Garion

Grangor 21 (Garion)

Mit geschlossenen Augen lehnte er sich gegen den kühlen Stein der Tempelwand.
Garion saß in einer der Gebetsnischen, für die Gläubigen, die lieber in stiller Andacht ihr Gebet an die Göttin sandten, hatte aber den Vorhang offen gelassen um in dem Hauptraum des wehrhaften Tempels sehen zu können. Der Anblick der riesigen Leuinnenstatue dort beeindruckte ihn, sodass er während des Lesens im Rondra Vademecum von Zeit zu Zeit hinüber sah.

Seinen Arrest absitzen zu müssen, weckte zwiespältige Gefühle in dem Rondriten. Einerseits war es eine Zeit in der er von sämtlichen Pflichten der Außenwelt gegenüber frei war, in der er Phexdan nicht sehen musste und er viel Zeit hatte in seinen eigenen Gedanken zu versinken. Andererseits aber konnte er nicht gehen wohin er wollte, konnte Neferu nicht sehen, sie nicht besuchen wann immer ihm der Sinn danach stand.

Wortlos sah er wieder in das Buch hinab.
Der Rondrabund., hieß es dort. Garion musste lächeln. Wie verheißungsvoll, dass er von einem Gedanken an die hübsche Halbtulamydin sofort zu der Institution des Rondrabunds geleitet wurde. Rasch konzentrierte er sich wieder auf das Geschriebene.
Wenn sich zwei Menschen in Liebe erkennen und den Bund vor Rondra eingehen wollen, zelebriere die Segnung des Blutes. Dies wird eingeleitet von spiritueller und körperlicher Reinigung. Sodann bringen beide Liebenden der Göttin ein Blutopfer dar und intonieren nacheinander folgende Worte:
‚Herrin Rondra, Beherrscherin des Sturmes, vor dir leiste ich dieses Gelübde: Wie mein Schwert an meiner Seite, stehe ich von nun an …,
Garion hielt inne. In dem Text des Rondra Vademecums war nun das Einsetzen eines Namens gefordert. Mit einem Lächeln sah er in Richtung der offenen Tore des Tempels. Es gab nur einen Namen, den an dieser Stelle einzusetzen er sich denken konnte. Vor seinem inneren Auge stand er neben einem Kohlebecken inmitten des Tempels und sprach mit ruhiger Stimme den Text, den er in Wirklichkeit geschrieben vor seinen Augen sah.
„Herrin Rondra, Beherrscherin des Sturmes, vor dir leiste ich dieses Gelübde: Wie mein Schwert an meiner Seite, stehe ich von nun an Neferu zur Seite. Aufrecht und stolz will ich gemeinsam mit ihr kämpfen, denn ihr Kampf soll auch mein Kampf sein. Wer Neferu fordert, der fordert auch mich, denn in deinem Namen stehen wir uns näher als Bruder und Schwester, als Vater und Sohn, Mutter und Tochter. Meine Klinge soll Neferu dienen und niemals werde ich sie ziehen wider sie. Seite an Seite mit dir, Neferu, bis in Rondras Hallen.“, erklärte er in seinem Geiste und als leises Lippenbekenntnis im Flüsterton in seiner Gebetsnische, ehe er sich wieder auf den Text konzentrierte.
Im Anschluss sollte von einem Bock gespeist werden. Garions Gesichtszüge wurden zu einem melancholischen Lächeln. Die einzige Frau, mit der er den Bund vor Rondra würde erklären wollen, aß kein Fleisch. Aber er war sich sicher, dass Rondra auch einen symbolischen Bock anerkennen würde. Neferu aß nun einmal kein Fleisch, die Herrin hätte in ihrer Allmacht sicher Verständnis für diesen Umstand.

Wieder sah er in das rote Büchlein hinab. Zum Abschluss der Zeremonie hieß es die zwölf heiligen Angriffe und die zwölf heiligen Wehren zu führen und sich zum Ende des Kampfes gegenseitig die letzte Wunde zu schlagen, die man voneinander empfangen würde.
Langsam legte er das rote Bändchen, das zur Markierung der letzten gelesenen Seite diente, zwischen die Blätter und schlug das Buch zu. Dann legte er den Kopf nach hinten an die Wand, die ihn stützte.
Was er sich wünschte würde niemals Wahrheit werden. Neferu plante den Bund mit einem anderen einzugehen. Mit dem Mann, der ihm den Arrest verschafft und die Fäkaliendusche beschert hatte… Mit Phexdan, dem Bettler. Mit einem bitteren Gefühl auf der Zunge schluckte er. Das durfte doch einfach nicht wahr sein! Dieser schleimige Horasknecht, dieser impertinente Stutzer tauschte dort draußen in Freiheit seine Körpersäfte mit SEINER Neferu aus und ER war gezwungen hier drinnen zu darben wie ein Schwein in seinem Pferch! Wut stieg die Kehle des Ardariten hinauf, der Löwe hatte Blut gewittert.

„Garion…?“, die leise Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Überrascht sah er in Richtung des Eingangstores. Beinahe sofort kettete sich sein Blick an das blaue Einsprengsel inmitten des Weiß und Rot der Götterdiener.
„Neferu?“, rasch sprang er aus der Nische hervor und hielt direkt auf sie zu um sie mit einer Umarmung zu begrüßen. Sie war wieder da und hatte ihn tatsächlich aufgesucht. Die dunklen Gedanken waren sofort wie verflogen. Er drückte sie an sich.

„Seit wann bist du wieder in der Stadt? Geht es dir gut? Lebt der kleine Phexje wieder?“, bestürmte er sie mit den Fragen, die ihm auf der Zunge brannten. Neferu beruhigte ihn mit einem der wundervollen Lächeln, die ihr so zu Eigen waren.
„Vielleicht ziehen wir uns für das Gespräch besser in meine Kammer zurück!“, ereiferte der Rondrit sich rasch, als ihm wieder bewusst wurde, dass er sein Gegenüber inmitten einer Tempelhalle, zwischen den Betenden stehend bestürmte.
Neferu nickte sachte und sah zu dem Rondra Vademecum: „Was ist das…?“, fragte sie leise, als sie auf den Gang zu den Bußzellen abbogen, der vom Tempelhauptraum abzweigte.
„Ein Rondra Vademecum. So etwas wie ein Leitfaden für den reisenden Geweihten der Herrin Rondra.“, er bedachte Neferu mit einem kurzen Seitenblick. Zeigte sie Interesse an seinem Glauben oder fragte sie aus Neugierde ob der roten Farbe des Buches und würde nun das Interesse verlieren?
Neferu beantwortete die Frage sogleich indem sie nach dem Buch griff und beim Eintreten in Garions kleine Kammer darin zu blättern begann.
Interessiert glitten ihre katzenhaften, grünen Augen über die geschriebenen Zeilen. Ein Lächeln stahl sich auf die Lippen des jungen Kriegers: Bei Rondra. Es interessiert sie wirklich … blitzte es durch seine Gedanken, als er sich auf die Kante seines Bettes sinken ließ. Wieder einmal brachte der Anblick Neferus seine Gedanken dazu zu tanzen. Sie bezogen ihr kastanienbraunes Haar in den Reigen ein, forderten das Grün ihrer Augen zum Tanz auf und wagten sich an einen garethischen Walzer mit der Form ihres Gesichts. Sie war durch und durch ein Wunder, bei dem Tsa und Rahja ihre Kräfte zusammengeworfen zu haben schienen. Die Form ihrer Taille, die Rundungen ihres Leibes. Er atmete tief durch und sah zu, wie sie sich mit dem Brevier seines Glaubens auf sein Bett zurückfallen ließ.
Einen Moment noch saß Garion daneben, entschied sich dann aber doch zur Bewegung. So sanft wie es ihm mit seinen breiten Schultern möglich war ließ er sich in das enge Bett zu ihr sinken und schmiegte sich von hinten an sie um einen Arm über sie legen und sie an sich drücken zu können. Sein warmer Atem erreichte ihren Nacken, als seine Hand nach ihrer suchte und sie fand. Dann drückte er ihr einen langen und verzehrenden Kuss auf die Halsseite, sog ihren herrlichen Duft tief in seine Lungen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, dass er ihn zuletzt hatte genießen dürfen. Ihre Wärme, die Berührung ihres Leibes, der Geruch ihrer Haut und Haare, all das riss ihn wie ein großer Strudel mit sich, ließ ihn sich wie in Ekstase an sie drücken.

Es dauerte einige Minuten, bis sein Herzschlag sich wieder normalisiert hatte und er sich wieder auf das eigentliche Geschehen konzentrieren konnte. Neferu hatte weiter in dem kleinen, roten Buch gelesen, hatte die Schwüre zur Aufnahme einer Knappschaft hinter sich gelassen und schlug gerade eine Seite weiter. Garions Blick glitt die nun geöffnete Doppelseite hinab und striff das Wort Rondrabund. Er musste Lächeln.
„Was hälst du davon?“, entkam es ihm leise, während er weiter den Körperkontakt zwischen sich und der Dame seines Herzens aufrecht erhielt.
„Wovon?“, kam die leise Antwort einer Stimme, deren Besitzerin sich eigentlich auf etwas anderes konzentrierte. Vorsichtig befühlte der Ardarit den einfarbigen Überzug seiner Bettdecke.
„Von dem Rondrabund. Was hälst du davon ihn mit mir einzugehen?“
Da war er wieder gewesen. Das war der Mut gewesen, der ihn früher schon überkommen hatte. Nicht der eines verwundeten und in die Ecke gedrängten Tieres, sondern der eines stolzen Löwen.
Sein Blick glitt über Neferus Profil. Sie schien nachzudenken, sah an die hell getünchte Decke seiner Kammer hinauf und leckte sich über die Lippen – diese wundervollen Lippen.
„Dafür brauche ich keinen Rondrabund Garion. Wir reisen ohnehin immer zusammen und wir beide wissen, dass wir immer füreinander einstehen werden.“, brachte sie schließlich leise und mit sanften Bögen in den schmalen Augenbrauen hervor.
Garion senkte den Blick auf den Stoff ihrer Kleider hinab. Warum Herrin strafst du mich so sehr? Sie verkannte tatsächlich den Sinn eines Rondrabundes, tat ihn als Schwur unter Kampfgefährten ab. Innerlich seufzte er, ehe er seine Hand nach der Ihren ausstreckte und sie sanft zu umschließen begann.
Die schöne Halbtulamydin ließ ihn gewähren, gestand ihm auch diese Vertrautheit zu.
Zumindest für den Moment wollte es dem Diener der ehrenhaften Göttin erscheinen als sei seine Welt nicht vollkommen aus den Fugen geraten, als habe er, was er sich am sehnlichsten Wünschte fest in Händen.

Doch ewig war nur Satinav. Durch den Schleier seiner utopischen Gedankenwelt drang die geliebte Stimme wieder an sein Ohr.
„Ich sollte gehen Garion. Ich bin schon eine ganze Weile hier und Phexdan wartet auf mich.“ Nur langsam drang der Sinn dieser Worte bis in Garions Verstand vor. Sie wollte gehen! Rasch schloss er seine Hand fester um ihre, drückte zu um sie zu halten.
„Geh nicht. Ich will dich halten, will dich küssen, will dich …“, es knackte leise, aber vernehmlich, als ein Knochen der Hand der jungen Frau seinen Protest kund tat.
„Aua! Garion! Drück nicht so fest zu!“, unterbrach sie ihn. Der Rondrit zuckte zusammen. Es war nicht seine Absicht gewesen sie zu verletzen, er wollte doch nur nicht, dass sie schon wieder ginge.
„Was ist eigentlich im Kerker passiert? Und … Wieso bist du hier?“, fragte die Phexgeweihte lauter als offenbar beabsichtigt. Garion zog seine Hand zurück und rieb sich die Augen, ehe er tief einatmete.
„Als ich zurück in Grangor war konnte ich einfach nicht anders. Ich habe ihn geschlagen. Und wie nicht anders zu erwarten ist die Wache eingeschritten.“, er leckte sich über die Lippen. Es schmeckte trocken, irgendwie komisch. Wie lange hatte er eigentlich nichts mehr getrunken?
„Zuerst hieß es, dass ich zwei Tage im Kerker absitzen solle, aber dann hat sich ein Kaufmannssohn oder –vetter gemeldet und einen besonderen Schaden angezeigt, den ich angeblich verursachte hätte. Daraufhin wurde meine Strafe auf eine Woche ausgedehnt. Ich weiß es natürlich nicht genau, aber ich habe da so eine Ahnung wer dieser feine Herr war.“, er verengte seine Augen ein wenig. Eine Angewohnheit, die ihn schon seit seiner Jugend begleitete.
„Meine Brüder haben mich befreit, nachdem mich eine Krankheit niedergestreckt hatte. Ich vermute ich habe sie mir inmitten all des Ungeziefers und der Exkremente zugezogen.“
Mit verzogenem Gesicht rieb Neferu sich die schmerzende Hand.
„Ich muss wirklich los, Garion. Ich wollte eigentlich nur kurz nach dir sehen, immerhin hast du das Füchschen geschlagen.“

Garion schwindelte. Ihr Füchschen! Lodernde Eifersucht suchte sich den Weg durch seine Adern, der Stolz des Königs der Tiere pulsierte in seinen Venen. Er würde sie nicht wieder zu dem Kretin lassen! Dieser Geck war es gar nicht würdig SEINE Geliebte auch nur anzusehen.
Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als der Körper neben ihm sich in einer schnellen Bewegung aus dem Bett schwang und die Verbindung der beiden ohne Vorwarnung abbrach. Wo eben noch die Wärme einer zweiten Person geherrscht hatte, spürte er nun die Kälte der Einsamkeit. Niemals würde er sie kampflos zu diesem Pomadenhengst ziehen lassen! Er spannte seine Muskeln an und schwang sich aus dem Bett.
„Du bleibst…“, raunt er leise und bewegte sich auf die junge Frau zu, die buchstäblich mit dem Rücken zur Wand stand. Neferu war wendig, das wusste er, aber die Chancen standen gut, dass er sie am Erreichen der Tür würde hindern können. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Sie würde toben und versuchen fort zu kommen, aber er würde ihr erklären was er fühlte, dann würde sie ein Einsehen haben und bleiben wollen. Das war alles was er wollte, nur die Chance ihr alles offen darzulegen.
Sein Blick ruhte auf ihrem gespannten Körper, als sich mit diesem plötzlich eine Veränderung vollzog. Die Farbe ihrer Kleider wurde langsam blasser, beinahe durchscheinend. Auch ihre Haut glich sich mehr und mehr der Farbe der weiß gekalkten Wand in ihrem Rücken an, bis seine Augen ihre Gestalt schließlich vollständig aus dem Blick verloren.
„Nein! Warte…! Neferu!“, rief er, als sich die Tür zum Flur hinaus, wie von Geisterhand öffnete. Er hatte den Kampf verloren, Neferu war fort …

Grangor 19 (Garion)

Angewidert hob der Rondrit seinen Blick an. Der Geruch nach Urin und anderen Fäkalien beherrschte seine Zelle, durchzog das vom Mist der anderen Gefangenen feuchte Stroh, das eigentlich seinen Schlafplatz darstellen sollte.

Noch einmal fuhr er sich mit der Handfläche der Linken durch das Gesicht und betrachtete, was in der Hand zurückblieb: Ein ekelerregendes Gemisch verschiedenster Körpersäfte und weicher Exkremente. Eine der Wachen hatte den Eimer, der hier unten gemeinhin als „der Donnerbalken“ bezeichnet worden, in seine Zelle und damit über ihn geleert. Vorgeblich ein Versehen, aber Garion wusste es besser. Er hatte sich das Gesicht des Gardisten eingeprägt; Dieser Übergriff hatte nichts mit einer gerechten Strafe zu tun, das war eine unnötige Demütigung, die er nicht zu tolerieren gewillt war.

Rasch fuhr er sich mit der Hand an den Rücken, als etwas juckte. Sicher ein Rinnsal dieser abartigen Brühe., dachte er und spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Nicht einmal sich zu waschen war ihm erlaubt worden. Und dann diese Kopfschmerzen. Seine Finger erreichten die Stelle des Juckreizes, stießen allerdings nicht auf die erwartete Flüssigkeit, sondern auf einen kleinen, harten und vielbeinigen Körper. „Was bei Rondras Donnerfürzen…?!“, fluchte der Ardarit erschrocken, umfasste das Insekt und riss es hervor um sich den Übeltäter zu besehen. Die Schabe zwischen Garions Fingerspitzen bemühte sich nach Kräften ihre verlorene Freiheit wieder zu erlangen, tastete mit ihren Fühlern nach dem überraschend festen Griff, der sie gefangen hielt, zappelte mit den Beinen und bot mit ihrem von menschlichen Exkrementen besudeltem Panzer einen äußerst unappetitlichen Anblick.
Garion schluckte einen schalen Geschmack hinunter und löste den Blick von dem zappelnden Insekt in seinen Fingern, ließ ihn stattdessen über den Boden seiner Zelle wandern. Da waren sie, ein ganzes Heer von Ungeziefer. Es wimmelte zwischen den Strohhäufchen umher, angelockt vom Geruch der menschlichen Hinterlassenschaften, dem Herd der Krankheiten, die ganze Zivilisationen ausrotteten.
Rasch erhob er sich und schnippte das zappelnde Etwas in seiner Hand durch die Stäbe seiner Zelle nach draußen auf den Flur des dunklen Kerkers. Leise hörte er den Panzer der Schabe an der Wand gegenüber abprallen.
Phexdan!, schoss es ihm durch den Kopf. Das war alles die Schuld dieses zwölfgötterverfluchten Bettlers! Ein kräftiges Husten unterbrach seine Gedanken, ein heftiger Krampf schüttelte seinen geschwächten Körper. Etwas nahm ihm die Luft zu atmen! Er sank auf die Knie und griff mit seinen verdreckten Händen an seine Kehle. Panik stieg in ihm auf. Der Rondrit hatte keine Angst vor einem Kampf mit einem bewaffneten Gegner, auch nicht vor dem Kampf mit einem Dämon. Die Angriffe jedes noch so überlegenen Gegners konnte man sehen, konnte wenigstens versuchen sie abzuwehren, aber das hier?!
Er spürte wie sein Körper zur Seite kippte und auf dem mit Brackwasser überzogenen Boden aufschlug. Sein Sichtfeld engte sich ein, Dunkelheit drängte von den Seiten auf seine Augen zu, als er verzweifelt zu husten begann, dann gab sein Körper nach und schenkte ihm die erlösende Bewusstlosigkeit des Kraftlosen.
Er atmete tief ein. Zwar umgab ihn Dunkelheit, aber er spürte etwas. Unter ihm bewegte sich ein kräftiger Leib, er hörte den dumpfen Schlag von Hufen, die ihr Stakkato in weichen Boden hämmerten. Der Wind, der ihm um die Nase pfiff trug ihm eine laute, befehlsgewohnte Stimme an die Ohren:“Eine Linie! LANZEN FREI!“
Plötzlich lichtete sich die Dunkelheit. Garion konnte rechts und links neben sich andere Reiter erahnen, spürte die eingelegte Lanze an seinem rechten Arm. Grassoden wurden dem Boden entrissen, als die Reiter auf breiter Front aus dem Wald hervorbrachen, der ihrem Anritt bis eben noch Deckung gegeben hatte, und auf eine Lichtung von ungefähr 200 Schritt Durchmesser hinaus preschten. In einiger Entfernung konnte der Rondrit eine niedrige Bauernkate ausmachen, die soeben Feuer gefangen hatte. In den Haufen dunkler Gestalten davor, kam Bewegung, als die Reiter bemerkt wurden. Rasch drängten die Bewaffneten sich zusammen und versuchten eine lose Kampfordnung aufzustellen. Als die Reiter näher kamen, verließen zwei ihrer Gegner die Nerven. Die beiden Männer rannten nach rechts und links los, hielten verzweifelt auf den Waldrand zu, doch Garion wusste, dass ihr Schicksal besiegelt war, als er zwei Reiter aus seinem Trupp ausscheren und die Verfolgung aufnehmen sah.
Sein Blick ruckte zu den verbliebenen Verteidigern zurück. Sie hatten sich zu einer recht schiefen Linie zusammengefunden und starrten den Angreifern angstvoll entgegen.
Nicht einfach in die Menge reiten, Garion. Such dir einen aus, lass ihn wissen, dass er DEIN Gegner ist. Er soll Boron kommen sehen., dachte er bei sich und ließ seinen Blick suchend über die Feinde und die Spitzen der bereits ausgerichteten Lanzen seiner Kameraden gleiten.
Dann fand sein Blick ein Gesicht…Es kam ihm merkwürdig bekannt vor. Schwarzes, strubbeliges Haar, grüne Augen, in der Hand nichts weiter als ein Rapier. Phexdan!
Die Spitze von Garions Kriegslanze blitzte im Licht der Abendsonne unheilverkündend auf, als er sie ein letztes Mal ausrichtete, es gab einen dumpfen Schlag als die lange Waffe ihr Ziel traf, dann folgte ein langgezogener Schrei, der ihn aus dem Traum zurück in die Realität riss.
Leise keuchend öffnete er die Augen. Er zitterte am ganzen Leib und schaffte es kaum den Kopf zu heben. Sein Kopf schwirrte und nur von Fern hörte er das Rasseln von Rüstungen und eine Frauenstimme, die in einem Anfall von äußerster Wut derbe Verwünschungen ausstieß, wie man sie nur im Feld lernte. Vorsichtig tastete er umher, griff in die Fäkalien seiner Zelle und das von Gewürm verseuchte Stroh seiner Schlafstatt. Sein Kopf dröhnte wie Ingerimms Schlag auf einem Amboss. Wie durch einen Nebel nahm er wahr, was vor seiner Zelle geschah.
Eine kräftige Frauengestalt, ganz offensichtlich die, die eine Verwünschung nach der anderen ausstieß, hielt eine zweite, männliche Gestalt gepackt, die die Farben der grangorer Garde am Leib trug.
Garion blinzelte noch einmal, als der Gardist von der Frau mit fürchterlicher Wucht gegen das Gitter seiner eigenen Zelle geschlagen wurde, zu bluten begann und auf dem Boden zusammensackte.
„Holt unseren Bruder aus der Zelle und werft diesen Sohn einer räudigen Hündin hinein! Dieser Narr hat sich an der Herrin Rondra versündigt, lasst ihn spüren, wie wir mit Ketzern verfahren!“, hallte die weibliche Stimme hart von den Wänden des Gefängnisses wider.
Der Rondrit spürte wie ihn zwei Paar kräftiger Hände unter den Armen packten und auf die Füße zogen, dann verlor er den Bodenkontakt, als die weibliche Gestalt seine Füße anhob um ihn mit ihrem Glaubensbrüdern aus der dreckigen Zelle zu schaffen. Er registrierte noch die Veränderung der Lichtverhältnisse, spürte die Wärme der Sonne auf seiner Haut, dann umfing ihn wieder die Dunkelheit.
Als er wieder erwachte atmete er tief ein. Der widerwärtige Geruch der Zelle war Vergangenheit, es roch vielmehr nach den sauberen Laken eines Bettes und als er seine Finger aneinander rieb fühlten sie sich sauber an, wie direkt nach einem warmen Bad. Vorsichtig öffnete er seine Augen und blinzelte in das Licht einer offenbar frisch entzündeten Talkkerze auf einem kleinen Beistelltischchen.
Er fühlte sich besser, das Gewicht auf seiner Lunge war verschwunden, der Reiz zu husten gewichen.
Einen Moment rieb er sich die Augen, ehe er seine Füße neben das Bett schwang um sich zu erheben. Der Raum um ihn herum war merklich größer als die winzige Zelle in den Kerkern der Stadtgarde. Das Bett, auf dem er bis eben gelegen hatte war mit sauberen Laken bezogen und groß genug für so ziemliche jede Art von Krieger. Zu seinen Füßen lag ein weicher, blutroter Teppich, in dem er für einen Moment die Zehen vergrub.
Das Tischchen mit der Kerze, ein recht niedriger Nachttisch, war nicht der einzige Tisch im Raum. Unter dem kleinen, vergitterten und verglasten Fenster stand ein Sekretär mit einem passenden Stuhl bereit, dessen mit Tinte befleckte Oberfläche ihn als vorzüglichen Ort seine Gedanken niederzuschreiben auswies. Alles in allem eine deutliche Steigerung, befand er, als sein Blick auf ein kleines, rotes Büchlein auf dem Nachttisch fiel. Garion runzelte die Stirn. Er erinnerte sich keines solchen Buches in seinem Besitz.
Zwei lange Schritte trugen ihn zu dem Schriftwerk hinüber, ehe er sich vorbeugte um den auf die Vorderseite gravierten Titel lesen zu können. „Rondra Vademecum“, flüsterte er leise.
Nachdenklich legte er die Stirn in Falten, er hatte von diesem Buch gehört. Es war eine Art religiöser Leitfaden für reisende Geweihte der Herrin Rondra. Eine Erinnerung an die Werte und Tugenden in Schriftform, eine Zusammenfassung der wichtigsten Gebete und Andachten.
Er musste schmunzeln. Niemals hatte er eines besessen, aber interessiert hatte es ihn schon immer.
Mit einer andächtigen Geste griff er nach dem Buch mit dem roten Ledereinband und strich über den stilisierten Löwen auf der Vorderseite. Gerade hatte er sich damit in der Hand niedergelassen, als es an seiner Tür klopfte. „Nur herein!“, antwortete er dem Klopfen mit fester Stimme, ehe sich die Tür nach innen öffnete und ihm einen hereintretenden Geweihten der Rondra offenbarte.
„Knappe der Göttin, es freut mich, dass ihr wieder wach seid. Wir haben uns erlaubt euch aus den Kerkern der Garde zu holen. Man hat euch dort vollkommen unangemessen behandelt, es war eine Schande. Ich hoffe es geht euch wieder besser?“, begrüßte der Mann Garion, der für einen Moment um Worte verlegen war und nur nickte, sich dann aber eines besseren besann. „Vielen Dank dafür. Ja, es geht mir besser…Sehr viel besser sogar.“, noch einmal nickte er dem Geweihten zu, als sei die Befreiung seine Entscheidung gewesen.
„Nun, zwar seid ihr dem Kerker entronnen, aber dennoch muss eure Verfehlung gesühnt werden, dafür habt ihr sicher Verständnis.“, Garion nickte. „Ihr steht noch bis morgen früh unter Arrest. Ich werde die Tür eurer Kammer allerdings aufgeschlossen lassen, ihr könnt euch im Tempel frei bewegen, ihn aber auf keinen Fall verlassen, hört ihr?“
Garion nickte…Er hatte gehört. „Natürlich, ich werde mich an den Arrest halten, darauf mein Wort. Aber danach werde ich mir diesen Gardisten vornehmen, der…“, der blonde Geweihte mit dem Spitzbart schnitt ihm das Wort ab:“…Der euch die Fäkalien der Kerkerinsassen über das Haupt schüttete?“, er grinste. „Ich denke, um den hat sich die Ritterin der Göttin Selissa bereits gekümmert. Er wird mindestens einen Götternamen lang keinen Dienst mehr schieben können. NIEMAND vergeht sich auf solch tolldreiste Art an unseren Brüdern und Schwestern!“, beschied er Garion erregt, ehe er sich rasch räusperte und einen Blick auf das Buch in Garions Hand warf.
„Ah. Ihr habt das Rondra Vademecum gefunden. Als wir eure Sachen aus dem Arsenal der Garde bargen fiel uns auf, dass sich keines in eurem Besitz zu befinden schien. Behaltet es…es ist ein Geschenk der Kirche. Eure anderen Besitztümer könnt ihr an euch nehmen – Waffen und Rüstungen natürlich nicht, seht es uns nach.“
Wieder nickte Garion. Natürlich, man bewaffnete niemanden, der unter Arrest stand, das verstand er nur zu gut, also nickte er dem Geweihten ein letztes Mal zu. „Ich danke euch für alles. Wenn ihr erlaubt, dann werde ich mich nun ein wenig in der Lektüre ergehen. Meine Sachen hole ich später.“
Wenig später hatte der Geweihte die kleine Kammer nach einem knappen Gruß wieder verlassen und der Rondrit Garion Rondrior von Arivor war wieder allein. Einen Moment noch blieb er nachdenklich auf dem kleinen Bett sitzen, dann erhob er sich um den niedrigen Raum zu verlassen. In der Haupthalle des Tempels würde sich sicherlich eine zum Lesen geeignete Nische finden lassen und durch das geöffnete Tor des Tempels könnte er wenigstens nach draußen sehen.

Donnerbach 1 (Garion)

Anfangs war die Fahrt ruhig verlaufen, beinahe zu ruhig. Das stete Schwanken und das monotone Rumpeln der Kutsche hatten beide schnell müde werden lassen. In dem Versuch wach zu bleiben, hatten Neferu und Garion sich darauf verlegt die vorbeiziehende Landschaft aus dem Fenster zu beobachten.

Seit dem Aufbruch aus Trallop hatte sich diese sehr verändert. Die großen Baumgruppen waren lichter geworden und das Land flacher, hier und dort hatte es niedrige Büsche gegeben, die sich für einen Hinterhalt geradezu anboten. Aber nichts dergleichen war passiert.
Stundenlang hatte sich der Blick aus dem Fenster mit einer gewissen Regelmäßigkeit in den Anblick einer Moorlandschaft gewandelt. Garion hatte schmunzeln müssen. Viele Menschen hatten Angst das Nebelmoor zu durchqueren, selbst wenn sie einem bewachten Wagenzug angehörten und die ganze Besatzung seiner Kutsche hatte aus nur drei Personen bestanden, von denen im Falle eines Angriffes sicher eine – nämlich der Kutscher – sofort getötet worden wäre. Auf dem Bock des Gefährtes bot er ein sicheres und ungeschütztes Ziel.

Wieder sah er zum Himmel hinauf, dann zu seiner Spiegelung im dunklen Wasser. Hier unten schienen die Sterne in Bewegung zu sein, dehnten sich oder zogen sich zusammen, nie standen sie still. Gedankenverloren schob er einen Finger in das kalte Wasser und ließ die Kälte eine Weile auf seine Haut wirken.
„Ob ich ein wenig Geige spielen sollte?“, sprach er leise zu sich selbst und zog den Finger wieder aus dem Wasser um ihn zu besehen.
Mit einem Kopfschütteln verwarf er die Idee. Sein Geigenspiel mochte dank der silbernen Geige zwar schön sein, aber es war auch laut. Mit Sicherheit würde er Richard wecken. Und sicher war der ohne Schlaf noch unfreundlicher als ohnehin schon. Er kratzte sich an der Wange und sah wieder in den dunklen Nachthimmel hinauf.

Ja, die Kutschfahrt war ruhig verlaufen, bis zu dem Moment, in dem es leise zu knarren begonnen hatte. Lauter und immer lauter war das Geräusch geworden, bis es sich schließlich in einem lauten Krachen ergangen hatte. Die Kutsche war ins Schlingern geraten und Garion hatte mit einem raschen Blick gerade noch sehen können, wie der Kutscher schreiend an seinem Fenster vorbei auf die Straße gestürzt war. Die Kutsche selbst war ruckartig zum Stehen gekommen.
Ein Überfall. Offenbar hatte es doch einen Grund für all die Furcht der Menschen aus Trallop gegeben. Mit verzogener Miene hatte er sich daran erinnert, dass seine Rüstung sich warm und trocken auf dem Dach der Kutsche befand.
Auch Neferu war aufmerksam geworden und hatte einen raschen Blick aus dem Fenster geworfen:“Da kommt etwas, Garion!“ Rasch hatte er hinaus gesehen und tatsächlich – über das niedrige Sumpfgras rechts des Wagens hatten sich einige Kreaturen auf die zum Stehen gekommene Kutsche zu bewegt. Groß waren sie nicht gewesen, aber irgendetwas an ihnen war Garion furchtbar bekannt vorgekommen.
„Richard…?“, hatte er gehaucht, ehe der Kampf ausgebrochen war.

Er spürte einen leichten Nieselregen auf seinem Gesicht, der die Gestalt des Ardariten und die Erde um ihn herum mit unaufdringlicher Feuchtigkeit benetzte. Der feine Regen strich ihm über das Gesicht, ließ die Tränenspuren unter denen des Regens verschwinden, ehe dieser an Intensität zunahm.
Einen Moment dachte Garion tatsächlich darüber nach auf dem schnellsten Weg in sein Zelt zurückzukehren, dann aber sah er zu dem Lauf des kleinen Baches vor ihm hinab. Wo Tropfen einschlugen bildeten sich kleine Ringe, die immer größer wurden.
Ohne ein einziges Mal zu blinzeln betrachtete er die Bewegungen des Wassers.
„Wie Menschen…“, dachte er bei sich. „Jeder von uns wird früher oder später in den Fluss des Zeit hinab geworfen, taucht ein in die Hektik des Lebens, den Rausch, in die Eindrücke, die einem die Sinne vermitteln.“, einer der sich ausbreitenden Ringe hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt.
„Wir beginnen Fragen zu stellen, Dinge zu lernen, erweitern unseren Horizont…Und schließlich…Schließlich passiert es.“, mit ernster Miene folgte er dem Verlauf seines erwählten Tropfenkreises und beobachtete, wie der Ring sich mit einem zweite überschnitt und die sich ausdehnenden Ränder beider Ringe auf das Zentrum des jeweils anderen zuhielten.
„Bis wir auf diesen Menschen treffen, mit dem uns irgendetwas verbindet…Von dem wir uns wünschen, dass unser Horizont bis zu seiner Mitte, seinem Kern reiche.“, er verengte die Augen ein wenig. Er mochte nur ein Tropfen in einem ganzen Fluss, vielleicht sogar einem Meer sein, aber er wollte verdammt sein, wenn die Wellen, die er auslöste nicht bis zu Neferus Zentrum reichen mochten.
Wo sie wohl gerade war? Wieder sah er in den Himmel hinauf und heftete seinen Blick, dem Regen, der ihm ins Gesicht schlug zum Trotz, an das Madamal. Es war von jedem Punkt Aventuriens aus zu sehen, wenn es Nacht war…und doch war es stets das Selbe. Ob Neferu es sich auch gerade ansah und an ihn dachte…? Er biss sich auf die Unterlippe.

Der Kampf gegen die unehelichen Kinder Richards – die gefürchteten Suhlen des Nebelmoores – war nur kurz, dafür umso härter gewesen. Eine dieser Kreaturen hatte sich an seinem Bein fest gebissen, doch war es ihm unter Aufbringung all seiner Willensstärke gelungen sie abzuschütteln. Sie hatten sich nicht lange aufgehalten, hatten den Weg freigeräumt und er hatte mit dem glücklicherweise nicht all zu schwer verletzten Kutscher das Wagenrad repariert. Der Rest der Reise nach Donnerbach war ruhig verlaufen. Zu Garions Erstaunen hatten sie keine Nacht im Nebelmoor, nicht einmal in seiner Nähe, verbringen müssen.
Sie hatten in Donnerbach ein kleines, aber gemütliches Doppelzimmer bewohnt, dessen Einzelbetten er zu einem großen zusammengeschoben hatte. Der erste Tag war wie im Flug vergangen, die lange und anstrengende Kutschfahrt, der Kampf und die Reparaturen an der Kutsche hatten ihren Tribut gefordert und Neferu und Garion einen raschen und tiefen Schlaf beschert.
Der zweite Tag hatte wenig Abwechslung versprochen. Die beiden Reisenden hatten über ihre verschiedenen Sorgen gleichsam die Nähe der Tage des Namenlosen vergessen, die sie nun in Donnerbach einholten.
Leere Straßen, leere Schenken. Stille hatte sich über die Stadt gelegt, nur einige Patrouillen des örtlichen Rondratempels hatten den dunklen Stunden dieser Tage getrotzt und die Sicherheit in der Stadt garantiert. Garion war ohne Neferu aufgewacht und hatte sich gewohnheitsgemäß sein Hemd abgestriffen um sich zu allererst zu waschen. Es war unwahrscheinlich, dass Neferu das Gasthaus verlassen hatte – die namenlosen Tage waren ihr ebenso ein Begriff wie dem Rondriten.
Ein warmes Glücksgefühl hatte seinen Bauch durchflutet, als sie heimlich, still und leise aus ihrem Versteck hervor geschlichen war und ihn trotz seiner Nacktheit umarmt hatte. Keine Scham, kein Gefühl des Anstoßes, nur Wärme.

Sie hatte das Zimmer und wider Erwarten auch das Gasthaus selbst verlassen, war in Richtung des östlichen Tores, in Richtung des Pandlarin gegangen ohne zu ahnen, dass er dort lag. Garion hatte es sich nicht nehmen lassen ihr den Ort seiner Weihe zu zeigen. Hatte ihr die seltsame Wirkung seiner Anwesenheit auf die aggressiven Neunaugen zeigen wollen, doch hatte sie ihn – wie so oft – völlig überrascht und war in dem naiven Glauben, dass auch sie vor den Einwohnern des Sees gefeit sei kopfüber in das dunkle Wasser gesprungen…Und nicht wieder aufgetaucht.
Einen Moment lang hatte er versucht seine Rüstung zu öffnen, sich dann aber eines Geschenkes erinnert, einer Knospe, die es ihm ermöglicht hatte unter Wasser zu atmen. Rasch war er zu Neferu hinabgestiegen und hatte die Bewusstlose aus dem Wasser gezogen, ihre Lippen mit den seinen berührt, mit Efferd und Boron um ihr Leben gerungen und den Sieg davon getragen.

So war es gekommen, dass er den Besuch in dem Rondratempel der Stadt hatte alleine absolvieren müssen. Sieben Stunden hatte er die Hallen durchwandert, sogar eine Rondrageweihte kennen gelernt, die ebenso wie er in Arivor ihre Weihe erhalten hatte. Als Rondriane von Arivor hatte sie sich ihm vorgestellt, hatte ihm angeboten seine weiteren Nächte in der Stadt unter dem Dach ihrer Schwester zu verbringen. Er hatte ihr nur eine vage Antwort gegeben, noch eine Weile Trost unter den furchtsamen Bürgern und ihren Kindern verteilt und war dann zu Neferu zurückgekehrt.
Es war gewesen wie er es erwartet hatte – sie wollte so rasch wie möglich weg aus der Stadt, zurückkehren nach Gareth. Er hatte zugestimmt, ihn hielt nichts in Donnerbach und er hatte ihren katzenartigen, grünen Augen nie etwas abschlagen können.

Am nächsten Morgen hatten sie feststellen müssen, dass die Kutscher sich weigerten das Nebelmoor während der namenlosen Tage zu durchqueren. Garion hatte genickt und Neferus Gepäck zusätzlich zu seinem geschultert. Sie wollte weg…Und er hatte vorgehabt ihr ihren Willen zu geben.
Vorsichtig blinzelte er sich den Regen aus den Augen. In der Ferne zeichnete sich ein zartes Blassrosa ab, das den nahenden Morgen erahnen ließ. Kurz leckte er sich über die Lippen, ehe er sich erhob. Ein paar Stunden Schlaf wollte er sich noch gönnen. Vielleicht waren die Götter gnädig und ließen ihn von ihrem ebenmäßigen Gesicht träumen.

Trallop 1 (Garion)

Sie hatten die Kutsche für den Rest der Zeit für sich alleine gehabt, waren ungestört gewesen. Neferu hatte ein wenig mit ihm gesprochen und sich gegen ihn gelehnt. Hatte ihn gestreichelt und ihn mit ihrer sanften Stimme verwöhnt, ihn sogar mit dem Thema Phexdan verschont. Er war in ihren Schoß gesunken, hatte sich den Kopf von ihr kraulen lassen und sich an die Vorstellung geklammert, dass es ein Traviabund zwischen ihr und ihm sei, der bevorstand. Ihre sanften Finger auf seiner Stirn, an seiner Wange und in seinen Haaren waren ihm zum Genuss geworden und hatten ihn in Borons Arme hinüber geleitet. Es war ein angenehmer Traum, der ihn dort umsorgt hatte, ein Traum der sein Leben mit einer einzigen Veränderung der Realität gegenüber perfekt gemacht hatte – dann war er wieder aufgewacht. Auf seinem Gesicht hatte er Tränen gespürt, die Tränen Neferus. Auch sie hatte sich von dem sanften Schaukeln der Kutsche in den Schlaf wiegen lassen. Ihr Traum allerdings schien ihr etwas anderes offenbart zu haben als die Schönheit einer winzigen Veränderung. Sie war wieder in Schweigen verfallen und hatte sich ihm verschlossen.

Er hatte sie umarmt, ihr beruhigend den Nacken geküsst, aber ihre Tränen waren nicht versiegt. Die Feuchtigkeit auf ihren Wangen hatte in ihm einen furchtbaren Verdacht keimen lassen, den er wenig später bestätigt fand. Neferu hatte von ihrer eigenen Zukunft in Grangor geträumt…einer Zukunft in der offenbar weder Phexdan noch er vorgekommen waren. Sie war alleine mit ihrem und Phexdans Kind zurückgeblieben, einem Kind, das seine Gesichtszüge, aber ihre Augen und ihr Haar getragen und verzweifelt nach seinem toten Vater gefragt hatte…seinen Tod nicht hatte begreifen können und ihn eher als eine Art lange Reise verstanden und Phexdan nach einem oder zwei Götternamen zurückerwartet hatte.

Garion blinzelte mehrfach. Er lag noch immer auf dem Rücken, hatte sich kaum gerührt. Die Geräusche der Regentropfen auf seinem Zeltdach waren seltener geworden und ein Blick in Richtung seiner Füße zeigte ihm, dass es sich bei den wenigen Treffern nur noch um die Tropfen handeln konnte, die den Ästen des Baumes über ihm zu schwer wurden.
Statt des Regens benetzten nun seine Tränen den Boden neben sich. Vor einigen Wochen in der Kutsche hatte er in seinem Schreck über Neferus Trauer etwas übersehen, was ihn nun mit voller Härte einholte. Er war in ihrem Traum nicht vorgekommen…nicht einmal als Ersatzvater für ihren Jungen oder wenigstens als tröstender Freund. Er war wie weggewischt gewesen, wie eine vergessene Erinnerung, wie einer der vielen Teile eines Menschenlebens, die erstanden, existierten und vergingen ohne vermisst zu werden.
Rasch drückte er seine Lider aufeinander. Doch auch das konnte den Fluss seiner Tränen nicht aufhalten. Immer wieder sah er vor seinem inneren Auge eine verzweifelte Neferu, die sich trotz ihrer Trauer und ihrer Ängste nicht an ihn erinnern wollte. Die plötzliche Wärme der Tränen auf seiner Wange, die die Kälte der Nacht gewohnt war, ließ ihn erbeben. Niemals durfte ihr Traum in dieser Form Wahrheit werden. Selbst wenn er Nefs Seite für eine Weile verlassen sollte, würde er ein so schwerwiegendes Ereignis erfahren und an ihre Seite eilen, da war er sich sicher.
Er schluckte unter der Last seiner Tränen schwer und rieb sich mit einem leisen Schluchzen über die trockene Kehle.
Er hatte tatsächlich geplant sich einen Rückzugsort für den Fall seiner Niederlage zu schaffen, etwas, dass ihm im Falle des schwersten Verlustes etwas bieten konnte, das ihn am Leben erhielte, das ihm die Nähe zu Neferu wenigstens suggerierte. Der Plan war schon eine Weile in ihm gereift, doch fehlten noch einige Dukaten und ein Besuch bei seinen wahren Eltern um ihn umsetzen zu können.

Nie hatte er es zugegeben, nie mit jemandem darüber geredet, aber außer Neferu waren Prajeg und Felia die einzigen Menschen, denen er weit genug vertraute um vor ihnen zu weinen. Seine Gedanken glitten zu seinen Eltern, besonders zu seiner liebenden Mutter. Sie hatte schon in den frühesten Jahren stets Verständnis für ihren Ältesten gehabt, hatte sich geduldig seine Sorgen angehört und ihm Trost gespendet, wann immer er ihn gebraucht hatte.
Er presste seine blassen Lippen aufeinander und atmete tief ein. Seine Mutter würde ihm die Hilfe nicht verweigern, das wusste er.

Er hatte Neferu nach ihrem Traum zu beruhigen versucht. Hatte ihr versichert, dass ihr geliebter Phexdan schon auf sich aufpasste und ganz sicher nicht früh starb. Sie hatte sich beruhigt und aus dem Fenster gesehen, hinaus auf die rasch vorbeiziehende Landschaft des tralloper Umlandes.
Am selben Abend hatten sie die Stadt erreicht und sich in eine kleine Kaschemme zurückgezogen, die auf den klangvollen Namen „Kreuzergrab“ hörte. Der Wirt und auch die Gäste dort waren Garion ein wenig horasisch vorgekommen, aber die Gedanken waren wie hinweggefegt, als der Wirt ihnen großherzig erlaubte ein Einzelzimmer zu zweit zu beziehen. Der Rondrit war froh gewesen nicht getrennt von Neferu schlafen zu müssen und hatte sich mit ihr das Bett geteilt. Es hatte eine Weile gedauert, aber schließlich hatte er sich an den warmen Leib der Frau geschoben, die er liebte die aber den Traviabund mit einem anderen plante, und war eingeschlafen.

Der nächste Morgen hatte ihn unsaft aus dem Schlaf gerissen. Er hatte das laute und unnachgiebige Klopfen an der hölzernen Tür der Kammer bis in seinen Traum gehört und war nur unwesentlich nach Neferu erwacht. Garion war noch halb dem Schlaf verhaftet gewesen, hatte sich aber trotzdem aufgerichtet um Neferu den Weg zu ersparen. An der Tür hatte ihn der Wirt des Kreuzergrabes erwartet und ihn gefragt ob eine Neferu Banokborn in seinem Zimmer sei.
Er hatte ihm zur Antwort mit gerunzelter Stirn zugenickt und das Pergament an sich genommen, das der Wirt bei sich trug.
„Ein Bettler hat es vorbei gebracht, ich glaube ich hab‘ den schon öfter beim Tempel des Phex gesehen.“, diese Worte hatten gereicht um Nef das Stück Pergament sofort einfordern und lesen zu lassen, während Garion sich neben sie setze.
Das Lesen der Nachricht konnte kaum mehr als fünfzehn Augenblicke gedauert haben, doch hatte sie mindestens sechzig auf das Geschriebene gestarrt, ehe sie sich mit Tränen in den Augen zurück auf das Bett geworfen hatte.

Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen um die letzten Tränen zu verscheuchen und legte seine Hände dann unter dem Kopf zusammen. Noch immer sah er den Brief vor Augen, er hatte ihn immer und immer wieder gelesen, er lautete:

„Phex zum Gruße Neferu,
die Zeit ist gekommen, da du erfährst, was mich davon abgehalten hat dich zu meinem Eigen zu machen. Schon seit Jahren hat sich der junge Phexje mit einer Abart der Blauen Keuche gequält. Damals, als ich davon erfuhr habe ich ihm geschworen, dass ich nur für ihn da sein werde, so lange er lebt. Wir haben abgemacht, dass eine Frau mich davon mit Sicherheit abbringen würde. Und ich daher seine Zustimmung…oder seinen Tod bräuchte. Unglücklicherweise muss ich dir mit dieser Nachricht mitteilen, dass beides zusammenfällt. Phexje hat vor nicht ganz zwei Stunden den Kampf gegen seine Krankheit verloren und mir auf dem Sterbebett verraten, dass er dich liebt wie eine Schwester. Ich werde deine Rückkehr voller Sehnsucht erwarten. Wir sehen uns in 3 Wochen.

In dir ewig zugetaner Liebe,
Phexdan“

Er runzelte die Stirn und räusperte sich. Er hielt es nicht länger aus hier herum zu liegen, die Enge des Zeltes machte ihm normalerweise nicht zu schaffen, aber da er ohnehin nicht schlafen konnte, wirkte sie auf ihn wie ein Gefängnis. Mit vorsichtigen Bewegungen rutschte er zum Fußende der Schlafstatt und krabbelte schließlich ein wenig steifbeinig ganz heraus. Ein frischer Wind strich ihm um die Nase und ließ ihn frieren, während er einen kurzen Blick über den Lagerplatz gleiten ließ. Richard war tatsächlich schon verschwunden, wie er es vermutet hatte. Die Gegend war nicht sonderlich gefährlich, sie waren keine fünfzig Schritt von der Reichsstraße entfernt, wilde Tiere oder Räuberüberfälle waren hier nicht zu befürchten, so hatten sie sich darauf verständigt auf eine Wache zu verzichten.
Wenn er sich recht erinnerte, dann hatte er bei errichten des Lagers nicht weit entfernt einen kleinen Bach glitzern sehen, dessen Ufer flach und einfach zu erreichen war.
Kurzentschlossen griff er nach seiner Krötenhaut und warf sie sich über. Sie würde den Wind abhalten und unerwartete Begegnungen im Unterholz ungefährlicher machen. Für einen Moment sah er auch zu seinem Schwert hinüber, verwarf den Gedanken dann aber, er würde es nicht brauchen, im Falle eines Angriffes könnte er sich auch so wehren – davon, dass er keinen Kampf erwartete einmal abgesehen. Auf dem Weg zu dem leise glucksenden Gewässer wandten sich seine Gedanken wieder Vergangenem zu.

Neferu war nicht lange erstarrt geblieben, sie hatte sich rasch angekleidet und war mit einer Eile auf die Straße hinaus gerannt, die Garion vollkommen überrascht hatte. So war es gekommen, dass er erst Minuten nach ihr auf die Straße hinaus getreten und sie nur noch in der Ferne gesehen hatte. Aufzuholen war ihm unmöglich gewesen, nur bis zu einem Bettler, der an einer Gabelung der Straße mit dem Rücken an einen Brunnen gelehnt saß, hatte er ihr folgen können ehe er sie aus den Augen verlor. Nervös und zum Warten verdammt war er auf dem Vorplatz des Brunnens im Kreis gelaufen, den Kopf voller Gedanken und das Herz von ihren Tränen beschwert.
Damals war die Zeit ihm lang geworden. Er war unsicher gewesen ob sie aus dem Phextempel, den sie hatte aufsuchen wollen zurückkommen würde oder ob sie sich bereits ein Pferd oder eine Kutsche zurück nach Grangor organisierte. Da er aber nun darüber nachdachte, konnte er nicht viel länger als fünf, vielleicht zehn Minuten gewartet haben, ehe sie aus einer der Seitengassen links von ihm hervorgetreten war und auf ihn zugehalten hatte. Ein seltsames Lächeln hatte ihre Lippen umspielt und ihn erleichtert durchatmen lassen, dann hatte sie ihn fest umarmt und an sich gedrückt.

Mit einem Lächeln sah er auf das im Licht des Madamals funkelnde Wasser hinab. Irgendwo in der Nähe quakte leise ein Frosch oder eine Kröte. Von hier oben sah der Bach dunkel, beinahe schwarz aus.
Noch einmal sah Garion sich aufmerksam um, ehe er langsam in die Hocke ging und eine Hand nach der belebenden Kälte des Gewässers ausstreckte. Leise glucksend umspülte das Wasser des flachen Bächleins seine Finger, trieb einen kleinen Ast dagegen, riss ihn aber sogleich wieder mit sich fort. Ob es das war, was die Götter sahen, wenn sie das Leben eines Menschen beobachteten? Einen Stock, eine unbelebte Materie, die vom Strom der Zeit davon gerissen wurde?
Rasch griff er nach dem Stock und zog ihn aus den kalten Fluten um ihn einen Moment in Händen zu drehen. Schließlich aber legte er ihn zur Seite. Philosophie war nie seine Stärke gewesen und es gab wahrlich Wichtigeres um das er sich Gedanken machen musste.
Mit zwei Fingern massierte er seine Nasenwurzel. Er spürte noch immer keine Müdigkeit obwohl die Nacht dem Morgen sicherlich bereits näher war als dem Abend. Seufzend ließ er sich am Ufer des kleinen Bachs auf den Hosenboden fallen.

„Ich muss noch zu einem Schneider, Garion! Diese Tunika muss an der Taille dringend enger gemacht werden.“, hatte Neferu gesagt und das königsblaue Kleidungsstück mit ihren Händen so in Form gezogen, dass es ihren kurvenreichen Körper voll zur Geltung gebracht hatte. Ja, er war ganz ihrer Meinung gewesen, es musste dringend enger gemacht werden – sie sah wundervoll aus.
Sie waren auf dem schnellsten Weg in das Kreuzergrab zurückgekehrt um ihre Sachen zu holen. Dort jedoch hatten sie Zweifel beschlichen, ob die Zeit tatsächlich noch reichen würde einen Schneider aufzusuchen. Die Stunde zu der sie sich wieder bei der Kutsche einfinden sollten war schon sehr nahe gerückt, sodass sie sich entschlossen auf den Besuch der Schneiderei zu verzichten und besser sofort die Kutschstation aufzusuchen.
Dort angekommen waren sie von einem verwunderten Kutschfahrer begrüßt worden:“Guten Morgen. Ich hatte euch gar nicht so früh hier erwartet. Es sind doch noch mindestens vierzig Minuten bis zur zehnten Stunde.“, er hatte über das mangelnde Zeitgefühl der beiden gegrinst, ihnen aber dennoch erlaubt ihr Gepäck schon auf das Dach der Kutsche zu laden. In der übrigen Zeit war es ihnen dann tatsächlich gelungen einen Schneider – einen erstaunlich geschickten Thorwaler – aufzutreiben, dem es gelang die Tunika mit einigen, wenigen Stichen in die gewünschte Form zu bringen. Nicht einmal teuer war der Besuch gewesen, obgleich Neferu sich auch einen Satz neue schwarze Stiefel gekauft hatte. Als sie wieder zu der Kutschstation zurückgekehrt waren, waren sie noch immer einige Minuten zu früh dran gewesen, hatten sich aber schon in der Kutsche niedergelassen und sich leise unterhalten.

Gareth 1 (Garion) ( –––)

Fröstelnd zog er seinen Wollumhang bis unter sein Kinn, sodass seine Füße ohne wärmende Decke zurückblieben. Die Nacht war außergewöhnlich kühl, das kleine Feuerchen, vor dessen tanzenden Flammen er noch immer den Umriss Richards sehen konnte, vermochte seine Wärme nicht bis zu ihm zu senden. Garion zog die Beine an. Vielleicht hatte er Glück und seine Füße würden so noch mit unter den schweren roten Umhang passen.

Begleitet von einem lautlosen Seufzen richtete er seinen Blick nach oben. Wie so oft hatte er seine Wachsplane über einen niedrigen Ast geworfen und mit Seilen an den Seiten befestigt, sodass sich eine Art Zeltdach ergab, das an Kopf und Füßen offen war. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die nahe Decke seines winzigen Schlafsaals.
Endlich ein paar Stunden Ruhe… Ein paar Stunden um über die vergangenen Wochen nachdenken zu können. Er musste lächeln, als die Stimme seines Vaters – seines wirklichen Vaters – in seinem Kopf nachhallte:“Garion, für deinen Lebensweg ist eines ganz wichtig, wenn du ein besseres Leben führen willst. Denke nach, Garion, benutze deinen Kopf. Und tue es oft! Denke über _alles_ nach, was dir widerfährt! Dann wirst du deinen Weg schon machen mein Junge.“
Sein Vater hatte ihn an sich gedrückt und ihm liebevoll das Haar gestreichelt. Es war eine der vielen angenehmen Erinnerungen seines Lebens – er tat seinen Eltern unrecht, er besuchte sie so gut wie nie.
Leise saugte er die kühle Luft der Nacht tief in seine Lungen und drehte sich auf die Seite.
Es war schon über einen Monat her, dass Neferu und er aus Grangor aufgebrochen waren.

Garion hatte die Stadt verlassen, seinen Weg auf der Suche nach den Tempeln der Herrin fortsetzen wollen und konnte nicht umhin Neferu, die er liebevoll „Nef“ nannte, den Wunsch zu unterbreiten ihn zu begleiten.
Neferus Antwort hatte ihn erfreut und getroffen zugleich:“Natürlich komme ich mit dir Garion. Wo du hingehst…da gehe auch ich hin. Außerdem…ist Phexdan ohnehin zwei Monate nicht in der Stadt.“

Unterbewusst leckte er sich über die Lippen. Die Frage ob sie ihm auch gefolgt wäre, wenn Phexdan in der Stadt gewesen wäre, nagte an ihm. Mit jedem Tag schien ihre Bindung zu diesem Laffen stärker zu werden, während er selbst spürte wie sie ihm weiter entglitt.

Gemeinsam waren sie in Richtung Norden mit dem vorläufigen Ziel Gareth aufgebrochen, waren einen Monat quer durch das Land gewandert…und doch war die Zeit für den Rondriten nicht die erhoffte Linderung und Wiedergutmachung für die vorangegangenen Wochen gewesen. Neferu hatte kaum geredet – und wenn dann zumeist darüber wie sehr sie Phexdan schon jetzt vermisste.
Es hatte ihm die Wanderung beschwerlicher vorkommen lassen. Oft war er durch pure Unachtsamkeit gestrauchelt, einmal sogar der Länge nach hingeschlagen. Nein – dieser Marsch quer durch das Liebliche Feld und das Mittelland war keine seiner angenehmsten Erinnerungen, aber er hätte diesen Monat einsamer Ruhe mit Neferu für nichts in der Welt eingetauscht.

Vorsichtig drehte er sich wieder auf den Rücken und starrte zu der improvisierten Zeltdecke hinauf. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Kleine und große Tropfen prasselten auf die mit Wachs behandelte Plane, perlten an ihr ab und versickerten harmlos im Boden neben Garions Schlafstatt. Er mochte das Geräusch des Regens, wie er nur knapp über ihm auf seinen Schutz prasselte und ihn nicht berührte. Es hatte etwas Gemütliches, etwas Geborgenes – es hatte etwas von einem Heim. Einen Moment lang besah er sich seinen Regenschutz. Ja, das hier war das einzige Heim, das er hatte, sein einziger Rückzugsort. Wieder sah er in Richtung seiner Füße und zu dem Feuer hinüber, dessen Flammen inzwischen beinahe erstickt waren und dem Regen nur noch schwache Gegenwehr lieferten. Die glimmende Kohle fesselte seinen Blick und entführte seine Gedanken…brachte sie zurück in die Vergangenheit.

Sie hatten Gareth nach etwas mehr als einem Götternamen erreicht und waren sofort in das Südquartier gezogen, hin zum Roten Hahn, einer recht verrufenen Gaststätte, die Neferu schon seit Kindestagen eine Heimat gewesen war. Er musste schmunzeln. Das Südquartier war nicht unbedingt die Gegend Gareths in der man oft einen Rondrageweihten in vollem Ornat zu sehen bekam. Wie so oft hatten die meisten Gäste der kleinen Schenke ihm Blicke voller Skepsis, Misstrauen und von Zeit zu Zeit auch offenem Hass zugeworfen, hatten ihn keinen Augenblick aus dem Auge gelassen, bis sie sich hatten versichern können, dass er tatsächlich nur mit den beiden ihnen bekannten Frauen an einem Tisch sitzen wollte. Sein Blick war zu Lanyana geglitten. Sie war der Grund, warum der Rote Hahn jedes Mal der erste Anlaufpunkt in Gareth war. Die Badocelfe war eine der Bedienungen an der Theke der Spelunke und eine der ältesten Freundinnen Nefs. Das Gespräch der beiden Frauen war eine Weile hin und her gegangen und hatte sich dann dem Unvermeidlichen zugewendet.

„Du, Lanyana, ich hab‘ da Jemanden kennen gelernt.“, hatte Neferu gekichert. Etwas in Garion hatte sich zusammen gezogen. Er hatte gewusst, was die folgenden Stunden ihm bringen würden und sich nach einem Ausweg umgesehen, der sich ihm in Form eines etwas abgerissenen Tavernenbesuchers offenbart hatte. Der Mann redete über eine schnelle Dukate, die sich in Donnerbach, des Endziels ihrer Reise machen lassen sollte – etwas, das ihn, so es in göttergefälligen Bahnen verlief, durchaus interessierte. Der Inhalt seines Goldbeutels war erheblich zusammengeschrumpft und es schien nur noch eine Frage von Tagen zu sein, dass er ihn im Stich lassen würde.
Keine fünfzehn mal sechzig Augenblicke später hatte er wieder an dem Tisch der beiden Frauen gesessen. Die Geschäfte des Fremden waren offenbar das Ergebnis einer wilden Mischung von Alkohol und Diebstahls, einer Art des Dukatenverdienens, die Garion schon immer weit von sich geschoben hatte. So war er zurück an den Ort seiner Demütigung gekehrt, hatte sich an dem Wasser gelabt, dass Lanyana ihnen umsonst überlassen hatte und dem Gespräch der Frauen mit einem Ohr gelauscht. Wieder ein Abend, der sein Leben nur bereicherte, weil Neferu in seiner Nähe war. Minuten waren ihm zu Götternamen geworden, bis ihm das Getränk eine weitere Möglichkeit geboten hatte sich zu entziehen. Ein allzu menschliches Bedürfnis hatte ihm den Weg aus der Taverne gewiesen, um Wasser abschlagen zu können.

Vorsichtig bewegte er seine Hüfte ein wenig zu den Seiten. All zu viel Platz sich zu regen hatte sein Eigenheim tatsächlich nicht. Die Plane war günstig gewesen, aber besonders viel Freiraum bot sie wahrlich nicht. Aber was beklagte er sich? Ob der nächste Morgen nun noch einen steifen Rücken in die Waagschale warf, die unlängst zu seinen Ungunsten ausgeschlagen war oder nicht war eigentlich kaum von Interesse.
Sein Blick glitt zu den letzten Resten des Feuers hinaus. Richards Gestalt konnte er nicht mehr ausmachen, vielleicht hatte er sich unter einen Baum zurück gezogen, vielleicht in seine eigene Unterkunft. Seufzend befühlte er den umgenähten Saum seines Umhangs.
Richard…von ihm hatte er sich ein wenig Hilfe in diesen schweren Tagen und Wochen erhofft. Hatte gehofft, dass unter der oft unfreundlichen oder abfälligen Schale so etwas wie ein weicher Kern steckte. Aber es zeichnete sich mehr und mehr ab…Richard war es egal ob Garion nun unter Neferus Entscheidungen litt. Er war ihr Freund…und betrachtete Garions Sorgen…sein stilles Leiden als eine willkommene Abwechslung zu den angeblichen Erfolgen, die das Leben des Bronnjaren zu begleiten schienen. Oft kam es Garion so vor als sei die Abneigung gegen ihn schon in Richards Herzen gewesen, als ihre Wege sich noch gar nicht gekreuzt hatten. Stets hatte er eine bissige Bemerkung für ihn über, nie ein Wort des Trostes…oder gar des Lobes.
Garion drehte sich auf den Bauch. Aber trotzdem. Er hatte sich in seiner Naivität eingebildet Richard könne ihn vielleicht doch auf seine Weise verstehen. Könne ihm helfen seine Last zu tragen. Kurz rieb er sich über die Augen. Was ihm fehlte war jemand mit dem er reden konnte, jemand, dem er vertraute, den er gut kannte, vor dem ihm seine Schwächen aber nicht unangenehm waren. Neferu war so jemand…aber in diesem Fall waren es ja Neferu und ihre Entscheidungen die ihn quälten. Mit ihr darüber zu reden…undenkbar.
So stand er also allein. Allein mit sich in einem winzigen Zelt. Einer kleinen Insel in den rauschenden Wogen des Regens rund um es herum. Er fühlte sich einsam…und einen Moment lang war er versucht zu Richard hinüber zu gehen. Ihn einfach anzusprechen, sein Herz auszuschütten, sein Innerstes nach außen zu wenden und zu sehen was passierte. Aber…etwas hielt ihn zurück. Leise, langsam und wie ein Meuchler in dunkler Nacht kehrte die Erinnerung an den Abend im Roten Hahn zurück.

Er war vom Abort zurück in die Taverne gekommen und hatte sich gesetzt – gerade in dem Moment als auch Neferu sich erhob, um das stille Örtchen an der Außenwand der Taverne aufzusuchen. Er war mit Lanyana allein zurück geblieben. Hatte sich etwas von dem Wasser eingeschenkt und einen Schluck getrunken während er die junge (?) Elfe beobachtet hatte. Seit ihrem ersten Treffen hatte er sie gemocht. Sie war frech…meist fröhlich und schien keine Verzweiflung…keine tiefgehenden Sorgen zu kennen. Obgleich er sie kaum kannte war er sich sicher, dass eine so alte Freundin Neferus Verständnis für seine Schmerzen haben würde, er hatte das Wasserglas von seinen Lippen genommen und auf dem grob gezimmerten Tisch abgestellt, als sie sich über den Tisch zu ihm herüber gebeugt und ihn angesprochen hatte:“Na? Hat dir jemand deine Geliebte genommen…?“. Sie hatte schadenfroh gegrinst.

Eine Erwiderung war ihm im Halse stecken geblieben. Nur mit Mühe hatte er Tränen der Enttäuschung niederkämpfen können, als ihm bewusst geworden war, dass er auch hier in Gareth, der größten Stadt Aventuriens…mutterseelenallein war. Er hatte den Blick auf den Tisch gesenkt und geschwiegen, hatte der Frage ausweichen, sie nicht hören wollen.
Aber Lanyana hatte nicht locker gelassen, sie war um den Tisch herum zu ihm hinüber gerückt und hatte ihn mit dem Ellenbogen angestoßen:“Na…? Nun sag doch was…“
Groll hatte sein Herz erfasst, der Wunsch ihr entgegen zu brüllen, wie viel Hoffnung er in sie gesetzt hatte, wie sehr er sie für diese grundlose Attacke verachtete, war unerträglich geworden. Er war aufgestanden, hatte sie ohne ein weiteres Wort sitzen lassen und war hinaus auf die nächtlichen Straßen des Südquartiers getreten, von denen er sich Ruhe, wenn schon keinen Trost versprochen hatte. In der Tür war Neferu ihm entgegen gekommen, er hatte ihr das Geschehen nur kurz erklärt…denn wie es schien zog es sie wieder nach drinnen…zurück an den Ort wo eine alte Freundin auf sie wartete…
Er selbst war in der kühlen Nacht zurückgeblieben, hatte sich neben der Eingangstür an die Holzwand gelehnt und die Straßen der Stadt beobachtet, in denen der einzige Trost eine alte Bettlerin war, die ihm nach einer Spende von zwei Hellern in aufrichtiger Dankbarkeit eine Umarmung geschenkt hatte und damit zu der einzigen Person geworden war, die ihm in dieser Nacht ein mattes Lächeln auf die Lippen gezeichnet hatte.
Wenig später, als ihm die aufziehende Morgenfeuchtigkeit klamm in die Glieder gefahren war, hatte er sich wieder in den Schankraum begeben. Der Tisch an dem Neferu und Lanyana gesessen hatten war leer gewesen und die Elfe, die wieder hinter dem Tresen ihren Dienst versehen hatte, würdigte ihn keines Blickes, als er mit hängenden Schultern in das einzige Zimmer der Taverne geschlichen war, das er sich mit Neferu und der Elfe teilte. Neferu hatte bereits in ihrem Bett gelegen – einem von zweien, sein Schlafplatz hatte aus einer Matte auf dem schmutzigen Boden bestanden. In früheren Zeiten hatte er sich – zumindest in Gedanken – über einen solchen Schlafplatz beschwert. An diesem Abend aber war er dankbar gewesen für die Möglichkeit sich ein wenig Ruhe zu gönnen. Trotzdem hatte er es nicht lassen können Neferu zu fragen ob sie bereits schlief. Sie hatte nicht geschlafen, hatte ihm noch eine Weile auf seine Fragen beantwortet, war aber seiner Hand die er zu ihr hinauf gestreckt hatte ausgewichen, mit ihren Gedanken ganz ihrem geliebten Phexdan verschrieben gewesen, bis sie der Schlaf übermannt hatte.
Er hatte noch über eine Stunde gebraucht um in einen unruhigen Schlaf hinüberzugleiten, der ihn mit alptraumhaften Visionen davon gequält hatte, wie Neferu ihre Unschuld an diesen verfluchten Bettler verlor.
Mehrfach war er in dieser Nacht aufgewacht, hatte Ratten von seinem Kopf verscheucht und einmal ein Insekt berührt, das mit raschen tippelnden Schritten das Weite gesucht hatte. Er hatte sich den Kopf gestoßen und den Rücken verlegen, aber nichts von alledem konnte sich mit dem Schmerz messen, den der Traum verursacht hatte. Das lustvolle Keuchen Phexdans, der sich zwischen Neferus geöffnete Beine drängte, hatte ihn noch eine ganze Weile verfolgt, ihn auch drei Tage später nicht losgelassen und ihn in den Schlaf begleitet. Nach einem recht kargen Frühstück hatten sie den Roten Hahn verlassen und sich auf den Weg zur nächsten Kutschstation gemacht.

Garion blinzelte ein paar Mal in die Dunkelheit über ihm. Von dem Rondriten unbemerkt hatte der Regen Kraft gewonnen und die untere Kante seiner improvisierten Decke durchnässt. Unangenehme Feuchtigkeit legte sich auf seine Haut, als er sich Mühe gab die Beine noch ein Stück weiter anzuziehen. Hätte er doch nur sein Zelt mitgenommen.
Vorsichtig bewegte er seine klammen Finger ein wenig und rieb sich die Augen. Wie spät es wohl sein mochte? Die Sonne war schon lange hinter dem Horizont versunken und auch die Feuerstelle hatte der Regen endgültig besiegt – er konnte sie nicht mehr sehen. Um ihn herum herrschte drückende Dunkelheit und ließ seine Welt auf seine Gedanken zusammen schrumpfen.

Was wohl in zwei Götternamen sein würde? Seufzend rieb er sich über die Stirn und schob die rasch erkaltende Hand dann wieder unter seine Decke. Neferu würde Phexdans Anvertraute sein und er…er wäre vollkommen allein. Er spürte wie Verbitterung in ihm aufstieg, sich wie Galle den Weg nach oben bahnte und sich bitter in seinen Mundraum ergoss, in dem sich sofort ein merkwürdiger Geschmack breit machte. Eines hilflosen Lächelns konnte er sich nicht erwehren. Sicher würden ihn alle für verrückt halten, wenn er sich nach der Schließung des Traviabunds zurückzog, sich irgendwohin absetzte, an einen Ort selbstgewählter Einsamkeit. Keiner von ihnen würde verstehen können, warum er sich freiwillig noch weiter isolierte.
Nachdenklich schloss er die Augen. Freiwillig würde diese Entscheidung keinesfalls sein und – wie er vermutete – auch nicht dauerhaft, aber er war sich sicher, dass er die Nähe einer vermählten Neferu nicht würde ertragen können, wusste, dass ihm die Einsamkeit wie eine warme Decke vorkäme. Gedankenverloren strich er von innen über die Plane, die ihm ein Mindestmaß an Sicherheit bot…sie war feucht, vielleicht von seinem Atem, vielleicht vom Wetter selbst. Wie um neue Erkenntnisse darüber zu gewinnen rieb er seine Finger aneinander. Seine Gedanken indes wandten sich wieder der vergangenen Reise zu.

Es war nicht einfach eine Kutschpassage nach Donnerbach zu finden. Zwar waren an der Kutschstation Gareths zwei Reisekutschen gewesen, doch war eine schlicht davon gefahren, als sie noch überlegten, welche Strecke sich am ehesten anböte, während sich gerade eine fünfköpfige Herrengesellschaft angeschickt hatte die andere zu besteigen.
Innerlich hatte er sich darauf eingestellt die Fahrt auf dem Kutschbock als Wache zu bestreiten, getrennt von Neferu, wieder einmal…abgeschnitten von jedem freundlichen Wort.
Aber es war anders gekommen. Nef war hatte sich etwas unter ihre Tunika geschoben und war mit leidender Miene auf die Männer zugetreten. „Verzeiht ihr Herren, aber ich trage ein Kind unter dem Herzen…und mein Bruder und ich müssen rasch nach Donnerbach zu meinem Gemahl.“, das waren in etwa ihre Worte gewesen. Er war vor den Kopf gestoßen gewesen. Nicht weil sie gelogen und ihnen ihre Kutschfahrt nicht eben rechtmäßig verschafft hatte. Nein…es hatte ihn geschmerzt, dass er nicht einmal in diesem Lügenkonstrukt, in dieser Illusion als ihr Gemahl hatte gelten können…dass er ein weiteres Mal der große Bruder gewesen war.

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