Der Puls der Stadt
Gareth 27 (Neferu) (EFF 1014)
Es waren bereits zwei Monate ins Land gegangen, seit Voltans Leben durch einen von langer Hand geplanten Besuch in eines der zahllosen Feenreiche gerettet worden war und Neferu im Anschluss seinen Heiratsantrag noch in selber Nacht angenommen hatte.
Die letzten Wochen waren geprägt gewesen von den Vorbereitungen zum Schließen des Traviabundes.
Abend um Abend war verflogen, während Voltan und Neferu gemeinsam ihre Gästeliste erstellt hatten. Sie hatten das Türschild von Knüppel-Golle, dem Koboldhändler aus Eschenrod aufgehängt und damit ihre Einigkeit nach draußen demonstriert.
Und die Hexe hatte sich entschieden, sie würde ihr Grundstück in der Weststadt nicht verkaufen. Nicht an die Praioskirche, nicht an die Pfeile des Lichts, an gar niemanden. Sie hatte ihren Architekten Nerix lediglich ein paar Änderungen am Bauplan übermittelt und anschließend das Stück Land mittels Pachtvertrag an die Silberklingen übergeben – eine Söldnerbande, die gelegentlich in Eschenrod aufräumte und von einer Frau namens Bernwidda angeführt wurde.
Die Nachforschungen bezüglich des schwarzen Dorns, der für einige Tote innerhalb der alten Gilde verantwortlich gewesen war, waren ins Leere verlaufen.
Die rote Hexe und ihr Verlobter hatten in all der Zeit die Schlösser des Hauses im Arenaviertel vorsorglich austauschen lassen, Blauhimmelsstern gepflanzt – die heilige Blume des Phex – und gegen eine kleine monatliche Summe an Harlaf Gorthingen die Kapazität des Waisenhauses nahezu verdoppelt.
Nun galt es die eigenen, ganz persönlichen Ziele zu verwirklichen und Voltan zeigte sich im Jonglieren mit ihren Ersparnissen bezüglich der Kosten pro Kopf an ihrem Hochzeitstag als der Geschicktere von beiden. Gemeinsam setzten sie zwei Tage zum Feiern Anfang Travia an – inklusive Verköstigung der Gäste, deren Unterhaltung, der Miete des Gebäudes, die zu verschickenden Einladungen, die Traviadekoration und die Boten, die all das auf ihren zwei Beinen und mit der Arbeit ihrer Hände zu verteilen und zu dekorieren hatten.
Immer wenn der Inspektor, der jetzt Bräutigam in spe war, den Anschein erweckte eine Form von Unsicherheit an den Tag zu legen, spielte Nepheruna mit ihm „Wünsch dir eine Wand“. Von Kätzchen, Blumen und schönstem Efeu zauberte die Hexe ihm nicht nur die jeweiligen Wände mit Hilfe ihrer satuarischen Magie, sondern auch ein Lächeln auf das Gesicht.
Was die vierbeinigen Gefährten anging, so war die Tralloper Stute Elster dem Erwachsenwerden nahe und wurde darauf vorbereitet eingeritten zu werden.
Meistens mit Hilfe eines Sacks Kartoffeln oder einer Decke auf ihrem Rücken.
Die Kaninchen Assaf und Calaman waren in den Götternamen, in denen das künftige Ehepaar auf Reisen gewesen war von den Nachbarn versorgt worden und hoppelten und mümmelten, wie es ihre Art war, wieder in ihrem angestammten Zuhause im Arenaviertel.
Nef war endlich weit genug zu ihrem Parderjungen Ineri durchgedrungen, dass das Raubtier, das in Gareth völlig fehl am Platz war – sich zumindest bemühte keine Anstalten mehr zu machen, seine hoppelnden Mitbewohner zu jagen und zu verspeisen.
Ende Efferd dann wurde der Ablauf der Hochzeit, der auserwählte Ort und die Anzahl der Gäste spezifiziert und auch das selbstverständlich rote Hochzeitskleid mit den funkelnden Edelsteinen, die wie ein Sternenhimmel auf einem dunkelroten Nachtsamt prangten, war seiner Vollendung nahe.
Meisterin Altacker, von der Schneiderei Samt & Sonders, hatte bei dem Sternenkleid eigens Hand angelegt.
Voltan und Neferu, die er liebevoll „Vesper“ nannte, entschieden sich für Weißgoldringe mit Monden und Rahjarosenranken mit kleinen Dornen, hergestellt von einem Angroschim namens Xador Birkenholz aus Nardesheim. In die Innenseite der Ringe war graviert worden: Voltan & Vesper, 1. Travia 1014 BF.
Von den fünf übrig gebliebenen Tanzdielen in der engeren Auswahl wurde die Herberge Bei Algrid im Schlossviertel gemietet, die einen großen Festsaal mit bemaltem Holz ihr Eigen nannte.
Neferu hatte zwischendurch getan, was sie am besten konnte: Sich umentschieden.
Während sie anfangs noch einer kleinen, bescheidenen Hochzeit zugetan gewesen war, spürte besonders Voltans Portemonnaie, dass sie – je näher die Hochzeit rückte – doch mehr wollte, als sie ursprünglich gedacht hatte. So beschrieb sie ihren Wunsch mittlerweile als „üppig“, sinnierte über Speisenfolgen, gute Weine, echten Kakao, erlesenes Rauchwerk, Gaukler, Barden und Musici und rote Rahjarosen – sehr, sehr viele rote Rahjarosen.
Neferu hatte Mutter Harina, die verantwortliche Traviageweihte vom Lowanger-Greiber-Waisenhaus dazu überredet die Trauung zu vollziehen und fünfzehn der Waisenkinder dazu verdonnert, rote Rosen zu streuen – bei Nef drehte sich in den letzten Tagen fast alles um diese Blumen in eben dieser Farbe – und alles fühlte sich noch viel schicksalhafter und bestimmter an, als die Stadthexe feststellte, dass sich in einem schlichten, zweistöckigen Bürgerhaus direkt gegenüber der Herberge ein Traviatempel befand.
Voltan entschied sich für seinen ehemaligen Kameraden Rank Karlow als seinen Besten Mann. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge hatte Nef Rychard zu ihrem Trauzeugen erkoren. Trotz allem konnte sie ihn gut leiden und sie stellte sich vor, dass er diese Ehre mit doppelter Münze zurückzahlen würde. Im übertragenen Sinne natürlich – sie erwartete kein Geld von ihm. Aber alles musste sich schließlich irgendwie rechnen.
Gareth 26 (Salpico) (RON 1014)
Als er vor die Tür trat atmete er erst einmal tief ein. Es war noch früh am Morgen, die Sonne hatte noch nicht geruht in die Schatten der Schnittengasse hinab zu steigen und dennoch war es nicht ruhig. Obgleich die Straße, die der Magier hinab sah von nur wenig Menschen bevölkert war, so drangen doch aus anderen Gebieten der Stadt von den größeren Straßen her die Geräusche des Lebens auf ihn ein. Ohne jedes Anzeichen von Eile nahm Salpico sich einen Moment, um den Eindruck wirken zu lassen. Man nahm die Geräusche und einzelne Blickwinkel sehr viel genauer wahr, wenn man das tat. Es waren Momente an die man sich Jahre später noch erinnerte. Mit denen man auch dann noch ein Gefühl verband.
Solche Momente waren wichtig – umso wichtiger, wenn man ein langes und gefährliches Leben führte. Wenn man in der Lage sein wollte die Gesundheit seines eigenen Geistes auch dann noch zu erhalten, wenn die Welt um einen herum einen radikalen Wandel durchlief. Soviel hatte sein Mentor ihm unwissentlich bereits beigebracht und er wollte verdammt sein die Fehler des alten Mannes zu wiederholen, wenn er es denn vermeiden konnte.
Ein kurzer Blick über die Schulter zum Haus zurück zeigte ihm die Fassade hinter der er nun wieder lebte. Nun, da er aus Fasar endlich nach Gareth zurückgekehrt war. Die Fassade hinter der Sjören Vanderbloom sich mit ihm eine Wohnung teilte.
Langsam setzte er sich in Bewegung und folgte der Straße nach Westen. Die letzten Wochen waren voller neuer Erkenntnisse gewesen: Seine Sterblichkeit war ihm schmerzlich bewusst geworden, als er hilflos unter der attackierenden, brennenden Mumie gelegen hatte. Ohne seine Begleiter hätte Boron sich an diesem Tag seiner Seele bemächtigt. So erschreckend dieses Wissen war, so formend war es doch gewesen. Prioritäten hatten sich geändert, er hatte eine neue Seite an sich entdeckt – den Stolz – und er hatte erkannt, was seine Zukunft ausmachen sollte.
Aus seiner jetzigen Position heraus hatte er sich in einigen schlaflosen Nächten Gedanken gemacht, deren Ergebnisse er nun bewahrte.
Erstens: Er würde leben – und zwar nach seinen Wünschen. Dazu war es notwendig Entscheidungen zu treffen, die seinen Charakter festigen und formen würden. Entscheidungen wie die, sich von der Totenbeschwörung endgültig abzuwenden. Leichen zu erheben mochte in Notsituationen nützlich sein, aber es hatte sich als nicht alltagstauglich erwiesen. Zweifellos war das Detailwissen wertvoll – und sei es nur, weil er in seinen Lehrjahren viel über die Anatomie der Lebenden erfahren hatte. Und diese Lehrjahren waren es, die ihn in Form von Schulden noch immer verfolgten. Sie zu tilgen bedeutete einen Schritt hin zu der persönlichen Freiheit nach der er strebte.
Zweitens: Es gab Menschen, die waren wichtiger als andere. Das auszusprechen hätte vermutlich Empörung bei seinen Mitbürgern hervor gerufen, aber niemand konnte widersprechen ohne zu lügen. Und man musste sich zu jeder Zeit in seinem Leben bewusst sein, wer diese Menschen waren. In Gefahrensituationen galt es schnell und effektiv zu ihrem Schutz zu handeln. Neferu und ihre Familie gehörte dazu, Richard und auch sein Mentor. Vanderbloom ebenfalls. Von letzterem wusste er wo er sich befand. Was die anderen anging so war das nicht der Fall – das musste sich ändern.
Drittens: Er war ein stolzer Mensch. Was nicht meinte, dass er arrogant war – jedenfalls nicht offen. Vielmehr betrachtete er seine eigene Würde als unantastbar für Außeneinwirkungen. Sollte ärgerlicherweise der Fall eintreten, dass ein solcher externer Einfluss doch an seiner Würde kratzte, so war es notwendig und angemessen dieses Geschehen sofort aufzuhalten und wenn möglich umzukehren. So lächerlich es erscheinen mochte – das aktuellste Ärgernis war das antike Kleidungsstück, das sein Mentor ihm geschenkt hatte und das ein Opfer der Flammen geworden war. Seine Reste zu restaurieren war eines der vordringlicheren Ziele.
Viertens: Selbstbewusstsein war ein wichtiger Punkt jeder herausragenden Persönlichkeit, die als solche wahrgenommen werden wollte. Es war daher notwendig nach den eigenen Stärken und Schwächen zu forschen und sie auch dort zu finden, wo man sie nicht erwartete. Eines dieser eher überraschenden Talente hatte er erst kürzlich in Fasar entdeckt. Bei einer Operation am offenen Hirn hatte er erstaunliche Kunstfertigkeit bewiesen – auf einem Gebiet, das sich die Menschen besseren Standes einiges kosten ließen: Gesundheit.
Zu seinem Unglück beherrschte er lediglich die Wundbehandlung, wenn auch sehr gut. Was bedeutete, dass er sich eingehender mit der Behandlung von Krankheiten beschäftigen musste, um einen Wert für die Gesellschaft zu erhalten, die ihm einen Lebensunterhalt und auch die Verfolgung seiner Pläne langfristig garantierte.
Er bog auf die Puniner Straße ein und begann ihr nach Süden zu folgen. Da die Häuser von Nef wie auch von Rychard am gestrigen Abend leer gewesen waren, war es notwendig geworden das aktuelle Ziel zu korrigieren. Die Zeit bis zur Rückkehr der Hexe würde er damit verbringen jemanden zu finden, der ihn in die Kunst der Krankheitsbehandlung würde einweisen können. Aus den Erzählungen und Erfahrungen Neferus wusste er von einer Medica, die nahe am Puniner Tor eine Art Praxis betrieb. Sie war sein Ziel. Indem er ihr Hilfe anbot war es vielleicht möglich von ihrem Wissen zu profitieren. Wenigstens weit genug, um eine soldige Grundlage zu schaffen auf der er selbst während eigener Behandlungen weiter lernen konnte, worauf es zu achten galt. Davon abgesehen hatten die Echsen nahe Brabak ihm bereits einen gewissen Einblick gewährt.
Auf dem Platz vor dem Puniner Tor hielt er noch einmal inne, um den Anblick der wehrhaften Anlage in sich aufzunehmen. Seine Schulden zu tilgen war im jetzigen Augenblick möglich ohne seine eigene Barschaft endgültig zu erschöpfen. Außerdem hatte er die Erlaubnis Sjörens. Allerdings galt es danach rasch an gutes Gold zu kommen. Aus mehreren Gründen. Zwar war die Handlungsfreiheit nach Abzahlung seiner Ausbildungsschulden von einiger Relevanz, aber es gab noch andere Prioritäten für die das Edelmetall notwendig war.
Die Erste und Wichtigste davon war das Gestüt zu gründen. Nur mit ihm war es möglich weiteres Geld zu generieren, ohne seine ganze Lebenszeit hinein zu stecken.
Mit diesem Geld wollte sodann ein Zweitstudium der Heilung für Vanderbloom bezahlt sein – das Stipendium war Salpicos Versprechen an den liebgewonnenen Freund geworden, nachdem der seine Kräfte derart strapaziert hatte, um das Äußere des Adepten wieder zu dem zu machen was es einmal war.
Von dem was dann noch über war, sollten zunächst vier weitere Personen profitieren: Abdul Rethag, Tair, Mohammed und Lawin. Jeder dieser vier hatte entweder sein Leben für das seine in die Waagschale geworfen oder sein Leben auf andere Weise gerettet. Und es war ihm wichtig ihnen – und der Welt – zu zeigen, dass er das nicht auf die leichte Schulter nahm. Es war daher unausweichlich sie noch einmal zu entlohnen – oder in Abduls Fall anzustellen.
Ja, Loyalitäten waren wichtig. Sie bedeuteten Sicherheit, Ruhe und – ein Zuhause. Ein Zuhause wie das, was er aus dem Mittelreich zu machen gedachte. Hier im Kern des Reiches würde er leben und wirken. Natürlich würde er es verlassen um zu lernen, zu wachsen und zu helfen. Aber er hatte vor immer wieder hierher zurückzukehren. Aber dafür galt es seinen frommen Gedanken auch Taten folgen zu lassen.
Mit diesem Wissen setzte er sich wieder in Bewegung und hielt auf die Heilerstube zu.
Gareth 25 (Rahjard) (5NT 1013)
„Elendiger Blaufink“, murmelte der Al’Anfaner während sich das Buch in seinen Händen schloss und er sich dem Hund neben sich zuwandte und ihn sachte streichelte. So wie viele Garether hatte sich dieses Jahr auch Rahjard größtenteils verschanzt, wenn auch nicht im eigenen Heim. Als Unterkunft diente ihm der RAHja-Tempel der Stadt, in den ihn eine Einladung des Perricumer Hochgeweihten Talafeyar verschlagen hatte. Ein hinreißender Halbelf, den der Scheinbukanier im Moment jedoch weit mehr als Freund und offenes Ohr sehen wollte und weniger als Stück Fleisch. Die Kombination aus Elf und Rahjadiener hatte in jedem Fall eine gewisse Anziehung, das Elfische wahrscheinlich ob der Erlebnisse mit Phileasson. Wer vermochte das zu sagen, vielleicht hatte die Anwesenheit auf einer Orgie am ersten Namenlosen Tag auch schlicht die Entwicklung eines Fetischs begünstigt.
Tief durchatmend fuhr er dem Hund etwas fahriger durch das Fell. Ungerne dachte er an die Begebenheiten in den Bardo-und-Cella-Thermen zurück, förderten sie doch auch die Erinnerung an Rivera, die eigene Mutter und was ihm sonst widerfahren war. Einen halben Tag oder länger hatte er noch im Peraine- und später im Rahja-Tempel mit Talafeyar darüber gesprochen. Nahezu alles hatte er dem Elfen anvertraut, wohl auch um diesen Rahjafluch abzuschütteln, der ihm spätestens seit dem Vorfall in Trallop – eher früher – anhaftete. Der Gedanke leuchtete ihm ein, nachdem er das Treiben in den Thermen erst einmal verdaut, wenn auch nicht unmittelbar verarbeitet hatte.
„Korninger“, raunte er leise.
Alles hatte mit Korninger seinen Anfang genommen. Neferu hatte erwähnt, dass die Tochter des Mannes entführt wurde, sie war durch einen Aushang am Puniner Tor darauf aufmerksam geworden. Eine Entführung. „Wenn es weiter nichts ist…“, ging es ihm durch den Kopf als er den Ausführungen der alten Freundin lauschte. Das erschien machbar.
Er hatte ja keine Ahnung …
Den Morgen darauf, am zweiten Namenlosen, saß ein als Säbeltänzer gewandeter Al’Anfaner tränenüberströmt an einer der Säulen der Thermen und war irgendwie froh; froh, Großinquisitor Nemrod und Sonnenlegionäre zu erblicken; froh, noch am Leben zu sein; froh, noch verhältnismäßig jung zu sein. Dennoch hatte ihn der Abend samt aller Konsequenzen bis ins Mark erschüttert, was jedwede Freude überstrahlte. Es war schließlich Voltan, der nach Neferu fragte, dem er sich nach einigem Zögern zunächst anvertraute nicht wirklich mit der Situation umgehen zu können, Überforderung zu verspüren, nicht zu wissen wie er weitermachen solle.
Ein seltener Moment, das erschloss sich auch dem Al‘Anfaner, in dem ihn all sein Heldenmut offenbar verlassen hatte. Er war plötzlich wieder ein kleiner Junge, er war wieder Rahji, der nach alldem nur von seiner Mutter in den Arm genommen werden wollte. Ein Junge der nur hören wollte, dass alles wieder gut werden würde. Ein Junge, der Angst und Ungewissheit verspürte. Mitten in den Namenlosen Tagen.
Rahji lauschte Voltan, dem Mann an der Seite seiner besten und einzigen, wirklichen Freundin und erinnerte sich, dass es ihm einmal zwar nicht genauso, doch ähnlich ging. Damals, als sie es in einer anderen Stadt mit anderen Mächten und einem anderen Vampir zu tun hatten und war froh, dass Inspektor Weibel Sprengler nicht in der Lage war einen Harmoniesegen zu sprechen und all das Vertrauen, das man ihm schenkte, auf diese Weise zu verspielen. Er nahm sich die Zeit, die der Möchtegern-Säbeltänzer brauchte, hörte sich auch das Klagen über die Namenlosen Tagen des Vorjahres an, über Rivera, seine Mutter und nun das. Zudem machte er die Situation mit einem Ausborgen des Inspektorenmantels sowie einem Schnupftuch deutlich angenehmer.
Ein Königreich für ein Schnupftuch.
Namenlose Nacht 1 (Kalas) (5NT 1013)
In seiner Kindheit auf den Straßen des Südquartiers waren die fünf Namenlosen Tage zwischen den Jahren eine Zeit voller Furcht und Schrecken ohne Unterlass gewesen. Er hatte sie in der Regel hungernd zusammengekauert mit anderen Straßenkindern verbracht. Seit Kalas seiner Heimatstadt als Gardist diente, war es seine Pflicht diesen Schrecken direkter entgegen zu treten und während dieser götterverlassenen Tage die Straßen zu patrouillieren. Doch niemals hätte er es für möglich gehalten sich am Morgen des 2ten NL in einer anzüglichen Aufmachung -angelehnt an das Garether Wappentier- vor der Bardo-Therme wiederzufinden, nachdem er dort die Nacht auf einer Orgie zugebracht hatte. „Veranstaltung“ wäre vermutlich eine bessere Wortwahl für den Bericht, den Großinquisitor Nemrod jetzt von ihm erwartete. Zumindest hielt er es für unklug eine der höchsten Autoritäten der Praios-Kirche unnötig daran zu erinnern, dass Kalas aus freien Stücken und ohne offiziellen Auftrag einer Eskalation von Dekadenz und Frevel beigewohnt hatte. Doch auch umgeben von Sonnenlegionären und Gardisten, die nun die vergangene Nacht aufarbeiteten, überkam den Mann in anrüchiger Fuchsverkleidung keine Reue. Er war einem verzweifelten Bürger beigestanden, der seine vermisste Tochter wiederfinden wollte und dessen Natur es noch weit mehr widersprach dieser Veranstaltung beizuwohnen als Kalas von sich behaupten konnte.
Zusammen mit Travian Korninger, Vater der vermissten Selinde Korninger, Neferu Banokborn, ebenfalls Korporal der Stadtgarde, und Rychard Lowanger-Greiber, der sich vor kurzem unerwarteterweise als Oberst der Armee herausgestellt hatte, hatte Kalas die Orgie infiltriert. Die vergleichsweise harmlosen sexuellen Eskapaden hatte er noch mit Neugier beobachtet, doch die zunehmend enthemmten Perversionen, die die Besucher der … Veranstaltung auslebten, eröffneten ihm Abgründe der menschlichen Natur, die ihn noch eine Weile verfolgen würden. Doch er und seine Begleiter waren darauf bedacht gewesen keinen Aufruhr zu verursachen bis die Sicherheit Fräulein Korningers gewährleistet war. Doch die Grenze des Erduldbaren war erreicht, als sie den Gastgeber der Veranstaltung, den sie bereits als Priester des Namenlosen identifiziert hatten, bei der Schändung einer jungen Frau ertappten. Mit wenig Finesse aber großer Entschlossenheit war er eingeschritten. Zunächst gelang es Zubaran -so hieß der Frevler- Kalas durch ungöttliches Wirken von seinem Vorhaben abzubringen. Doch nachdem seine Kameraden ihn vom Einfluss des Namenlosen befreit hatten, schlugen sie gemeinsam mit umso größerer Härte zurück, sodass sich Zubaran umgeben von den Leichen seiner Handlanger in den Ketten wiederfand, die ihm zuvor sein Opfer ausgeliefert hatten. Die junge Frau, Ditti, war verständlicherweise zutiefst verstört und lieferte dennoch den entscheidenden Hinweis auf den Verbleib Fräulein Korningers: ein Wasserturm nahe der Therme war ihr Kerker gewesen ehe sie in die Fänge Zubarans übergeben worden war.
Doch inmitten all der Dunkelheit gab es auch Lichtblicke zu entdecken. So auch den Vorsteher des Tempels der Rahja in Perricum. Kalas wusste nicht, ob er die Veranstaltung in der Hoffnung aufgesucht hatte fernab der Heimat in diesen schwierigen Tagen ein rahjagefälliges Lustfest vorzufinden, ob er inmitten der vielen fragwürdigen Praktiken selbst in ermittelnder Funktion zugegen war oder ob er andere Beweggründe hatte. Er wusste nur, dass der Elf jegliches anderweitige Vorhaben aufgegeben hatte als er von dem Verbrechen an Ditti erfuhr. Kalas empfand im Angesicht seiner eigenen Hilflosigkeit großen Respekt für die Bereitschaft und Fähigkeit Ditti, der unvorstellbarer Schaden angetan worden war, ein offenes Ohr und trostvolle Worte zu schenken. Auch Levaska hatte sich als positive Bekanntschaft erwiesen, auch wenn sie sich wie Neferu als Hexe entpuppt hatte. Sie hatte die Veranstaltung auf der Jagd nach einem Vampir infiltriert, dem inzwischen auch Neferu auf den Fersen war. Als er Levaska nach deren Kampf mit dem enttarnten Vampir begegnete und ihr in einem Anflug deplatziert anmutender Etikette die Hand bot, hatte er weder wissen können, dass sie beide sich Stunden später im verwaisten Park der Therme dem Liebesspiel hingeben würden, noch dass er sie jetzt bereits vermissen würde. Vage gehofft hatte er es vielleicht. Nicht nur war sie atemberaubend schön und dem offiziellen Anlass entsprechend nur in einen Hauch von Nichts gekleidet, sondern trug sowohl ihre Nacktheit als auch ihre Fähigkeiten mit einer Selbstsicherheit, die Kalas tief beeindruckte. Und offenbar hatte auch er einen guten Eindruck erweckt, war es doch sie, die in den Büschen den ersten Schritt getan und die Führung bei allen weiteren übernommen hatte… Sie hatte Kalas zugesichert, dass sie ihn wiederfinden würde. Doch ihm war in der vergangenen Nacht ein nie dagewesener Einblick in das wechselhafte, unberechenbare und ihm bisher nur aus Ammenmärchen bekannten Wesen der Hexen gewährt worden. Er konnte sich also nicht sicher sein, dass er sie wiedersehen würde und vorerst war es auch besser, dass sie nicht bei ihm war. Zwischen dem Großinquisitor, der Sonnenlegion und seinen Kameraden der Stadtgarde kam doch eine gehörige Menge an Leuten zusammen, die sie für ihre hexerische Natur dem Feuer übergeben würden. Folglich sollte er sie auch aus dem Bericht heraushalten. Neferu schien dagegen geübter darin zu sein ihre Wurzeln zu verbergen und war zur medizinischen Versorgung abtransportiert worden. Kalas konnte sich nicht erklären was sie bewegt hatte den Vampir noch einmal zu konfrontieren ehe Verstärkung aus der Stadt des Lichts vor Ort gewesen war. Doch er konnte nicht leugnen, dass sie bereits davor unter selbstlosem Einsatz von Leib und Leben um das Schicksal Fräulein Korningers und die Aufspürung dunklen Gezüchts bemüht war. Bei Rychard war sich Kalas bisweilen nicht sicher gewesen, ob er sich auf der Veranstaltung nicht in unangemessenem Maß wohl fühlte, beteiligte er sich doch recht freizügig am allgemeinen Treiben. Doch mit zunehmendem Ernst der Lage war auch auf ihn Verlass gewesen.
Unberechenbar war auch manch anderes gewesen, mit dem er es in der vergangenen Nacht zu tun gehabt hatte. Während Neferu im Alleingang Fräulein Korninger und zwei weitere Frauen aus dem Wasserturm befreite, hatten Rychard und Kalas einem magisch untermalten Schauspiel in eine der Grotten der Therme beigewohnt, wo Herr Korninger mit einer anonymen Informantin verabredet gewesen war, die sich als Bedienstete der Veranstaltung entpuppte. Sie konnte noch die Namen der Hintermänner des Menschenhändlerrings liefern. Im Austausch gegen Gold. Kalas konnte es ihr inmitten all der Verschwendungssucht nicht so recht verdenken, etwas Eigennutz zu praktizieren. Auch wenn es nicht ausschlaggebend für sein Engagement war, war auch ihm Bezahlung versprochen worden. Was sie alle nicht wussten war, dass das Schauspiel nur der Deckmantel für ein ausgefeiltes magisches Ritual gewesen war, um ihnen Lebensenergie zu entziehen. Sie waren stetig gealtert, während sie im Nachgang die Stadt des Lichts aufsuchten, um Hilfe zu erbitten. Doch der Großinquisitor und die ihm unterstellten Sonnenlegionäre konnten durch ihr schnelles und beeindruckend effizientes Eingreifen zumindest Rychards und Kalas‘ Leben retten und ihnen die meisten ihrer Lebensjahre zurückgeben. Doch für viele kam die Hilfe zu spät. Unter anderem dem traviatreuen Herrn Korninger, dem die Teilnahme an der Veranstaltung ohnehin schon einiges abverlangt hatte, kostete sie dann in dieser grausamen Wendung auch noch das Leben. Ein Versagen, mit dem auch Kalas würde leben müssen.
Auf den Treppen der Therme war ihm der Morgen nach der fordernden Nacht beinahe vorgekommen, als wären die Namenlosen Tage bereits überwunden. Die Kutschenfahrt durch die düsteren, verlassenen Straßen Gareths riefen ihm nun aber die bedrückenden Tage ins Gedächtnis, die noch vor ihm lagen. Doch für Kalas schienen sie etwas von ihrem mysteriösen Schrecken verloren zu haben. Er war tapfer in die Dunkelheit getreten und hatte konfrontiert, was dort auf ihn lauerte. Später würde er erfahren, dass ihm und seinen Kameraden Neferu und Rychard für ihren Einsatz die Kaiser-Rauls-Schwerter in Bronze verliehen werden sollten. Kalas war sich der damit verbundenen Ehre gewahr, doch empfand er die bemerkenswerte Erkenntnis, dass jeder noch so unvorstellbare Schrecken bezwungen werden konnte, wenn man nur die Kraft dafür aufbrachte, als weit wertvolleren Gewinn dieser Namenlosen Nacht.
Gareth 24 (Neferu) (PER 1013)
14. Peraine 20 Hal
Neferu strich ihm die Haare aus der Stirn. Dunkelblond oder hellbraun, wie Honig, wenn die Sonne sie erleuchtete. Ihre Hand glitt langsamer und länger durch die Strähnen, als es notwendig gewesen wäre. Sie kühlte Voltans Kopf mit einem feuchten Tuch, wischte ihm den Schweiß fort. Sie hatte ernsthafte Sorge um ihn, allerdings jetzt, wo sie bei ihm war, weniger als zuvor.
Die letzten Schritte vor seiner Tür hatte sie ein quälender Zwang schneller werden lassen. Sie hatte den Gedanken nicht ertragen, dass Dere diesen Mann verlor. Dass Gareth ihn verlor.
In unregelmäßigen Abständen erwachte er. Manchmal war er ansprechbar, dann wieder unruhig-fiebrig.
Mal erkannte er sie, dann fragte er wieder, wer da sei.
Sie verhielt sich so still, wie es ihre Selbstbeherrschung zuließ, erwärmte einen Stein für seine kalten Füße, kochte einen Tee, dessen Blätter sie vorsorglich mitgebracht hatte.
Und ironischerweise kam sie in diesem kleinen, schlicht eingerichteten Kasernenzimmerchen so zur Ruhe, wie schon seit Wochen nicht. Sie war ihm aus dem Weg gegangen, um diesem drängenden Gefühl, dass sie in ihrer Hexennatur nur zu gut kannte, keine Nahrung zu geben.
Aber sie hatte verloren, nachdem er ihr in der Schnittengasse im abendlichen Frühlingswind begegnet war. Er hatte sich umgedreht, ebenso wie sie und ihre Blicke waren sich begegnet. Kein höfliches, verabschiedendes Lächeln, sondern ein kurzer, unsicher-sehnender Blick traf sich von beiden Seiten in der Mitte, ehe sie sich hastig voneinander entfernten, jeder seinen eigenen Pflichten nachgehend.
Und jetzt saß sie hier, in der winzigen Offizierskammer, den Rücken an sein Bett gelehnt und las in dem neusten Schundroman von Autor Rosenkron.
Zuerst noch unruhig, schlief er weit nach Mitternacht einen tiefen Schlaf.
Sie zog sich auf den Stuhl zurück, den sie mit ihrem Umhang polsterte.
Was quälte diesen Mann? Warum zog er sich jeder Freundlichkeit, die über Höflichkeit hinausging so bestimmt zurück? Er ließ niemanden an sich heran. Wen hatte er verloren? Seine Schwester oder vielleicht.. eine Ehefrau?
Sie betrachtete im Kerzenlicht sein fieberfeuchtes Gesicht. Voltan war schon äußerlich zu ansehnlich, um so allein zu sein. Aber seine wohle optische Erscheinung war nicht gewesen, das sie beeindruckt und fasziniert hatte. Neferu drückte die Lippen sachte aufeinander.
Schöne Menschen gab es überall, zu Hauf. Nur leider verhielt sich ihr Inneres nicht immer gesund proportional zu ihrer hübschen Erscheinung. Bei Sprengler schien das anders, vielleicht lag es daran, dass er seinen eigenen Worten nach, und dem Spitznamen, den Torfstecher für ihn hatte, ein pummeliges Kind gewesen war. Voltans Geist schien ihr klar und gerecht, aber einsam. Er urteilte nicht vorschnell und gleichzeitig trieb der Aberglaube ihm die Furcht in die Knochen.
Ihre schlechte Laune hatte er mit Pilzbrot zu verbessern gesucht. Und auch als sie mitten in der Nacht zu ihm gekommen war, hatte er ihr voll Ruhe und Aufmerksamkeit im Schein der Kaminglut zugehört. Gut, es war um einen Paktierer gegangen, aber das hatte er nicht vom ersten Augenblick an gewusst. Er hatte ihr den nassen Umhang abgenommen, sie ans Feuer gesetzt und sie mit Wein und Brot verköstigt. Seine Gastfreundschaft und Geduld passte zu dem, was alte Nachbarn über eine jüngere Version gesagt hatten: „Ein so höflicher Junge!“
Torfstecher.., schnellte es durch ihre Gedanken, er kannte Sprengler von früher.. Er konnte vielleicht mehr sagen, über diese verschwundene Schwester und über ihn.
Zwar war ihr der Gedanke an den Nachtschatten unangenehm, hatte es doch erst wenige Wochen zuvor diesen beinahe-Unfall beim abendlichen Gezeche gegeben, aber was sollte es. Phexdan hatte Recht: Es war nichts, das sich nicht schnell aus der Welt schaffen ließ. Und sie musste wissen, ob der Vikar ein Quell neuer Erkenntnisse sein konnte.
15. Peraine 20 Hal
Ein steinerner, kurzer Schlaf hatte sie übermannt, ehe sie leise ihren Rucksack und den Umhang nahm und sich hinausstahl.
Hinaus ins erwachende Gareth. Der frische Wind vertrieb den Geruch von Krankheit, der ihr in der Nase lag.
Überall Bewegung. Wie hatte ihr der Geist Calamans während der Karmalqueste im menschenleeren Gareth vermittelt: Wir sind nichts ohne die Menschen, das Leben, den Trubel. Keine Herausforderungen, keine Interaktion, niemand, der einen anerkennen kann.
Sie bewegte sich durch den noch dürftigen, morgendlichen Strom von Leben. Auch wenn ihre Gedanken sich um den kranken Weibel rankten, gelangte sie wie von einem unsichtbaren Südweiser bewegt, zu Ahlemeyers alter Sattlerei.
Neferu weckte Phexdan vorsichtig, drückte ihm einen freundschaftlich-nassen Kuss auf die stachelige Wange, ehe sie ihm vom kranken Wachoffizier erzählte.
Der Halbmaraskaner war nicht glücklich darüber, sagte aber nichts gegen ihre Entscheidung, sich die letzte Nacht um ihn gekümmert zu haben.
Der Tag an der Weststadtmauer im Dienste der Spießbürger verging wie in einem Traum. Neferu war gedankenvoll, nicht bei der Sache. Wie durch einen Schleier ließ sie die Pflicht passieren, handelte wie ein Gerät.
Sie hasste und genoss ihren Zustand gleichermaßen. Sie kannte ihn, denn sie war und blieb ein Wesen des Gefühls, ganz gleich, ob sie in die graumagische Gilde eintreten oder einen Ratsposten in der Stadt erkämpfen würde. Sie hatte sich unglücklicherweise verliebt. Nicht das erste Mal. Es tat weh und zeitgleich war es erhebend und süß, wenn sie wenige Augenblicke in der Woche erlebte in denen es sich anfühlte, als würden diese zarten Bande von der anderen Seite erwidert werden.
Er hat sich umgesehen…
Neferu hatte sich vor Monaten damit abgefunden, dass traviaische Tugend nichts war, das ihr ins Blut gelegt worden war: Ein Geschöpf wie sie lebte Emotion und war geprägt von Phasen wankelmütigen Gefühlschaos‘.
Sie würde niemals etwas daran ändern können, auch wenn sie in unregelmäßigen Abständen ebenso daran litt, ihre Liebsten zu verletzen. So wie jetzt Phexdan. Sie liebte ihn mehr als jeden anderen Menschen und war sich sicher, dass sein Tod ihr irgendwann den Rest Verstand rauben würde (und sie meinte es nicht literarisch). Trotzdem hatte Voltan Sprenglers Ambivalenz ihren Geist verwirrt und eingenommen. Sie erinnerte sich an seine analytisch-scharfen Blicke mit denen er die Menschen am Tor geprüft hatte, wie ein Dieb, der seine Beute ermittelte und an den geheimnisvollen Anhänger, der ihn letztendlich als Inspektor der Criminal Cammer ausgewiesen hatte und ebenso an das von ihm geknackte Schloss ihres Grundstücks.
Er hatte durch all das mehr geöffnet als nur das Tor zu ihrem Garten.
Herb wehte eine Böe und verpasste ihr eine fröstelige Gänsehaut.
Am Rand ihrer Wahrnehmung wurde ihr bewusst, dass ihr heutiger Dienst zu Ende und sie auf dem Weg zur CriminalCammer war, um einen der Inspektoren schwer krank zu melden.
Sie war nicht in der Stimmung für Erledigungen. Im Grunde hatte es den Anschein, als sei ein stumpfer, lähmender Nebel über sie gekommen, kaum dass sie Voltans Krankenzimmer verlassen hatte.
Es hatte sie wirklich hart und unerwartet erwischt.
So wie sie hoffte, dass Sprengler sich bald von seinem Fieber erholte, so erhoffte ein Teil von ihr sehnsüchtig ihre eigene Erlösung, in welche Richtung die am Ende auch immer gehen würde.
Sie wanderte noch bis nach Sonnenuntergang durch Gareths Straßen. Und je mehr sie über sich selbst nachdachte, desto nüchterner und resignierter wurde sie. Es war nicht gerecht.
Nichts was ihr wiederfuhr empfand sie als Gerechtigkeit im größeren Sinne. Überall stieß sie auf schnelles Urteilen, Misstrauen und sogar offenen Hass. Hatte sie sich nicht ihr ganzes Leben bemüht, sich einzufügen, ihren göttergegebenen Platz zu finden? Pfeilschnell schossen die inneren Bilder von einem Extrem zum nächsten. Die Gedanken vom Ausbrennen ihrer Magie verschafften ihr keine Erleichterung, sondern einen trotzigen Zorn gegenüber der Menschen, die sie nicht akzeptieren konnten, wie Tsa sie auf diese Welt gelassen hatte, folgten solchen, es zu tun wie sonst auch: Einfach die Gegend zu verlassen. Ein Weiterziehen hatte ihr immer kurze Linderung verschafft. Es half mit Dingen abzuschließen oder sie wenigstens in eine tief vergrabene Kiste zu sperren. Gedanklich natürlich.
Um nicht als „Dunkles Gelichter“ zu gelten, entzündete sie in der aufkommenden Dunkelheit träge ihre Dienstlaterne.
Wegrennen, schon wieder? Fragte sie sich selbst und fand keine Antwort.
Wenn die Praioten meine Gedanken kennen würden… verfasste sie innerlich mit Unwohlsein. Es war nicht die Vorstellung, wie sie dann auf dem nächsten Scheiterhaufen lichterloh in Rauch aufgehen würde, vielmehr die Tatsache selbst, dass sie Gedanken hatte, die sie niemandem anvertrauen konnte, da sie sie selbst immer wieder zu der Entscheidung veranlassten, den Gefühlen eben nicht freien Lauf zu lassen. Sich dem entgegen zu stellen, was sie von Lucinda und auch Luzelin gelernt hatte. Die Frauen hatten sie gelehrt, dass jede Emotion von der Erdmutter herrührte und gelebt werden musste. Dass man sich ihr hingeben musste, im Großen wie auch im Kleinen.
Aber das konnte Neferu nicht. Sie wollte es nicht. Denn manche Gefühle erschienen ihr in Situationen, in denen sie aufgewühlt war, irrsinnig. Und sehr, sehr gefährlich.
Wenn sie an Tagen wie diesen litt, sah sie Gareth brennen. Sie sah ihre eigene Rache aus Feuer, Unheil und Zerstörung. Sie spürte diese Wut aufkeimen, die herrührte aus der Zurückweisung und dem Nichtverstehen aller.
Was auch immer in ihr steckte, es glich einem unberechenbaren Wesen, welches sich selbst als das Opfer sah und das durfte nicht heraus.
Vielleicht hatte sie es selbst erschaffen, indem sie von vornherein, bereits als Kind ihre sumugegebenen Emotionen heruntergeschluckt und versteckt hatte. Das war nicht unwahrscheinlich. Sie hatte sich selbst zu einem unter Druck stehenden Kessel gemacht, da sie nie gewagt hatte, den Deckel zu heben.
Aber das Kind war in den Brunnen gefallen, wie schon der Graumagier Salix so treffend bemerkt hatte.
Es half nur eines: Sich ganz ihrem Herren hinzugeben, listenreich, mit kühlem Kopf und voller Geheimnisse. Und einem Schmunzeln. Und wenn sie auch sonst nichts mit Bestimmtheit sagen konnte, dann doch, dass sie ihr Leben darauf verwettete, dass es Phex allein war, der ihr die Beherrschung lieh, dem Guten, dem Verstand in ihr stets Vorrang zu verschaffen.
Sie spürte trotz des Garether Windes die Wärme in sich aufsteigen, hörte im Kopf das samtige Lachen und mit einem Male fühlte sie sich geboren und auf dem richtigen Weg.
Wen auch immer sie liebte und in ihrem langen Leben lieben würde, Phex würde über ihnen allen thronen, als Stern ihres Innersten.
Die Erkenntnis gab ihr Trost.
Sie war müde. Nicht nur am heutigen Tag. Sie war es leid, wie schnell sich ihr Kopf verdrehte, wie schnell die Faszination eines ungewöhnlichen Charakters sie schonungslos packte.
Männer mussten sich keine Mühe geben.
Niemand hatte sie je erobert.
Sie selbst war diejenige, die dem Reiz erlegen war, sich in ihre Herzen zu stehlen. Nicht aus spielerischer Bosheit, sondern aus Neugier, Interesse und Verlangen. Ob es nun Garions verstockte Unschuld, Calfangs Verbissenheit, Zerwas‘ animalische Unberechenbarkeit oder Phexdans verspieltes Herumtreiben gewesen war: Sie alle hatten gemein, dass sie in ihr ins Auge gestochen waren.
Sie hatte sie absichtlich gereizt und mit aller Leidenschaft an ihrer Seite gewollt– nacheinander versteht sich.
Bei Garion war es hastig schnell gegangen, fast beängstigend schnell. Calfang und Zerwas waren härtere Brocken gewesen. Gelohnt hatte es sich nur bei Phexdan.
Wie eine Mirhamionette lief sie an den Fäden ihrer Hirngespinste. Ahlemeyers alte Sattlerei tauchte in der Dunkelheit auf. Immer wieder peitschte der beginnende Sturm Tropfen in ihr Gesicht.
Egal, wie ihr Leben bisher verlaufen war, sie war nicht zufrieden.
Immer nagte es an ihrer Seele. Ob es ein unstillbarer hexischer Wesenszug war oder schlicht die Tatsache, dass es ihr an einem Menschen fehlte, der ihr genau das gab, was sie brauchte und für den sie dasselbe tun konnte, vermochte sie nicht zu sagen.
Sie wollte nicht verbittern. Nicht schon jetzt, bei all der Zeit, die ihr blieb, hatte sie noch genug schlechte Jahrzehnte vor sich, davon war sie überzeugt. Sie wollte durchhalten, starrköpfig und geistesstark.
Ihr klarer werdender Blick offenbarte ihr Ahlemeyers Pension. Es brannte Licht, die Fenster vermittelten Wärme.
Augenblicke vergingen, in denen sie sich verhielt wie eine von Yol-Anas Steinstatuen.
Gehen? Bleiben? Einfach verschwinden?
Ein Ende mit Schrecken?
Ein tiefer Atemzug dehnte ihre Brust, als sie sich Phexdans süßes Lächeln vorstellte.
Nein. Nicht mehr. Nicht weglaufen.
Am Ende sah sie ihn nie wieder und das würde sie für immer bereuen. Für immer. Und das war lang.
Aber jetzt gerade konnte sie seine Anschmiegsamkeit nicht ertragen. Nicht ihretwillen, nicht seinetwillen. Sie verdiente seine Zuneigung nicht. Nicht jetzt.
Sich abwendend hielt sie schneller auf das Puniner Tor, den Weg ins Südquartier zu. Sie würde durch die Mannluke kommen, mit Hilfe des Ringes der Wache.
Der Tempel der Schatten war der einzige Ort, der sich wirklich nach Geborgenheit und Verständnis anfühlte. Sie konnte nicht anders und sprach die lautlosen Worte des Göttlichen Zeichens. Bitte, zeig mir, dass du bei mir bist, mein Herr, mein Liebster, mein Gott… Und sie erflehte heiß sinnend sein Lachen. Und Phex ließ es zu, gab ihr das Gefühl, beschützt zu sein und schmunzelte leise lachend in sie hinein. Doch auch Phex war nicht Satinav. Phex konnte nicht in die Zukunft sehen.
16. Peraine 20 Hal
Als Neferu die Augen öffnete, schmerzte es. Ein Lid war geschwollen und pochte unsäglich.
Wo war sie? Was war passiert? Die niedrige Morgensonne drang durch ein schäbiges, glasloses Fenster und flutete den kärglichen, aber sauberen Raum, den sie nicht kannte.
Ihre Fingerspitzen ertasteten das Bettgestell, auf dem sie lag. Die Wolldecke mit den gestopften Löchern kratzte auf ihrer nackten Haut.
Nackte Haut…
Sie fror.
Neferu versuchte sich zu erinnern, aber sie fand keinen Anhaltspunkt. Sie hatte Phexens Lachen gehört… Und dann? Wie war es weitergegangen?
Verwirrt versuchte sie sich aufzurichten. Ihr Körper fühlte sich steif an, sie fühlte Blessuren, als sie sich auf die Ellenbogen stützte.
Schritte kamen von links, gingen über Holz.
„Wie geht es Euch, Fräulein?“ eine verhärmte junge Frau lächelte matt und sah sie an.
War das nicht Tormans Mutter? Wie um alles in Dere…
Sie hatte zum Phextempel gewollt – mehr wollte ihre Erinnerung nicht preisgeben.
„Wie komme ich hier her..?“ Ihre Stimme klang überraschend funktional, wenn auch etwas heiser. Immerhin war sie nicht halbtot.
Die Miene der Mutter des kleinen Informanten wurde mitleidend.
„Die Jungs haben Euch schreien gehört und..“
„Schreien?“ Ungläubig starrte Nef sie aus einem großen und einem malträtierten Auge an. Sie stellte sich vor wie sie auf dem dreckigen Boden in Eschenrod lag und schrie. Es war nur ein konstruierter Gedanke, die Erinnerung an die Ereignisse blieb fern.
Behutsam und langsam ergänzte die Eschenroderin:
„Ihr seid hübsch, Fräulein – und habt diesen schönen Mantel getragen, sagt Fricken..“
Nef wurde übel. Eschenrod…
Genau, sie war nach Eschenrod gegangen, denn in einem Anflug von Euphorie hatte sie die kleine Hex (so der Name des Mädchens) und die zwei Jungen, die Anzeichen zeigten, sich dem Listenreichen dienlich erweisen zu können, mit in den Schattentempel nehmen wollen. Das Waisenhaus war ihr Ziel gewesen.
Sie hatte nicht an die Gefahren gedacht. Eschenrod war ihr immer vertraut gewesen. Sie hatte eine lange Zeit hier gelebt. Sie hatte sich sicher gefühlt, überlegen aller Gefahren der Straße, selbstbewusst gegenüber den Lungerern und Zerstörten. Und insgeheim musste sie sich eingestehen, dass sie unvorsichtig geworden war, ob all der Überheblichkeit, dem Gefühl, der Stadtteil würde irgendwie ihr gehören.
Und jetzt… Sie ahnte Schlimmes.
Ihre Finger schoben sich unter die Decke…
„Sie sind zu sechst gewesen, Fräulein.“ fuhr Frau Torman – so nannte Nef sie in Gedanken (denn sie war die Mutter von Torman, einem ihrer kleinen Spitzel) – fort.
„Sie haben euch den Umhang geklaut. Und was Ihr am Gürtel hattet. Und..“
Neferus Finger erreichten ihren Unterleib. Die kleinste Berührung dort trieb ihr Tränen in die Augen, als sie die Blutergüsse in den tieferen Regionen ertastete.
„Das… ist nur einer von Ihnen gewesen. Ihr hattet noch Glück, wahrscheinlich hätten die Euch umgebracht, aber die Jungs waren noch draußen und..“
Die Phexgeweihte erlag der Übelkeit und übergab sich.
19. Peraine 20 Hal
Seit drei Nächten war sie nun im Perainetempel und verschlief den halben Tag. Die Erinnerung an das Geschehene war nicht zurückgekehrt und würde es auch nie wieder. Salpico hatte seinen Zeigefinger auf ihre Stirn gelegt und die Bilder der Gewalttat mit Magie herausgerissen. Er hatte sie sich selbst einverleibt. Auch Phexdan hatte er sie gezeigt.
Nef befand sich in der ungewöhnlich seltsamen Situation, die einzige des Dreiergespanns zu sein, die sich nur aus Erzählung an die Schändung ihres eigenen Körpers erinnerte.
In den Händen von Dimione und Rohalides wollte sie genesen. Eine seltsam monotone Ruhe lag in ihr.
„Das ist der Schock.“ Hatte Dimione noch am ersten Tag erklärt.
Nef fühlte sich wie vor einigen Monaten, als Zerwas sie zur Ader gelassen hatte. Blass, kränklich und blutarm.
Die zwei Geweihten der lindernden Göttin hatten die Wunden bluten lassen. Erste Anzeichen einer schlimmeren Krankheit erforderten solche Maßnahmen.
Absurd. Hatte sie gedacht, als sie in einem warmen Bad aus Kräutern, Wasser und ihrem eigenen Blut gesessen hatte. Die bleierne Gefühllosigkeit irritierte sie.
Warum rastete sie nicht aus?
Phexdan und Salpico hatten wesentlich schwerer an der ganzen Sache zu tragen, hatten sie sich doch mit der Erinnerung belastet, die ihr erspart geblieben war.
Jeder der beiden ging auf seine Weise damit um. Phexdan ungewöhnlich still und sich abwendend, Salpico in sprühender Wut.
Sie konnte in dem Moment nur diese beiden um sich haben. Sie kannte sie am längsten, am Besten und auch wenn sie gute Freunde in Gareth gefunden hatte, wollte sie sich in diesen Tagen an das halten, was sie schon vorher gekannt hatte. Bevor sie zurück in die Hauptstadt gereist war.
So bat sie die Perainegeweihten, niemanden herein zu lassen, außer den tulamidischen Magier und den maraskanischen Wuschelkopf. Trotzdem hatte sie am Puniner Tor der blonden Wachfrau Helchtruta beim Durchkommen Bescheid gegeben, dass sie angegriffen worden war. Sprengler sollte wenigstens wissen, was los war.
„Wir müssen sie finden. Und wir müssen sie strafen.“ Hatte ihr Urteil über die sechs Männer gegenüber ihrer zwei engsten Freunde gelautet.
Selbst Phexdan stimmte diesem Maß an Selbstjustiz mit bitterer Miene zu.
„Aber lass es mich auf meine Art machen..“ hatte Salpico düster geschnarrt und unüberlicherweise hatte Neferu dem ihre Zustimmung gegeben.
„Auf deine Weise, Salpico.“
20. Peraine 20 Hal
Viel zu früh erwachte Neferu. Ihr Herz klopfte unregelmäßig und laut. Ihr war, als würde ihr Körper mit jedem Schlag in seiner Gesamtheit beben.
Ein Verfolgungstraum. Und mit diesem Traum kam der blanke Zorn. Sie ließ sich nicht in die Ecke drängen. Nicht verscheuchen noch schänden. Fremde, schäbige Männer hatten gewagt, sich ihrer mit roher Gewalt zu bemächtigen.
Sie wollte sie alle tot sehen.
Noch vor Mittag durfte sie gehen. Eigentlich hätte sie heute mit der Torman-Familie zu Mittagessen wollen, um einen Kontakt zur Alten Gilde herzustellen. Eigentlich. Statt dessen kleidete sie sich fast gänzlich in Schwarz, wie es selten war und Trug ihre rote Tuchrüstung dazu.
Sie wollte nicht noch einmal schutzlos in Eschenrod herumspazieren.
Gemeinsam mit Phexdan und Salpico, die – wie sie nebenbei bemerkte – beide zufälligerweise in Schwarz und Blau gekleidet waren, hielt sie auf das Puniner Tor zu, in der mittäglichen Perainesonne, die alles, jede Kontur, in klarer Deutlichkeit hervorhob und beleuchtete.
Sie wollte sich bedanken. Bei Tormans Eltern.
Und sie wollte sich nicht aufhalten lassen. Sie wollte stur tun, was sie heute ohnehin vorgehabt hatte. Sie wollte verbissen anknüpfen.
„Wo kommt ihr her und wo wollt ihr hin?“
„Wir sind aus dem Arena-Viertel und wir wollen nach Eschenrod, da wir gedenken dort in Kürze ein passables Bordell zu eröffnen. Wir haben vor zu diesem Zwecke eines der Häuser der Familie Bugenhoog aus der Weststadt abzukaufen.“ Ihre Antwort kam schnell und war nicht einmal gelogen.
Sie wurden durchgelassen.
Ihrer aller Finstermienen nach verwunderte es sie gar nicht, dass man das Grüppchen für eine Stichprobe auserwählt hatte. Phexdan und Salpico flankierten die Frau in ihrer Mitte und gemeinsam bogen sie in den Sonnenweg ein, die durch das Elendsviertel führende Ader.
Dutzende leere Augen beäugten sie missbilligend, ängstlich oder neugierig.
Die Wäscherin Hertwig Butterweck war bei der Arbeit und bekam von Neferu an diesem Tag keinen Kreutzer für eine Information, sondern nur ein knappes Nicken. Ein gutes Nicken. Ein Nicken bedeutete Verbundenheit, die locker oder fest sein mochte. Aber immerhin keine Abneigung.
Ihr Ziel war die Mietskaserne, in der Tormans Eltern lebten.
Die Mutter machte große Augen, als sie die fünf Dukaten bekam, die Neferu ihr in die Hand legte.
„Für meine Freunde will ich nur das Beste.“
Die Frau bedankte sich überschwellig und ihre Dankbarkeit nutzend, kam die Hexe zum Punkt.
„Und ich will Kontakt zur Alten Gilde.“
Als sie nach getaner Arbeit und ausgehandelter Abmachung wieder nach unten auf den Markt kam, schlug Salpico die Zeichnungen an, die Neferu von den sechs Männern gemacht hatte – immerhin die Gesichter hatte der Schwarzmagier sie sehen lassen.
Phexdan stellte sich auf einen Stuhl, während sich eine dreckige Menschentraube um ihn versammelte. Die Belohnung – Regenbogenstaub –war eine Verlockung für das Gesindel.
Huschenden Blickes bewegte sich Nef währenddessen über den Markt.
Sie wollte sich selbsttätig umsehen.
Und wider Erwarten war er da.
Nicht der Täter, der sie genommen hatte, einer von denen, die zu spät an der Reihe gewesen waren.
Er kauerte sich in den Schatten eines Hauses, maß seine Chance zu entkommen. Er hatte sie vielleicht noch nicht gesehen.
Sofort suchte sie Phexdans Augen. Sie gab ihm mit füchsischen Handzeichen zu verstehen. Die Nachricht wanderte weiter zu dem Magier. Und mit dessen Wut hatte niemand gerechnet.
Sie überwältigten ihn. Der Mann erhielt von ihr die Wahl: Den ungebremsten Zorn eines Dämonologen oder die Gerichtsbarkeit. Der Feigling entschied sich selbstverständlich für den zweiten der beiden Wege. So war er nur des Todes, wie er wohl vermutete.
Salpico und Phexdan hielten den Gefangenen, der aus vielen Körperöffnungen blutete, während Neferu sich am Puniner Tor bei Weibel Sprengler anmelden ließ. Sie warteten im Erdgeschoss des Wachturms, ehe der hochgewachsene Mann die Leiter hinabgestiegen kam.
Seine Verwunderung wich nach wenigen Augenblicken.
Neferu ließ den Gefangenen beschrieben, was er und seine Kumpanen getan hatten. Das Abpassen der Unvorsichtigen, das Vergewaltigen durch den Ersten, die Störung durch die Jungs und sogar die Absicht, sie anschließend zu beseitigen.
Aber das reichte ihr nicht.
„Zeig sie ihm! Zeig ihm die Erinnerung, Salpico! Ihr stimmt doch zu, es selber sehen zu wollen, Weibel?“
Voltan nickte. „Was muss er denn dafür-“
„Memorabia Falsifir.“ Unterbrach ihn die dunkle Stimme des tulamidischen Magiers.
Voltan Sprengler griff sich an den Kopf, seine grauen Augen weiteten sich.
„Macht, dass es aufhört!! Macht es weg!! Nehmt es fort!“
Salpico schnippte mit den Fingern und machte eine wegwischende Bewegung.
Soviel Macht in diesem Mann.. schlich es bewundernd durch Neferus Kopf. An diesen Tagen sah sie den Brabaker in einem anderen Licht. Die Hexe hatte die Oberhand in ihr. Und sie verlangte nach nichts als Rache.
„Macht ihn fertig für die Rabenstatt.“ Brach es außer Atem aus Sprengler hervor. Blass starrte er seine Gäste an.
„Weibel..?“ Die zwei anwesenden Wachen zögerten, „Meint Ihr nicht.. für das Gerichtsverfahren?“
Hastig nickte Voltan Sprengler.
„Für das Gerichtsverfahren. So ist es.“
22. Peraine 20 Hal
Gegen Mittag eilte Neferu bei Nieselregen durch Gareth. Der Weg war nur kurz, er führte sie von Ahlemeyers Unterkunft in der Schnittengasse zum Puniner Tor.
Sie brauchte dringend Rat. Einen verstandsbetonten Menschen, mit dem sie sich austauschen konnte. Sie musste reden, mit jemandem, der einen kühlen Kopf bewahren konnte oder von dem sie das wenigstens dachte! Zuerst Sprengler, dann Isenbrook und im Notfall auch Dexter Nemrod – so sah es ihr Plan vor.
Lamiadon war bei ihr gewesen. Auf Anraten Salpicos war der Elf gekommen und hatte einen Zauber gewirkt, der in der Lage war Sikaryan zu erspüren, die Lebenskraft, die einem Menschen und anderen lebendigen Wesen zuteilwurde, in der Sekunde, in der sie erschaffen wurden.
Und dieser harmlose Zauber hatte ihre Welt aus den Angeln gerissen.
Die Bastarde hatten sie geschwängert.
So unwahrscheinlich das auch gewesen war, so real war es jetzt.
Die Vergewaltigung hatte nicht nur ihren Körper geschunden und die Angst in ihr zum Vorschein gebracht, sie hatte auch deutlichere Spuren zurückgelassen. Male, die die Perainekirche nicht hatten heilen können. Ein Leben war in ihr erwacht und der Gedanke war so erdrückend, dass sie den Wunsch hatte, ihren Körper zu verlassen und in einem neuen und unbeschmutzen zu erwachen.
Der Weibel war zugegen.
Dieses Mal machte sie sich nicht den Spaß, sich an ihn heranzuschleichen. Sie wollte ihn nicht necken. Es schien ihr, als sah er die Panik und Abscheu in ihren Augen, er legte die Schreibfeder beiseite und stand von seinem Stuhl auf.
Er rückte ihn und einen weiteren an den Kamin der zugigen Wachstube.
„Setz dich.“ Bat er.
Sie setzte sich.
„Ich bin hier, weil ich jemanden brauche, der bodenständig ist und der mir einen guten Rat geben kann. Ich weiß, wir kennen uns nicht allzu lange, aber ich mag dich.“ Begann sie leise, ohne den Blick von seinen grauen Augen abzuwenden. Zwischen ihren Körpern lag Distanz auf zwei Ebenen. Die Stühle waren nicht sonderlich dicht aneinander geschoben. Diese weltliche Separation aber war verschwindend unwichtig neben dem zweiten Grund: Sie wollte ihren Körper für sich und er – vielleicht aus einer Höflichkeit, die ihn von Kindesbeinen an ausmachte heraus – schien es zu ahnen und ließ ihr Raum. Kein tröstendes Streicheln der Schulter, kein Rückenklopfen, nichts. Sie dankte es ihm zutiefst und ging auf in der körperlosen Verbindung ihrer Blicke.
„Es ist etwas passiert… Es ist fast schlimmer, als das, was in Eschenrod passierte, denn immerhin erinnere ich mich nicht mehr daran, dank Salpico. Lamiadon war bei mir. Er wirkte einen Zauber.“ Sie zitterte schwach und blickte ihn vielsagend an.
„Sie haben mir ein Kind gemacht. Und es wäre ein Tsafrevel, etwas dagegen zu unternehmen, oder nicht?“
Sie konnte nicht beschreiben, wie es passiert war, aber es war dem Inspektor gelungen, sie zu beruhigen. Kein oberflächliches Ruhigstellen, vielmehr eine innere Ruhe.
Vor Stunden hatte sie ihm mitgeteilt, wie es um ihren körperlichen Zustand bestellt war. Er war bestürzt gewesen, aber er hatte sie trotzdem gerettet.
Er hatte sie weder in den Arm genommen noch diverse Ratschläge erteilt.
All das hätte ihr nicht geholfen.
Stattdessen hatte er ihr Brot mit Pilzpastete gegeben und ihr zugesagt mit ihr in den Tsatempel zu gehen, um nachzufragen. Seine Präsenz nahm ihre Hemmung, diesen Gang zu gehen, denn sie musste ihn nicht alleine beschreiten.
Sprengler hatte sie für die paar Stunden in sein Leben aufgenommen und das hatte ihr wohlgetan. In eine Decke gewickelt lag sie vor dem Kamin, lachte leise über die Kiste, die er über die Bodenluke geschoben hatte und schmunzelte still über seine Reimgesänge mit denen er sich über die verhassten Akten ausließ. Sie wären danach quitt, sicherte er sich matt scherzend ab.
Und so hart der Boden der Wachstube auch sein mochte, ihr unruhiges Herz legte eine leichte, fast beschwingte Rast ein, verlangsamte, ließ sie tief atmen. Und sie schlief ein, begleitet vom sachten Kratzen von Feder auf Papier und dem Rascheln von Buchseiten.
23. Peraine 20 Hal
Schluchzend saß Neferu zusammengekauerte in ihrer Wohnung in Ahlemeyers Altstadthaus und nässte ihre Knie mit Tränen und Rotz.
Phexdan war die Nacht über weg gewesen, hatte sich volllaufen lassen. Und heute… hatte er Gareth und sie verlassen. Er hatte sein Zeug noch in der Nacht zusammengepackt und sich auf den Weg gemacht. Zwar hatte er sie gefragt, ob sie mit ihm kommen wollte, doch hatte er gewusst, dass sie nicht konnte. Zuviele unerledigte Aufgaben harrten in Gareth und hielten sie. Sie wollte nicht gehen, noch nicht. Doch der Maraskaner war am Ende. Er konnte nicht bleiben in dieser Stadt, die ihm in ihrer Größe und Grausamkeit alles abverlangt hatte.
Zwischen ihren Tränen und dem Gefühl allein gelassen worden zu sein, empfand sie Verständnis.
Trotzdem… Ohne Phexdan, ohne die Liebe ihres Lebens war sie dem schwarzen Loch ausgeliefert, das in ihr wartete. Zwar hatte sie Salpico, aber es dämmerte ihr, dass der Schwarzmagier das Schlechte ihres Wesens langfristig nährte, anstatt es mit Heiterkeit und Verständnis zu besänftigen.
Keinen Tag länger wollte sie in diesem Raum bleiben.
Während sie und Salpico ihre Zimmer räumten, herrschte tiefes Schweigen.
Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Und Nef spürte wie sich Kälte in ihr ausbreitete. Erst im Herzen und von da aus in die Zehen, Finger und jede Haarspitze.
Ihre Mimik wurde härter, der Schmerz nahm ab. Sie war wieder allein. Sie machte Phexdan keinen Vorwurf. Sie verstand ihn voll und ganz, war sie doch selbst oft genug vor Problemen davon gelaufen.
Als die Zimmer leer waren, das wenige Hab und Gut in einer Ecke stand, zog sie ihre besten Kleidungsstücke an, schnitt sich in den Fingern und verteilte das Blut auf ihren Wangen.
Satuarias Herrlichkeit.
Galant schob sie ihren Arm in den des Magiers.
„Gehen wir, Salpico. Wir werden ein Haus kaufen.“
Der Handel war gemacht, ihre Unterschrift getätigt. Die Bugenhoogs hatten nicht weiter gefeilscht, wie sie es erhofft hatte. Fünfhundert Dukaten hatten den Besitzer gewechselt und sie war jetzt die Besitzerin einer dreistöckigen Bruchbude in Eschenrod.
Während Salpico und sie das renovierungsbedürftige Gebäude besichtigten, trugen gut bezahlte Tagelöhner ihre Sachen hinein. Am Ende würde Salpico sie mit einem Zauber schützen. Niemand sollte je wieder Hand legen an die Dinge, die ihr gehörten.
Salpico konnte ihr das Versprechen abringen wenigstens die folgenden drei Tage noch in einer Herberge zu nächtigen in der auch das Fohlen Elster seinen Platz fand. Er mietete ein großes Doppelzimmer im „Schwert in Panzer“ und besorgte ihr Tollkirschensud.
Im Tsatempel (zu dem sie Sprengler am vorherigen Abend geleitet hatte) hatte sie erfahren, dass es nicht nur erlaubt, sondern sogar ratsam war, die Frucht einer Vergewaltigung zu beseitigen. Die Kinder, die daraus erwuchsen trugen nicht selten einen dämonischen Kern.
Sie schluckte den Sud. Zwei Stunden sollte es dauern, ehe er zu wirken begann.
Salpico war an ihrer Seite. Für seine Verhältnisse war er überraschend verständnisvoll.
Er nahm sie in den Arm und spendete ihr freundschaftlich Trost. Aber noch während er sie eng an sich gedrückt hielt, war ihr, als sei sie diejenige, die ihm den Halt gab, in der Welt zu bestehen und nicht anders herum.
Ihm war das Alleinsein ein solcher Graus, dass er sie brauchte.
Salpico war anschmiegsam. Wäre er ein Kater, er hätte geschnurrt, da war sie sich sicher.
Neferu sprach von ihrer Rache. Sie redete sich in Rage. Der Tod war nicht genug. Das Misshandeln durch einen Dämon – nicht genug. Sie spürte das schwarze Loch in sich größer werden, es verschluckte tsagefällige Farben und unauffälliges Grau.
Die Ereignisse hatten an ihrer Willenskraft geschabt, sie abgerieben, nach und nach.
Sie wollte die bezahlen lassen, die es gewagt hatten, sich an ihr zu vergreifen – und zwar in einem solchen Maße, dass es nie wieder jemand auch nur erwägen würde, die Hand gegen sie zu erheben! Sie sollten sie fürchten und in geflüsterter Hochachtung von ihr sprechen!
Ihre eigene Stimmlage schreckte sie auf. War das noch sie?
Salpicos pechfarbene Augen sahen sie besorgt an. Selbst er riet ihr ab, sah, was das Gefühl mit ihr tat.
„Ich muss nach draußen…“ Sie erhob sich hastig, zog sich an, verschloss die Fuchsfibel im roten Lodenstoff des Umhangs.
„Wir werden gehen.“ Salpico war zur Stelle, bereit ihr ein Freund zu sein. Doch sie wollte nicht nur um die Häuser streifen.
„Ich gehe allein.“
„Du wirst gehen.“ Gestand ihr Salpico schnarrend zu.
Sie wollte zu Voltan Sprengler. Abermals.
Der Wind hatte sie steifkalt geweht, als sie schnellschrittig durch die Kaserne in Nardesheim eilte, um dem zu begegnen, dessen Ruhe sie schon einmal zur Vernunft hatte bringen können. Und es war nicht nur das – sie genoss jeden Augenblick, den sie teilten. Es war für sie jedes Mal schwer, zu gehen, wenn er zugegen war. Er zog sie an. Seine Worte waren klug und verständig.
Und er war ein Inspektor der CriminalCammer und sie eine Phexgeweihte, deren letzter Einbruch eine Woche her war.
Verphext. Verhext.
Voltan Sprengler gab ihr nicht das Gefühl, sie vor eine Herausforderung zu stellen. Da gab es nichts, was sie bei ihm durchdringen wollte. Natürlich war sie neugierig auf das Leben des Mannes. Eine gesunde Neugier, ein ehrliches Interesse. Aber ihr war nicht daran gelegen Langmut auf die Probe zu stellen oder Etikette zu brechen. Sie wollte seine Gesellschaft, ganz schlicht.
Sie klopfte. Dreimal rasch.
„Ist offen..“ Er klang müde, abgekämpft. Ein bisschen genervt sogar.
Andächtig langsam, als dringe sie in das Allerheiligste eines Tempels vor, öffnete sie die Tür.
Er saß auf einem Stuhl nahe dem Kamin und blätterte in einigen Akten, die auf seinem Schoß lagen.
Als er endlich aufsah, stand sie schon im Raum, schloss die Tür hinter sich.
Seine grauen Augen weiteten sich voll Überraschung.
„Du..!?“ mehr entkam seinen Lippen nicht, er erhob sich sofort, legte noch in derselben Bewegung die Pergamente auf den Tisch und schloss zu ihr auf.
Sie blickte ihm in dieses sprachlose Gesicht und die ambivalent vielsagenden Augen.
„Guten Abend, Voltan. Ich… wollte mit dir sprechen. Phexdan hat die Stadt verlassen und wir – Salpico und ich, haben unsere Zimmer geräumt.“
„Das habe ich gemerkt, ich bin da gewesen.“ Entgegnete er hastig.
„Wo seid ihr nun?“ fügte er eilig hinzu, schuf Distanz zwischen ihnen und schob einen zweiten Stuhl an den Kamin.
„Bitte setz dich!“
Sie fühlte sich durcheinander. Mehrere Male startete sie den Versuch zu formulieren, was ihr durch den Kopf schoss, doch ihre eigenen Gedanken unterbrachen sie ein ums andere Mal.
Immer wieder blickte sie ihm in die Augen, was sie ganz klassisch noch weiter aus der Bahn warf.
„Diese Ereignisse der letzten Zeit, sie hinterlassen Spuren. Ich fühle mich… geschädigt. Ich will ihnen wehtun, Voltan. Nicht nur Gewalt an sich, auch das, was sie…“
Plötzlich fiel ihr etwas ein. Das eingenommene Gift! Sie hatte es gänzlich vergessen.
Sie riss die Augen auf.
„Verflucht!“
Voltan starrte sie an: „Was ist los?!“
„Ich habe dieses Gift zu mir genommen und.. es wird bald wirken!“
„Gift?! Welches Gift? Wer hat es dir verabreicht!?“
„Salpico!“ Sie ahnte, dass dieses Gespräch in ein Missverständnis führen würde, wenn sie sich nicht konzentrierte.
„Er hat es mir besorgt, wegen…“ andeutend legt sie die Hand auf ihren Unterleib. „Ich hatte nur vergessen, dass ich es genommen habe! In etwa einem Stundenlauf wird es wirken!“
Sie biss die Kiefer aufeinander. Soetwas Dummes… Sie wollte nicht vor ihm bluten, heulen, stinken und leiden.
Das war nicht die Seite von sich, die sie diesem Mann so früh offenbaren wollte.
„Du kannst hier bleiben! Nimm das Bett, ich-“
„Nein, schon gut – ich werde in Kürze gehen.“ Sie bemühte sich um Gelassenheit. „Es ist nur so.. Ich habe heute dieses Haus in Eschenrod gekauft. Ich will dort hinziehen. Ich werde Eschenrod die Stirn bieten. Ich will mich wieder sicher fühlen…“
Sie schüttete ihm ihr Herz aus. Baute auf das Fundament des Vertrauens, das sie beide gelegt hatten. Sie erzählte ihm von ihren Gefühlen der Rache. Dem Gefühl der Angst. Sie gestand ihm, dass sie einen Zauber genutzt hatte, um von vornherein ein Feilschen zu unterbinden. Sie wollte ihm noch so vieles mehr von sich preisgeben, ohne eine Gegenleistung zu fordern oder nur zu erwarten.
Sie machte sich verletzbar. Und sie war sich darüber im Klaren. Aber es tat so furchtbar gut, diesem Mann zu offenbaren, wer sie war. Auch wenn er dann und wann mit Bestürzung reagierte. Nie wandte er die Augen ab. Und es beruhigte sie. Die Dunkelheit in ihr wurde kleiner.
Als die Schmerzen, die die Tollkirsche hervorrief nahezu unerträglich wurden, war sie bereits fast in der Herberge, geleitet von Voltan Sprengler.
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