Gareth

Gareth 7 (Neferu) ( –––)

Sie fühlte sich befreit, als sie die Überweisung der Summe für den Anwalt hinter sich gebracht hatte. Ihr war bewusst, dass Groterian an ihr beinahe das dreifache eines normalen Verdientes gemacht hatte. Aber das war es wert gewesen.
Der Mittag war klar und kalt. Zerwas an ihrer Seite sprach nicht viel, hielt den Kopf gesenkt. Sie wusste, dass ihm die winterlichen Sonnenstrahlen mehr zu schaffen machten, als er zugab.
Eilig, Lamiadon an ihrer Seite, schritten sie im Dreiergespann zurück zur Smaragdnatter.

Der Tag schien ihr verheißungsvoll. Ihre positive Stimmung war ungewöhnlich, ließ sie kichern und lachen – wenn meiste Zeit auch lediglich innerlich. Sie war lange aus dem Alter und der Verfassung hinaus, sich wie ein Mädchen aufzuführen.
In der Natter erwartete sie eine Nachricht von Gesse. Dem Mann, der seiner Familie im Haus ihrer Eltern ein gutes Leben ermöglichte.
Bitter stellte sie fest, dass in ihren Gedanken leiser Neid mitschwang. Sie verdrängte den Gedanken an diese Erkenntnis, wollte sich nicht die gute Laune verderben lassen.

Gut, in den Seelander. Mit einem völlig Fremden, der zufällig an der gleichen Adresse wohnte, wie sie vor zwanzig Jahren. Was hatte sie sich noch gleich dabei gedacht?
Immerhin sicherten ihr Salpico und Zerwas zu in der Zwischenzeit zu Nerix Sandsteiner zu gehen, einem Hügelzwerg aus Wallgraben, der den Ruf eines ausgezeichneten Architekten hatte.
Neferu nutzte die zwei verblieben Stunden Zeit um zusammen mit Salpico und dessen neuen Bekannten Thamien Langbart, Magister Extraordinatius der Schwert und Stab-Akademie einen Grundriss für das zukünftige Haus zu zeichnen. Doppelstöckig, mit zwei Kaminen und einer kleinen Terrasse. Der alte Magier mit dem klassischen Rauschebart, warf immer wieder Tipps ein, wenn er es für nötig hielt, seine Pfeife aus dem Mund zu nehmen.
Die Schankstube der Smaragdnatter wurde zum Bauzeichnerbüro.
Mit Wohlwollen betrachtete die Hexe die Freude in Salpicos Gesicht. Echte Freude, deren Grundlage sie gelegt hatte. Sie fühlte sich gut dabei, hatte sie in ihrem Groll doch das Wissen ausgenutzt, dass ihm Alleinsein schlimmer war als das, was Menschen im Allgemeinen fürchteten. Sie hatte ihm längst verziehen. Seit Zerwas wieder da war, betrachtete sie Salpico aus anderen Augen. Mit der Zeit reifte in ihr das Gefühl heran, dem Schwarzmagier tatsächlich überlegen zu sein. Er war nur ein ängstlicher schwacher Mann, der Angst vor Einsamkeit und Tod hatte. Jemand, der ihr Mitgefühl verdiente, nicht ihren Zorn.

Zur rechten Zeit traf sie zurechtgemacht am Zwölfgötterplatz ein. Sie umrundete den Springbrunnen, vor dem überlebensgroße Statuen der Zwölfe standen und ringsum auf die Bürger der Stadt hinabsahen. Von diesem einen speziellen Winkel aus, wirkte es, als greife Phex in Firuns Tasche… Sie musste unweigerlich schmunzeln. Diese entzückende Dreistigkeit… Phexdan.
Das Bild des Phexgeweihten mischte sich in ihren Geist. Ein Augenzwinkern, ein keckes Grinsen… Wann verließ der unzuverlässige Narr endlich wieder ihren Kopf? Sie spürte unmittelbar den Umschwung ihrer Laune. Innere Gewitterwolken zogen auf – eine Wut gegen den Halbmaraskaner gerichtet, der nicht einmal etwas dafür konnte.
Vesper hatte einfach zuviele Jahre mit ihm verbracht. Zuviele untätige Jahre in denen sie beide die meiste Zeit in den Kissen gelegen und sich geliebt hatten.
Mit gemischten Gefühlen dachte sie an die Erinnerung zurück.
Sie nahm sich fest vor, dass dieser Mann ihre Gedanken verlassen musste. Und sie hoffte inständig, dass ihr satuarisches Gefühl mitspielte und sich von dem Tunichtgut löste.
Du kannst es so schnell nicht vergessen…
Sie mahnte den Rat ihrer inneren Stimme und hielt rasch auf das protzige Hotel Seelander zu.

Das Essen mit Kordovan Gesse war entspannter als erwartet. Sie fanden schnell Themen, die sie beide ansprachen und unterhielten sich ungezwungen über Die Zwölfe und Dere.
Sie nahm den bunten Gemüseacker mit Rosenknospen an bornschem Kartoffelstampf und zum Nachtisch Karamelisiertes Orangenparfait, dazu Aquenauer Südhang.
Aquenauer Südhang… Wieder blinzelte ihr der Fuchs verschlafen entgegen, ein vertrautes Lächeln auf den Lippen. Eine blasse Erinnerung aus Khunchom, einer der unzähligen sonnigen Morgenden, an denen er neben ihr aufgewacht war.
Sie lenkte das Gespräch auf das Geschäft Gesses. Er war ein Händler von Eisen- und Rüstwaren. Ein Händler… Verpasse keine Gelegenheit, die sich bietet.

„Ich habe in den Dingen meines Vaters ein Papier gefunden, das wohl mit einem Geschäft zusammenhängt, wohlmöglich mit Stoerrebrandt. Ich weiß nicht wie alt es ist, aber es werden die Abkürzungen BO und STB verwendet. Es geht wohl um die Soldliste eines bewachenden Wagenzugs.“, log sie freundlich lächelnd, „Ich hoffe Ihr haltet mich nicht für eine Närrin, aber ich klammere mich so sehr an alles, das ich in die Finger kriegen kann, was meine Eltern hinterlassen haben und vom Feuer übrig ist, versteht Ihr?“
Er verstand. Natürlich verstand er.
Und sie fand Bestätigung in seinen verständnisvollen Ausführungen. BO stand sicherlich für das Bornland, wo der Händler Zeit sparen konnte, so sparte er. Also auch an Buchstaben. Schnell wurde in diesem Metier aus BOR ein BO. Und STB war Stoerrebrandt. Das Fräulein Banokborn hätte da ganz Recht. Diese Abkürzungen für Handelsmänner führte das Handelsregister.
Er nahm an, dass sich die betreffende Handelsabwicklung ob des Alters in einem Archiv befände. Entweder im Zeug- und Lagerhaus von Stoerrebrandt selbst, oder was wahrscheinlicher war: In seinem Kontor im Schlossviertel.

Nach dem Essen zahlte sie weniger als erwartet. 18 Dukaten ließ sie im Seelander.
Ich werde dekadent…
Gemeinsam mit Gesse ging sie durch den Schneeregen nach Nardesheim, zum alten Haus ihrer Eltern. Oder besser. Zu dem Haus, das anschließend auf das Grundstück gebaut worden war.
„Praios zur Ehr‘, den 8 zum Gedenken“ las sie wieder über dem Türsturz und fragte danach. Gesse erzählte ihr von den acht Märthyrern Gareths, die Hela-Horas im Krieg gegen Bosparan hatte verbrennen lassen, zum Zeichen, dass die Zwölfe nicht eingreifen würden, sie zu retten.
Sie wurde überaus herzlich im Hause Gesse empfangen. Die perfekte Familie, hatte Neferu meinen wollen.
Eine Schar fröhliche Kinder, die ihren Vater begrüßten, eine überaus freundliche Ehefrau, die sogleich Tee kochte und die Tochter der alten Eigentümer herumführte.
Duridanya, so ihr Name, war das Verständnis in Person. Sie war so zuvorkommend und gutherzig, dass Neferu eine Weile ein böses Geheimnis vermutete. Oder immenses Schauspieltalent.
Aber selbst nach zwei Stunden noch, längst nachdem sich die zwei Frauen vom Rest der Großfamilie in einen kleinen Salon abgesetzt hatten, erschien nichts an Duridanya, das Misstrauen rechtfertigte. Neferu hatte ein solches Gefühl selten bei Menschen. Es passierte vielleicht alle fünf Jahre einmal, dass ihr jemand begegnete bei dem sie das Gefühl hatte, ihm nach kürzester Zeit das Herz ausschütten zu können. Und so war es bei Duridanya Gesse: Neferu erzählte von Zerwas, von Phexdan, zeigte der Blondbezopften Zeichnungen aus ihrem Tagebuch beider Männer.
Die Gespräche drehten sich großteils um das andere Geschlecht. Und es tat Nef gut mit einer Seele darüber zu sprechen, die außenstehend war und keinerlei Voreingenommenheit zeigte.
Sie betitelte Phexdan als süß und Zerwas als Augenschmaus.
Und Nef fühlte sich eine kurze Weile integriert und Zuhause.

Erst auf dem Weg in der Dunkelheit allein zum Smaragdnatter durch das aufkommende Schneegestöber fand der Stein zurück auf ihr Herz, der da versteckt schon mehrere Jahre weilte, wenngleich er auch kleiner geworden war.
Phexdan süß… Zerwas ein Augenschmaus. Sie bemerkte das jeder mit dem sie über diese zwei Männer – ‚Vespers zwei Männer‘ – sprach, Zerwas als den Begehrenswerteren herausstellte. Und selbst wenn sie das vor Jahren ebenso emsig verteidigt hätte, so gab es mittlerweile eine kleine Stimme die flüsterte, sie solle eine neue Zeichnung von Phexdan festhalten. Ein Bild, das ihn so zeigte, wie er war: Zerwas ebenbürtig.

Gareth 6 (Salpico)

Es war mitten in der Nacht und seine Kerze war schon deutlich herunter gebrannt. Salpico aber war das gleich. Seine Laune war so gut wie schon lange nicht mehr. Die letzten Wochen hatten sein Leben in einer Weise verändert, dass es Hexerei sein musste. In Gedanken beglückwünschte er sich zu diesem gedachten Wortspiel. Immerhin war es tatsächlich das Auftauchen einer Hexe gewesen, dass die Dinge zum Besseren gewendet hatte.
Auf dem Tisch vor ihm lag eine Grundrisszeichnung, die nicht weniger als drei Stockwerke eines Hauses zeigte, das noch nicht existierte. Seines Hauses. Beglückt lehnte er sich nach hinten in die Bank des Schankraumes der Smaragdnatter zurück. Die Taverne hatte schon vor einer – oder zwei, so genau konnte er das nicht sagen – Stunden geschlossen und so war es totenstill im Schankraum, in dem die flackernde Kerze des Adepten die einzige Lichtquelle darstellte. Lamiadon, der langohrige Eigentümer des Etablissements war im Bett und auch Langbart – der Magus mit dem beschränkten Eigennamen – hatte sich brummelnd verabschiedet.
Die langen Finger Salpicos verschränkten sich hinter seinem Kopf und stützten ihn, während er an die Decke sah, die im Dunkel des Raumes zu verschwinden schien. Die drückende Dunkelheit des leeren Raumes scherte ihn nicht. Brabak hatte beim Austreiben irrationaler Ängste ganze Arbeit geleistet. Beinahe jedenfalls, wie er eingestehen musste. Seit seiner Zeit in den fensterlosen Gemäuern der Zitadelle der Toten begleitete ihn die Furcht davor allein zu sein, schlimmer noch, einsam zu sterben. Vergessen von der Welt, ehemaligen Freunden, seinen Eltern und sogar Boron selbst. Um dieser Angst zu begegnen hatte er sich in das ungeliebte Studium gekniet. Ein einsamer Tod – der Tod überhaupt – so hatte er angenommen, ließe sich durch die Herrschaft über den Untod und Dämonen sicherlich verhindern. Und auf die eine oder andere Weise stünde er mit diesen Künsten niemals allein, wenn auch seine Freunde nicht immer atmeten oder auch nur körperliche Gestalt besaßen.

Zwar hatte keiner seiner Studienzweige den entsprechenden Erfolg gebracht, aber dennoch waren sie keine Fehlschläge gewesen. Von den potenten Helfern und Schergen einmal abgesehen, die sich sowohl in denen fanden, die der Ruhe des Todes entrissen waren, als auch in jenen, deren Chaos man in geregelte Bahnen zwingen musste, waren es die Grundlagen der Zeit, des Zerfalls und der Magie an sich gewesen, die ihm wichtige Erkenntnisse über seine Ängste und die Lösung seiner ärgsten Probleme geliefert hatten. Auf dem Weg in die Welt hinein, war er dann auf Neferu getroffen, hatte sich wohl und geborgen gefühlt. Sie selbst hatte erst wenige Jahre zuvor erfahren, dass ihr Leben kein natürliches Ende nehmen würde – und das hatte ihm nicht nur einen Freund oder sogar eine Geliebte für die Ewigkeit direkt auf seine Schwelle gestellt, sondern ihm auch die Sicherheit gebracht, dass Unsterblichkeit zu erringen kein vergebliches Unterfangen war.
Eine Weile hatte er ihre Gesellschaft genossen, bis wenige Worte ihn der neu gewonnenen Wärme beraubt und ihn zurück in die schwarze Kälte der Einsamkeit getrieben hatten.

Trübe blinzelte er in das Zwielicht des Raumes und setzte sich wieder aufrecht an den Tisch, während er an die ersten Tage nach seiner Trennung von Neferu zurück dachte. Jetzt schien ihm alles zu einem einzigen Wirbel verschmolzen zu sein. Einer Abfolge von Handlungen und Erlebnissen, die mit dem Wort „Existieren“ besser beschrieben waren als mit dem Wort „Leben“. Er hatte versucht, sich von seinen Ängsten zu lösen, sich vor ihnen zu verstecken. Zuerst war er mit Raj gereist, nach Al’Anfa, eine Stadt, die er mochte und zugleich mit traditionsreichem Hass strafte. Dort waren viele Menschen gewesen, aber seine Einmischung in die Geschicke einer Grandenfamilie und der magischen Fakultät der Universaluniversität der Stadt hatten das Pflaster wärmer werden lassen, als ihm lieb war. Die Lösung war gewesen, sich von dem verbliebenen Begleiter zu trennen, dem der Geruch dieser Stadt anhaftete. Wieder war er geflohen, hatte irrsinniger Weise versucht sich vor der Einsamkeit zu verstecken, indem er seinen Kleidungsstil änderte und herumreiste. Als er Nacht für Nacht in seinen Herbergszimmern eingeholt und überrumpelt worden war, hatte seine geistige Gesundheit ernsthaft auf dem Spiel gestanden. In dem Versuch vor dem Ertrinken einen rettenden Ast zu fassen zu bekommen, hatte er seine Pläne verworfen und hatte den einzigen Ort angesteuert von dem er annahm, dass es wahrhaft unmöglich sei, dort jemals einsam zu sein: Gareth.

Die Stadt war kein Allheilmittel, das war ihm bewusst. Aber sie war laut, überfüllt und unruhig. Hier pulsierte das Leben und hier wohnte der Tod. Die Ankunft in der Smaragdnatter, einem Ort, an dem sich Wissen zwanglos traf, an dem man ansprechen konnte, wen man wollte und an dem Lamiadon auf ein langes, glückliches Leben zurückblickte, hatte den Nekromanten vom Abgrund zurück gerissen. Zwar hatte es immer noch schwer auf seinen Schultern gelastet, dass er keine Seele auf dem Derenrund seinen Freund nennen konnte, aber wenigstens war die nahende Katastrophe abgewendet worden und er fand in den lärmenden Abendstunden paradoxer Weise die Ruhe, die er dringend benötigt hatte.
Eines Abends dann, nach einem Gespräch mit Langbart, hatte er über seine Suppe gebeugt gesessen, als eine Stimme ihn hatte zusammen fahren lassen. „Salpico!“ hatte er verstanden und war fest davon überzeugt sich verhört zu haben. Außer Langbart hatte er kaum jemandem seinen wahren Namen verraten. Aus dem Schutz seines Eckplatzes heraus hatte er Neferu erspäht, war erschrocken und hatte erst einmal den Mut sammeln müssen, sich an sie zu wenden.

Seitdem war eine Woche vergangen. Neferu hatte ihm vergeben – wenn er sich auch noch immer nicht sicher war, warum oder ob diese Vergebung vollständig war – und ein Grundstück in der Weststadt geerbt. Ohne zu zögern, hatte die freigiebige Hexe ihm angeboten, zusammen mit ihr und ihrem – ja was eigentlich? Ihrem Geliebten? Ihrem Verlobten? Beiläufig kratzte er sich an der Braue und sah noch einmal auf die Zeichnung vor sich zurück. Ihrem Vampir, beschloss er dann. Sie hatte ihm angeboten mit ihr und ihrem Vampir zusammen auf diesem Grundstück zu leben. Mehr noch – nach den ersten Planungen hatte sich herausgestellt, dass Salpicos Haus wesentlich kleiner und damit günstiger werden würde, als das der Hexe und ihres Mannes. Deswegen hatten sie den Entschluss gefasst das Haus – sein Haus – zuerst zu errichten. Die finanziellen Mittel dafür waren vorhanden, das Grundstück auch.
Vergnügt strich er sich über den Bart. Er würde in weniger als einem Götterlauf ein Haus mit eigener Bibliothek und _Glasfenstern_ in der Weststadt Gareths besitzen. Einer Stadt, die sicherer kaum sein konnte und in der niemand einen Nekromanten vermutete. Und besser noch – Neferu hatte einen Bund aufgetan, der sich selbst ‚Zirkel der freien Wissenschaften‘ nannte. Ein loser Zusammenschluss grauer und schwarzer Magier, die ihren Forschungen dort weitestgehend ungestört von moralischen und juristischen Grenzen nachgehen konnten. Er saß mit Freunden und Verbündeten auf einem großen Grundstück in einer der teuersten Gegenden Gareths in seinem eigenen Haus, während eine Forschungseinrichtung mit geringen Einstiegsvoraussetzungen fußläufig zu erreichen war.

Ein weiterer Blick streifte den Grundriss, der vor ihm auf dem Tisch lag. Eine Sache gab es noch, die ihm Sorgen bereitete. Der Vampir und der Phexgeweihte waren sich Spinnefeind, weil sie beide hinter der anziehenden Hexe her waren. Aber obgleich davon auszugehen war, dass dieser Konflikt sich irgendwann sehr handfest äußern würde, war es nicht die vernichtende Gewalt karmaler und vampirischer Kräfte – Untote und Dämonen hatten sich im Laufe der Zeit als hervorragende Leibwächter herausgestellt – vor der er sich fürchtete. Viel eher plagte ihn die Sorge vor seiner Beziehung zur Hexe. Er liebte sie, ja. Und natürlich vermisste er es auch in ihren Leib eindringen zu dürfen, aber ihm war – wenigstens für den Moment – sehr wohl dort wo er war. Die vorsichtige Freundschaft, die zwischen ihnen aufkeimte war etwas, das ihm wichtiger war als jeder gehauchte Liebesschwur und jedes Stelldichein. Ein Mensch, der ihm nahe war, besaß mehr Wert, als das Magnum Opus der Nekromantie. Das war ein unumstößlicher Fakt. Aber – würde die Hexe das auch so sehen? Oder würde sie – ernüchtert von der fehlenden abgöttischen Verehrung, die sie gewohnt war – wieder Abstand von ihm nehmen? Ihn aus seinem Haus, aus der Stadt und zurück in die einzige Dunkelheit treiben, die er fürchtete?
Als er sich seiner Umgebung wieder bewusst wurde, stellte er fest, dass er an seinem Daumennagel kaute und einige Spähne davon auf dem Blatt verteilt hatte. Rasch fegte er sie mit der Handkante beiseite und sah wieder auf den Plan hinab. Vielleicht sollte er sich erklären. Reinen Tisch machen. Nichts war schlimmer als die Ungewissheit darüber, ob ein Unheil oder die Erleichterung vor der Tür stehen. Mit beiden Händen hob er das Pergament vom Tisch und nickte sich selbst zu. Er würde das Gespräch mit der jungen Hexe suchen, sobald ein wenig Ruhe in ihr Leben eingekehrt wäre. Bis dahin – wollte er sich über das freuen, was er im Augenblick hatte.

…und sich diesen Zirkel einmal näher ansehen.

Gareth 5 (Feqzjian)

Gareth am Tage war ein Wunderwerk der Menschheit. Ein Kunstwerk, zusammengesetzt aus lärmenden Menschenmassen, golden funkelnden Dächern, Mauern aus Ziegel und wuchtigen Wehrbauten. Eine Stadt die vor Leben überzukochen schien. Eine Stadt, in der das Glück an jeder Ecke lauerte und wo jedes Angebot auch einen Abnehmer fand. Ja, hier kam man vom Bauernalrik zum Stoerrebrandt, wenn man ein paar Kniffe beherrschte und zur rechten Zeit am rechten Ort war.
Bei Nacht aber, bei Nacht war in Gareth eine Magie anderer Art spürbar. Breite Gassen fielen, Flüssen gleich, innerhalb weniger Stunden trocken. Beherbergten bestenfalls vereinzelte Zecher, die auf dem Heimweg strauchelten und von einer Wache aufgelesen wurden. Aber beherrscht wurde die Nacht von der Stille. Einer Stille, die zu dieser riesigen Stadt nicht passen wollte und die gerade deswegen so vollkommen war.

Phexdan saß auf einem Dachfirst in der Nähe der Stadtmauer, die Tempelhöhe umgab und hatte die Beine übereinander geschlagen. Von hier aus konnte er weite Teile der Altstadt überblicken, sah die Lichter, die selbst jetzt – im tiefsten Dunkel der Nacht – für Lichtinseln in der beruhigenden Finsternis dieser ausufernden Stadt sorgten.
Der Wind des Firun wehte ihm nur in schwachen Böen um die Ohren, während er das Meer des Schweigens unter sich betrachtete. Hier oben war es angenehm. Man fühlte sich ein wenig über den Rest der Stadt erhoben. Nicht wegen der blanken Höhe oder der Fähigkeiten, die einen überhaupt unbemerkt auf das besagte Dach gebracht hatten. Nein – was ihn erhob war der Umstand, dass nur die wenigsten die Stille dieser Stadt in ihrer Gesamtheit zu würdigen wussten. Wenn man über Gareth sprach, dann lobte man seine Märkte, die Anzahl seiner Einwohner und seine Erfolge. Seine Heiligen, die Straßen und berühmten Gebäude. Aber niemand würdigte, wie viel mehr Wert die Momente der Stille dieser Stadt waren, als in anderen Orten.
Ein Lächeln legte sich auf die Züge Fexdans, als das Äffchen auf seiner Schulter sich auf die Hinterbeine stellte und sich mit der Linken an seinem Ohr festhielt, um vollkommen tieruntypisch eine Hand abschirmend über seine Augen zu halten und in die Dunkelheit zu spähen. „Ich weiß, Dajin, ich weiß. Ich bin nicht hier, um die Stille zu genießen. Wir haben ein Ziel. Festhalten.“
Zufrieden ließ das Tier sich auf den Hintern plumpsen und packte den Stoff an der Schulter der Kleider des Phexensjüngers.

Agil stieß der Halbmaraskaner sich von dem Dach ab und bekam den Rand eines nahe gelegenen Balkons zu fassen, von wo aus er sich weiter bis zum Dach eines Schuppens schwang. Als er dort sicheren Stand hatte, warf er dem Monarchen auf seiner Schulter einen kurzen Blick zu. Mit königlichem Ernst in den großäugigen Zügen krallte dieser sich noch immer an seinem humanoiden Transportmittel fest, als trage es ihn seinem Schicksal entgegen.
Der Phexgeweihte setzte seinen Weg fort. Querte drei Dächer in Richtung Norden, dann eines nach Osten, sodass er sich erneut einer Stadtmauer anzunähern begann. Ein letzter Satz ließ ihn eine Dachschräge hinunter schlittern und dann routiniert auf dem kleinen Stück Erde aufkommen, dass sich zwischen einem schrägen Häuschen und der Stadtmauer befand. Er federte aus den Knien hoch und sah sich um. Das Stückchen Land war nicht groß und wurde selbst von seinem Eigentümer – dem Bewohner des Häuschens über das er gerade noch gestiegen war – geflissentlich ignoriert. Nicht einmal Fenster gab es in dieser Richtung. Kein Wunder – anbauen konnte hier keiner der Praiosjünger etwas. Dieses Stück Land berührte die Sonne nie direkt. Nur Wasser fand reichlich hier hinab. Es perlte von dem Dach und dem Unterstand der nahen Stadtmauer herunter. Die Erde hier war dunkel und feucht und deswegen ungeliebt von allen.
Fast allen., korrigierte er sich in Gedanken, als der Koboldmaki von seiner Schulter sprang und mit allen Vieren auf dem umgewühlten Erdreich landete. Das kleine Tier war es gewesen, das hergeführt hatte. Das Klima hier hatte viele Insekten angelockt und war damit eine gedeckte Tafel für den unverschämten Pelzträger. Phexdan dagegen hatte hier einen gänzlich anderen Schatz gefunden. Bereits in früheren Tagen hatte ihn eine Leidenschaft immer begleitet, die nicht so recht zu seinem Ruf und seinem Verhalten passen wollte. Bedächtig ging er in die Hocke und ignorierte die schmatzenden Geräusche und das raubtierhafte Getrappel, die von Dajins Jagd auf Krabbler herrührten.

Aus der Erde vor ihm wuchsen drei Nachtschattengewächse. Der Firun war ihnen nicht gut bekommen, sie alle waren klein. Aber sie lebten – und das war das Wichtigste. Zuerst hatte sich die Mandragora officinarum ihren Weg an die Oberfläche gebahnt. Ihre hell lilanen Blüten waren klein und zart, aber schön anzusehen. Nichts ließ darauf schließen, dass die Säfte dieses unscheinbaren Blümchens potentes Gift in sich trugen. Gift, dass stark genug war zu betäuben und zu töten.
Rasch warf er einen Blick zu Dajin, der inzwischen – beide Hände voller Krabbler – auf dem Hintern saß, die Beine von sich gestreckt und sich genüsslich einen Leckerbissen nach dem anderen in das kleine Mäulchen schob. An diesem Affen war etwas anders, das war Feqzjian klar – aber was, das konnte er nicht sagen. Er hatte gehört, dass Affen klug waren und dazu neigten Menschen zu ähneln. Aber Dajins Anpassungsfähigkeit und – bisweilen – Tücke waren nicht die eines Tieres. Er versuchte sein eigentliches Wesen zu verbergen, aber das gelang ihm nicht immer.
Mit einem Kopfschütteln wandte er sich wieder den Pflanzen zu. Fast alle waren giftig, wenn man sie richtig verarbeitete, aber das haftete Nachtschattengewächsen nun einmal an. Er hatte sie nicht angebaut um sich ihrer toxischen Unterstützung im Notfall sicher zu wissen. Die Mandragora wuchs hier nur, weil sie so weit verbreitet war, er sie aber bisher niemals hatte blühen sehen. Seine Neugier hatte ihn getrieben.
Die zweite Pflanze war eine Asmodenie. Der Name war irreführend. Sie war kein dämonisches Gewächs – genauer gesagt nicht einmal giftig, sie war hübsch anzusehen. Nur das. Er kannte sie aus Grangor, wo sie zwischen den Rahjarosen gewachsen waren. Ihre schlanken aber kurzen grünen Stiele öffneten sich zu nachtblauen Kelchen mit weißen Sprenkeln, wenn am Himmel die Sterne zu sehen waren. Auf den ersten Blick mochte es einem Betrachter so erscheinen, als spiegelten sie den Nachthimmel wider, weswegen Feqzjian sie für sich auch „Phexenslilie“ nannte. Er mochte diese Pflanze und zog eine von ihnen auf, wann immer er lange genug an einem Ort verweilte, um sie wachsen zu sehen. Sie erblühte jede Nacht, um am Morgen darauf ihre Schönheit wieder zu verschließen. Und so blieb den meisten Garether Bürgern ihre Schönheit verwehrt.
Die dritte im Bunde war eine Pflanze von der er selbst nicht genau wusste, warum er sie gepflanzt hatte. Die Samen waren ihm schon vor einer ganzen Weile in die Hände gefallen und sie würde zu lange brauchen, um weit genug zu wachsen. Eigentlich war es keine Blume – eher ein Buschgewächse. Die ‚Posaunen von Nebachtot‘ oder ‚Alveranstrompeten‘. Bisher hatte sich von ihr kaum mehr als ein kleiner Setzling durch die Erdoberfläche gebohrt. Aber – auch sie lebte.

Eine Weile saß er da und betrachtet das schweigende Nachtleben vor sich. Diese drei Gestalten, die hier auf ihn warteten und sich über seine Zuwendung freuten. Er war beinahe jede Nacht hier und hegte die Pflanzen, verantwortete ihr Wachsen und verhinderte ihren Tod. Schnitt Triebe oder wärmte sie mit frischem Hundekot, den er gesammelt hatte. Sein Lächeln kehrte zurück. Niemand würde vermuten, wohin er – der Rumtreiber – Nachts ging. Verantwortungsvolle Arbeit in einem geheimen Garten schien nicht zu ihm zu passen. Er zuckte mit den Schultern. Die Wahrheit war eben nicht immer mit dem bloßen Auge zu sehen – und wenn aufrechte Praioten Kinder schändeten, dann musste es dem krummen Gassenstreicher erlaubt sein, Blumen ihrer Schönheit wegen zu züchten.
Ihrer Schönheit und ihrer Aussagekraft wegen. Damit wandte er sich von den drei ausgetopften Pflanzen ab und den beiden Töpfen zu, die er ein wenig von der Mauer und dem Haus weggeschoben hatte, sodass sie die meiste Zeit des Tages in der Sonne lagen. In diese Töpfe war besonders viel Kot gewandet – und wieder beseitigt worden. Und diese Töpfe – waren mit den wichtigsten Pflanzen bestückt. Behutsam zog er die tönernen Erdmäntel zu sich und begutachtete die Ergebnisse seiner Mühen. In dem einen Topf hatte sich auf einer eher kleinen Fläche eine Art Kraut ausgebreitet, dessen kleine, beinahe runde Blätter ein sattes Grün besaßen. In dem zweiten Topf steckten einige Holzsplitter, an denen sich schwach ein paar klein geratene, dreigeteilte Blätter emporrankten. Zu mehr waren er und die Pflanze in der kurzen Zeit und bei den Voraussetzungen der Außenwelt nicht fähig gewesen. Aber es würde reichen müssen.

Aus seiner Tasche zog er ein kleines Schäufelchen hervor. Etwas, das ihn seit seiner Zeit in Grangor begleitete und das mitzunehmen, er niemals bereut hatte. Behände löst er beide Pflanzen aus ihren Gefäßen und band sie zu einem ungewöhnlichen, unscheinbaren Gesteck zusammen. Hinein steckte er ein Stück Pergament, das er zuvor selbst beschrieben hatte:

Pflanzen sind stumm und sagen doch so viel.
Gefallen dir die Blumen nicht, so kann ich das verstehen.
Gefällt dir ihre Bedeutung nicht, so schmerzt es mich.
Füchschen.

Zufrieden betrachtete er seine Arbeit und sah zu dem Affen in seinem Rücken. „Dajin, du wirst fett und träge, wenn du so weiter machst. Komm schon, wir sind hier vorerst fertig.“ Der empörte Blick des Affen brachte ihn zum Lachen, ehe er stockte. Er hatte den Affen beleidigt, ja und es war amüsant seine Reaktion zu sehen – aber das war so eine Sache: Dajin hätte die Worte gar nicht verstehen dürfen. Trotzdem warf er die Reste seiner Mahlzeit fort, als habe er den Wink verstanden, schoss auf den Phexgeweihten zu und setzte sich wieder auf die rechte Schulter, die er nun offenkundig als seine angestammte Heimstatt betrachtete. Eine Handbewegung die „Nur weiter!“ zu sagen schien, war das Zeichen, dass das Tier Halt gefunden hatte. Dann versank der Maki in stille Regungslosigkeit.
Verwirrt sah Feqzjian zu seinem nahen Begleiter und blinzelte. Dann aber entschied er, diesem Geheimnis ein anderes Mal auf den Grund zu gehen und machte sich auf den Weg nach Hause. Er würde die Gewächse nicht sofort übergeben. Aber im Laufe des Tages würden sie sich in Neferus Tasche anfinden – spätestens am Morgen des übernächsten Tages. Und das war nur der erste Schritt. Dieser Tote würde seine schlaffe Haut und die sicher gelblichen Zehennägel früher oder später unter der Erde wiederfinden. Mochte die Welt glauben, was sie wollte. Er war entschlossener als je zuvor die Frau, die sein Leben vollkommen umgekrempelt hatte, zu seiner zu machen.

Gareth 4 (Neferu) ( –––)

Kein Tag wie jeder andere.
Es war noch dunkel an diesem Firunsmorgen, als sie sich aus dem Herbergsbett erhob.
Sie hörte Schnarchen, konnte aber nicht ausmachen, ob Phexdan oder Salpico die Ursache war. Jedenfalls fiel Zerwas aufgrund mangelhafter Atmung aus.
Zu viert bewohnten sie dieses winzige Zimmer unter dem Dach der Smaragdnatter, das schwer nach Schlafenden roch. Was musste Zerwas tagtäglich unter all dieser Menschlichkeit in Form von Ausdünstungen leiden. Seine Sinne waren fein wie die eines Tieres.

Sie zog sich an. Bemüht leise, um niemanden unnötig zu wecken.
Zerwas regte sich – sicher war er lange wach, brauchte der Vampir doch nur in den seltensten Fällen überhaupt Schlaf.
Sie wandte den Kopf, sah zu ihm. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt.
„Soll ich mit dir gehen?“ Seine wohlklingende Stimme durchschnitt geflüstert die Stille.
Sie nickte ihm zu.

Draußen lag Raureif auf den Dächern und Straßen Gareths, verwandelte das Herbergsschild Smaragdnatter in ein künstlerisch kaltes Gebilde.
Sie hatte sich warm angezogen – das prachtvolle rote Kleid mit den Stickereien und goldenen Applikationen, dazu der lange passende Wintermantel und ihren blutfarbenen Lederumhang, gefüttert mit hellgrauem Fell.
Neferu schob die Hand in Zerwas‘ Armbeuge – Handschuhe hatte sie keine und ihre dünnen Finger fröstelten. Sie wusste, dass sie keine Wärme an dem Kind der Nacht würde finden können, aber immerhin an seinem wollenen Hemd. Es war weniger still in den Straßen, als man bei der Dunkelheit hätte annehmen können. Obwohl der Tag noch fern war, die Sonne noch tief hinter dem Osthorizont ruhte, war die Zeit keineswegs allzu früh für die arbeitende Bevölkerung.
Ihr Atem stieß in Dunstwolken in die Winterluft – der ihres Begleiters nicht. Er musste lange nicht mehr getrunken haben…

Sie hielten sich weniger lang in den Kaiserthermen auf als gewöhnlich. Die alten Herrschaften, die die gehobene Badeanstalt besuchten, hatten sich mittlerweile an das junge Paar gewöhnt, das in den letzten Tagen immer öfter ihr Badewasser heimsuchte. Es hatte sich wohl unter den Besuchern herumgesprochen, also blieb das neugierig-skeptische Starren wenigstens großteils aus.
Neferu war wesentlich schweigsamer diesen Morgen. Sie verfiel des Öfteren in ein zielloses Stieren und leckte in bissiger Nervosität an ihrer Unterlippe.
Sie musste sich ablenken, ihr Gemüt beruhigen. Dieser offizielle Gerichtstermin machte ihr mehr zu schaffen, als sie zuzugeben bereit war.

Sauber und mit zurechtgemachtem Haar hielt sie anschließend, noch immer am Arm ihres hochgewachsenen Begleiters, auf den Greifenplatz zu.
Neferus verqueres Gemüt forderte es nahezu, dass es ausgerechnet der Bannstrahler vor der Praiossakrale sein musste, den sie nach so etwas Banalem wie dem Weg fragte.
Das geheime Wissen, dass ein Erzvampir und eine Eigebürtige frei und unbelangt hingehen und ansprechen konnte, wen sie wollten, ohne erkannt zu werden, gab ihr ein tiefes, grimmiges Gefühl der Zufriedenheit. Der Bannstrahler – korrekt, deutlich und selbstverständlich im Namen des Götterfürsten grüßend, wies ihnen den Weg. Also drängten sie sich über den schon überlaufenen Eisenmarkt, an der Alten Residenz vorbei durch das Angbarer Tor in die Weststadt und von da aus zum nächstgelegenen Brunnenplatz.
Das Freigericht Weststadt solle sich im Magistratsgebäude befinden, erfuhr sie vor Ort. In dem enormen Bauwerk bosparanischen Stils, das den Platz mit seiner Größe und architektonischen Pracht schmückte.
„Willst du, dass ich mit reinkomme?“ Zerwas war sehr behutsam mit ihr diesen Morgen. Ob er ihr Unbehagen und ihre Furcht vor dem kommenden Prozess wittern konnte? Sie hatte seine animalische Seite gesehen und wusste, dass sie ein tiefsitzender, instinktiver Teil von ihm war.
„Einerseits ja, ich will dich immer dabei haben. Andererseits.. Du weißt, mir ist daran gelegen, dich zu beeindrucken..“, sie grinste versuchsweise, „Und vielleicht macht es mich noch nervöser, wenn ich weiß, deine Augen ruhen auf mir.“ Sie wollte ihn nicht verletzen, ihm nicht das Gefühl geben, unerwünscht zu sein. Dennoch hielt sie es in diesem ernsten Fall für notwendig, ihm die reine Wahrheit zu sagen. Sie wollte ihn beeindrucken und nicht vor ihm verlieren. Und sie hatte keine Ahnung, inwieweit eine Hoffnung auf den Gewinn des Prozesses angemessen war.
„Ich werde hier draußen auf dich warten.“ Er machte es ihr einfach. Diesem Mann wohnte tatsächlich in vielen Belangen die Geduld der Jahrhunderte inne. Nicht in allen, wohlgemerkt.. das wusste sie wohl.

Kaum hatte sie die marmorne Schwelle des Magistrats überschritten, war ihr, als schwebe sie durch einen unwirklichen Traum. Sie werde bereits erwartet, ihr Anwalt sei im Gerichtssaal. Das laute Echo von Schritten auf poliertem Steinboden – ihre eigenen Schritte. Kaum stand sie vor der richtigen Tür, stellte sie in Frage, wie sie sich geben sollte und vor allem, wie sie sich geben konnte. War es üblich, zu klopfen? Schon klopfte sie. Im selben Augenblick hielt sie ihr Tun für unpassend und eilig, den vermeintlichen Faux-Pas überdeckend, öffnete sie die schwere Eichentür unter schmiedeeisernem Geräusch.
Nicht nur ihr Anwalt, der blonde Bolatrius Groterian, genannt „die goldene Zunge“ war anwesend, auch drei Männer, die sich mit Akten beschäftigten und über den Plätzen der Gemeinen auf einer Kanzel thronten. Mittig ein älterer, fast als schluffig zu bezeichnender Mann in Richterornat, daneben jemand, der wie ein Praiospfaffe aussah. Auf der anderen Seite saß ein glatter Typ etwa Ende Zwanzig, der sie an einen Aal mit Scheitel erinnerte. Sein ganzes Gesicht wirkte wächsern und eingefroren, während er durch diverse Papiere blätterte. Außerdem einige Schaulustige auf den Bänken in hinterer Reihe.
Sie wurde nicht gegrüßt, außer von ihrem Advokaten.
Groterian hatte wie immer sein zuversichtlich-breites Lächeln auf dem perfekten Gesicht und erinnerte an einen Prinzen aus Mädchenträumereien. Sie mochte ihn nicht. Trotzdem war er der einzige, der ihr in diesem Augenblick helfen konnte. Er war ihr unliebsamer Verbündeter, ein Streiter des Geldes. Das Unbehagen, das er in ihr auslöste rührte nicht unbedingt von der Tatsache her, dass sie überzeugt war, alles an ihm was gut erschien, sei aufgesetzt. Nein, es war vielmehr, dass man es ihm in keinster Weise anmerkte, dass er ein Söldling in feinem Tuch war. Er war überzeugend, wirkte ehrlich und sein Lächeln schien echt. Ein Mann, dem man jedes Wort glauben wollte, ein Meister, die Massen um den Finger zu wickeln. Doch auch, wenn ihre Menschenkenntnis beinahe versagte und kein Anzeichen für ein Schauspiel zu erkennen war, war da dieses Unwohlsein. Und sie verließ sich auf ihr Gefühl.
Ein wahrlich gefährlicher Mann..
„Ihr wollt Euch sicher noch einmal mit mir beraten!“ Sein Lächeln traf sie und ihre Antwort war ein höfliches Bejahen.
„Wie läuft das Ganze nun eigentlich ab? Ich war noch nie in einem Gericht, müsst Ihr wissen.“ Sie fühlte sich wie ein ausgeliefertes Kind.
Er beschrieb ihr den Ablauf, empfahl auf eine Vereidigung durch den Praiosgeweihten zu bestehen. Außerdem kündigte er einen überraschenden Zeugen an, der das Blatt wohl zu ihren Gunsten würde wenden können.
Ein Zeuge? Wozu? Gedanklich machte sie ihrer Überforderung Luft.
„Und falls es hilft… Ich bin Heldin von Greifenfurt – wegen des Krieges.. und Heldin von Grangor – wir haben vor einigen Jahren einen Kult des Namenlosen aufgedeckt, der sich im Rahjatempel verborgen hatte. Dafür wurden wir Ehrenbürger… Und ich habe ein Waisenheim im Südquartier gestiftet! Das „Lowanger-Greiber-Waisenhaus“. Nur falls es hilft.. Außerdem habe ich für meinen Bürgerbrief ein Leumundsschreiben von Dexter Nemrod vorlegen können!“ Sie packte aus, versuchte all das zu sammeln, was sie im rechten Licht würde erscheinen lassen können.
Groterian stieß eifrige Worte der Zustimmung aus, während er sich die zu verwendenden Fakten notierte.

Ihre Aufmerksamkeit schnellte durch den Saal, als die Tür aufging und ein Mann in feinster Seide eintrat. Sogar seine Schnallenschuhe trugen Samtschleifen. Alles an ihm schrie Horasreich. Er zückte mit blasierter Miene sein Vinsalter Ei und besah sich den Zeitmesser auf eine aristokratisch ungeduldige Weise.
„Wer ist der Mann?“ tuschelte Neferu beunruhigt, die Hände bemüht vornehm im Schoß aufeinandergelegt.
„Der Stadtadvokat Swelin te Guden.“ erhielt sie leise Antwort. Groterian hob eine weiße Perücke auf seinen Blondschopf und richtete die falsche Mähne.
Ein überraschend ohrenbetäubender Laut flutete den Gerichtssaal.
Der unbegeistert und unbeeindruckt dreinschauende Richter erhob das Wort, das hölzerne Hämmerchen mit dem er sich Gehör verschaffte noch in der Rechten.
„Es scheinen alle anwesend… Ich bin Richter Kleehaus im Fall Banokborn gegen die Stadt Gareth. Ich erkläre die Verhandlung hiermit für eröffnet..“, seine monotone Stimme untermalte seine Mimik, „es geht um die Erbschaft auf der Nordlandbank, eine Summe von 3102 Dukaten.“
Der erste Zeuge wurde aufgerufen. Das war sie selber, wie Groterian entschieden hatte. Aufrecht schritt sie nach vorn.
„Hohes Gericht, ich will darum bitten, vereidigt zu werden.“ Sie kam auf den Rat ihres Anwalts zurück. Der Praiot wurde tätig. Sie stand unter Eid.

„Werte Herren des Gerichts. Hoher Richter Kleehaus…“, ein tiefes Durchatmen, dann begann sie ihren aussagenden Monolog, „Als meine Eltern starben war ich drei Jahre alt. Wir hatten ein Haus in Nardesheim und mein Vater war ein wohlbetuchter Handelsmann, der es mir in meiner frühen Kindheit an nichts fehlen ließ. Und sicher hätten meine Eltern mich nicht meinem Onkel anvertraut, wenn es eine Alternative gegeben hätte. Aber leider hatten meine Eltern keine weitere Verwandtschaft und so wurde ich als kleines Kind dem Bruder meines Vaters übergeben, Trakis Banokborn. Er war ein Trinker, der in Wallgraben lebte, ein Soldat. Als ich neun Jahre alt war, begann er sich an mir zu vergehen. Zu der Zeit waren es nur Berührungen.“ Sie machte eine kurze Atempause. Immerhin zitterte ihre Stimme nicht. „Als ich elf Jahre alt war und man die ersten Anzeichen eindeutiger Weiblichkeit an meinem Körper erkennen konnte, versuchte er mich zu ..schänden. Eines abends, als er betrunken war. Glücklicherweise bekam ich den Schürhaken des Kamins zu fassen und schlug auf ihn ein. Ein Treffer am Kopf tötete ihn. Ich war ein Kind und ich hatte Angst. Damals ging ich davon aus, man würde mich dafür hängen, dass ich meinen Onkel um sein Leben gebracht hatte. In der furchtsamen Naivität eines Kindes lief ich fort – tief ins Südquartier. Heute weiß ich, dass eine solche Tat in Notwehr keine Konsequenzen nach sich zieht.
Nachdem ich einige Jahre im Südquartier unter erbärmlichen Umständen existierte, ging ich nach Grangor, deckte dort einen Zirkel des Namenlosen auf, der den dortigen Rahjatempel infiltriert hatte. Ich wurde zum Dank Ehrenbürger der Stadt. Ähnliches passierte in Andergast und der dortigen Königsfamilie. Ich konnte ihnen einen großen Gefallen tun und erhielt ein best ausgebildetes Ross, das ich verkaufte und dafür das „Lowanger-Greiber“-Waisenhaus im Südquartier Gareths errichten ließ…-“
„Einspruch, Euer Ehren!“, mit vor Missgunst triefender Stimme meldete sich der Stadtadvokat zu Wort. „Die Anklägerin, die hier als tatsächliche Aggressorin auftritt, spricht schon lange nicht mehr von den Ereignissen, um die es hier geht. Sie lobpreist lediglich ihre eigenen Heldentaten..!“
Schnell schoss die Antwort aus ihrem Mund: „Ich dachte mir, es wäre vielleicht interessant zu wissen, was ich tat – was in der Zwischenzeit von meiner Kindheit hier in Gareth und meinem heutigen Hiersein die Zeit füllte und zum heutigen Erscheinen meinerseits führte..!“
Der Richter sah einen Augenblick unschlüssig zwischen den beiden gegnerischen Parteien hin und her, ehe er maulig seine Meinung verlauten ließ: „Nun.. Ich denke, dass Ihr fortfahren könnt, Fräulein Banokborn. Vielleicht.. Ja, vielleicht haben diese Ereignisse einen Einfluss auf den Prozess. Damit ist der Einspruch abgewiesen..“

Erleichterung fasste ihr Herz, ein tiefes Durchatmen dehnte ihre Brust, als sie erneut zum Sprechen ansetzte: „Auch als es zum Orkensturm kam, kehrte ich zurück in meine Heimatstadt Gareth. Ich wollte sie verteidigen, es nicht darauf ankommen lassen, dass die Schwarzpelze der Stadt und ihren Bewohnern würden schaden können. Also ging ich zur Armee. Ich kämpfte an der Seite unseres Prinzen Brin auf den Silkwiesen. Wir schlugen die Orken zurück. Ich war dabei als das standhafte Greifenfurt belagert wurde. Wir verteidigten und hielten die Stadt bis zuletzt. Ich wurde zur Heldin von Greifenfurt erklärt. Ich ging einige Jahre nach Trallop und lernte den herzoglichen Inquisitor Calfang Rodebrannt kennen. Wir wurden Freunde und sein Einfluss, die häufigen Gespräche mit ihm, bewogen mich dazu, endlich wieder dahin zurückkehren zu wollen, wo ich herkam. Ich wollte hier in Gareth sesshaft werden, vielleicht sogar das Handwerk meines Vaters wieder aufnehmen. So habe ich dank eines Leumundsschreibens von Dexter Nemrod -Ihr dürftet eine Abschrift von meinem Advokaten Groterian bekommen -ein Grundstück in der Weststadt erwerben können und hoffe das Stückchen Land wieder aufbauen zu können, denn das bisherige Haus wurde in einem Feuer zerstört. Mit dem Geld, das meiner Familie gehört, das mein Vater seinem Bruder vermachte, da ich, sein einziges Kind, noch nicht mündig war und das seit dem unberührt auf der Nordlandbank liegt, auch wenn es nur ein Bruchteil vom Vermögen meines Vaters darstellt, da sein eigener Bruder diese Erbschaft in kürzester Zeit zur Hälfte verhurte und versoff… Ich will wieder in Gareth leben mit der Erbschaft, die mir zusteht. Danke hohes Gericht.“
Sie nickte und strebte ihren Platz an.
„Weitere Zeugen?“ schallte es vom Podest durch den Saal.
„In der Tat! Ich lade vor – Lamiadon, der Vermieter der Klägerin.“ Mit einer weisenden Geste sah die Goldzunge zur Tür.
Und tatsächlich.. federnden Schrittes kam der Elf herein, der Neferu und ihren Begleitern seit vielen Tagen ein gemietetes Zimmer zur Verfügung stellte.
Sie war verwundert – was hatte Lamiadon hier zu suchen?
Gut gelaunt trat das Spitzohr vor den Richter und lobpreiste ausschweifend die Wahrhaftigkeit und Gutherzigkeit seiner Mieterin.
Ich stehe doch unter einem Eidsegen.. wie hätte ich lügen sollen, selbst wenn ich gewollt hätte?
Gleichmütig nickte der Richter ab, der den Eindruck machte, gedanklich schon bei seinem Mittagessen zu sein und die Prozedur nur schnellstmöglich hinter sich bringen wollte.

Nun war te Guden an der Reihe. Die Personifikation des arroganten Horasiers wies in einer feindlich anmutenden Darbietung darauf hin, dass noch die Klärung darüber ausstehe, ob die Klägerin vielleicht die Mörderin ihres Onkels sei. Er stellte ihre Notwehr in Frage, ebenso wie ihre Motive.
Nef wäre am liebsten aufgesprungen und hätte dem Mann einen deftigen Zauber vor den seidenen Latz geknallt. Der Mann ruinierte alles!
Ein Blick zu Groterian ließ sie ruhiger werden, denn der wirkte der Vorwürfe wegen kein bisschen aus der Fassung gebracht.
Auch sie lehnte sich zurück, grub die Fingernägel in die Handballen.
Te Gudens Hauptaugenmerk galt den Verjährungsfristen der Nordlandbank. Zwölf Jahre, dann ging ein Konto an die Stadt über. Er bekräftigte, die zwölf Jahre seien vorüber.
Neferu war sich selbst nicht sicher, ob es nun elfeinhalb oder zwölf waren, tatsächlich hatte sie bisher versäumt, sich ihre Geburtsurkunde und das Geburtsdatum anzusehen.
Der Stadtadvokat spickte seine Aussage mit zwei Zeugen, von denen mindestens der Erste nichts weiter zu sein schien, als eine bezahlte Sockenpuppe: Ein schmutziger Südquartierer, der sich sicher war, der Mord an Banokborn sei zwölf Jahre her und ein schon ernst zu nehmenderer Mann der Stadtwache, der ebenfalls mit großer Sicherheit in der Stimme bezeugte, man habe damals im Schnee vor dem Haus Fußspuren des Mädchens gefunden und das sei ganz sicher auch im Firun gewesen, also zwölf Jahre her. Verjährt.

Weitere Zeugen gab es keine.
Neferu verstand mitnichten, was diese Zeugenaussagen bewirken sollten, beließ es aber kommentarlos dabei.
Beweise wurden ausgepackt. Te Guden wedelte mit den Gesetzmäßigkeiten der Nordlandbank, während Groterian ihre Bürgerschaftsurkunde, das Tagebuch ihrer Mutter, ihr Geständnis zum Töten ihres Onkels der CriminalCammer, das Leumundsschreiben von Dexter Nemrod und auch den Vertrag über das Konto ihres Onkels mit der Bank auspackte.

Ausdruckslos besahen sich die drei auf hohem Posten all die Schriftstücke.
Neferu selbst fühlte für den Augenblick gar nichts. Ihre Gedanken durchdrangen die wertvollen Wandmaterialien, schwebten hinaus auf den Brunnenplatz und suchten die Nähe des Vampirs, der mit einem ruhigen, selbstbewussten Lächeln auf sie wartete und sie in die Arme nahm. Ihr war nach Nähe zu mute, hatte sie doch das Gefühl auf feindlichem Terrain verloren und von allen Seiten eingekreist zu sein.
Endplädoyers?
Siegesgewiss verneinte der Stadtadvokat und winkte herablassend ab.

Die Stunde von Bolatrius Groterian allerdings war gekommen. Er erhob sich mit fürstlicher Ausstrahlung, das morgendliche Sonnenlicht in seinem Rücken, das ihn wie eine glanzvolle Aureole umgab. Und er bewies, dass er seine 1.551 Dukaten wert war.
Er hielt eine Rede, die vor überzeugender, mitreißender Kraft strotzte.  Alleine seine Rhetorik war von solcher Brillanz, dass Neferu kurz der Meinung war, er habe die rednerische Macht einen Zerwas dazu zu bewegen, ins Praiosnoviziat einzutreten.
Groterian fasste Neferus Leben zusammen, das Leben einer Frau, die von der Stadt im Stich gelassen worden war, als ihre Eltern starben. Eine Frau, die man ihrem Onkel überließ, der nicht ihr Vormund war, sondern ihr Peiniger. Eine Frau, die floh, aus Angst, die Stadt könne sie für ihr richtiges und notwendiges Verhalten abstrafen. Und eine Frau, die eben zu jener Stadt zurückkehrte, jederzeit ihr Leben für sie zu geben. Die sogar in der Heimatregion des Gegensprechers als Heldin gefeiert wird.
Und zuletzt, als finalen Akt konterte er den Stadtadvokaten vernichtend, indem er den Richter bat einen kleingedruckten Absatz aus den Verträgen der Nordlandbank vorzulesen.
Mürrisch folgte Kleefeld und trug laut vor, dass der Ablauf der zwölf Jahre, die zur Verjährung notwendig sind mit dem Ende eines Jahres beginnen und eben nicht mit dem Tod des Kontoeigentümers!
„Und so.. läuft die Frist Ende Rahja ab und eben nicht im Firun!“ schloss Groterian kraftvoll und schlug entschieden, aber nicht aggressiv seine Mappe zu.
„Damit klagt meine Mandantin fristgerecht das Erbe ihrer Familie ein, das ihr ohnehin von vornherein zustand!“

Die drei von der Empore zogen sich zu einer Beratung zurück, die wenige Minuten dauerte.
Neferu Banokborn sollte die 3102 Dukaten ihrer Familie erhalten.
„Und jetzt gehe ich Mittagessen…“ murmelte der Richter.

Von den 3102 Dukaten blieben ihr immerhin 1551, nachdem Groterian abbezahlt worden war. Der wedelte nach kürzester Zeit mit seinem Formular der Anwaltskosten. Erschreckenderweise tat er sogar das charmant und keineswegs impertinent.
Noch heute wollte sie diese Schuld begleichen.

…Zerwas wartete am Brunnen, genau wie es ihre Gedankenwelt versprochen hatte.

Gareth 3 (Neferu)

Auszug aus dem konfusen Tagebuch der Neferu V. Banokborn.
Aufzeichnungen über Erlebnisse und Informationen in Gareth, dem Herzen des Mittelreichs.
Außerdem der ausgeklügelte Plan, das Erbe ihres ungeliebten Vaters anzutreten.

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14.01.1013

Heute Morgen erhielt ich einen Brief:
Meinen Bürger-Brief! Das Beschleunigungsgeld hat es echt getan, wenn auch schade um die verlorenen 20 Dukaten..
Dazu ein Aufruf an die Neubürger Gareths. Man zahlt 20 D im Jahr oder leistet 6 Wochen Spießbürgerdienst ab.
Die Spießbürger haben alleine 50 Hauptmänner. Klingt ja gigantisch. Ich – ein Spießbürger? Kein Weg.
Positiv zu vermerken ist, dass deren erster Rang der Neueinsteiger der „Fuchs“ ist.

Heute ist unser Tag! Essen im Seelander.
Zerwas sah so anders aus – so zurechtgemacht. Wie als ich ihn beim Weintrinken in seinem Turm traf. Und nicht so zerzaust und vom Wetter
durchgeweht wie die letzte Zeit. Ich aß gefüllte Weinblätter und glasierte Zuckerschoten mit Spargelspitzen und kemschem Orangen-Joghurt-Reis.
Was anderes als Haferschleim. Definitiv was anderes.
Anschließend gingen wir zum Fuchsbau, dem Theater am Brig-Lo Platz. Es wurde das Stück „Der Himmel von Beilunk“ gespielt.

Stehe in Briefkontakt mit Bolatrius Groterian, dem Advokaten. 3000 Dukaten stehen auf dem Spiel. Jeder bekommt 1500, wenn wir gewinnen.
Verlieren wir, gehen wir beide leer aus. Er soll der beste Anwalt sein, den Gareth zu bieten hat.

15.01. 1013

Ich besuche in letzter Zeit vermehrt die Tempel der Zwölfe. Einmal aus eigener Dankbarkeit, das tief zufriedene Gefühl wieder eingegliedert zu sein in ein göttliches System. Absolution gefunden zu haben vor den Augen des Glücks. Der zweite Grund ist, dass ich für Zerwas bete. Auch wenn sich drei von zwölf ihm zugeneigt haben, will ich dass die Augen der anderen auf ihn fallen und sie sehen, dass das, was er ist und schafft etwas Gutes ist.
In unmittelbarer Nähe der „Smaragdnatter“ befindet sich der Hesinde-Tempel. Ein Achteck gigantischen Ausmaßes.
Zerwas begleitete mich. Ein warmes Gefühl durchdringt mich, wenn ich sehe wie ihn der Frieden findet, wenn er einen Tempel betreten kann.
Tatsächlich sprach mich eine Frau an.
Ihr Name war Helke Borgian und sie sprach recht bald davon zum Garether Zirkel zu gehören. Sie selbst lebt vor den Mauern der Stadt in einer Region um Sonnengrund, die treffenderweise Hexenkessel genannt wird. Ob sie „Mitschuld“ an dem vielsagenden Namen trägt, kann ich zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht sagen.
Ich weiß nur, dass dieser Ort zu dem Teil Gareths gehört, der der Dämonenbrache am nähsten liegt.
Sie erzählte, dass der Name ihrer Oberhexe Shalia sei und dass diese sich bei mir melden würde, bei mir in der Smaragdnatter.
Meine Ungeduld bricht Bahnen. Ich will wissen, ob diese Frau meine Mutter kannte.

Zum Mittagessen hatte ich Rübenmus mit Stampfkartoffeln in der Smaragdnatter.
Gleichzeitig übermittelte mir Lamiadon ein Schreiben von Groterian. Der Advokatus scheint ganz erpicht auf mein Geld – was auch sonst.
Ich soll ihm eine Abschrift des Tagebuchs meiner Mutter fertigen lassen, das er vor Gericht vorlegen kann.
Ich war noch nie vor Gericht. Weder auf der einen, noch auf der anderen Seite. Seine Kopie soll er haben.
Er handelt gerade einen Gerichtstermin aus, das mir den Rest des Geldes auf dem Konto meiner Familie zusichern soll.

Phexdan gab mir die Zeichnung einer Weinflasche. Aquenauer Südhang stand auf dem Etikett.
Es handelt sich um eine Art Rätsel, das er mir stellt. Noch habe ich nicht die Zeit, dem auf den Grund zu gehen, aber ich werde zu allererst bei den
Winzern und Restaurants der Region fragen. Dieser Südhang sieht nicht nach Billigfusel aus.

Ich informierte mich in Weststadt. Gab mich als das aus, was ich bald sein werde: Ein neuer Nachbar.
Fragte nach den Klotzbecks. Julianus Klotzbeck ist vor 12 Jahren hergezogen, hieß es. Nichts Spezielles. Nur ein Kerl, der mit Handel reich geworden ist, wie es aussieht.

Mein Weg führte mich ins Südquartier zu besagtem Fulmian. Zirkel für freie Wissenschaften nennen sie sich, ein Haufen Grau- und Schwarzmagier.
Mein Buch hat er auf jeden Fall erfolgreich verzaubert. Und ich ihn. Mit einem Bannbaladin.

Phexdan begleitete mich und erzählte mir diverse Anekdoten über die Seelenprüfung mit der ich ihn schon seit Tagen belästigte.
Salpico wartete in der Natter aufgeregt auf uns. Er hat aus einem Zaubertrank ein Rezept extrahiert. Und machte die Pferde scheu, dass er die Ingredienzien habe, bis auf eines.
Er benötigt: Meteoreisen (gibts in Donnerbach), Schnee vom 1. Hesinde eines beliebigen Jahres (schon schwieriger – am Einfachsten bis zum Datum warten), Drachentränen (Drachen können weinen?), Kairanrohr (Trallop. Sowas von Trallop), eine Unze Diamantstaub (Juwelier? Wie mahlt man einen Diamanten zu Staub?), Klares Blut (Sikaryan, ich habe derzeit kaum Lebenskraft in mir), Alraune (gibts auf dem Markt), Tonnys (eine Pflanze aus dem Norden, Bjaldorn beispielsweise) …und diese eine geheime Zutat.

Nachts gingen Zerwas und ich zu dem auserwählten Haus aus dem Rätsel. Dem Heim der Klotzbecks. Mit Zerwas Hilfe gelangte ich zum Dachstuhl. Dort stand in den Putz geritzt:

AKTE 2098-031, REG.: BO, 1007 BF (SOLDLST. BEWACH. WAG.ENZ) STB

Ich bin mir sehr sicher, dass REG. für die Region steht und BO für das Bornland auch wenn es im Handel zumeist mit BOR abgekürzt wird. Es würde passen, denn es ist ziemlich gewiss, dass STB nichts anderes sein kann als der Name Störrebrandt und der ist im Bornland beheimatet.
1007…

16.01.1013

Das Grundstück ist meins!
Dexter Nemrod soll mal gesagt haben: „Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.“ Kein Satz, der zu einem solchen Mann passt. Ich würde ihm so wie ich ihn kennengelernt habe keine großen Kühnheiten in Sachen Liebe zugestehen, aber wer weiß. Vielleicht ist sein mir unbekannter Kern das, was ihn dazu bewogen hat, mir für meinen Bürgerschaftsantrag ein Leumundszeugnis auszustellen. Mir, einer Heldin von Greifenfurt und vor allem der Hexe, die sich vor einem Jahr in die Stadt des Lichts gewagt hat, um die Diener der Sonne vor dem Übel zu warnen, das über uns alle hereinbrechen wird, wenn Luzelin Recht behält. Wenn die Rollen der Beni’Rurech Recht behalten.

Vorerst an diesem Wintertag wollte ich meine Besorgungen im Südquartier erledigen. Ein Ort, der mir früher ein Zuhause war, den ich heute aber nur noch mit einem sehr beklemmendem Gefühl im Bauch betrete. Nicht, dass ich Angst hätte vor denen, die da lauern – nein, ich bekomme nur äußerst ungerne den Spiegel meiner Vergangenheit vorgehalten.

Der Hexenkessel ist eine Art Wohngemeinschaft im westlichen Südquartier, nahe der Dämonenbrache, das sagte mir Ulmia – die Scherenmacherin, die sich auch als Feinwerkerin verdingt. Ich zahlte extra, damit die Qualität für Zerwas‘ Kette außerordentlich wird.
In 4 Tagen kann ich das Schmuckstück abholen, das ich eigens für ihn habe fertigen lassen.
Ich sah auch bei der Schlangenhexe aus dem Hesindetempel vorbei.. Ihre sich zeitlassende Oberhexe sei eine Nachtschöne und ich solle mich in Geduld üben. Geduld, Geduld… wann wird diese Frau mir endlich schreiben?

Mittag aß ich mit Salpico in der Natter. Wir unterhielten uns ausgiebig über Zauber. Er sprach von einem Zweitstudium in Belhanka und einem Teleportationszauber. Ein freies Teleportieren scheint damit aber nicht möglich – ärgerlich. Der Transversalis ist wohl der einzige Zauber, der insoweit bekannt ist, dass er Verbreitung findet und gelehrt wird. Gegenstände und Menschen werden an einen bestimmten Ort gebracht. Durch den Limbus?
Salpicos Zauber basieren auf Mathematik, Geometrie, diversen Thesen der Physik, Sternenkonstellationen und Hilfsmitteln.
Analys, Ecliptifactus, Magischer Raub und Memorabia Falsifir sind diejenigen, die ich irgendwann einmal auch gerne beherrschen würde.
Ich denke mit Salpico, dem Schwarzmagier auf der Suche nach Unsterblichkeit habe ich ein gutes Wer einen loyalen Freund bis hinter den Tod an meiner Seite. Ich gehe nicht davon aus, dass er mich hintergeht. Und wenn es doch einmal soweit kommen sollte, dann weiß er, wen ich an meiner Seite habe, um ihn zu vernichten.

Salpico möchte einen Wissenstausch vornehmen. Blick in die Gedanken, Leib des Feuers, Spinnenlauf, Zauberzwang, Katzenaugen. Zauber, die er begehrt zu erlernen.
Ich stelle in Zweifel, ob er es vermag wie eine Hexe zu wirken. Und das wird er können müssen.

Habe das Buch meiner Mutter gelesen. Sie hatte keine lange Affäre mit Praionor, wie ich befürchtet hatte. Nur eine Nacht in der Frühzeit. Es soll eine Zeit gewesen sein in der Serik mit ihr nicht das Bett teilte, aus Angst sie habe zu viele schlechte Erfahrungen in Al’Anfa machen müssen. Nun, was soll ich sagen – rücksichtsvoll, aber naiv. Meine Mutter war vom Blut Satuarias und eine solche Frau wird nicht gerne geschont, was die Zweisamkeit angeht.
So wie es sich liest… hat sie Serik tatsächlich geliebt. Sie hat es nie gewagt ihm von ihrer Nacht mit von Wiesenfeld zu erzählen.
Der Garethzirkel ist ihr fremd. Sie beschreibt meine Geburt aus dem Ei als wundersam. Serik wusste nichts von dieser Eigeburt. Wo ist sie also gewesen? Bei dieser einen Hexe? Bei der jetzigen Oberhexe? Es muss jemand gewesen sein, der eine Eigeburt nicht als Anlass nahm, Alarm zu schlagen und nach der Inquisition zu rufen. An sich kommen nur andere Töchter Satuarias in Frage. Sie kannte Luzelin… vielleicht.. weiß sie mehr. War sie am Ende bei Luzelin in Weiden? Bin ich letztendlich in Weiden zur Welt gekommen?
Ich soll ein sehr friedliches Kind gewesen sein, schrieb sie. Ich stelle mich mir gerne friedlich vor.
Meine Mutter hat sich einzig mit mir beschäftigt, sobald sie mich hatte. Sie schrieb, diese Stadt könne mir alles bieten… Ja. Vielleicht kann sie das endlich.

Ich erhielt heute Morgen einen Brief der Gesses und komme erst jetzt dazu, ihn zu lesen. Gesse heißt mich willkommen und er schreibt, er wusste nichts von dem Tod meiner Eltern in diesem Haus. Er und seine Familie hatten geglaubt, die vorherigen Besitzer seien weggezogen, nachdem ihr Gebäude gebrannt hatte.
Es soll sehr günstig gewesen sein, weil Trakis keinen Schutt hatte wegräumen lassen. Ich bin jeder Zeit gerne in ihrem Haus gesehen, um mich umzugucken, soll mich nur 3 Stunden vorher anmelden. Sein Vater wars, der das Haus erworben hat.

Den Rest des Tages hielt ich mich auf meinem MEINEM Grundstück auf und machte Zeichnungen und weitere Pläne.
Was ist also noch zu tun?
– Zum Bauamt wegen der Wasserversorgung -> 400 D à 20 Schritt Kosten, Handelsakten, Arena-Viertel Baumeister -> Erledigt Salpico; Glücklicherweise verlaufen die Tonrohre nahezu direkt unter unserem Grundstück. Passt aber auch. Wir haben da direkt den See gegenüber.
– in 2 Tagen zu Ulmia Sonnengrund wegen der Kette
– Gesse (3 Std. vorher ankündigen); Salpico -> Anyla -> Schale / Kann er sie fragen? Ist das zu tun zu dunkel…?
– Nachricht an die langsame Oberhexe des Garether Zirkels
– CC-Dachstuhl -> Gibt es eine Akte, die zu den Putzritzungen passt? (AKTE 2098-031) Es muss eine Art Soldliste sein…=> KEINE AKTE
– Magistrat und andere Ämter: Gibt es eine 1007 BF Bornlandakte 2098-031? => KEINE AKTE
– Zerwas gab mir die fertige Fuchsfibel – sie ist wunderschön gelungen.
– Bei Grabensalb gewesen mit Salpico
– Seelenprüfung ||
– Nachbarschaftstratsch WS
– Gericht! Nachricht Advokat Groterian / Termin: Freigericht SW – 18.01. / ) Uhr = in 2 Tagen

17.01.1013

STOERREBRANDT: Lagerhaus und Kontor in der Weststadt. Bin da gewesen. Ein silberner Falke auf Rot als Symbol. Mit dem Aktenzeichen konnten sie nichts anfangen. Auch wenn ich den besorgten Kunden gemimt habe..

Aquenauer Südhang -> Weinhändler und Restaurants durchforstet -> Eine Spur! Es handelt sich um regionalen Wein. Im Kaiserborn kostet eine Flasche 4D, im Alter Kaiser 5D, im Seelander 6D. Ein ganzes Fass beträgt im Seelander 1000D. Mit etwas weich Gerede kam ich in den Keller des Seelanders. Ich interessiere mich selbstverständlich für ein solches Fass. Ich gab vor den Keller zu verlassen, statt dessen schob ich das leere (!) Fass zur Seite…
Dahinter eine Steinplatte in der Wand. Darauf eingeritzt Füchse, eine Münze, Diebstähle, der Mond, Sterne… Das Relief kleidete einen Geheimgang aus und ließ sich leicht herausnehmen.
Ich stieg hinab in den Untergrund… In die Kanalisation unter Gareth.
Das kann nur zwei Dinge bedeuten: 1. Jemand der im Seelander arbeitet ist definitiv ein Phexjünger; 2. Ich habe den Weg zu meiner Zukunft entdeckt. Schleichpfade unter der Stadt. Schnelle Wege in rettende Dunkelheit.
Auch wenn das quieken dieser scheußlichen Nagetiere in der Finsternis in einiger Entfernung erklingt, fühle ich mich geborgen dort unten.
Ein etwa 20 Schritt langer Gang traf auf eine Gabelung.
Zur einen Seite ein Einsprengsel, ein Sicherheitsversteck mit Nahrung und Ausrüstung für den Flüchtenden… Ich ließ etwas da. Der zweite Weg führte tief in die Kanalisation in ein Gewirr von Gängen, überall in dunkler oder heller Kreide Zinken an den feuchten Wänden… Ein Wegweisernetzwerk.
Nach etwa dem Viertel einer Stunde kam ich an einen Ausgang. Eine Nebengasse, eine Sackgasse im Arenaviertel, direkt beim Traviatempel. Barmherzig.

Morgen gegen 14 Uhr ein Tisch für zwei im Seelander gebucht. Sonst hätte ich mich nie so lange ungestört im Keller aufhalten können. Wer dort essen gehen wird, weiß ich noch nicht.
Ich legte Phexy eine Flasche Aquenauer Südhang auf sein Bett. Als Zeichen, dass ich verstanden hatte.

18.01.1013

Halb acht morgens in die Kaiserthermen gegangen. Außer Zerwas und mir nur ältere Herrschaften mit irritiert-interessierten Blicken. Ich habe das Gefühl in einen Herrenklub eingedrungen zu sein.
Um 9 Uhr sind die Verhandlungen im Freigericht Weststadt
Was tu ich danach?
Mich gedulden, was eine Nachricht der O-Hexe angeht?
14 Uhr in den Seelander… mit Gesse?
Erforschen, was es mit Stoerrebrandt/STB auf sich hat?
Die Kanalisation mit Phexdan zusammen erforschen und die Seelenprüfung beenden?

Nicht vergessen: Übermorgen zu Ulmia und Z-was Kette holen!

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