Neferu

Havena 12 (Neferu)

Ihr entfuhr ein kurzer Schrei, als sie inmitten der Grabsteine gepackt und zu Boden gerissen wurde.
Sie gehörte nicht zu den schreckhaften Frauen, die bei jeder Gelegenheit ihr gellendes Organ zur Geltung brachten. Sie erinnerte sich nicht einmal daran, wann das letzte Mal gewesen war, dass sie geschrien hatte – sie musste noch ein Kind gewesen sein.
Während in einem Sekundenbruchteil der absurde Gedanke ihres eigenen Lauts ihr Ende fand, schlug sie auf den Boden auf und wurde von einer unmenschlichen Kraft in einen Rhododendron gezogen.
Sie hatte von roten Rhododendronblüten auf den Zyklopeninseln gehört.
Wieder ein irrsinniger, unpassender Gedanke. Das musste am Schock liegen.

Die einzigen roten Blumen in diesem Augenblick waren die Rosen, die sich ringsum auf dem Grabweg verteilten.

Sie machte keine Anstalten sich festzukrallen, sich zu wehren. Ihr war vor Überraschung nicht einmal in den Sinn gekommen, gegen zu halten und sich einen Grabstein zu suchen, an dem sie sich hätte festhalten können.
Statt dessen galt ihr stoßgebetartiger Gedanke Phex, dem Gott, der sie nächtens immer beschützt hatte und es zu ihrem eigenen, bitteren Erstaunen jetzt nicht mehr tat.

Havena 10 (Neferu)

Jeder platschende Ruderschlag trieb das Boot voll Rosen näher zur Toteninsel.
Mit jeder Elle, die Edda und Neferu überwanden, wurde der gigantische Basaltbau mehr und mehr zu einem schwarzen Riesen, der sich aufragend vor ihnen aufbäumte, als erwache er aus tausendjährigem Schlummer.

Düster und voll Geheimnis präsentierte sich das Eiland, als sie anlandeten. Nächtliche Wolken schoben sich vor das Madamal und nahmen das Licht, so dass nur das Funkeln der Sterne blieb.
Im Haus der Geweihten, das sich unterwürfig neben den uralten Tempel kauerte, brannte kein Licht.
Neferu sog tief die kühle Salzluft in ihre Lungen. Sie zitterte, hielt den Unterkiefer nur mühsam unter Kontrolle.

Edda sagte kein Wort. Eilig, nahezu gehetzt machte sie sich daran die Rosen vom Boot zu heben und sie unsanft an die flache, sandige Uferböschung zu werfen. Für Romantik hatte sie angesichts des gespenstischen Ortes kein Gespür und keine Zeit mehr.
Neferu rieb die Hände aneinander, ihre Finger waren eiskalt. Dann half sie der Wehrheimerin, ebenfalls schweigend.

Sie konnte es spüren… vielleicht ebenso wie Edda, die hastig, aber bemüht lautlos ihr Boot bestieg und sich ohne große Umschweife in die Riemen legte, nur um verschwinden zu können… Irgendwas war in dieser Nacht anders.
Es war… weniger still.

Mit einem Mal fühlte sie es genauer. Ein ungutes Gefühl, dass ihr den Rücken hinaufkroch.
Doch wenn sie genau horchte… hörte sie nichts. Nur den Meereswind und das leise Geräusch von Leben, das da drüben, jenseits des Wassers mit hellen Lichtern sein Pulsieren zelebrierte.
Sie blickte auf all die Rosen ringsum, fühlte sich hilflos.
Da war sie nachts gekommen, um die impertinenten Blicke der Festlandskirchen von sich abzuschirmen und bekam es mit der Angst zu tun?

Sie schalt sich albern, lud die bronzefarbenen Arme voll mit jungen Rosen und erklomm die sanfte Böschung.

Havena 8 (Neferu) ( –––)

Zweimal schon war sie von den spärlich vertretenen Geweihten still der Insel verwiesen worden.
Nicht unhöflich natürlich und erst recht nicht wortreich, aber Neferu war boronfürchtig genug zu gehen, sobald eine der Schwarzkutten mit ernst-entschlossener Miene ausgestreckten Armes zum Festland deutete. Vorläufig zu gehen, zumindest.
Sie kam sich vor wie im Possenspiel eines unterdurchschnittlich begabten Autoren aus dem Horasreich. Und sie ahnte, dass es der Geweihtenschaft des dunklen Gottes ganz ähnlich erging.
Hier in Havena wurden sie allesamt gemieden. Kaum jemand hier besuchte je seine Lieben, sobald sie verstorben waren.
So konnte die Hand voll Priester friedlich und still auf ihrer Insel im Hafen vor sich her leben und keiner kam ihnen in die Quere oder belästigte sie.
Nur wenn jemand verstorben war, ruderten die Diener des Rabengottes zur Stadt hinüber, denn wann immer es soweit war, wussten sie davon.
Das musste sie noch unheimlicher machen, da sie wie von einem lautlosen Zeichen geschickt kamen, um die Leiche mit sich zu nehmen.
Neferu fragte sich in eben jenem Moment, was sie aßen… Ob sie, allesamt.. Vampire waren?
Es war nicht so, als ob sie das noch groß gewundert hätte, kannte sie doch bereits Cailan und Firuz und ebenso die ominöse, blasse Sagarta, eine junge Frau mit dem Auftreten einer tausendjährigen Statue.

Wie mittlerweile zu fast jeder Zeit hielt sich die Rote im Hafen von Havena auf.
Sie hatte gelernt, dass die meisten Fischer vorgaben sie nicht gehört zu haben, wenn sie von einer Passage zur schwarzen Insel sprach.
Oder aber sie starrten vollkommen entgeistert, als habe man sie gefragt, ob sie in einer Nussschale übers Meer ins Riesland rudern könnten.
Wie froh war sie gewesen Bekanntschaft mit Edda zu machen. Edda war vor zwanzig Jahren nach Havena gekommen, um den Mann ihrer Wahl entgegen dem Willen ihrer Eltern zu heiraten.
Sie war aus dem bodenständigen Wehrheim und scherte sich nicht um Tod noch Namenlosen.
Trotzdem hatte Neferu auch an die resolute Mittvierzigerin so einige Goldtaler verloren, denn die Frau ließ sich ihre Fahrten durch die Bucht wie eine Königin bezahlen.

Gerade für Neferus heutiges Anliegen musste sie tief in die eigene Tasche langen. Oder eigentlich… in Zerwas‘ Tasche, waren die Goldmünzen, die sie ihr Eigen nannte doch großteilig von seinen Ersparnissen abgezweigt.
Grabpflege. Mit wenigen Worten hatte Neferu es aushandeln können, dass sie auf der Boroninsel würde helfen dürfen zur Ehre der Toten die Gräber zu pflegen.
Wenn sie dabei eine schwarze Kutte trug. Und den Mund hielt.
Das war das beste Angebot, das sie sich von den störrischen Boroni hatte erhoffen können. Sicher wusste Sagarta nicht einmal davon, war es doch Cailans milde Zugeneigtheit, die ihr diesen Vorteil eingebracht hatte, wie sie überzeugt vermutete. Cailan.. und sein Rahjafluch. Ein schauderhafter Gedanke. Auch wenn die hexisch verspielte Schadenfreude in ihr belustigt eingestand, dass es sie nach wie vor schmeichelte, dass er wortwörtlich Feuer gefangen hatte.

Die Planken des Ruderboots knarrten, als Neferu mit einem beherzten Sprung von der Kaimauer ihren Platz einnahm.
Edda hatte sie erwartet. Es lief ab wie immer: Erst die Bezahlung, dann der Dienst.
Die blonde Fischerin half die zwanzig Pflanzen unter dem Gesicht des milchigen Vollmonds in das Boot zu verladen. Zwanzig junge Rosentriebe, dazwischen die zwei Frauen. Selbst Edda, die vorgeblich wie immer leise fluchte, konnte nicht umhin einige Male zu lächeln.
Neferu hatte es geahnt – eine Frau die für einen Mann an eine wetterwendische Küste zog, an der man albern-abergläubisch gegenüber Tod und Magie eingestellt war, die musste trotz ihrer herben Optik eine romantische Seele sein.
Nef schämte sich nicht für die handfeste Lügengeschichte, die sie der Wehrheimerin aufgetischt hatte. Im Gegenteil, sie wusste, dass die Geschichte über einen toten Geliebten, der kurz vor ihrer Heirat in fremden Gewässern umgekommen war und dessen Ort der Ruhe sie erst jetzt gefunden hatte, viel eher das war, was ein Mensch hören wollte. Eine hübsche, romantische Geschichte.

Die Geschichte vom Massen mordenden Erzvampir, den sie ganz zurückzuholen gedachte, eignete sich weniger.

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