musste meditieren!

Eine. Ganz. Miese. Idee.
Resümierte Neferu, während die Sehstörungen ihr den Weg nach Westen erschwerten.

Gareth 21 (Neferu) (TSA 1013)

Mit unruhigem Herzen folgte Neferu dem Wachmann durch den diesigen Morgen, hin zur Weststadt Gareths.
Die Straßen waren noch nicht erwacht, einige Lichter glommen milchig durch den Nebel, der in den Gassen schwebte.
Sie zog den Umhang auf Brusthöhe eng zusammen und musste sich Mühe geben, mit dem Gardisten Schritt zuhalten.
Zwar hatte die Kälte sie schlagartig wach gemacht, aber ihr Geist war dennoch angespannt.
„Wer ist die Leiche?“ fragte sie leise, in der Hoffnung, durch einige Fragen und die darauf folgenden Antworten ihre persönliche Situation in dieser misslichen Lage einzuschätzen.
Sie hatte nichts getan. Allerdings wusste sie nicht, ob das auch für Salpico galt, der unweigerlich irgendwann in diesem Keller Experimente durchführen würde, für die ihn der Strang erwartete, sollte das Wissen darum den Untergrund des Weststadthauses je verlassen. Hatte er schon damit angefangen? Wenn ja, war sie mit im Netz gefangen?
Als Hexe – und diesen Umstand würden sie unweigerlich herausfinden – war sie so gut wie verurteilt.

„Eine Frau.“ war seine knappe Antwort. Er blickte sie kurz an. Mit diesem abschätzigen Blick, den Ermittler hatten, wenn sie nicht ausschließen konnten, dass sie mit dem Täter zu tun hatten. „Ihr Körper war kaum kalt.“ fügte er an, ohne zu ihr zu sehen.
Das Unwohlsein machte sich in ihrem Leib breit und erschwerte das Atem holen.
„Wer ist sie?“
„Das weiß ich nicht. Fragt die ermittelnden Wachleute. Es befinden sich sicher fünfzehn auf Eurem Grundstück.“ Ob das eine Mahnung oder gar Drohung war?

Er hatte ein bisschen übertrieben, aber nicht sehr. Etwa zwölf Wachleute durchforsteten das Gras und die Büsche des weiträumigen Geländes.
Die Morgendämmerung hatte eingesetzt, aber noch war die Praiosscheibe nur durch ein dunkelrotes Licht zu erahnen.
Ein Mann in Mantel war unter den anderen. Ein Wachhabender höheren Ranges. Er saß in der Hocke, unten im Keller.
Und da lag sie. Ein weißes Tuch war über ihr ausgebreitet worden.
Neferu schritt die Steinstufen hinab in den offen zugänglichen Untergrund.
Der Mann erhob sich. Er war groß und schlank und als er sich zu ihr umwandte, erkannte sie ihn. Es war der ernste Weibel des Puniner Tors – den sie mittlerweile als Voltan Sprengler identifiziert hatte. Er hatte sie schon vor einigen Tagen neugierig gemacht. Zwar hatte er kein Wort mit ihr gewechselt, doch waren ihr zwei Sachen an ihm ins Auge gestochen: Er maß die Leute mit flinken Blicken, wie ein Dieb die Menschen, die er zu berauben gedachte. Und er trug ein Schmuckstück um den Hals, dessen Anhänger stets verborgen war.
So, so.. Voltan Sprengler.. dachte sie skeptisch und fragte sich, was der Offizier des Südtores in der Weststadt zu suchen hatte. Sie traute ihm nicht. Sie vermutete einen zu phexnahen Hintergrund bei diesem ach so sauberen Wachmann.
Sprengler wiederholte ruhig, was sie ohnehin in Erfahrung gebracht hatte: Eine weibliche Leiche, die kaum kalt und frühzeitig entdeckt worden war.
„Jemand wurde gesehen, wie er die Mauer erkletterte und das hier hinterlassen hat.“ Er entblößte den Körper bis zu den Schlüsselbeinen.
Sie war blass und soweit Neferu das beurteilen konnte, nackt. Zumindest oberhalb. Die Hände waren über ihrem Kopf mit einem groben, billigen Strick gefesselt. Das war nicht Salpico gewesen. Niemals.
„Über die Mauer? Warum ist dann das Tor offen?“ fragte sie mit einem Blick auf die Tote.
„Ich habe es geöffnet.“
Ihre Augen huschten zu Sprengler. „So, so.. ein Einbrecher seid Ihr also..“ Sie versuchte ihre Worte locker klingen zu lassen, trotz der Umstände.
„Im Dienste der Wache muss auch ein Schloss geknackt werden. Ich habe es dort gelernt.“
Es klang ehrlich und überzeugend, aber sie glaubte ihm trotzdem nicht.
„Darf ich sie untersuchen, Weibel?“
Die grauen Augen des Mannes sahen sie abschätzig an. „Warum wollt Ihr das?“

Der Mut der in die Enge Getriebenen leitete sie, als sie ihm die Wahrheit sagte. Sie gab von sich preis, was die Wache mit einigem Stochern ohnehin herausfinden würde.
Sie beobachtete mit einer Mischung aus Spott und Amüsement, wie er nach dem Eisen seiner Waffe griff, einem abergläubischen Mittel gegen das Böse, als sie ihm sagte, dass sie eine Tochter Satuarias war. Sie gab an, dass sie selbst und ein Schwarzmagier auf dieses Grundstück ziehen wollten und dass sie ganz offensichtlich jemand diffamieren wollte, bevor sie nur einen Fuß in ihr künftiges Haus gesetzt hatten. Sie bekräftigte, dass Dexter Nemrod höchstpersönlich von ihrer Natur wusste und es billigte, da sie ’nicht mehr praktizierte‘ und sie zusätzlich außerordentliche Dienste in den Orkenkriegen geleistet hatte, durch die sie mit einem Heldenbrief ausgezeichnet worden war.
„Und ich habe auch dort… ermittelt. Ich erkenne Dinge, Hinweise, Spuren – auch Dank meiner Gabe. Wenn Ihr mich also lasst, diesen Körper einer Untersuchung zu unterziehen, kann ich Euch möglicherweise helfen, den wahren Schuldigen an dieser Missetat zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen, damit der Schwarzmagier und ich nicht in die Bedrängnis geraten, die Opfer einer vorurteilsbelasteten Gerichtsbarkeit zu werden und unschuldig im Feuer zu enden. Ich lasse mir das hier nicht anhängen! Ihr erlaubt?“
Er gab ihr mit deutender Geste den Weg frei.
Durchatmend ließ Neferu sich neben dem Mordopfer nieder.
Sie schlug sachte das Tuch zurück. Das Mädchen war komplett nackt. Die ermittelnde Hexe schätzte sie auf nicht älter als dreiundzwanzig Jahre. Ihre Augen waren geschlossen. Nef wusste nicht, ob die Wachen sie geschlossen hatten. Ihre Suche begann bei den Händen. Schwielen – aber nicht solche, die bei einer schweren Handarbeit entstanden. Die Finger waren rissig, als ob sie häufig mit Wasser in Berührung kamen. Außerdem rochen sie leicht nach Pisse, als die Suchende ihre Nase dicht an die Finger der Leiche heranführte.
„Eine Wäscherin..?“ murmelte sie unschlüssig.
Sprengler beobachtete sie schweigend aus dem Hintergrund. Sie ließ sich nicht nervös machen. Sie wusste, was sie tat. Und außerdem wollte sie hinter sein Geheimnis kommen. Irgendwie würde sie dieses Rätsel lösen und vielleicht musste sie ihn dafür beeindrucken.
Eine halbmondförmige, leichte Verbrennung war da am Handballen. Konzentriert betrachtete Nef die Stelle genauer. Was war das?
Unter den schmutzigen Fingernägeln befand sich Blut. Der Dreck war älter als das Blut. Die junge Frau musste ihren Angreifer gekratzt haben, bevor er sie tötete…
Neferus Aufmerksamkeit sank herab zu dem blassen Gesicht.
Das Mädchen war hübsch, die Zähne mäßig in Stand. Ihr Mund roch leicht alkoholisch. Sie zupfte sich augenscheinlich ihre Brauen und Achseln, versuchte sich trotz wenig komfortabler Lebensumstände zu pflegen. Auch der Schambereich war rasiert. Ausschlag, gereizte Poren umrahmten ihren Rahjahügel.
Die dunklen Haare rochen nach Rauch, Bier und Fett.
„Eine Schankmaid.. die in der Küche hilft.“ Das musste es sein. Eine Schankbedienstete aus den Elendsvierteln. Genau! Die Verbrennung.. vielleicht der Griff einer Pfanne oder eines Topfes.
Aber was war da noch..?
Die Würgemale an ihrem Hals waren unübersehbar und mit Sicherheit der Grund ihres Todes, hatte sie doch sonst keine äußeren Verletzungen. Die blauen Striemen waren deutlich und schmal. Das Opfer war nicht von einer Hand gewürgt worden, sondern vielleicht mit einem Halstuch oder Strick. Die Knie waren aufgeschürft, die Fußsohlen aber sauber. Man hatte sie erst hier ausgezogen oder lange getragen. Das Mädchen hatte sicher noch kein Kind gehabt. Die Brüste waren noch fest. Spuren einer Vergewaltigung zeigten ihre Schenkel nicht. Neferu untersuchte auch ihre Rückseite, fand aber nichts Aufschlussreiches mehr.
„Sie ist eine Schankmagd aus Meilersgrund oder Eschenrod, richtig? Seltsam, dass sie nicht vergewaltigt worden ist.“ Im knien hob sie den Blick, sah Sprengler an.
„Das ist richtig. Sie ist aus Eschenrod, ihr Name ist Jelka.“
Er wusste es schon..? Warum hatte er sie dann suchen lassen…?
„Außerdem,“ fügte er an, „hat man sie nicht vergewaltigt, da sie ihm ein Geschenk gemacht hätte..“
Ein Geschenk..? Verwirrt linste Nef zu dem mittlerweile kalten Körper. Ah… eine Krankheit im unteren Bereich. Sie nickte leicht.
„Sie ist eine Hure gewesen. Bis sie wegen der wuchernden Erkrankung nicht mehr taugte.“ Der Weibel schien die Hexe als Ermittlerin akzeptiert zu haben oder er belehrte sie. Sie war sich darüber nicht ganz einig. „Rahjas Festung – ein hässliches kleines Bordell in Eschenrod. Der Mann, der das getan hat, ist von einer jungen Patrizierin gesehen worden, die erst heute Morgen auf dem Nachhauseweg war. Er trug eine Maske und einen großen, ausladenden Hut. Das ist alles, was wir wissen.“
„Warum seid Ihr hier, Weibel? Seid Ihr nicht im Puniner Tor stationiert?“
„Mein Dienstplan umfasst auch Eschenrod. Und die Tote ist aus Eschenrod. Deshalb bin ich dazugerufen worden.“
Die Wache ermittelte schnell, gestand Neferu anerkennend.
„Ich bin ebenfalls aus Eschenrod, aufgewachsen dort und in Wallgraben.“ Hatte sie zuviel gesagt? Sie nahm gerne etwas Vertrautheit vorweg, um das Misstrauen ihr gegenüber zu mildern.
„Ich bin auch in Wallgraben aufgewachsen.“ Was war das? Er unterhielt sich mit ihr, während er die Leiche zudeckte.
„Tatsächlich?“ Neferu lächelte matt, lief gemeinsam mit ihm noch einmal das Grundstück ab. Sie wollte jeden Stein umdrehen… „Vielleicht hat man sich als Kind sogar gesehen und erinnert sich nicht.“
Sie wollte dieses nette Gespräch nicht abreißen lassen. Sollte es doch zu einer Anklage kommen, konnte er aussagen, dass sie die ganze Zeit über sehr informativ und kooperativ gewesen war. Vielleicht bekam sie sogar seine Sympathie.
„Ich denke nicht. Ich.. war als Kind nicht viel draußen. Ich war sehr dick.“
Sie hob verblüfft die Brauen: „Dick? Kein Leben in Armut…?“ Sie war überrascht, hatte sie in ihn schon eine ähnliche Kindheit hineinprojeziert wie die, die sie gehabt hatte. Ein entbehrungsreiches Leben.
„Keine Armut, nein. Meine Eltern hatten viel zu Essen, waren aber kaum da. Ich war meistens allein.“
Neferu nickte sachte. Wie zugänglich er schien… Zu zugänglich. Sie traute der vermeintlichen Offenheit nicht. Sie musste die Informationen prüfen.

Dort, ein Fußabdruck!
Hinter einem Busch war er im Erdreich zu sehen. Groß, männlich und entweder war derjenige schwer oder schwer beladen gewesen.
Ja, man hatte diese Frau bei ihr deponiert. Aber warum? Als Denunzierung? Als Warnung? Sie hatte nicht einmal eine Ahnung.
„Sehen wir uns die Mauer von außen an.“ schlug sie vor.
Er hatte die Hände in seinen Manteltaschen und stimmte zu.

Und da war sie: Die weiße Feder. Sie prangte aufgemalt auf ihre Mauer in der Dunkelheit. Reinweiße Farbe. Es war kein Diebeszinken, das wusste sie.
Was sollte sie also bedeuten? Eine Greifenfeder? Praioten?
Sprengler glaubte nicht daran, dass das Symbol etwas mit der Praioskirche zu tun hatte. Auch sie selbst war sehr unsicher, bezüglich dieser Theorie.
„Ich muss gehen, der Wachdienst an der Mauer ruft. Werdet Ihr Euch noch weiter umsehen?“ fragte er sachlich.
Neferu nickte. „Ich werde noch bleiben. Und Sprengler.. haltet die Augen nach Katzen offen!“
„Katzen?“ Verwundert hoben sich seine Brauen, wirkte perplex.
„Ja, ich kann.. sehen was sie gesehen haben. So ein Hexending.“
Er nickte wiegend, aber zäh. Die satuarische Sache war ihm definitiv alles andere als geheuer.
„Wie geht es jetzt weiter?“ fragte Neferu, als er ging. Die Sonne zeigte sich endlich am Morgenhimmel.
„Kommt morgen früh zur achten Stunde ans Tor. Ich kann Euch vielleicht gebrauchen.“
„Gut, morgen früh – zur achten Stunde.“

Bis dahin – da war sie sich sicher – hatte sie noch eine Menge herausgefunden.

Gareth 20 (Neferu) (TSA 1013)

Die Regentropfen klopften unablässig ans Fenster. Abertausende kleine nasse Fäuste, die Neferu aus dem Schlaf hämmerten.
Passend zum Wetter war heute Wassertag. Ein Tag, der einmal die Woche wiederkam, aber selten so treffend von Efferds Element derart durchdringend begleitet wurde.
Während Neferu und Phexdan beim Frühstück das Weidener Früchtebrot vertilgten, dass der Maraskaner am vorherigen Tag aufgetrieben hatte, fiel beiden Geweihten des listigen Fuchsgottes ins Auge wie derart besiegt der Affe Dajin VII durch den Raum schwankte. Von seiner pfiffigen Sprunghaftigkeit war nichts zu erkennen, er schlich mit auf dem Boden schleifenden Händen über die Dielen und kippte dann auf seine Stirn.
Wortlos, den Bissen im Mund vergessend, sahen sich die zwei Menschen, die zusammen die Wohnung im ersten Stock in Frau Ahlemeyers alter Sattlerei bewohnten, ratlos an.

Jemand hatte den Affen vergiftet! Oder besser: Betrunken gemacht. Neferu ärgerte die Erkenntnis tatsächlich, hätte das Tier doch sterben können. Phexdan kümmerte sich um das leidende Bündel, während sie selbst sich auf die Spuren machte, von denen sie hoffte, sie würden sie zum Verantwortlichen führen. Frau Ahlemeyer berichtete, dass der Hofhund mitten in der Nacht angeschlagen hatte. Dajin war lange unterwegs gewesen. Der Affe konnte die Fensterläden selbsttätig öffnen, was ihn zu einem nennenswert selbstständigen Geschöpf machte, mit all seinen Vor- und Nachteilen.
Sie fand draußen im Regen einen umgeworfenen Eimer und einige Kieselsteinchen, die auffallend nah beieinander lagen.
Sonst nichts weiter.
Hatte es tatsächlich Spuren gegeben, so hatte der Regen sie weggewaschen.

Sie schlug den Weg nach Tempelhöhe ein. Vielleicht konnte Lamiadon helfen. Als Elf und als Liebhaber von Rätseln hatte er eine ganz besondere Neigung, den Schuldigen zu finden, wenn ein Tier vergiftet worden war. So dachte Neferu zumindest. Andererseits war er, soweit ihre Kenntnis, schon eine ganze Weile in Gareth ansässig.
In der Smaragdnatter waren unangenehmerweise Pfeile des Lichts zugegen.
Magister Meinloh von Gareth höchstselbst, den sie einmal beiläufig im Magistrat gesehen hatte und neben ihm einen Mann, der so gar nicht zu der imposanten, weißbärtigen Gestalt des ältlichen Weißmagiers passte: Ein Mann mit langem blonden Haar und heiterem Gemüt, wie sein Lachen schnell verriet. Offenbar auch ein Magier.
Beide zogen Neferus unwillkürliche Aufmerksamkeit auf sich. In ihr keimte der Wunsch mit dem Feuer zu spielen…

Zur Mitte des Tages konnte sie eine erfolgreiche Zwischenbilanz ziehen:
– Dajin war kein Affe, sondern ein Tier namens ‚Maki‘.
– Lamiadon hatte doch tatsächlich Interesse an einem Kind, das ihm in der Schankstube helfen konnte!
– Die Schüler der Schwert&Stab-Akademie zu Gareth übten gerade den Klarum Purum. Ein dummer Junge namens Zordan hatte seine Kompetenzen überschritten und den Reversalis an Phexdans Haustier geübt – außerhalb des Schulgeländes! Das würde bestraft werden, hatte ihr sein Lehrmeister versprochen – Eulrich Durenald, der lebenslustige Albernier an Meinlohs Seite.
– Die Kinder des Waisenhauses brauchten Unterricht! Bei diesem Gedanken, der sich in kürzester Zeit massiv festigte, fühlte sie einen Ansatz, der ausnahmsweise kein Tropfen auf den heißen Stein war, sondern den Mädchen und Jungen der Lowanger-Greiber-Einrichtung möglicherweise wirklich weiterhalf. Sie fühlte sich berufen dazu, die zwölfgöttlichen Kirche an ihrer Ehre zu packen und sie zu einer Spende zu bewegen. Neferu legte sich zurecht, was sie sagen wollte.
Zuerst der Hesindetempel, dann der der lustvollen Rahja.
Die Hexe wusste, dass ihr das Talent eigen war, mit Worten umzugehen. Sie wollte diese Gabe nutzen, um eine Zukunft für ihre Schützlinge durch überzeugende Rede zu erstreiten.
Die Rechnung ergab, dass ein täglicher Unterricht (bis auf Praiostags, denn da sollte Zeit sein, in den Tempel zu gehen) in grundlegenen Dingen wie Schreiben, Lesen, Rechnen, Geschichte, Zwölfgötterlehre und Weltenkunde im Jahr 480 Dukaten verschlingen würde.
40 Silber im Monat. Es war ein Experiment. Sie hatte noch nicht gehört, dass so etwas je zuvor versucht worden war.

Eine Frau mit unordentlich hochgestecktem Haar, die nach Mohacca roch, bekam einen Bruchteil des Gesprächs von Neferu und der Hesindegeweihten mit und wie durch ein Wunder sagte diese Fremde, die sich als Gerhalla Isenbrook vorstellte, die Finanzierung zweier ganzer Monate zu. Neferu war irritiert, aber erfreut. Wer war die verbissen dreinschauende Mittvierzigerin, die scheinbar ihr privates Vermögen in dieses Unterfangen steckte?
Auch die Hesindekirche sagte einen Monat zu. Neferu schöpfte Hoffnung, dass ihr Plan aufgehen konnte, wenn sie hartnäckig blieb.
Auf dem Weg zum Rahjatempel erinnerte sie sich, was sie einst über den Tempelvorsteher gehört hatte: Ein Moha, der einen Ritter hatte hinrichten lassen, da er das Pferd seines Gegenübers getötet hatte. Ihr war nicht ganz wohl bei der Sache. Der Mann schien nicht von der zimperlichen Sorte, wenn es um seine Überzeugungen ging.
Es regnete noch immer – die Tropfen prasselten auf ihre Kapuze und perlten ihr von der Nase.
Der hochgewachsene Moha empfing sie in den weiten Hallen des rosafarbenen Tempels. Er war sehr ernst für einen Geweihten der berauschenden Rahja.
Er hörte sich ihr Anliegen an. Und er stimmte zu. Es wirkte fast, als sei es ihm ein persönliches Anliegen. Ihr war nicht entgangen, dass er einen Akzent hatte. Er war mit Sicherheit nicht in Gareth geboren worden… irgendwo in der Geschichte seines Lebens, schien dieser gestrenge Hochgeweihte eine Verbindung zu den verlorenen Seelen der Elendsviertel zu haben. Sie fragte nicht nach. Es ging sie nichts an. Aber es erfüllte sie mit Zuversicht.
Trotz des Wetters machte sie einen Umweg, um auf dem Al’Anfaner Markt ein Säckchen Marzipan, ein paar kandierte Aprikosen und einige Stücke Lakritze für Phexdan zu erstehen. Was versuchte sie da? Die Liebe des Leckermauls mit Süßigkeiten zu erkaufen? Und wenn schon – Liebe ging ja bekanntlich durch den Magen.
Sie packte die Zuckerspeisen in ihre Tasche und hielt auf Südquartier zu.

Bis zum Einbruch der Nacht gehörte sie dem Phextempel, erst danach würde Phexdan seine Naschereien erhalten.

~

Am 22. Tsa des Jahres 1013 nach Bosparans Fall wurde Nef durch lautes Klopfen geweckt. Zuerst war sie unsicher, ob sie das dringliche Geräusch geträumt hatte, aber dann wiederholte es sich. Sie setze sich auf, legte vorsichtig den Arm des anschmiegsamen Fuchses bei Seite.
Draußen war es dunkel und nebelig. Es war sicher noch vor der achten Stunde.
Wer wollte zu so früher Stunde etwas von ihr? Schlaftrunken kam sie aus dem Bett.
Frau Ahlemeyers Stimme durchdrang gehetzt die geschlossene Tür.
„Fräulein Banokborn? Fräulein Banokborn! Vor der Tür ist ein Gardist der Weststadt! Er will Euch dringend sprechen!“
Ein Gardist? Irritiert runzelte sie die Stirn und zog sich an. Und dann auch noch von der Weststadt…
„Ich komme nach unten!“ antwortete sie eilig.
Frau Ahlemeyers Schritte entfernten sich ungewöhnlich schnell, während sie sich für praktische Kleidung entschied, den gefütterten Umhang überwarf und nach unten folgte.

Die Vermieterin hielt eine Henkelkerze in der Hand und stand ungeduldig unten an der offenen Tür. Der kalte Wind erfüllte einnehmend den ganzen Flur. Es musste wirklich noch früh sein.
Neferu fasste den unbekannten Wachmann ins Auge, der uniformiert und aufrecht im diesigen frühmorgendlichen Dunst stand.
Sie trat an die Tür.
„Ich bin Neferu Banokborn. Gibt es ein Problem?“
„In der Tat, Fräulein. Ihr seid die Besitzerin eines Grundstücks in der Weststadt auf dem gerade gebaut wird, richtig?“
Ihr wurde unwohl. „Das ist richtig… Was ist damit?“
„Es wurde heute früh zur sechsten Stunde im bereits fertiggestellten Keller eine Leiche entdeckt. Würdet Ihr mich bitte begleiten?“

Gareth 18 (Phexdan & Neferu) (TSA 1013)

Niemand hatte damit gerechnet, dass Phexdan so kurz nach einem Aufenthalt im Perainetempel krank werden würde.
Den kälteempfindliche Maraskaner, der den Winter ebenso verabscheute wie sein pelziger Gefährte Dajin es tat, erwischte ein ganz mächtiger Dumpfschädel und er verbrachte zwei Tage leidend und unbrauchbar unter einer dicken Decke in seinem Zimmer bei Ahlemeyer. Und wie er doch litt!
Kaum dass Neferu in die alte Sattlerei gekommen war, um nach ihm zu sehen, bemühte er sich nach Kräften, sein regelrechtes Siechtum überzeugend darzustellen.
Und es half: Sie konnte nicht nein sagen.
Sie konnte nicht ablehnen, als er sie mit leiser Stimme und fiebrig gläsernen Augen fragte, ob sie bei ihm bleiben und sich um ihn sorgen würde.
Salpico erklärte sich murrend bereit, einmal quer durch das winterliche Gareth zu stapfen, um dem Blutsauger bescheid zu geben, dass er vorerst alleine in seiner vermaledeiten Wohnung in Rosskuppel auszuharren hatte. So formulierte es Phexdan in Gedanken.
Ihm gefiel der Gedanke. Nicht, dass er sich nicht wirklich hundeelend fühlte. Aber dieser kleine zusätzliche Triumph gegen den Vampir versüßte ihm die Gliederschmerzen und das Brummen im Schädel.
Der letzte Kampf um seine Frau war noch lange nicht geschlagen. Und das war sie: Seine wankelmütige, weichherzige, vorschnelle Hexenfrau, die für ihn Tee kochte, wenn er krank war. Er hatte schon vor Jahren entschieden, dass er sie haben wollte. Keine andere passte besser zu ihm. Keine andere war so schwer zu halten.
„Bringst du mir Stricken bei? Ich will ein Jäckchen… für Dajin..“ keuchte er kränklich, einem inneren Themawechsel abrupt folgend. Sie bejahte. Er würde stricken lernen!

Seine Finger berührten ihr Haar, als sie diese Nacht bei ihm lag.
Das Fieber ließ ihn frösteln und schwitzen, seine Stirn hämmerte. Aber durch den nebeligen Schleier der Krankheit war sie da.
Er drückte seinen Körper eng an sie und umarmte sie innig. Er gab ihr die Wärme, die sie bei dem Unsterblichen nie bekommen konnte und noch mehr.

~

Am Rondratag dann, kränkelte Neferu selbst. Sie hatte sich angesteckt, als sie Phexdan viel zu nahe gekommen war. Sie schob den Gedanken hastig bei Seite. Sie konnte nicht darüber nachdenken.
Phygius würde an diesem Tag in einer der beiden Tavernen erscheinen und sie musste ihm begegnen! Aber erst gegen Abend…
Es lag kaum mehr Schnee, begann früh zu tauen dieses Jahr. Er blieb zurück als bräunlicher Matsch, der von tausenden Füßen und Hufen in den Boden getreten wurde, bis er verschwand und nur schlammige Straßen zurückließ.
Sie nutzte den Tag, um Verträge zu besiegeln. Phexdan ruhte sich aus, das Fieber war allmählich gesunken.
Zerwas begleitete Neferu, er hatte sie am Eisenmarkt abgepasst.
Zu gerne hätte sie mit ihm gesprochen, ihm Antworten gegeben zu Fragen, die er nie gestellt hatte. Sie wollte ihm mitteilen, dass sie sich schuldig fühlte. Dass sie am Leben hing. Am pulsierenden Leben mit all seinen Facetten. An einem Leben voll Wärme und Chancen und Zerbrechlichkeit. Neferu wollte dem schönen, stattlichen Unsterblichen mitteilen, dass sie nicht bereit war für die Ewigkeit. Aber dazu war sie nicht mutig genug. Sie hatte Angst, ihn so zu verletzten und auch davor, dass sie ihn verlieren würde. Angst aus Egoismus und das es eine solche war, wusste sie. Es machte ihr zu schaffen, doch sie fühlte sich machtlos sich selbst gegenüber.
Neferu nieste. Sie hoffte, dass es bei ihr nicht zu Fieber kommen würde.

Sie unterschrieb ein Abkommen mit dem Alchemisten Grabensalb und erhielt als Vorschuss einen schwachen Astraltrank. Großartig! Im Gegenzug gab er ihr eine Liste von Ingredienzien, die er aus der Brache brauchte.. Meteoreisen, rauchendes Braunöl, Spinnennetze, schwarzer Mohn. Zusätzlich als Beweis, dass sie im Stande war, auch wertvollere und seltenere Dinge zu bekommen, erhielt er als Vorgeschmack ihre Jadesteine, die sie schon seit Jahren in Gareth lagerte.
Sie eilte durch die Stadt, fragte bei Gesses Eisen- und Rüstwaren nach der Herkunft von Meteoreisen und zu guter letzt besuchte sie den Architekten Nerix Sandsteiner in Wallgraben, um mit ihm den Bauvertrag auszuhandeln und ihn beim Magistrat beglaubigen zu lassen. 3221 Dukaten wechselten durch die Festumer Handelsstube den Besitzer.
Ab jetzt war sie arm. Völlig arm!
Ein gutes Gefühl. Seltsamerweise. Ab jetzt konnte sie alles erreichen, denn sie hatte nichts. Bis auf einen funktionierenden Brunnen auf einem leeren, großen Weststadtgrundstück. Sie konnte sich etwas verdienen, von dem sie auch merkte, dass es einen Unterschied machte. Das erste Mal an diesem Tag lächelte sie, denn sie hatte etwas verloren. Es war seltsam, dass es gut tat.

Sie blickte schuldbewusst zu Zerwas, der sie zur Almada-Stube begleitete wie ein dunkler, prachtvoller Leibwächter. Sie sah seine wachsamen Augen auf ihr und der Umgebung, doch sie konnte in seinem Blick keine Liebe erkennen, denn sie war verborgen hinter einem unruhigen Geist, den er nicht nach außen weichen, nicht erkennen ließ. Stoisch schritt er voran, sprach über die Pferde, den Hof auf dem er arbeitete und über die Vergangenheit. Nie kam ihrer beider Zukunft über die Lippen – weder über seine, noch ihre.
Er scherzte auf seine aristokratisch-intellektuelle Art und gab ihr nonverbal zu verstehen, dass er sich gut fühlte, wenn sie bei ihm war – aber es war unverkennbar, dass sich auch unter seiner Oberfläche etwas zusammenbraute.
Phygius II entpuppte sich als junger Mann mit Augenglas, der Oliven liebte und aus dessen Taschen es bellte. Er ließ sich überzeugen, sie in die Brache zu begleiten, sofern man versprach, sich von schwarzen Türmen fern zu halten. Er erzählte, dass sein „Vormieter“ im Brachenturm ein Gildenbruder gewesen war, dem die täglichen Gefahren der Brache dann irgendwann doch den Gar aus gemacht hatten.
Er stellte seine offensichtlich chimärologisch erschaffene Belllilie Hassan vor und wollte Neferu am morgigen Tag am Blitzbaum treffen. Einige Stunden nach Sonnenaufgang.
Die Geschichten, die Phygius zum Besten gab und die Neferu mit Fragen anfachte, um dem Magier Interesse zu suggerieren, waren grotesk: Menschen die ins Wasser gehen wollten und magisch mit einem Hecht verschmolzen wurden, ein Bärwolfhai namens Hadrian, gefährliches Feuermoos und „unnette“ Hexen in der Brache. Der Mann war ganz eindeutig verrückt. Nicht wegen der Themen, die er auf Lager hatte, sondern wegen der Art, wie er sie vortrug. Fast leichtfertig… Eine traurige Kreatur, wie aus einer Tragikkomödie. Und der einzige, der ihr helfen konnte…

~

Den kommenden Morgen verbrachte sie mit letzten Vorbereitungen. Vom Artefaktmagier Erpelgrieb konnte sie ein kleines Windrad erstehen, das sich wild drehen würde, sobald sich etwas Dämonisches näherte. Es funktionierte allerdings nur ein einziges Mal. Ihre Tuchrüstung, um beweglich zu bleiben und nicht im Sumpf zu versinken, eine geweihte Waffe, Mondstaub, Steinsalz, Bannstaub, eine Decke mit einem Pentagramm… Sie ging alles noch einmal durch. Hatte sie etwas vergessen?
Mit Zerwas schritt sie in der aufkommenden Helligkeit zur Brache. Es fühlte sich gefährlich an, aufregend und vollkommen halsbrecherisch!
Neferu unterdrückte ein Zittern durch das Aufbeißen ihrer Kiefer.
An dem alten, gesplitterten Baum fanden sie Phygius, der bereits wartete.
Von überall her drangen Geräusche ohne ersichtliche Quelle auf sie ein, aus dem Augenwinkel schwankte knarrend etwas Baumelndes an einem Ast. Sie vermied genauer hinzusehen.
Ihr Weg führte sie auf einem Pfad entlang zu einem uraltem Boronsanger. Die Steine der Gräber waren bemoost und von Satinav ihrer Festigkeit beraubt worden. Viele bröckelten, andere waren zerbrochen.
Unschuldig. Stand da auf einem Grabstein. Einen Augenblick später etwas anderes: Travihilde 873 nBF.
Neferu gab sich alle Mühe, nichts von dem, was sie hier sah, besondere Bedeutung beizumessen. Innerlich sprach sie wiederholend zu sich selbst: Lass dich nicht täuschen, dir keine Angst machen. Es ist nur eine Illusion, um dir den Verstand zu kosten.
Da war auch ein Grab mit ihrem eigenen Namen… Schnell folgte sie der Richtungsangabe des Papiers, welches das Rätsel aufwies.
Hörner klangen durch den Nebel, Baumwesen griffen mit dürren Fingern nach den Eindringlingen, ein uraltes Pentagramm aus Steinen und Steinpilzen ließ sie sich orientieren.
Die Brache hatte ihre eigenen Gesetze, was die Zeit anging, es dunkelte gegen Mittag.
Ein Rauchfeld, undurchsichtig und beißend, raubte Neferu den Atem und die Sicht. Sie rief nach Zerwas, aber der antwortete nicht. Konnte es nicht. Er rang mit einer Kreatur..
..die urplötzlich verschwand, als sie einen Bärenschädel ertastete.
Der Schädel vom Rätselpergament…
Was war diese Brache nur? Eine Aneinanderreihung von Gefahren und unerklärlichen Phänomenen. Eine Brutstätte von allem, was den Zwölfen fern war.
Sie folgte stur den Richtungsangaben auf der Karte, ließ sich nicht locken und nicht rasten.
Überquerte eine absurd schöne Lichtung, ein Blumenmeer auf dem mitten darin eine goldene Statue des Götterfürsten stand.
„Mit blitzendem Stahle gegen finster Gezücht mit Schwarz gegen Schwarz, die Wahrheit vernichtet jedes Gerücht.“ Stand da in den nachtdunklen Sockel gemeißelt.
Mit Scheuklappen des Willens ausgestattet, ging sie vorüber, nach rechts. Ein Bach rauschte. Sie wurde schneller, als sie die drei Steine in seinem Bett wiedererkannte, die auf das Papier gemalt waren. Es konnte nicht mehr weit sein!
Der Wald wurde dichter, die wirren Äste niedriger. Sie bildeten ein Dach. Die Bäume wurde mit jedem Schritt, den sie zurücklegte bleicher…
Und dann erkannte sie auch diesen Hinweis: Das Knochenhaus!
Eine Tür führte hinaus.
Es war wie im Traum… In einem unnatürlichen Alptraum, in dem sich alles verformte und nichts fest stand.
Hinaus ging es auf eine Wiese blasser Tulpen in Menschengröße, die ihre Köpfe kränklich in den düsteren Himmel ragten.
Der Weg durch das Blumenfeld war lang und beschwerlich. Die absonderlichen Pflanzen wiegten sich, zwangen sich in die Wahrnehmung, wie eine Seuche breiteten sie sich aus. Wo eben noch keine gewesen war, wuchs eine Neue, die einen ohne Arme festzuhalten versuchte!
Phygius, Zerwas und Neferu bissen sich durch. Und irgendwann, außerhalb der bleichen Stauden erwuchs etwas anderes: Ein Felszacken mit silbernen Adern im Gestein.
Mit der Hilfe von Zerwas erkletterte sie den felsigen Finger und überblickte die Büsche. Dort sah sie in einiger Entfernung den See! Sie glich ab. Ja! Er ähnelte sogar der Zeichnung auf der Schatzkarte.
Neferu fühlte das Blut in ihren Ohren, ihre eiligen Füße hielt im Labyrinth aus Hecken in die Richtung, die sie für die Richtige hielt. Hinter ihnen wuchs der Weg zu einer verworrenen Mauer aus Dickicht…Und es wurde immer dunkler.
Bis sie an eine riesengroße Buche gelangten. Außer Atem – bis auf den Vampir – blickte sie in die Baumkrone hinauf. Die Wipfel schienen gesund und voller Leben. Da war sogar ein Rotkehlchen in seinem Geäst! Der mächtige alte Riese passte nicht in dieses verfluchte Land. Seine Blätter rauschten beruhigend in einem lauen Wind.
Und an seinen üppigen Wurzeln stand eine beschlagene Holzkiste.
Das Schloss war verzwickt, aber keine große Herausforderung.
Neferus Herz klopfte in aufgeregter Erwartung, als sie den Deckel aufklappte: Ein sauberes, weiches Handtuch lag darin. Die Stickerei verhieß, dass es sich um eines aus dem Seelander handelte. Darunter lagen eine leere Flasche Aquenauer Südhang und ein Paar schwarze Handschuhe mit dem Symbol des Listenreichen.
Ein sonniges Lächeln dominierte Nefs Mimik, als sie die Schätze begutachtete.
Sie zeigte sie Zerwas und auch er hob schwach einen Mundwinkel.

Als sie gegangen waren und die Hexe zurückblickte, war da nur der vom Blitz zerstörte, uralte Baumstumpf. Vom einstigen Leben in seinem mächtigen, sattgrünen Geäst war nichts mehr zu sehen und auch der Vogel war fort.

~

Salpico analysierte die Gegenstände. Handtuch und Weißweinflasche waren definitiv nicht magisch und lediglich Hinweise auf einen Ort: Den Seelander.
Die Handschuhe hingegen waren anderer Natur. Im dünnen, schwarzen Leder war Magie schwach verwoben. Astrale Spuren, die unter das Hotel führten, das sie ohnehin schon verdächtigt hatte, der nächste Schauplatz der phexischen Schnitzeljagd zu sein.

Bevor sie dem nobelsten der noblen Etablissements einen Besuch abstattete, tauschte sie die Ingredienzien, die sie in der Brache gefunden hatte bei Grabensalb ein.
Sie wollte sich ohnehin Zeit lassen. Die Brache hatte sie ausgelaugt. Neferu entschied, den Seelander gleich um einige Tage zu verschieben.
Wichtiger war ohnehin, sich mit Zerwas auszusprechen. Er war Jahre fort gewesen und sie hatte weitergelebt. Sie war nicht glücklich gewesen, aber das Rad der Zeit hatte sich gedreht.
Den ganzen Tag streunte sie durch Gareth.
Sie zeigte Phexdan die Grundlagen des Strickens, kümmerte sich um das Fohlen Elster, sah bei ihrer Freundin Duridanya vorbei, ließ Phexdan die Seele Dajins prüfen (wider erwarten war der Affe keine Kreatur der Niederhöllen) und nachdem sie den Stadtadvokaten TeGuden bei Sonnenuntergang nach Hause verfolgt und ihn einige Momente bespitzelt hatte, kehrte sie „Zuhause“ in Rosskuppel ein.
Zerwas wartete, starrte aus dem Fenster der Dachwohnung. Er hob den Kopf als sie kam. Ihrer beider Blicke verrieten, dass sie reden mussten.
Bis nach Mitternacht saßen die zwei Alterslosen beisammen.
Sie sprachen über die Bedeutung eines langen Lebens und über ihre Ziele.
Zerwas war die Unsterblichkeit gewöhnt. Er hatte ein Meer von Möglichkeiten und bisher war er an der Küste geblieben und nur deshalb erschien ihm diese unendliche Zeitspanne trist und grau. Neferu hingegen war noch mitten drin im menschlichen Leben. Die Ewigkeit hatte noch keine Spuren an ihrem Gemüt, ihrer Seele hinterlassen. Sie war gewöhnungsbedürftig für ihn in ihrer Menschlichkeit mit ihren menschlichen Gewohnheiten und Bedürfnissen. Er sprach aus, was an ihm nagte. Jahr für Jahr schien alles, was er tat, weniger Freude zu bereiten. In Trallop hatte er Männer (vermutlich großzügig) bezahlt, damit sie seinen Schatz aus dem Versteck in Greifenfurt bargen. Seine Unsummen, die da hinter der unsichtbaren Tür warteten. Er wollte das Geld investieren, für einen Zweck der Boronkirche. Neferu verstand nicht vollständig, was er vor hatte, aber sie war froh, dass er etwas verfolgte, das seiner Existenz einen weiteren Sinn gab. Einen guten Sinn, im Dienste eines der Zwölfgötter. Die Hexe konnte nicht anders. Sie musste in seinen Geist eindringen.
Sie hatte erwartet, dass sie an seinem Willen brechen würde. Dass er sie nicht durchlassen würde.
Aber es ging verhältnismäßig leicht, einen Blick zu erhaschen: Ein Häuschen im Horasreich, am Wasser gelegen. Ein Geldsack war auf dem Schild abgebildet. „Horas d’Or“ konnte sie lesen. Dann änderte sich das Bild und mehrere fein gekleidete Männer saßen in bürokratischer Manier beieinander in einem dunklen Raum. Männer einer Stiftung… Dann brach das Bild ab. Er fixierte sie. Sicher hatte er gemerkt, dass sie in seinen Kopf eingebrochen war. Doch er sagte nichts dazu, vielleicht hatte er es sogar absichtlich zugelassen.
Sein kühler Humor, die ruhige, bodenständige Art beeindruckten sie, wie es auch damals gewesen war.
Wenn er etwas für sie tat, hatte sie nie das Gefühl, dass er eine Gegenleistung erwartete. Und trotzdem.. Diese Art von Gefühlen reichten nicht. Und auch er zweifelte, wie sie feststellte. Ihrer beider Liebe war verjährt. Waren zu einer schönen Erinnerung aus Greifenfurt geworden. Zerwas‘ Ziele waren ein gewisses Maß an Macht und ein Denkzettel für Greifenfurt. Was waren ihre Ziele? Sie wollte sich etwas in Gareth aufbauen.. irgendetwas. Wie sollte sie das spezifizieren?
Es war nicht greifbar. Aber sie wusste, dass ihre Zukunft in Gareth lag. Wenigstens ihre nahe Zukunft.
Und jedes seiner Worte ließen sie erkennen, dass sie seine Stärke überschätzt hatte.
Der Verlust des Schwertes hatte eine tiefere Wunde geschlagen, als dieser stolze Mann preisgegeben hatte. Zurückgelassen hatte Seulasslintan einen unsterblichen Mann, der verunsichert war, der sich selbst nicht traute und sich nicht einmal wagte, sich einer Frau zu nähern, aus Furcht unkontrollierbar und unberechenbar zu werden.
Er hatte sich die letzten Wochen zurückgezogen. Er blieb lieber allein, erstickte im Keim schon jede aufkommende Leidenschaft und jedes forsche Gefühl.
Es tat Neferu weh, diesen einst so starken Mann so zu sehen. Es überkam sie der Wunsch, für ihn da zu sein, ihm zur Seite stehen. Sie wollte ihm helfen, sich selbst wiederzufinden.
Aber als Geschöpf des Gefühls wusste sie, dass sie ihm kein großer Nutzen sein würde und dass sie diese stoische Zurückhaltung wohl nicht lange würde ertragen können.
Und deshalb riss sie sich zusammen und überließ ihn sich selbst. Es war am Besten so.
Er – ursprünglich eine leidenschaftliche Kreatur – musste seine Selbstkontrolle perfektionieren, um die Kraft zu erlangen, wieder zu sich selbst zu finden.
Sie begrub den Gedanken, anknüpfen zu müssen, denn sie hatte verstanden, dass sie ihm die Sicherheit, die er brauchte nur geben konnte, indem sie bald schon getrennte Wege gingen.

~

Das Gespräch mit Zerwas klang in ihren Gedanken nach, als sie Tage später endlich zum Hotel Seelander ging.
Die Hintertür kam ihr Recht. Und ebenso der Fakt, dass Parel sich bis in dieses außergewöhnlich teure Hotel hochgearbeitet hatte.
Vor vier Jahren hatte er noch einige warme Mahlzeiten im Lowanger-Greiber-Waisenhaus bekommen, jetzt war er mit seinen fünfzehn Jahren fast raus aus den Kinderschuhen und steckte in einer geregelten Arbeit.
Und das im Seelander! Sie fühlte Stolz. Er war zwar nur für minderwertige Aufgaben verantwortlich, aber das im Seelander! Ihre Gedanken konnten es nicht oft genug wiederholen. Er war ihre Eintrittskarte. Mit seiner Unterstützung – auch wenn er erst intensiv überredet werden musste – konnte sie unbemerkt in den Keller gelangen.
Zuerst schien der Keller unscheinbar. Er hatte gewaltige Ausmaße und war randvoll mit Wein in Kisten, Fässern, Fässchen und Flaschen.
Die größten Fässer lagen auf ihrer Seite und hätten sicher einer kleinen Familie Platz geboten, wenn sie sich zusammengekauert hätten..
Auf einem der Fässer prangte: Aquenauer Südhang.
Hinter diesem erstaunlich leichten Fass für dieses enorme Ausmaß verbarg sich ein undeutliches Wandrelief im Stein. Einige Symbole waren da in den Backstein graviert, andere standen hervor.
Ein Sichelmond war darunter. Und das Drücken seiner Form öffnete einen schmalen Gang…

[1][2][3][4][5][6][7]