Der Puls der Stadt

Gareth 12 (Neferu) (FIR 1013)

Als sie wieder zu sich kam, war Neferu die ersten Momente nur träge in der Lage, ihre Situation zu erfassen.
Es war dunkel, kalt und nass. Sie lag auf dem Boden, nicht ausgestreckt, sondern zusammengerollt. Der klamme Untergrund der Kanalisation hatte sich frostig-feucht unter ihre Kleidung geschlichen und ihre Hände und Füße waren eiskalt. Modriger Gestank benebelte ihren Geruchssinn.
Da waren Laute, die bedrohlich schmatzend in ihre Wahrnehmung huschten und ihr einen Schauer verpassten. Es war so furchtbar düster, nur Schemen waren zu erkennen, selbst wenn man die Augen zukniff.
„Neferu?“
Sie hob mühsam, noch immer benommen den Kopf. Direkt neben ihr stand Phexdan, in breitbeiniger Verteidigungsposition. Er flüsterte nur.
„Es liegt ein Schutzkreis um uns herum. Die Ghule können nicht zu uns. Noch nicht…“
Ach ja. Die Ghule. Sie war besinnungslos geworden.
Welch vorbildliche Phexgeweihte sie doch war. Nicht einmal in der Lage, die schwarzen Punkte der Ohnmacht zu verdrängen, die einem vor den Augen tanzten, ehe man aufschlug.

Sie appellierte an ihre Selbstbeherrschung und stemmte sich auf die Beine. Zuerst noch etwas wackelig in den Knien, dann in festem Stand.
„Was machen wir jetzt?“ murmelte sie, aber ohne eine Antwort von Phexdan zu erwarten. Sie ließ wie zur eigenen Antwort die Blicke schweifen. Es war nicht einfach, etwas zu erkennen, aber bei einem war sie sich sicher: Kaum eine Armlänge von ihr entfernt sickerte in einem aus Steinquadern gebauter Kanal das Wasser durch die Unterstadt, das den Müll der reichen Städter nach sonstwo beförderte. Abfall und Verlorenes schwamm da unfreiwillig im brackigen Wasser. So auch ein Ast… Ein recht stattlicher Ast, wie man zugestehen musste. Die Vergangenheit des Holzes würde voraussichtlich für immer ein Rätsel bleiben, aber nicht unbedingt seine Zukunft.
Die rote Hexe fasste ihren Mut und griff beherzt aus dem sicheren karmalen Kreis heraus nach dem Holz.
Es war recht frisch und nicht morsch und verhieß eine Möglichkeit, den widerlichen Kreaturen der Unterstadt Gareths heilen Leibes zu entkommen.
Sie hielt den kräftigen Stock in beiden Händen, fokussierte ihre Gefühle, projizierte ihren Zorn und Gewaltbereitschaft in die künftige Waffe und warf sie in die Richtung des Schlurfens und Kratzens. Aggressiv belebt, schlug der Radau unkaputtbar um sich, verdrosch die weißäugigen Ghule, von denen wenigstens einer mit zermatschtem Schädel sein Ende fand.
Die anderen zwei prügelte der Stock auf nimmerwiedersehen durch die unterirdischen Gänge, bis er außer Reichweite des Blickes der Hexe lauthals zu Boden fiel.
Zurück kamen die Menschenfleischfresser trotzdem nicht.
Durchatmend wagten sich die zwei aus ihrem phexgesegneten Kreis.

Unbehelligt legten sie in der Finsternis ein Stück Wegstrecke zurück, das in etwa der bereits Gegangenen entsprach. Beide schwiegen, viel vorsichtiger und leise atmender als zuvor.
Nef war schwer erleichtert, als sie beide den Tunnel erreichten, den sie als Hauptabschnitt erkannte. Sie wusste jetzt, wo sie war und wo sie hin wollte.
Sie bogen in einen schmalen Gang, der nach oben führte. Die Wände verloren an Algen und Feuchtigkeit.
Die vermeintliche Sackgasse an der Neferu schon einmal gewesen war, täuschte sie nicht mehr, wusste sie doch, was sich Wunderbares dahinter befand: Ein Einsprengsel des Phex. Eine Notunterkunft, ein Schrein zum Beten. Sie entfernte vorsichtig die Holzvorrichtung und führte Phexdan in die kleine runde Kammer.

In ihrem Kopf hatte sie übertrieben. So heilig und einem Schrein sehr ähnlich war es dort gar nicht. Zumindest nicht im Ansatz so wie es als Eindruck in ihr zurückgeblieben war.
Soviel Platz war auch gar nicht in der winzigen Kammer. Der runde Grundriss war ausstaffiert mit einer Strohmatte, einer alten Wolldecke und einer Feuerschale, in der tatsächlich Glut geschürt wurde. Die Decke war sehr hoch, dass man das Gefühl hatte, sich in einer senkrechten, steinernen Röhre zu befinden, in deren Wände allerlei Nischen, verborgene und offensichtliche, getrieben worden waren. So lagen dort Dietriche, ein Satz einfache Kleidung, ein Klumpen Weihrauch und ein kurzes Seil.
Dominiert wurde der Ort des Rückzugs von einer silbernen, aufrecht stehende Fuchsstatue, die eine ebenso silbrige Schale in den Vorderpfoten hielt.
Diese Statue musste das Gefühl von Heiligkeit das letzte Mal bei ihr ausgelöst haben. Dieses Mal aber war sie viel zu müde. Das musste noch von dem Schwächeanfall kommen, gestand sie sich peinlich berührt ein. Phexdan sah sie allerdings nicht schadenfroh und neckend an, sondern ruhig und abwartend.
Sie legte ein Silberstück in den Opferstock und setzte sich im Schneidersitz auf die Decke.
„Komm..“ forderte sie ihn auf. „Wir müssen reden. Wirklich reden, über alles. Eine Aussprache. Das haben wir noch nie getan.“

Gareth 11 (Neferu) (FIR 1013)

Das Wetter an diesem Wintertag war ohnehin nicht wolkenlos und heiter genug, als dass es sich gelohnt hätte, Obertage seine Zeit zu verbringen.
Ein Gedanke, den Neferu so oder so ähnlich fasste, als sie durch die feuchte Kälte der Garether Kanalisation wanderte, in die sie der Schacht über eine rostige Stiege in die Tiefe geführt hatte.
Dicht an ihrer Seite bewegte sich Phexdan, sie hörte seine Kleidung rascheln.
Und obwohl sich beide bemühten ihre Geräusche zu dämpfen, tat das Echo, das auch geminderte Laute auffing und zurückwarf, sein Übriges.
Beide bewegten sich in fast vollständiger Finsternis durch die lichtlose Ader, die sich unter der Hauptstadt des Mittelreiches erstreckte.
Er behalf sich mit der Liturgie ‚Auge des Mondes‘, während sie ihre Sehfähigkeit mit der Macht einer Satuarienstochter verbesserte: Ihre Augen waren nun die einer Katze.
Die schmalen Pupillen ließen sie wenigstens die Konturen der fremden Umgebung ausmachen.

Der Gang vor ihnen war von halbrunder Form, einst errichtet aus abertausenden gebrannten Ziegeln. Es troff und tropfte von überall her; ein unregelmäßiges Konzert des Grundwassers.
Wenigstens konnte sie kein Rascheln oder Quieken in nächster Nähe hören. Der Gedanke an wimmelnde Leiber huschender Nagetiere verpasste ihr eine unschöne Gänsehaut.
Mittig zog sich träge ein breites Rinnsal dunkler Brühe in dem der Abfall gärte, das zum großen Teil wegen der schlechten Sichtverhältnisse und des Verwesungszustandes nicht näher hätte definiert werden können. Sie hatte ohnehin keine große Lust den Müll der Städter zu analysieren.

Diese unterirdische Welt, in die sie gemeinsam eintauchten war so befremdlich still, dass sie trotz des Dranges leise vorzugehen nach kurzer Zeit miteinander flüsterten.
Sie erzählte ihm von dem Rätsel, dessen neueste Spur sie in der Weststadt am Giebel eines Hauses gefunden hatte.
Von ihrem, wie sie vermutete, nötigen Einbruch in die Archive Störrebrandts.
Und ebenso von ihrem Bestreben, so rasch wie möglich – doch natürlich ohne überhastet vorzugehen – eine große Menge Gold zu erbeuten. Sie hoffte, dass sie mit Hilfe der kleinen Schnitzeljagd auf etwas stieß, das sich zu Dukaten machen ließ.
Ihre dunkle Stimme wisperte nur und dennoch schien sie den gesamten Untergrund zu erfüllen, der die Laute der Oberstadt nicht gewohnt war und jedes Gehör sensibilisierte.
Eine seltsame Unruhe hatte die Stadthexe ergriffen, doch sie wusste, dass es nicht die Unterstadt selber war, die sie so aufwühlte.
Es war die Gegenwart Phexdans. Und nur Phexdans. Sie beide waren völlig allein dort unten. Hatten nur sich. Waren aufeinander angewiesen.
Und es war nicht so, dass sie sich bei ihm in Gefahr oder schlecht aufgehoben gefühlt hätte. Im Gegenteil. Seine Anwesenheit gab ihr die Sicherheit, dass es ein ungewöhnlicher Spaziergang war, den sie da unten in den Tiefen veranstalteten.
Und trotzdem sprach sie nur über Pläne und Ziele. Als wären sie beide Geschäftspartner.
Für Phex ist alles ein Geschäft, so hatte man es ihr oft gepredigt. Und auch wenn Phex Vespers Herr, ihr Mentor, ihr Gott aller Götter war, so fand sie in ihrem Hexenherz kein Platz für diese Richtlinien in Belangen des Gefühls.
Emotionen waren nie ein Geschäft.
Man konnte sie nicht eintauschen, verkaufen oder überzeugen, nicht blenden oder hintergehen.

Phexdans Lippen bewegten sich. Er antwortete ihr, doch sie hatte nicht zugehört. Sie hörte sein gewitztes Lächeln, auch wenn sie es in der Schwärze nur erahnen konnte.
Irgendeinen Ratschlag hatte er ihr wohl gegeben. Oder er hatte sie geneckt.
Wie lange waren sie schon dort unten? Als sie den Kopf nach hinten wandte, konnte sie keinen Lichtpunkt mehr erkennen.
Der Gang ging weit geradeaus. Er bog nie ab sondern verlief als gerader Kanal immer strikt nach vorn..

Wie oberflächlich sie mit ihm gesprochen hatte. Von Geld hatte sie geredet.
Zu gerne hätte sie mit ihm gesprochen, anstatt nur zu reden. Sich ausgesprochen, sich Luft gemacht.
Obwohl es Zerwas war, der irgendwo da draußen auf sie wartete, der einfach anknüpfte an vier verlorene Jahre, der Ewigkeit versprach und Beständigkeit, trotz all dem war sie hier unten mit Phexdan.
Und je näher sie den Kerngedanken einkreiste, desto deutlicher Manifestierte sich die Erkenntnis, dass sie Phexdan absichtlich separiert hatte.
Sie hatte ihn nach hier unten gebracht, damit sie beide die Einsamkeit uralter Gemäuer miteinander teilen konnten.
Damit sie zu Atem kommen konnten, damit die Zeit kurz anhielt.

Sie spürte Phexdans gleichgroße Gestalt direkt neben sich, auch ohne zu seinen Umrissen hinüberzusehen. Ab und zu berührten sich versehentlich ihrer beide Schultern. Sein Leib, seine vertraute Aura war so nah. Und trotzdem war alles nur noch ein Geschäft unter Kollegen.
Sie hörte die Schritte der Füße, im gleichen Takt und…

Was war das? All die letzten verstrichenen Augenblicke hatten sie eingelullt in die fast gleichbleibende Geräuschkulisse der nassen Tiefen. Und jetzt…
Links und rechts ragten zwei große runde Zylinder in die breite Kanalisation.
Vergitterte Abflüsse zu beiden Seiten, aus denen es leise plätscherte.

Einer der runden, steinernen Abflussschächte war nicht gänzlich durch rostige Eisenstäbe versiegelt. Schief hing das Gitter in schon lange gebrochenen Angeln.
Ein fast mannshohes schwarzes Loch führte in die Tiefe.
Und da war dieses Schaben und Schlurfen…
Und dann sahen sie es beide:
Kreaturen krochen zuerst scheu und neugierig, dann grotesk wild auf sie beide zu. Das Schaben wurde lauter, schneller..
Das waren keine Menschen.
Neferu wich zurück, ebenso Phexdan.
Gieriges Schmatzen und niederhöllisches Fauchen wurde von der runden Decke zurückgeworfen und erschwerte die Lokalisierung der Angreifer, die die Phexgeweihten huschend umzingelten.
Waren es zwei…? Drei oder vier?
Phexdan und Neferu drückten sich Rücken an Rücken. Sie zog hastig ihren Dolch, auch wenn sie immer noch nicht hatte erkennen können, was bei den Zwölfen sie da angriff.
Ein lautes Platschen zerriss den Gleichklang der Töne, als eine der Kreaturen den mittigen Kanal überwand.
Nur ein Augenblick später wurde die rote Hexe seiner ansichtig: Ein nacktes, sehniges Geschöpf, das dämonengleich auf allen Vieren kroch. Die langen, messerscharfen Klauen an Händen und Füßen kratzten schwarz über den Stein. Das Maul öffnete sich zu einem Schlund mit drei Kiefern, alle zähnebewehrt, als es sie aus toten, runden Augen bösartig anstarrte.

Sie merkte nur noch, dass sie schwindelig taumelte und gab in einem Gedankenstoß ihrer miesen Konstitution, ihrer Bluarmut die Schuld.
Sie musste dringend etwas gegen ihre nahezu trockengelegten Adern tun.
Dann verdrehten sich ihre Augen, als ihr innerlicher Fluch jäh abbrach. Es wurde schwarz und Ohnmacht umfing sie.

Gareth 10 (Neferu) (FIR 1013)

Phexdan kam diese Nacht nicht nach Hause.
Dafür aber der Vampir, der seinen unstillbaren Durst in der Dunkelheit an etlichen Garethern gestillt hatte, die sich zu später Stunde aus dem Haus gewagt hatten.
‚Von jedem nur ein Schlückchen‘ war seine neue Devise, um den Schaden für den Einzelnen zu minimieren, auch wenn die Jagd durch diese löbliche Entscheidung in die Länge einer ganzen Nacht gezogen wurde.
Er hatte sich zu ihr gelegt und das neue Blut, das er seinen Opfern entzogen hatte, tat seine kurzfristige Wirkung: Er war warm.
Sie fröstelte dennoch, als sie aus einem traumlosen Schlaf erwachte.
Die Dachkammer in der ‚Smaragdnatter‘, die sie teilten, war wenig gedämmt, aber immerhin waren sie alle zusammen. Zumindest in der Regel. Sie späht widerwillig hinüber, zu Phexdans leerem Bett und erhob sich mit morgendlicher Unbeweglichhkeit.

Ihr erstes Ziel war der Pentagontempel der Hesinde. Er lag gewissermaßen um die Ecke.
Auf den Blutulmen des fünfseitigen Platzes lag der Raureif eines Wintermorgens. Kalt und neblig erschien Gareth auch wenn sich allerorts kleine warme Lichter durch den Dunst brachen. Rohal selbst sollte diese Bäume gepflanzt haben, diese Mär kannte sie als gute Garetherin.
INITIUM SAPENTIAE FIDES HESINDIAE stand da in Silberlettern über dem Torbogen. Hätte Zerwas, der des Bosparano mächtig war, ihr nicht mitgeteilt, wie die Übersetzung lautete, wäre sie voll Unwissenheit über die alte Sprache an der Übersetzung des Sinnspruchs kläglich gescheitert: Der Anfang aller Weisheit – das Vertrauen auf Hesinde.
Neferu blieb mehrere Stunden in den Hallen des Wissens, im Sternensaal der weisen Göttin.
Einerseits hielt sie nach Helke Borgian Ausschau, der Schlangenhexe aus dem Südquartier. Doch von der Frau war nichts zu sehen.
Zum Zweiten suchte sie. Nach Informationen. Bezüglich der Ingredienzien, die sie für den Alchemisten Grabensalb besorgen sollte und ebenso nach solchen, die mit dem Rätsel zu tun haben konnten, das sie und Zerwas im Dachfirst der Weststadt gefunden hatten.

AKTE 2098-031,REG.:BO,
1007 BF (SOLDLST. BEWACH. WAGENZ.) STB

Aber nichts. Zumindest zu Letzterem. Sie hatte eigentlich nichts anderes erwartet, aber das Ausschlussverfahren hatte ihr auch in der Vergangenheit gute Dienste erwiesen. Also half es nichts: Um der Spur zu folgen und zu entschlüsseln, was sie da entdeckt hatte, musste sie wohl oder übel bei Störrebrandt eindringen und in seinen Akten lesen…

Gegen Mittag trugen sie ihre Schritte, wie immer eilig und lang, damit niemand auf die Idee kam, sie aufhalten zu wollen, ins Südquartier.
Ihre größte Investition wartete und reifte da in den Schatten der überhöhen, schiefen Gebäuden der Ärmsten und Gescheiterten.
Das Lowanger-Greiber-Waisenhaus beherbergte über ein Dutzend verlassener Kinder, die vermutlich alle einen diebischen Hintergrund hatten. Denn anders hätten sie so allein in
Eschenrod niemals solange überlebt, bis sie gefunden worden oder selbst gekommen waren.
Dann und wann kehrte Neferu ein und sprach mit Mutter Harina, der Travia-Geweihten, die sich um die Verlorenen sorgte. Neferus Interesse war nicht einzig gutmütiger und selbstloser Natur. Natürlich identifizierte sie sich mit all den schlecht angezogenen und rotznasigen Kindern, die auf der Straße niemanden gehabt hatten, der sich darum scherte, ob sie lebten oder starben.
Gleichermaßen aber brauchte sie ein Netz. Und die phexgeweihte Auelfe Nith Mondklinge, ihre eigene Mentorin aus der Seilerei und der Taverne „Mondklinge“ hatte es in der Vergangenheit vorgemacht: Die formbaren Jüngsten waren die rechten Hände, die Ohrenflüsterer und Türöffner von Morgen.
Sie hatten einen möglichen magischen Siebenjährigen namens Kuliff. Neferu notierte sich das Alter und den Namen nickend, mit dem Vermerk: Salpico
Außerdem war da die elfjährige Efferdlieb. Von gerechter Natur und furchtlosem Wesen, war sie halbtot und ohne Erinnerung gefunden worden. So hatte sie ihren Namen erhalten.
Schlau sollte die kleine Efferdlieb sein und fingerflink. Die rote Hexe unterstrich sich den Namen des Mädchens. Doppelt.

Gedankenvoll und langschrittig führte ihr Weg sie zurück ins Innere der Stadtmauern von Gareth.
Sie musste innerlich gestehen, dass sie – ein Kind der Gosse – sich selbst mittlerweile in Alt-Gareth wohler fühlte, als in den engen, schmutzigen Gassen der Vorstädte.
Der Blick starr und glasig vom kalten Wind, bemerkte sie Phexdan nicht, der ihr zwischen den Häusern hindurch und an ihren Wänden entlang, folgte.
In der Smaragdnatter angelangt, war niemand da. Zumindest niemand, der für sie Bedeutung gehabt hätte.
Das Zimmer sah leer aus mit drei verwaisten Betten.
Aber was war das?
Auf ihrem Bett lag ein Körbchen. Darin dunkle Erde und zwei Gewächse. Das eine erkannte sie: Es war Efeu. Das zweite… kleinstköpfiger Salat?
Neferu runzelte die Stirn, die Pflänzchen auf ihren Schoß hebend.
Darunter lag ein Buch. Es titelte: Manieren für Männer
Ihre Verwunderung wich dem Drang, das Geheimnis einer jeden auf den ersten Anhieb nicht ganz schlüssigen Tat, lüften zu wollen.
Sie blätterte in dem Büchlein, während ihre langen Finger die zweifach geringte Phexkette um ihren Hals ziellos betasteten.
Es standen viele Pflanzen in dem Buch, ebenso wie ihre Bedeutungen.
Ganz unzweifelhaft, wollte Phexdan ihr mit diesen zwei Grünlingen etwas mitteilen. Diese Aktion roch ganz eindeutig nach Phexdan.
Und da war es auch schon.. Efeu.

Efeu als Sinnbild für Liebe, Freundschaft und Treue
Wer eine Efeupflanze verschenkt, der bekräftigt die Verbindung und Freundschaft mit einem anderen Menschen. Kein Wunder also, dass auch Verliebte gerne die Pflanze mit den teils herzförmigen Blättern verschenken, denn Liebe ist stärker als der Tod.

las sie und drückte die Lippen aufeinander. Ihr Gefühl hatte sich noch nicht eingependelt und vermischte in ihrer Brust Missmut und Wohlwollen.
Sie schlug das Buch zu und warf es auf Phexdans zerwühltes Bett, als hätte es sie gebissen. Sie war nicht mehr bei Laune auch das zweite Gewächs nachzuschlagen.
Aus unerfindlichen Gründen wütend, erhob sie sich forsch.
Als ihr Blick zur Tür ruckte, stand da Phexdan. Er lehnte seelenruhig im Türrahmen, als hatte er schon immer da gestanden.
Ein feines, füchsisches Lächeln lag auf seinem jungenhaften Gesicht, dessen Bart in Kraut und Rüben wucherte. Charmant zerzaust stand das Haar in wild-unbändigen Wellen kurz von seinem Kopf ab.
„Na?“ begrüßte sie die mitteltiefe Stimme des Phexgeweihten. Als wäre er nicht die ganze Nacht ohne ein Zeichen auf Leben fort geblieben.
Und obwohl sie dieser Umstand in einer schmerzlichen Art enttäuscht zürnte, überwog die Erleichterung, dass er wohlbehalten und frech wie eh und je vor ihr stand.
„Du wolltest mir immer noch die Seelenprüfung zeigen.“ etwas anderes fiel ihr gerade nicht ein, außer dieser Wunsch, diese spaßhafte Forderung, dass er ihr zu Diensten sein sollte.
„Ich habe im Übrigen etwas entdeckt..“ fügte sie geheimnisvoll hinzu. Sie wollte sich interessant machen, warum, das wusste sie nicht.
Sie fragte ihn nicht, wo er all die Stunden gewesen war, sondern nutzte die Gelegenheit, ihn zu verletzen, wie er sie verletzt hatte.
Ein ewiges Hin und Her.
Sie führte ihn zum Traviatempel, nicht ohne Andeutungen. Phexdans Gesicht blieb schwer einzuschätzen, wie immer. Sicher erwartete er, dass es sich ohnehin nur um einen rachsüchtigen Scherz ihrerseits handelte. Wozu die Rache war, war unerheblich. Es war soviel Ungünstiges zwischen ihnen passiert, dass es mittlerweile für kleine Sticheleien mehr als genug Raum gab.
Der Halbmaraskaner ging an der Seite der Halbtulamidin hinter den Tempel der Göttin der ehelichen Treue, des anheimelnden Herdes und der Familie.
Schnell huschten ihre Augen prüfend umher, ehe sie den Schacht im wenig einsichtigen Hinterhof öffnete.

Den Geheimgang in die Unterstadt, den Weg in die alte Kanalisation…

Gareth 9 (Rahjard) (ING 1013)

Wohlig seufzend legte der Südländer seinen Kopf in den Nacken und versank noch etwas mehr in seinem Zuber. Die letzten Wochen hatten ihm alles abgerungen und er hatte gar das Gefühl, dass er das letzte Bad vor der Belagerung von Greifenfurt genommen hatte. Den Händler hatte er zufriedengestellt und in seinem Geldbeutel fand er wieder Dukaten vor statt Fliegen. Besser noch: Ausnahmsweise musste er diese Münzen nicht für eine Dirnenschar aufbringen. Er konnte wohl, aber es war ihm fad geworden nach Ausreden zu suchen, warum er, der aus seiner Familie herausragende, sich dem Beischlaf ständig verwehrte, gleich wie ansehnlich oder billig, willig seine Gegenüber auch war.

Doch auf ein Rahjawunder brauchte er sicherlich nicht zu hoffen.

Schon bei den Amazonen hatte er behauptet, dass er verheiratet wäre. Sie hatten ihm geglaubt – und zum Glück ebenso wenig Nachfragen gestellt, wie seine Gefährten auf der letzten Reise. Sie, diese Vagabunden, die keinen Sinn ergaben und bei denen er froh war, dass er sie länger nicht würde sehen müssen. Hoffentlich. Ansonsten blieb die vage Hoffnung, dass er dem nächsten König nicht inmitten der eigenen Fäkalien begegnen musste. Fenvarien und Yppolita hatten also etwas gemeinsam, mit Efferdan. Efferdan, dem Herrn über das großartige, reiche, stinkende und langweilige Andergast. Es hatte etwas eigenartiges an sich, dass lediglich der nostrische König sich dieser Auflistung entzog und mit Etikette glänzte.

Der nostrische König.

Einen Augenblick betrachtete er die gegenüber liegende Seite des Zubers. Vielleicht sollte er doch in Nostria sesshaft werden, immerhin war er mit der Königsfamilie vertraut und hatte die Möglichkeit es dort sicherlich bis nach oben zu bringen oder eine andergastsche Armee im Alleingang auseinanderzunehmen. Es würde sicherlich Lieder über ihn geben und man würde ihm in tausend Jahren noch huldigen, der Heilige Richard von Nostria. Ein schöner Gedanke, wenn er nicht mit dem Problem verbunden wäre, dass man anschließend in Nostria säße. In Nostria.

Nostria. Das Land, wo sie hohler waren als die Steineichen, die sie hackten…

Ein weiterer Seufzer verließ seine Lippen.

In Gareth hingegen erwartete ihn dagegen sicherlich nur Arbeit, gesucht oder aufgedrängt. Doch der Vorteil war, dass er sich waschen konnte, ihm die Welt offen stand und er eben nicht in Nostria saß. Allerdings würde er, ehe er sich zu häuslich niederließ, noch einmal zu den Geizhälsen aus dem Bornland müssen, um seine Sachen abzuholen. Elendige, geänderte Bedingungen zur Lagerung seiner Sachen machten es ihm unmöglich, sie länger dort zu behalten. Außer er wollte sich verschulden oder mit ansehen, wie sie es höchstbietend versteigerten, all das, was er in den letzten Jahren an Besitztümern zusammenbekommen hatte.

Vieles war es nicht, aber wertvoll. Nicht alles geeignet, um es dauerhaft bei Asleif zu belassen und bei seiner Schwester schon gar nicht. Die biestige Shantalla scherte sich schließlich nur um eine Person – sich selbst, und vielleicht ihr eigenes Spiegelbild. Einen Moment stockte der vermeintliche Bukanier. Musste es an dem Ort und der größten Stadt Aventuriens, wo es nachweislich eine Paligan gegeben hatte, das wusste er, er hatte sie schließlich bestohlen… musste es dort nicht auch einen Teil der eigenen Familie geben? Immerhin gab es selbst in Mhanadistan einen Onkel.

Falls nicht, wäre das aber auch nicht schlimm, die Herbergen waren schließlich annehmbar und irgendeinen Lagerraum, der in irgendeiner Form bewacht wurde, würde sich schon finden lassen.

Sollte er sich irren oder nicht fündig werden? Nun, so stand ihm doch immer noch Nostria offen …

Nostria.

Gareth 8 (Neferu) ( –––)

Die Räumlichkeiten der Smaragdnatter beheizten ihren durchgefrorenen Körper, das ungewöhnliche Bild ihr Herz:
Vereint besetzten Salpico, Zerwas und Phexdan einen der Tische. Phexdan lümmelte halb liegend auf der Bank, während Zerwas sich mit brütender Miene über ein Schriftstück neigte.
Sie wünschte sich, dass es diese Eintracht immer gab, wollte den Anblick noch einen Augenblick länger ungesehen genießen.
Der Schankraum war an diesem Abend nur halbvoll. Sie trat einen Schritt zur Seite in den tiefen Schlagschatten der Ecke einer vorspringenden Wand und blickte stumm und reglos zu den drei Männern hinüber. Salpico neigte sich zu Zerwas, sie unterhielten sich. Der kleine maraskanische Koboldmaki Dajin hatte es sich auf Phexdans Zauskopf gemütlich gemacht, filzte lausend die kurzen Strähnen.
Die drei Männer an einem Tisch, die in ihrem Leben bisher eine Rolle gespielt hatten – bis auf den Rondrageweihten.
Phexdan, Vespers erste große Liebe. Der Mann dem sie hinterhergelaufen war, um nie ganz bei ihm anzukommen. Der in einem umnebelten Geheimnis lebte und sie außen vor ließ. Den sie besser von weitem liebte, damit er sie nicht mit seiner einzelgängerischen Auffassung einer Liebesbeziehung traurig machen konnte oder sie mit seiner stürmischen Gedankenlosigkeit überrumpelte. Er hatte nie ganz verstanden, warum es mit ihnen zweien nicht funktioniert hatte. Trotzdem waren seine offenen Arme immer da gewesen, wenn sie ihn gebraucht hatte.
Salpico.. das offene Buch. Er biederte sich an und bewies gleichermaßen empathielose Frechheit. Aber nicht aus Böswilligkeit, das hatte sie längst eingesehen. Er war ungeschickt mit Menschen, weil ihm die Erfahrung von Nähe fehlte. Er ging eifrig auf ihre Vorschläge ein und hatte mit ihr das Bett geteilt, als sie die körperliche Nähe einer Person benötigt hatte. Er war ein Freund und als einen solchen liebte sie ihn. Ein kleiner Bruder, der in der Welt noch nicht zurechtkam.
Zuletzt Zerwas. Die erhabene Ewigkeit, die wie für sie selbst gemacht schien. Kraftvoll, willensstark und nicht ohne den beißenden Humor, den sie so schätzte. Der Mann, wegen dem Vesper das größte Leid ihrer Existenz erfahren hatte, als sie ihn verloren geglaubt hatte. Das dunkle offene Fenster, das jetzt verheißungsvoll entgegenblickte.
Zerwas sah sie an. Quer durch den Schankraum hatten seine grünen Augen sie gefunden.
Er hatte sie bemerkt und lächelte sein ruhiges, selbstbewusstes Lächeln. Hatte er sie gerochen?

Entdeckt schritt sie auf den Tisch zu.
„Phexdan war endlich einmal nützlich.“ billigte der Vampir dem Genannten zu.
„Seine Fähigkeiten des Handelns haben den Preis ganz ordentlich gedrückt.“ ergänzte der Schwarzmagier.
Der Geweihte des Fuchsgottes hielt es nicht für nötig, sich aufrecht hinzusetzen.
„Und wie viel wird der Bau kosten?“ Neferu hoffte inständig, dass ihre Ersparnisse und das Geld aus der Verhandlung ausreichen würden, um diesen Traum eines eigenen Hauses möglichst zeitnah umzusetzen.
„Zweitausendsechshundertsiebenundsiebzig Dukaten und fünf Silberstücke.“ antwortete Salpico prompt, hoffnungsvolle Erwartung in den schwarz anmutenden Augen.
Die Frau in Rot nickte deutlich. „Dann reicht es. Die Bauarbeiten sollen so schnell wie möglich beginnen. Ich werde in Kürze noch einmal mit dem Baumeister sprechen.“

Als die Stunden weiter vorangeschritten waren, verließ Zerwas die Unterkunft. Er machte sich auf, um durch unbeschienene Gassen zu streifen auf der Suche nach einem Unglücklichen, der seine Nahrung sein würde. Neferu begleitete ihn ein Stück weit. Sie wusste, spätestens nach seinem Verlust an Selbstbeherrschung auf der Boroninsel in Havena, seit dem Tag an dem er sie fast getötet hatte, empfand er es als unangenehm, vielleicht sogar schmerzlich beschämend, in ihrer Gegenwart von seinem Drang des Trinkens zu sprechen. Und umso unbehaglicher war ihm wohl, dass sie mit ihm vor die Tür gekommen war.
Aber es hatte zu schneien begonnen und sie benötigte frische Luft. Außerdem war ihr dringend daran gelegen, den Perainetempel aufzusuchen.
Während Zerwas in Rosskuppel durch die Nacht jagte, gelangte sie zum Tempel von Ackerbau und Heilkunst.
Ein Geweihter war zugegen, ein großer, dürrer Mann namens Rohalides. Er war sehr freundlich, mitfühlend und ließ es an Hingabe an seine Berufung nicht mangeln. Im Gegensatz zum Therbunitenkloster in Trallop, verlangte man hier kein Geld. Das einzige, was es benötigte, ihr Sikaryan zu mehren, war ein zwölftägiger Aufenthalt im Tempel der Göttin selbst.
Und sie spürte von Tag zu Tag, dass es dringend nötig war. Ihre Augenringe zeichneten ihr Gesicht, verliehen ihr ein abgeschlagenes Äußeres. Müdigkeit, Erschöpfung und das Gefühl von Krankheit seit drei Monaten. Sie musste sich der Perainekirche überantworten, um wieder gänzlich zu genesen.

Als sie zurückkam saß lediglich Salpico unten im Tavernenbereich, kritzelte irgendwelche Aufzeichnungen nieder und aß dazu eine dampfende Suppe.
„Willst du auch was?“ Er war guter Laune.
„Nein, danke. Ist Zerwas schon zurück? Oder Phexdan oben?“ Sie fühlte sich mit einem Male ausgelaugter und um Jahre gealtert.
„Beide nicht da! Aber ich komm gerne mit dir hoch!“ beschwingt lupfte er sein Robenröckchen und schlenderte mit ihr nach oben.

Sie war froh, als sie das Talglicht im Dachzimmer entzünden konnte. Ein Docht mit warmer Flamme gab ihr ein anheimelndes Gefühl.
Sie rückte ihr Bett schurrend ein wenig näher an Salpico heran, schlüpfte unter die Decke. Warm war anders. Ihre Zehe waren wie eingefrorene kleine Zapfen und Eisblumen schmückten gläsern das Fenster.
„Wann hat Phexdan denn die Natter verlassen?“ Sorgte sie sich..?
„Ach.. so vor einer Stunde vielleicht.“ Das tulamidische Gesicht ihr Gegenüber zeigte kaum eine Spur von schlechtem Gefühl.
Rastlos linste sie immer wieder zur Tür.
„Am liebsten würde ich nachsehen, wo er sich schon wieder rumtreibt.. Er kennt Gareth kaum. Er weiß nicht wie gefährlich eine Großstadt bei Nacht sein kann..“
Der Brabaker zog einen Schmollmund. „Jetzt bin ich extra mit dir hochgekommen, damit du nicht alleine bist..“
Gerade im Aufstehen begriffen, um den Phexgeweihten irgendwo im Labyrinth Gareths zu suchen, hielt sie inne.
Salpicos Worte versetzten ihr einen zarten Stich ins Herz. Er hatte Recht. Er hatte dafür gesorgt, dass sie nicht alleine war.
Und jetzt wollte sie ihn alleine lassen..? Wegen was? Wegen eines eigenbrödlerischen Herumtreibers, der seinen Kopf ohnehin aus jeder Schlinge zu ziehen vermochte?
Wegen eines Fuchses, der nicht einmal daran dachte die Füchsin zu fragen, ob sie ihm ihre Stadt zeigen konnte. Die geheimen Winkel, die interessantesten Plätze, die vielversprechendsten Ziele.
Er war immer ohne sie, auch wenn er bei ihr war. Und trotzdem hatte dieser Dieb es in Grangor geschafft ihr Herz zu stehlen, wenn auch nicht ihre Unschuld.

Sie lächelte den nekromantischen Freund sanft an. „Ich werde bleiben. Schlafen wir, Picchen.“
Und sie blies das Licht aus, um den Raum in die Finsternis zurück zu werfen.

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