Neferu

Grangor 8 (Neferu)

Viele Schritte. Sie kniff ihre ohnehin geschlossenen Augen zusammen, um die lauten im Lärmpegel ansteigenden Geräusche auszublenden, was nicht so recht gelingen wollte.
Obwohl sie die Nacht auf dem steinernen Boden geschlafen hatte, war ihr nicht zum Erfrieren kalt, was sie im Halbschlaf und noch immer im restlichen Drogenrausch verwunderte.
Sie weigerte sich die Lider zu öffnen, konnte sie sich schließlich nicht einmal mehr erinnern, wo sie gerade war. Jemand sprach zu ihr, doch was die Stimme sagte, konnte sie nicht realisieren und sie auch nicht einordnen.

„Lass mich weiterschlafen…“ murrte sie nuschelnd und zog sich die miefende Decke bis zum Ohr. Moment… Decke? Sie wagte ein Blinzeln und zuckte zurück. Soviele Beine und Schuhe, Stiefel und Röcke, die in Bewegung waren, hatte sie ihren Lebtag nicht gesehen, zumindest nicht so beängstigend nah. Erschrocken ob der nahen Gefahr des Zertrampeltwerdens zuckte sie zurück und hob skeptisch die Lider, um sich ihrer Umgebung bewusster zu werden. Wenig körperbeherrscht rieb sie sich übers Gesicht, während sie eine unangenehme Übelkeit in sich aufsteigen spürte.
Das letzte, leidlich Deutliche woran sie sich erinnerte, war der Rahjatempel. Das Stirnrunzeln übermannte ihre gesamte Mimik.
„Wo bin ich?“ fragte sie, ohne jemanden direktes anzusprechen.
„Bist du endlich wach, Mädchen? In Norderstadt bist du!“ erklang eine krächzende, alte Stimme.
Neferu fühlte sich, als wäre sie unter Kutschräder gekommen. Jeder Knochen in ihrem Körper machte sich bemerkbar, wobei sie nicht sagen konnte, was ihrem Befinden mehr Schaden zugefügt hatte, das Schlafen auf einer steinernen Brücke oder der Überkonsum des Rauschkrauts.
„Norderstadt?“ raunte sie irritiert, „nicht mehr in Grangor?“ Die Worte hallten unwirklich und aus unerfindlichem Grund unsinnig klingend durch ihren markant brummenden Schädel.
Sie wurde über den Umstand aufgeklärt, dass Norderstadt ein Teil Grangors war und langsam wurde ihr bewusst, dass sie davon eigentlich schon gehört hatte.
Unbeholfen und blass, wie ein Küken, das eben erst geschlüpft war, entschloss sie ihre Umgebung zu analysieren. Weitaus langsamer als sonst ratterten die Zahnräder ihres Verstandes.
Sie lag auf einer gut besuchten Brücke, soviel war ihr mittlerweile klar. Und zwar erkannte sie die Stelle, an der Phexdan ab und zu geweilt hatte, wenn sie nach ihm suchte. Jemand hatte sie mit einem Satz alter Lumpen zugedeckt, die stanken bis zum Himmel, aber wenigstens warm waren.
Dieser Jemand saß neben ihr: Ein alter Kauz mit weißem Bart, sicher an die 70 Götterläufe alt – er hatte keine Beine mehr, zumindest keine Unterschenkel und sah sie freundlich an. Einer der vielen Bettler hatte sich also ihrer angenommen.
Mit Mühe richtete sie sich ins Sitzen auf.
„Wie spät ist es…?“ Sie rieb sich erneut den schmerzen Schädel mit seinen pochenden Schläfen.
„Etwa die vierzehnte Stunde..!“ klärte der heitere Alte sie auf.
„Zuviel Rauschkraut“, gab sie ihm zur Information, aber nicht ohne zu betonen, dass es das erste und letzte Mal gewesen war, dass sie sich überhaupt dazu hatte hinreißen lassen.

Bei Phex… Sie musste lange an dieser Stelle gelegen haben; wäre es Winter gewesen, hätte sie einem Kältetod nicht entkommen können. Er gab ihr Wasser zu trinken und sie erklärte ihm den Umstand ihres Hierseins, der ihr verschwommen selbst erst bewusst werden musste. Missmutig gab die junge Frau ihre Meinung über die verrückten Rahjajünger preis und die absolute Nichtübereinkunft ihrer und derer Einstellungen. Er gab ihr Recht. Immerhin. Seine Zustimmung spendete ihr etwas Trost. Wenigstens fühlte sie sich, was ihre Meinung anbelangte nicht mehr ganz so allein, schien doch Restdere den rahjaischen Praktiken zu huldigen.
„Weißt du…“ Sie hatte entschieden dem Bettler – mit dieser Bevölkerungsschicht hatte sie in den Jahresläufen ihres Daseins ausschließlich gute Erfahrungen gemacht und fühlte sich ihnen irgendwie verbunden – weitere Einblicke in ihr Leben zu gewähren, „Wenn ich liebe, dann liebe ich ganz und gar. Ich werde meine Liebe nicht aufteilen. Und ich will selbst nicht irgendein Name auf einer langen Liste sein. Ich gebe mich nicht damit zufrieden ein einzelner Finger zu sein – ich will beide Hände sein.“
Er stimmte ihr zu und einen Moment lang starrte sie nachdenklich ein tiefes Loch in die Luft.
„Sag mal… Wo schläfst du eigentlich? Der Boden war unglaublich hart. Und ich sehe nachts nie Leute von euch auf den Straßen. Wo bleibt ihr alle?“
„In der Offenen Hand..“ antwortete er freundlich und offenherzig.
Sie hob sachte die Brauen. „In der Offenen Hand? Schlafen da alle von euch? Ist da überhaupt genug Platz?“ Ruhig und im Vertrauen, verriet er ihr, dass unter der Offenen Hand Räumlichkeiten existieren von denen die wenigsten wussten. Dieses Faktum kam ihr sehr bekannt vor und sie erzählte ihm von den ähnlichen Verhältnissen in ihrer schmierigen und durchaus auch schwierigen Kindheit, während sie an das Brückengeländer lehnte und in den blauen, wolkenlosen Himmel blickte.
„Ich habe auch schon einmal in der Offenen Hand geschlafen…“ fügte sie nachdenklich und mit Blinzeln gen Praiosscheibe zu.
„Ach?“ antwortete der Alte interessiert „Und wo da?“
„Oben… das erste Zimmer links.“
„Bei Phexdan?“ raunte ihr Gesprächspartner fast belustigt.
„Ja…“ sie wandte dem Greis wieder ihr Gesicht zu, „Ich habe einmal bei ihm geschlagen, aber… selbstverständlich nicht…“ Neferu begann etwas unbeholfen zu stammeln. „Also nicht zusammen in einem Bett, er auf einer Matte, du verstehst… Wir haben nicht… Ich würde nicht…“
Er verstand nickend und lächelt ihr sachte zu.

Ein trauriger Ausdruck schlich sich melancholisch auf ihre Miene. Die stechend grünen Augen wurden trübe und sie senkte den Kopf, dass die vielen Zöpfe ihr Gesicht halb verbargen. Dem Krüppel entging die Last ihrer Seele nicht.
„Mädel, das kann man ja nicht ertragen… was ist denn los?“ Er hob die buschigen Brauen und lehnte sich leicht vor.
Nach leichtem Zögern begann sie tatsächlich dem Väterchen ihr Herz zu offenbaren.
„Ich liebe jemanden… Wie ich dir sagte war ich im Rahjatempel. Aus diesem Grund… Ich wollte von ihnen wissen, wie sie über mein Gefühl denken. Ich wollte ihren Rat, aber er hat nichts genutzt, sie sind zu anders als ich. Ich… habe mich sogar an dem Kuss des Priesters gestört, meine Küsse sollen für jemand anderen sein… Aber er… ist ein Frauenheld. Ich will nicht ein Name auf seiner Liste sein… Ich will ihn für mich allein… Schließlich… hätte er auch mich im Gegenzug ganz für sich.“
Aufmerksam hörte der alte Bettler zu und nickte langsam.
„Kenn ich ihn..?“ raunte er ihr anteilnehmend zu.
Sie blickte in die graublauen Augen des Alten. Wohlwollend sah er ihr entgegen.
„Ich kann dir darüber nichts sagen, da ich vermute… Du würdet es ihm erzählen, wenn du ihn kennst. Und das wäre… furchtbar für mich.“ Wisperte sie ernst.
Auch der alte Großvater, der mit ihr an der Bettlerbrücke saß auf der noch immer scharenweise Menschen vorüberzogen brachte ernst in sein faltiges Gesicht. Er legte die rechte Hand auf sein Herz und schwor ihr, dass er ihre Information für sich behalten wollte, eingeschlossen in seinem Herzen.
Ein mattes Lächeln überkam sie bei dem Anblick des zerlumpten, herzlichen Mannes.
„Nun… ja. Er ist dir bekannt. Ich kenne ihn seit ich in Grangor bin, seit einigen Monaten. Es ist nur… Ich weiß, dass er oft im Rahjatempel schläft und so weiß ich auch… Dass ich für ihn niemals das sein kann, was ich sein will. Die Einzige…“ Ihr Blick senkte sich.
„Nur einer von uns schläft im Rahjatempel.“ Lächelte der Greis gewitzt und Neferu nickte resigniert.
„Dann weißt du ja… um wen es sich handelt. Weißt du… Nachdem mein Schmerz zu groß wurde habe ich versucht dem Gefühl zu entfliehen und bin aus Grangor abgereist. Er hat sicher nicht einmal nach mir gesucht. Vielleicht ist er einmal die Straße entlanggelaufen, um zu gucken, wo ich bin, aber…“
„Ich kann dir versichern… Er hat uns ganz schön auf Trab gehalten, als er nach dir suchte.“ Sprach der Bettelnde in gewohnt freundlichem Tonfall.
Neferu hielt inne.
„Das sagst du jetzt nur, damit er nicht ganz so schlecht dasteht.“ Seufzte sie mit schrägem Lächeln. „Weißt du… ich bin sogar soweit gegangen und habe ausgenutzt als er schlief. Oh, versteh mich nicht falsch, ich habe ihn nicht berührt! Aber ich… musste seinen Duft einatmen und habe mich zu ihm herabgebeugt. Der Geruch von Rosen…“ Sie presste die Lippen aufeinander und schämte sich mit einem Mal für ihre exhibitionistische Offenheit dem fremden Alten gegenüber. Ihr Handeln erschien ihr immernoch schleierhaft. Aber sie hatte eingesehen, dass sie sich damit abfinden musste, dass ihr Gefühl ihr seltsame Gesten und Gedanken diktierte.

„Der… schönste Augenblick meines Lebens war… als wir zusammen Rahjarosen pflanzten.“ Lachte sie bitter und mit hoffnungslosem Schimmern in den Augen. „Bis… Bis er mein Geschenk an ihn – eine Schneeflockenkette als genug Erinnerung an mich bezeichnete. Er… er hat bereits damit abgeschlossen, dass ich überhaupt in Grangor weile. Er geht davon aus, ich sei schon mit halbem Bein wieder in Gareth.“ Ihr Redefluss versiegte für einen Augenblick und mit traurigem Lächeln lehnte sie sich an ihren alten Gesellschafter.
„Erinnerungen müssen nicht zwangsläufig die Vergangenheit sein. Wir sitzen schon einige Stunden hier und du hast noch das Bild von mir im Gedächtnis als ich dich weckte, es ist also eine Erinnerung, aber ich bin immernoch gegenwärtig.“ Lächelte er sie aufmunternd an und mit einem leisen Seufzen quittierte sie, dass er dasselbe redete, wie der Rahjapfaffe.

„Ich glaube, Rahja hasst mich.“ Raunte sie bitter und starrte ihre Knie an.
„Was?“ Der greise Mann lachte krächzend auf. „Ich glaube eher… du bist Rahjas Liebchen.“
Rahjas Liebchen? Der Schnaps? Wunderte sich Neferu still, aber schwieg.
Sie bekam zwei Dukaten in den Schoß geworfen, die sie sofort an den Bettler von Grangor weitergab. „Nehmt sie beide. Ich weiß, wohin das Gold fließt und ich will dieses Vorhaben voll und ganz unterstützen. Gibt es eigentlich… eine Anmeldegebühr ein Bettler Grangors zu werden?“ scherzte sie mit einem matten Lächeln auf den schönen Lippen und dem fortwährend schwermütigem Glanz in den Augen. Es gab keine Anmeldegebühr. Vielleicht… Sollte sie wirklich… Es war ohnehin so vieles egal gewoden. Sie ließ sich gehen, das war ihr bewusst. Aber sie spürte nicht die Kraft sich gegen Selbstmitleid, Hoffnungslosigkeit und Melancholie zu erheben. Insofern… schien es ihr für den Moment die Bestimmung ihres Lebens als Bettler zu hausieren.
„Ich denke… ich werde für den Rest meines Lebens hier auf den Straßen sitzenbleiben.“
raunte sie ihm in bitterem Ton scherzend zu. Seine Antwort hatte sie erwartet:
„Es lebt sich nicht schlecht als Bettler in Grangor.“

Einige Schweigeminuten vergingen, während sie ihren grauen Gedanken nachhing, in die sie sich mittlerweile hemmungslos gestürzt und reingesteigert hatte.
Kurz zögerte sie, ehe sie erneut die Lippen teilte und die Konversation wieder aufnahm. Sie hatte die Beine angezogen und ihre Arme darum geschlungen.
„Du bist schon einige Jahrzehnte alt. Der Rahjapriester sagte… Irgendwann erreicht uns die Liebe, auch wenn es viele Jahrzehnte dauert. Hast du… je geliebt? So sehr, dass du sie ganz für dich allein wolltest?“
Er überlegte kurz, ehe der knöchrige Alte von seinem Gefühl zu berichten begann.
„Ja, da gibt es eine. Doch… sie hat meine Gefühle für sie wohl nie ganz verstanden und so… sind wir nicht zueinander gelangt.“
Es schien Neferu durchweg unrichtig, dass sogar der Großvater kein Glück in der Liebe hatte und in vollster Bitterkeit schmeckte sie ihr eigenes Schicksal in seinen Worten.
„Wie wäre es..“ versuchte sie die Bestätigung ihrer Befürchtungen, was das Leben und Rahjas Willkür anging ein Schnippchen zu schlagen. „Wenn wir heiraten. Dann kannst du sie eifersüchtig machen und deine einstige Liebe kommt zu dir zurück.“ Der Weißhaarige lachte keckernd und sprach aus faltigen Lippen: „Ich fürchte, das würde nicht viel helfen.“ Sie fragte nicht weiter. Vielleicht war die Liebe dieses Mannes bereits tot oder verheiratet. Sie wollte nicht bohren und ihn gegebenenfalls verletzten, dazu hatte sie den Kauz zu gerne, wie sie feststellte.
„Wie… heißt du eigentlich?“ fragte sie plötzlich, nachdem sie festgestellt hatte, dass weder sie wusste mit wem sie es zu tun hatte, noch er.
„Maran.“ Kam rasch die Antwort. Auch sie stellte sich vor, vermutend, dass er ihren Namen bereits einmal gehört hatte.
„Maran…“ wiederholte sie freudig, „wie der rotgelbe Greifvogel, den es nur auf Maraskan gibt!“ Sie war ernsthaft glücklich darüber, dass sie eine Verbindung zu diesem Teil der Welt hatte. Es gab immernoch Dinge, die sie glücklich machen konnten und plötzlich klammerte sie sich an den Gedanken an Maraskan.
„Eigentlich wollte ich ihn – sollte ich einst einen Sohn haben – ihn Phexir nennen, aber… jetzt denke ich, dass ich ihn vielleicht auch Maran nennen werde!“

Es folgte ein Redefluss Neferus über ihr bekannte Dinge. Sie erzählte ihm von Maraskan und von Scheijian, den sie zu lieben geglaubt hatte und dessen Name nichts mehr weiter war als ein Name; nicht einmal ein blasses Gefühl war mittlerweile verblieben.
Sie erklärte, wie sie zum Stammesmitglied der Oijianijias wurde und berichtete von Richard und Garion, die ihre Begleiter waren.
Plötzlich lachte sie auf und entschuldige sich für ihr unnachgiebiges Quasseln. Lächelnd scherzte der Alte: „Ich kann ja ohnehin nicht weglaufen.“ Und deutete auf seine Beine, die bei den Knien aufhörten.
Neferu gewann ein heiteres Schmunzeln: „Vielleicht sollte ich dich wirklich heiraten. Du scheinst der perfekte Mann für mich zu sein.“
„Nun, dann wirst du mich aber zum Traviatempel tragen müssen.“ Konterte er mit noch zahnigem Grinsen. Alle Achtung… kam es Neferu in den Sinn. Er hatte sogar noch Zähne.
„Du bist noch so jung…“ krächzte er erneut, „dir steht die Welt offen… für mich hingegen, gibt es wohl keine Hoffnung mehr, was meine Liebe angeht.“ Er zündete sich eine Pfeife an und bot sie ihr an.

Ihre grünen Augen hefteten sich an das rauchende Gerät, dass er sich in den Mund schob und mit leiser Inbrunst sprach sie fest: „Die Liebe ist alterslos, Maran. Du solltest um sie kämpfen, auch wenn du bereits einige Jahre mehr zählst. Lass sie nicht gehen, nur weil du mit deinem Leben abgeschlossen zu haben glaubst.“
Dann verneinte sie die Pfeife, er hieß es gut. Kurz zögerte sie, ehe sie ihm eben jenes gute Stück aus Ton in einer Rangelei in der sie dem Beinlosen überlegen war entwendete.
„Zu ungesund.“ War ihr strenges Urteil und trotz seiner um Rückgabe ausgestreckt bittenden Hand, warf sie das Pfeifchen über ihre Schulter in den Kanal. Schlagartig runzelte sie selbst die Stirn und ehe er noch etwas sagen konnte, war sie wieder am Zug: „Ich hoffe nur… diese Pfeife hatte für dich jetzt keinen ideellen Wert….“ Der Alte gestikulierte aufgebracht: „Ich hatte sie von der Liebe, von der ich dir erzählte…!“

Neferu sprang auf, weitete die Augen und wandte sich in Panik dem Brückengeländer zu.
„Keine Bange! Ich hole sie dir wieder!“ Sie machte ernst. Er hingegen nicht. Während er sie mit den fleckigen alten Händen packte keckerte er: „Nur ein Scherz… Irgendjemand hatte sie mir geschenkt… Nicht weiter wichtig.“
Erleichtert ließ sie sich wieder auf ihre vier Buchstaben fallen.
Es war bereits später Nachmittag geworden, die Zeit, die sie mit dem alten, urigen Kauz verbrachte, verging rasch.

Und dann ließ sich seine Seniorenblase verlauten. Er musste auf die nahe Toilette – eine Mülldeponie hinter einem Haus, wie sie erfuhr. Sie nahm den leichten, alten Mann auf den Rücken und scherzte: „Ist der Reiter startklar?“ Natürlich ging sie seinem Wunsch nach, ihn zu seinem Ziel zu bringen, sie setzte ihn sogar in Position und wartete – natürlich von ihm fortgedreht – an einen Brückenpfosten gelehnt auf sein Rufen, das als Zeichen ausgemacht worden war.

Es war nicht viel Zeit vergangen, da drang von schräg hinter ihr eine Stimme an ihr Ohr. Sie war ihr wohl bekannt und ließ sie zu Donner gerührt versteinern: Phexdan.
„Ich habe eine gute Nachricht für dich…“ begann die weiche, mitteltiefe Stimme. Sie wandte sich nicht zu ihm um.
„Du wirst mich nicht zum Traviatempel tragen müssen….“

Grangor 6 (Neferu)

„Rahja liebt jeden. Warum glaubt Ihr, dass es bei Euch nicht so ist?“ Wurde sie begrüßt.
Ein gutaussehender Moha, der vom Aussehen her auch ein Tulamide hätte sein können, nahm sich ihrer an. Sie wurde in eines der nobel anmutenden Badebecken geführt und ausgiebig, aber sanft gewaschen, nicht ohne den Geweihten zu ermahnen, sie nicht an den heiligsten Stellen zu berühren (aus irgendeinem Grund empfand sie das als Anmaßung, selbst von einem Diener der Liebesgöttin – oder eher erst recht deshalb.).

Sie ließ es sich nicht nehmen mit dem Rahjapfaffen über drei Stunden zu diskutieren, über Liebe, Schmerz, Travias Ansichten und die Vereinigung zweier Leiber.
Seine rahjaische Auffassung von alledem trieb ihr hauptsächlich nur ein Stirnrunzeln auf das Gesicht. Diese Verrückten kannten keine solch inbrünstige Liebe, dass sie eine einzige Person für sich allein hätten haben wollten. Der Gedanke war ihnen fremd und der Geweihte bezeichnete ihn gar als egoistisch.
Sie rauchte Rauschkraut – das erste Mal in ihrem Leben. Sie rauchte viel Rauschkraut. Zuviel.
Bunte Punkte und verschwommene Farben waren in ihre Wahrnehmung gedrungen, als der Moha sie in einen der abgeschiedenen Nebenräume geführt hatte.
Sie hatte bereits zuvor verlauten lassen, dass der, dem ihre Liebe einzig gehörte (für den Rahjapriester ein unrichtiger Umstand) flinke Finger besaß. Nun, durch die Auswirkungen des Krauts gab sie auch seinen Namen preis.
„Phexdan…“
Der nackte, gutgebaute Südländer kannte ihn. Er bestätigte, dass Phexdan oft mit den liebestollen Bewohnern des Tempels, also der Priesterschaft, das Lager teilte.
Etwas zuckte unter Neferus Auge, sie hatte genug gehört.
Während der Geweihte sie eingehend massierte und beide sich fortwährend unterhielten, gab es wenigstens ein Thema, das Neferu ein Schmunzeln auf die Lippen zwang: Offensichtlich hatte Abelmir, so der Name des Schönlings, intimen, wenn auch nicht zu intimen Kontakt zu Richard gehabt. Immerhin, vielleicht konnte sie ihren Frust etwas dämpfen, indem sie ihre Mitwisserschaft dem langjährigen Kumpanen neckend unter die Nase rieb.
Die Halskette – ein Erinnerungsstück. Sie lenkte das Thema zu ihrem eigentlichen Kernproblem zurück. Der Geweihte legte ihr seine Sicht der Dinge dar und schilderte ihr bildlich mit einer anderen Rahjageweihten, dass „Erinnungsstücke“ nicht unbedingt Vergangenheit sein müssen (Die Frau hatte ihm ebenfalls vor einigen Jahren eine Kette geschenkt und immer noch liebten sie sich heiß und innig – körperlich natürlich.).
Auch für die Rondriten fand Abelmir einige beschwichtigende und positive Worte.
Neferu seufzte und zog so lange an der Rauschkrautpfeife, dass sogar der Rahjageweihte sie ermahnen musste, während er ihre Pobacken massierte, was ihr mittlerweile – verklärt durch den Rausch – auch einerlei war.
Mehrere Stunden verbrachte sie mit dem fremden Mann, bis sie sich anschickte zu gehen. Sie erhielt von dem Moha noch ihren allerersten lang anhaltenden und tief intensiven Zungenkuss, ehe sie sich berauscht auf die nächtigen Straßen wagte. Obwohl… nächtlich? Es musste bereits früher Morgen sein.
Ihr wurde blümerant zu Mute und sie lehnte sich keuchend an eine Hausmauer.
Schweißperlen traten auf ihre Stirn und flackernde Punkte und Kreise in allen Farben tanzten um sie herum – ganz offensichtlich war sie diese Drogen nicht gewöhnt.
Schwankend und mit wattigen Gedanken schwebte und strauchelte sie vorwärts durch die menschenleeren, grangorianischen Gassen.

Irgendwann, das Zeitgefühl hatte sie endgültig verloren, fingen ihre stecknadelkopfgroßen Pupillen Phexdans Brücke ein. Sie schleppte ihren Körper, der nicht ganz so reagierte, wie sie es gewohnt war zu dem Flecken Grund, auf dem der junge Hochgeweihte sich für gewöhnlich tagsüber aufhielt.
Nur ganz kurz ausruhen…

Grangor 4 (Neferu)

Die nachfolgenden zwei Monate entpuppten sich als Chaos und als ein Netz der Ungewöhnlichkeiten.
Sie hatte sich ihrem verworrenen Gefühl Phexdan gegenüber nicht hingeben wollen (außerdem wollte sie ihm den Triumph nicht gönnen, sie auf die endlose Liste seiner Eroberungen zu schreiben) und Grangor auf dem Seeweg hinter sich gelassen. Nestor war gut bezahlt worden, damit er sie nicht verriet.

In Ferdok gelangte sie durch Zufall in das Haus eines Magus, der sie mittels Zauberei mit nach Maraskan nehmen wollte, um irgendein arkanes Phänomen zu studieren – gegen gute Bezahlung natürlich.
Maraskan. Scheijian. Ihr kam der Name des Mannes in den Sinn, den sie Jahre lang zu lieben geglaubt hatte. Wenn sie jetzt an ihn dachte, war er ein schemenhafter Geist mit schwarzen Augen, in kurzer Zeit um Monate verblasst. Sie versuchte sich an die Konturen seiner Gestalt in ihrem Geist zu klammern und ihre Ideale in dieses Mitglied des Zweiten Fingers Tsas zu projizieren, den sie kaum kannte. Lange hatte sie ohne Erfolg nach ihm gesucht. Allein um Phexdan weiß zu machen, es gäbe da bereits den Mann ihres Lebens, hatte sie dem Gaukler von Scheijian erzählt. Auch wenn es stimmte und sie noch vor einigen Wochen so gedacht hatte, war er in dem Moment nur ein Mittel gewesen, um sich unerreichbarer und interessanter zu machen. Leider hatte diese Masche bei Phexdan nicht gefruchtet. Sicher war er sie gewöhnt von all den Frauen, die um ihn herumscharwenzelten und um seine Gunst buhlten.
Wie auch immer – der Magier wollte mit ihr nach Maraskan und sie war nur allzu bereit diesen Zufall als Wink der Götter zu verstehen, die versuchten, sie wieder auf den Weg Scheijians zu führen.
Leider hatte die ganze Geschichte dann doch wenig mit den Zwölfen zu tun: Der Zauber schlug fehl und sie landete allein auf einem Baum im Regenwald südlich von Al’Anfa und stieß unglücklicherweise (oder glücklicherweise?) auf eine Gruppe Eingeborene, die sie gefangen nahmen, ihr die geliebten Haare gewaltsam schnitten und sie zwangen einen Hund zu mimen – denn mehr war sie für diese Eingeborenen vom Stamme der Oijianijias nicht wert.
Als das Dorf der Waldmenschen angegriffen wurde, konnte sie sich beweisen. Sie rettete die Häuptlingstochter und erschlug einige Angreifer des feindlichen Stammes. Fortan änderte sich die Situation, sie wurde in den Stamm integriert, bekam ihre eigene Hütte und von beinahe allen Respekt. Besonders zu dem alten Schamanen Hanah-Kau-Kee hatte sie ein gutes Verhältnis, was in einer Blutsbruderschaft mündete. Sie besiegte noch einen untoten, uralten Feind des Dorfes, einen Yaq-Hai und durfte sich von nun an den Titel „Bezwinger des Yaq-Hai“ in der Sprache der Oijianijia nennen, die sie in den Grundzügen erlernt hatte. Der Abschied ergab sich dadurch, dass sie ein bösartiges, Unfrieden bringendes Artefakt in die Zivilisation tragen musste, nicht ohne die Bitte des Dorfes zurückzukehren.
Im Spiegel eines ruhigen Waldsees erkannte sie sich selbst kaum wieder. Ihre Waffe war ein biegsamer Holzstab, umwickelt mit Krokodilsleder und mit den Federn eines Regenbergadlers geziert. Ihr kurzes Haar war durch mehrere Flechtzöpfe wieder bis auf die Brust verlängert worden. Ihre Haut war dunkel, die tulamidische Abstammung in ihr – die auch Phexdan wohl nicht verleugnen konnte – hatte dafür gesorgt, dass sie farblich mittlerweile eher einem Moha glich. Ihr Haar hingegen war ausgeblichen und zusätzlich rötlich getönt worden. Die Kleidung ähnelte grob der, mit welcher sie aufgebrochen war – mit der Ausnahme, dass diese hier, sowohl was das Hemd, als auch den kurzen Rock anging, aus gleichfarbigen Flicken bestand, die kreuz und quer zusammengenäht worden waren – von ihr selbst.
So erreichte sie die Zivilisation und in selbigem Zustand auch nach 50 Tagen Fortbleiben wieder Grangor.
Sie hoffte nach dieser langen Zeit geheilt zu sein von dieser lästigen Vernarrtheit, aber kaum hatte sie das Stadttor passiert, als sie auch schon merkte, dass ihre Füße sie schnurstracks zur „Offenen Hand“ führten.
Sie versuchte sich kurzzeitig zu konzentrieren, um einen Plan zu fassen und aus ihrer Schwäche das Beste zu machen, aber ihr Herz schlug ihr dermaßen zum Hals, dass sie ihre eigenen inneren Worte nicht verstehen konnte. Gelassenheit und Selbstbewusstsein – diese zwei Merkmale versuchte sie zwanghaft und unterstützt durch ein stummes Mantra auszustrahlen, als sie dann doch etwas zu kräftig die Tür zur Pilgerherberge aufstieß. Es wurde still und viele Augen richteten sich auf die dunkelhäutige Frau mit den ungewöhnlichen Zöpfen, die grangoruntypisch komplett in Rot gewandet war.

Ihr erster Blick fiel auf Richard und Garion, die zusammen mit Phexdan an einem Tisch saßen und sie so massiv in ihrer dortigen Kombination irritierten, dass sie wie nach überzogenem Auftritt heischend mehrere Minuten aufrecht und wortlos in der offenen Tür stehen blieb.
„Neferu! Da bist du ja wieder!“ lächelnd und mit ausgebreiteten Armen kam ihr zu allererst Phexdan entgegen, was ihre Irritation in die Grenzenlosigkeit Alverans erhob. Sie hoffte inbrünstig erhaben und ernsthaft zu wirken – glücklicherweise hatte sie darauf geachtet ihren Mund geschlossen zu behalten, um nicht Maulaffenfeil zu halten. Das war doch schon mal was.
Garion wirkte alles andere als glücklich und hatte einen auffälligen Schnitt im Gesicht. Als er zu ihr eilte, besann sich der Fuchs und klopfte ihr nur kurz auf die Schultern, ehe er recht schnell die Herberge verließ.
Neferu wartete immer noch auf sein Zurückkommen, als ihre zwei Begleiter sich lange zu den Hortemanns begeben hatten.
Sie blieb wach und studierte sein Zimmer, wie sie das Durchwühlen und Nachstellen und das stehlen eines Briefes in Geheimschrift gedanklich positiv verpackte. Erst als die Praiosscheibe sich in rotem Licht über Grangor erhob, ging sie schweigend und müde zum Hause Hortemann zurück.

Ein Auftrag erreichte eben jenes Anwesen – Treffen zur 14. Stunde am Rahjatempel. Alle drei folgten dem Aufruf.
Aber stattdessen, wurde ihre Welt aus den Fugen geworfen.
Noch jetzt schluckte Neferu ihre Angst herunter, wenn sie an ihren Tod dachte. Sie war gestorben, weil Ingerimm, Efferd und Rondra so entschieden hatten. Ein Kult des Namenlosen beherrschte insgeheim die Stadt und eine ausnahmslose Zerstörung sollte diese Gefahr bannen. Doch Rahja liebte Grangor und vollzog einen Pakt mit Satinav – die Zeit hatte still gestanden.
Neferu hielt kurz inne. Es war bereits dunkel und etwas windig. Sie rieb wärmend die Arme und blickte sich zögerlich um. Ihre Gedanken hatten sie weit fortgerissen und sie versuchte ihren momentanen Standort zu identifizieren. In der Ferne erblickte sie den Rahjatempel. Sie war wohl mehrfach im Kreis gelaufen. Matt atmete sie aus. Der Rahjatempel.
Sie war Rahja persönlich begegnet, sie hatte die personifizierte Liebe getroffen. Enttäuschung und Verbitterung hatte sie die Göttin spüren lassen, was sie längst bereute. Was sollte folgen auf unglückliche Liebe, wenn man der Liebesgöttin für diese Umstände zürnte? Doch nur noch unglücklichere Liebe. Ihr wurde kalt.
Sie hatte es gewagt die große Göttin anzusprechen.
„Warum quälst du mich?“ War ihre törichte Frage gewesen und die Antwort der Bewohnerin Alverans war folgendermaßen ausgefallen: „Liebe ist Freude und Schmerz.“ Sie hatte in dem Moment die Antwort der Göttlichen als Hohn empfunden, nun gingen ihre Gedanken vollkommen andere Wege. Vielleicht suchte sie die Freude an falscher Stelle? Hatte sie nur ein Talent? Den Schmerz des Gefühls zu spüren und zu entfachen?
Immerhin hatten sie drei es allein geschafft Grangor zu retten. Alle 8000 Menschenseelen – gerettet durch ihre Hand. Weil sie ein Haar rechtzeitig verbrannten, das dem Namenlosen Höchstselbst gehört haben sollte. Auch die Seele von Phexdan… flüsterte es sanft in ihren Gedanken und sie erinnerte sich an den Moment, die letzten Sekunden des zeitlichen Stillstandes, in denen sie wie um ihr Leben rennend zu eben jenem fand, und ihm das Schneeflockenamulett umlegte, bevor sie sich so rasch entfernte wie sie gekommen war. Was er wohl gedacht haben mochte, als ganz plötzlich die Kette an seinem Hals erschienen war?
Sie lächelte in Melancholie bei diesem Gedanken und malte sich in den schillerndsten Farben aus, dass er sie heimlich liebte – ihr Geschenk küsste und es nah bei seinem Herzen trug. Schnell schüttelte sie den rührseligen und unwirklichen Gedanken von sich.

Was hatte sie anschließend getan, nachdem bekannt geworden war, dass die Fremde aus Gareth und ihr Begleiter (von Garion hatten die Bewohner von Grangor wohl noch nicht viel mitbekommen) sie alle gerettet hätten? Sie war ins Haus Hortemanns gegangen, hatte zielstrebig das Zimmer vom spielenden Phexje aufgesucht und war dem Kind heulend wie ein Klageweib um den Hals gefallen.
Aus irgendeinem Grund erschien ihr der kleine Fuchs in dem Moment als der einzige Trost. Er bat ihr seinen Holzfuchs an, doch sie erneut Mut und Kraft nach diesem Einbruch schöpfend, erhob sich und sprach in leiser Ruhe: „Behalte ihn, Phexje. Ich muss meinen eigenen Fuchs finden.“
Die Antwort des Kleinen kam unerwartet.
„Wenn du das Füchschen suchst… versuch es mal hinter dem Efferdtempel.“
Wenige Sekunden war sie perplex gewesen. Das Füchschen? Phexdan?
Zwar hatte sie mit ihren Worten ausdrücken wollen, dass sie denjenigen, der durch Rahja für sie bestimmt worden war noch würde finden müssen, aber der sofortige Hinweis auf Phexdan durch seinen kleinen Bruder, gab Neferu seltsame Hoffnung, die sie aus Angst mit Pessimismus zu vertreiben suchte.
Dennoch, sie drehte sich um und rannte, nicht achtend auf die Menschen, die ihr den Weg versperrten, die stechenden Lungen kaum spürend.
Sie gelangte zu jenem Garten, spähte über die hohe Mauer, die sie unter skeptischen Blicken erklommen war und sah ihn. Phexdan, wie er sich sorgsam um die Pflanzen des Tempelgartens kümmerte.
Ihre Gedanken hatten einen Ausflug in die Vorstellung einer perfekten Zukunft gewagt und zeichneten sie selbst, wie sie nach ihm rief – er, wie er sich erhob und auf sie zulief – und sie beide, wie sie sich innig und in endlich erkannter, gegenseitiger Liebe umarmten.
Wunschträume, die sie auch aufgrund ihres Kitschgehaltes peinlich berührt fortwischte.
Sie fasste sich ein Herz und näherte sich so leise es ihre Schritte vermochten, ehe sie sich noch ungesehen neben ihm niedersetzte. Er schien wirklich überrascht.
Wieder begann sich ein Redeschwall von ihren Lippen zu lösen. Sie hatte noch immer nicht herausgefunden, worauf dieses Phänomen möglichst viel in seiner Gegenwart sinnlos und haltlos zu plappern rührte. Hatte sie Angst er könne etwas sagen, dass sie mehr verletzte als Klinge oder Pfeil?
Sie gab ihm den gestohlenen Brief mit der Geheimschrift aus seinem Zimmer zurück und zeigte deutliche Reue.
„Du kannst alles haben, was ich am Leib trage.“ Dieser Satz fiel während des Gespräches über die Aneignung des Briefes. Für was hielt er sie? Sie wollte keinen schnöden Mammon, sie wollte …-
„Ich will nicht, was du am Leib trägst!“ brüskierte sie sich etwas zu ereifernd.
Seine Antwort war ein Grinsen.
„Willst du etwa den Leib?“ Unter wildem Verneinen versuchte sie das Erröten ihrer Wangen zu unterdrücken.
Sie erzählte ihm außerdem, wie die Kette um seinen Hals gelangt war.
„Ich denke, die Kette reicht mir als Erinnerung.“
Ihr Herz wurde schwer. Er hatte sie gedanklich bereits weit fort geschickt und sich mit einem Souvenir zufrieden gegeben. Ihre Fantasievorstellung beidseitiger Liebe zerbrach schmerzhaft in zwei Teile.
Nachdem sie Rahjarosen gepflanzt und währenddessen monologisiert hatte, wie ungut sie und eben diese Göttin der Liebe sich verstünden, verließ sie den Garten.
Doch kaum hatte sie das Tor passiert, rebellierte alles in ihr und sie musste sich die ungeheure Blöße geben, umzukehren. Sie hatte doch glatt vergessen, sich lächerlich zu machen.
„Willkommen Zuhause.“ Begrüßte er sie lächelnd.
Sie hatte ihr Versäumnis nachgeholt und ihm erklärt, dass sie seine Zeitstarre nicht ausgenutzt hätte. Dann… verließ sie den Garten endgültig.

Ihre Gedankenfahrt neigte sich dem Ende, ebenso ihr zurückgelegter Weg.
Sie stand vor den noch offenen Toren des Rahjatempels. Unschlüssig, frierend und doch in gewisser Weise festen Willens, spendete sie dem Tempel der Göttin von Schönheit, Liebe und allen Wonnen zwanzig Dukaten.
„Betet für mich..“ raunte sie den Tempelwachen durch die Zähne zu und begab sich hinein.
Als sich die nächstbeste geweihte Person an sie wandte, sprach sie in melancholischer Ruhe:
„Ich glaube… Rahja liebt mich nicht. Ich fühle mich starr und erfroren, jenseits von Küssen und Zärtlichkeit in wahrhaftiger Liebe. “

Grangor 2 (Neferu)

Die Erinnerungen spielten sich greifbar vor ihrem inneren Auge ab, trieben sie ziellos durch die kanalzerfurchte Stadt. Die Praiosscheibe begann hinter den Häusern Grangors zu versinken, während Neferu analytisch und nachsinnend darauf aus war, ihre Gefühlswelt zumindest in den Ansätzen zu begreifen und nötigenfalls systematisch zu bekämpfen.

Noch während der Ermittlungen waren Doran Harder und seine Immanspieler in einem Gässchen über sie und Richard hergefallen, da er die zwei für den Tod seines Vaters verantwortlich gemacht hatte, der ermordet worden war als beide sich erst knapp drei Tage in Grangor aufhielten – die Bettler, die unter ihren Lumpen auch Gaukler waren, retteten sie beide in letztem Moment vor dem Ende als blutiger Fleck auf einem Grangorer Müllhaufen. Auch Phexdan war unter den Spielenden und Tanzenden. Zwischen zwei halbbekleideten Frauen, die wie strahlende Ausgeburten Rahjas wirkten und ihm ihre üppigen Fronten zugewendet hatten, jonglierte er Messer.
Sie erinnerte sich, dass sie ihn angesprochen und er sie verlegen gemacht hatte. Die Stirn runzelnd schritt sie schnell die Straße entlang. Sie konnte sich beim besten Willen nicht an seine Worte entsinnen… Am selben Tag hatte sie den Gardisten Peffer nach Phexdan befragt.
…ständig wollen Frauen Informationen über ihn…
…er ist es gewohnt, dass er weibliche Aufmerksamkeit auf sich zieht…
…glaubt Ihr, Ihr seid die erste, die nach ihm fragt?

Einen Tag später war sie in die „Offene Hand“, die Pilgerherberge gegangen, um ihn zu suchen – sie hatte zwar weitgehend alle wichtigen Informationen zu den Mordfällen, aber das tat nichts zur Sache. Sie fand ihn. Nach geringem Wortwechsel wandte sie sich an einige Soldaten, die ihr bekannt waren und begann zu würfeln – Die Garetherin verstand es als ihre Pflicht ihm zu signalisieren, dass sie seine Anwesenheit nicht benötigte und auch nicht viel auf sie gab. Er verließ die Herberge, schnell folgte sie – leise und keinen Laut verursachend. Durch mehrere Gassen war sie sein Schatten. Dann plötzlich passte er sie hinter einer Hausecke ab. Ein zugemüllter Hinterhof, nur er und sie. Kurz hatte sie überlegt, ob sie sich ihm wie eine räudige, läufige Hündin um den Hals werfen sollte, ehe sie sich eine Minute lang für diesen entwürdigenden Gedanken verachtete. Sie war stolz und sie durfte keine Blöße zeigen. Auf seine Frage, wo sie hinwolle, fielen ihr nur schlechte Ausreden ein. Normalerweise war sie deutlich besser im Lügen, man konnte fast meinen, sie hätte diese Gabe perfektioniert, aber hier, vor ihm, hatte sie ein Gefühl wie vom Fieber. Ein ähnliches wie jenes, das einen unangenehm beengend überkommt, wenn ein Lehrender eine Frage stellt und man die Antwort nicht weiß, während andere lachen. Ähnlich, ja – nur erregender und weniger unangenehm.
Sie stellte rasch in einem armseligen Rettungsversuch ihres Gesichts die Gegenfrage.
„Ich wollte nur sehen, ob du mir folgst…“
Pause. Sie musste ihn angesehen haben wie… wie.. ja wie eigentlich?
Sie zog die bodenlos amateurhafte Zeichnung ihres Gegenübers aus der Tasche unter der in geschwungener Schrift sein Name prangte. Das Bedürfnis war in ihr gewachsen, ihm seine Unwichtigkeit vor Augen zu führen.
„Ich wollte nur das hier auf den Müll werfen.“
Er nahm ihr das Papier ab und steckte es in seine Jacke.
Ihre Hände berührten sich.
Sie betete zu Phex, dass sie ihn temporär würde brandmarken können und es gelang. Der Stern funkelte auf seiner Handfläche, während sie ihm in ruhiger, bemüht selbstsicherer Art zulächelte. Dann ging sie und ließ ihn zurück – wie immer schnell und ohne zurückzublicken. Sollte er nur nicht denken er sei ihr einen Blick zurück wert.
Als sie auf ihre eigene Handfläche sah, wurde sie beinahe geblendet. Ein Stern, wie sie nie zuvor einen gesehen hatte, leuchtete ihr eindrucksvoll entgegen.
Wieder einen Sonnenlauf später gingen sie und Richard mit Phexje auf den Markt, dem jüngsten Spross der Familie Hortemann. Nicht einmal ein dutzend Jahre alt und gewitzt, wie er bewies. Neferu kaufte ihm einen Holzfuchs. Sie empfand das nur als passend, nachdem er ihr eine gestohlene Dukate präsentiert hatte. Gemeinsam suchten sie Phexdan, der mit der Efferdhochgeweihten in eben jenem Tempel stand. Diesmal in gutbürgerlicher, blaufarbender Kleidung und dazu passendem Barett.
Kurze Aufruhr, Peinlichkeiten, ein knappes Gespräch – er hatte versucht sie auszufragen, sie war bemüht abzublocken.
„Ich werde dann erstmal nicht tiefer in dich eindringen.“ beschwichtigte er nachsichtig.
Innerlich war ihr die Kinnlade bei dieser eindeutigen Zweideutigkeit auf die Füße gefallen.
Unglaublich…
Er war ein Herzensbrecher. Ein Weiberheld, der ohne Zweifel, ohne einen winzigen Kratzer in seinem Selbstbewusstsein davon ausgehen konnte, dass die Frauenwelt Deres seinem Charme hoffnungslos verfiel.

Phexjes Fuchs fiel wenig später ins Wasser und der ältere Phex rettete ihn und zeigte seinen gut gebauten Körper anschließend in eng anliegender, nasser Kleidung.
Sie begleitete ihn auf sein Zimmer in die „Offene Hand“. Er zog sich vor ihr aus – nachdem sie dem Anblick des wohlgeformten Oberkörpers ansichtig geworden war, wandte sie sich gehetzt zur Tür. Sie hörte im Rücken seinen Gürtel klirren und schloss kurz die Augen.
Wenn jemand einen Strick um ihren Hals gelegt und fleißig daran gezogen hätte, wäre das Gefühl in ihrer Halsregion ähnlich gewesen, hatte sie in jenem Moment gemutmaßt.
Vier Stunden hatte sie ihn für sich. Sie erzählte viel und bot ihm ihre Schneeflockenkette an, was sie einen Wimpernschlag wieder bereute – zu aufdringlich. Er nahm die Halskette nicht an, aber gab ihr im Gegenzug eine von den seinen (eine beträchtliche Sammlung). Ein leeres Medaillon.
„Du hast gesagt, du sammelst Andenken an Dinge, an die du dich erinnern willst. Und ich will, dass du dich an mich erinnerst.“
An jenem Tag fand sie auch heraus, dass Phexje und Phexdan Brüder waren (dass es sich bei den beiden doch nur um Blutsbrüder handelte, erfuhr sie erst sehr viel später). Es wunderte sie nicht im Mindesten.
Den letzten Tag, bevor sie und Richard die Verstrickungen der Mordfälle gelöst hatten, mussten sie für beschuldigende Beweise gegen die alte Vanderzee sorgen. Sie hatten einen eher spärlich durchdachten Plan angewandt: Etwas schwachsinnige, stumme Schwester sucht Asyl bei fremden Leuten vor ihrem brutalen, besoffenen Bruder. Wie durch ein Wunder klappte es besser als erwartet und Neferu kam ins Haus, wo auf sie aufgepasst wurde. Richard schnauzte ihren Gastgebern irgendein Märchen entgegen, für dessen Kreativität Neferu ihn einen Augenblick lang bewunderte.
Sie glaubte also in ihrer Idiotie mit einem Mann verlobt zu sein, der nichts von ihr wissen wollte und versetzte ihre Eltern so in Gram und Schande – so die Geschichte.
Abwartend und über die schauspielerische Vorgabe des Freundes von den Pirateninseln nachdenkend, blieb ihr nichts anderes übrig als an ihrem „Zufluchtsort“ zu warten.
Lautes Klopfen. Richard war zurück mit Phexdan im Schlepptau, der der schwachsinnigen Stummen äußerst dramatisch bewusst machte, dass auch er sie liebte und dass sie zwei endlich wieder vereint sein sollten. Nur ein Schauspiel, das war ihr mehr als bewusst. Und Phexdan war gut darin, als er sie umarmte. Nichts anderes hatte sie von ihm erwartet. Er war ihr ähnlich. Spielerisch und vorgaukelnd – in dem Moment, durch diesen einen Gedanken wurde ihr tiefkalt und sie schüttelte sich leicht.
Im Nachhinein hatte sich ohnehin herausgestellt, dass Richard ihm für die Farce zwanzig Dukaten hatte zukommen lassen, auch wenn Phexdan es sich nicht nehmen ließ in seiner provokanten Art zu beteuern, dass er die Rolle des Verlobten auch für keinerlei Entgelt übernommen hätte.
Als die Belohnung ausgezahlt und Richard und sie in ganz Grangor als Helden bezeichnet wurden, führte ihr Weg sie erneut zu Phexdan.
In den vorangegangenen Tagen hatte sie viel über ihn erfahren. Noch immer lag einiges im Dunkeln, sprach doch meistens sie bei ihren Begegnungen, aber die Streunerin ging davon aus, ihn dennoch einschätzen zu können. Er war ein Bettler, gleichsam ein fingerfertiger Gaukler, Taschenspieler, Lebemann. Er schlief im Rahjatempel (was für sie schon Indiz genug war) oder in der „Offenen Hand“ in einem eigenen Zimmer. Er trug bunte Kleidung unter seiner Bettlerkluft. Und… Er war ein hoher Geweihter ihres Gottes.
Aus diesem Grund hatte sie vor gehabt, ihn ein allerletztes Mal aufzusuchen… auch wenn es nicht bei diesem Vorhaben blieb.
„Du musst dich mir… ganz öffnen. Vertrau mir.“ War seine Reaktion auf ihre Bitte sie zu lehren und ebenso eine anbietend ausgestreckte Hand.
Sie reichte ihm die Ihrige und er führte sie tief in den Efferdtempel.
Zugegebenermaßen hatte sie sich bereits auf etwas Tuchfühlung eingestellt. Sie hatte mit sich abgemacht spontan zu reagieren, da sie ihr Verhalten nicht zu planen im Stande war.
Was folgte war unbeschreiblich. In der Kammer legte er seine Hände auf ihre Schultern, nachdem er sie dazu angehalten hatte zu Phex zu beten. Ein unvergleichliches Gefühl durchströmte sie und sie warf den Kopf in den Nacken, während ihre Augen wie im Rausch glasig wurden. Eine Woche verbrachten sie beide zusammen in dieser Kammer.
Die Entrückung, die sie ihrem Gott näher denn je gebracht hatte, war bei ihr bereits nach drei Tagen verklungen, aber sie verließ die Kammer nicht. Sie wusste, es hätte genug gegeben, die sich um ihn kümmern wollten. Es hätte vermutlich genug gegeben, die sich darum rissen, ihn, der wie entrückt auf dem Boden lag, zu gesellschaften. Aber sie wollte all jene in diesen wenigen Stunden ausstechen.
Als er erwachte, schlief sie bei ihm auf dem Boden. Sie geleitete ihn zu seiner Kammer in der Herberge, nachdem er sich gewaschen und etwas gegessen hatte. Beide waren von echter Müdigkeit gezeichnet. Er bot ihr an in seinem Zimmer zu nächtigen.
„Du kannst bei mir schlafen.“
„Wie lange..?“
„Eine Woche..?“
„Nur eine Woche…?“
„Oder auch einen Monat. Ich lege mir eine Matte auf den Boden und du kannst im Bett nächtigen.“

Eine Nacht lang ging sie darauf ein. Als er tief und fest schlief, gab sie sich dem Gefühl, das in ihr keimte einen kurzen Moment hin. Sie betrachtete ihn und sank neben ihn auf den Boden. Vorsichtig und ohne ihn zu berühren, näherte sie sich. Tief einatmend, sog sie die Luft in ihre Lungen, die seine Haut in Schulterregion umgab. Rosenduft.
Am nächsten Morgen verließ er das Zimmer früh. Sie gab vor zu schlafen. Kaum war er fort, schrieb sie auf einen der herumliegenden Zettel (es war nicht gerade aufgeräumt in seinem kleinen Reich) eine Nachricht: Ich werde fortan wieder bei den Hortemanns schlafen. Du solltest dein Bett für dich haben.
Die folgende Nacht ließ sie die Worte wahr sein.
Dann, ohne ihren Rucksack, ihre Waffen oder ihre Rüstung verließ sie noch vorm Dämmerlicht so unauffällig wie möglich Grangor.

Maraskan 1 (Neferu) – Vorgeschichte (TRA 1007)

„Kennt Ihr einen Scheijian?“
„Sagt Euch der Name Scheijian von Tarschoggyn etwas…?“
„Kennt Ihr einen Mann mit Namen Scheijian, der in Tuzak beheimatet ist oder dort Verwandte hat?“

Viele die diesen landesüblichen Vornamen trugen wurden der garethischen Frau mit dem haselbraunen Haar vorgestellt. Aber nicht er, den sie suchte.
Doch sie wusste, dass sie ihn auf diese Weise finden würde. Oder vielmehr: Er würde sie finden. Das hatte er schon einmal getan – vor Jahren.

Nach drei Tagen kam er zu ihr.
Der Abend hatte sich über das Land geneigt, als sie in einer Herberge in Tuzak in einfacher dunkelroter Kleidung an einem kleinen, robusten Holztisch saß und bei Kerzenlicht einen Brief in die Heimat verfasste. Die Stadt mit den etwa achttausend Einwohnern schlief noch lange nicht. Schwül zog der Dunst des Dschungels über die hölzernen Häuser, die wie üblich in Maraskan in die Höhe gebaut worden waren. Düstere Schlagschatten verdunkelten den Raum durch das sachte flackernde Licht, dem sich eine todesmutige Motte immer wieder aufs Neue näherte. Mit Bedacht faltete sie das Schreiben an Lanyana, während sie mit konzentrierter Miene die Pfalzlinie begutachtete. Warme Schwüle… Sie öffnete die Kordel ihres Hemdes auf Höhe ihrer Schlüsselbeine und schob die Leinenärmel über die Ellenbogen, während sie deutlich ausatmete.
„Du hast nach mir gesucht, Bruderschwester… warum?“ Die Stimme war beinahe sanft.
Neferu fuhr gänzlich in sich zusammen und instinktiv versuchte sie sich in dem Bruchteil der Sekunde an den Aufenthaltsort ihres Klingenstabes zu entsinnen, der ruhig an der östlichen Wand des Raumes lehnte. Bei Phexens Sinnenschärfe… Sie hatte den späten Besucher nicht kommen hören. Wie auch das letzte Mal, entsann sie sich. In ihrer Brust tat ein stechendes Gefühl einen schmerzhaften Sprung, als sie erwartungsvoll den Kopf hob. Ihre Augen glitten an seiner Gestalt empor, bis sie in den schwarzen Augen mündeten, die so eigenartig und anziehend erschienen, dass er sich allein durch ihren Ausdruck von allen anderen Maraskanern unterschied.
Der abendliche Gast war nicht groß – er maß etwa soviele Schritt wie sie selbst. Ein feingliedriger Mann, dunkel gewandet mit einem Satz Kleidung, welche an den Fasarer Stil erinnern mochte. Sein rabenschwarzes Haar fiel ihm auf die Schultern herab, während er sein sitzendes Gegenüber schweigend musterte.
Scheijian. Schön und alterslos (zumindest nach Neferus Maßstäben) wie damals stand er in dem kleinen, gemieteten Raum der Herberge, zwei Schritte weit von ihr entfernen, die Tür in seinem Rücken – nach wie vor geschlossen.
Sie wusste in diesem Moment nichts zu antworten und starrte ihn aus katzenhaften Augen an, die beim Schein der kleinen Flamme wie Smaragde funkelten. Als sie spürte, dass ihre Lippen offen standen und sie ihm zu ihrer Schweigsamkeit auch zusätzlich einen recht tumben Eindruck vermitteln musste, leckte sie mit der Zungenspitze rasch darüber und verschloss sie eilig.
„Ich…“ Sie wusste keine konkrete Antwort und hielt inne. Sie hatte keinen Auftrag für ihn und auch sonst keine nennenswerten Informationen, die den Weg für ihn eventuell lohnend gemacht hätten.
„Du weißt dass solche die mich suchen… von mir gefunden werden. Und dass ich oft das Letzte bin, das sie aufgrund ihrer Neugier suchen zu müssen glaubten, ehe sie der Schwester begegneten. Was ist dein Begehr, Bruderschwester?“ Er hielt die Arme locker verschränkt, nicht abweisend, sondern abwartend, während er ruhig lächelte.
Neferu aus Gareth schluckte trocken herunter. Zwei Jahre… oder waren es schon zweieinhalb? Und er stand unvermittelt vor ihr. Was sollte sie sagen…? Die Wahrheit? Würde er ihre Beweggründe missbilligen?
Langsam erhob sie sich von dem Hocker, der ihr bis zu diesem Moment als unbequeme Niederlassung gedient hatte und legte die Schreibfeder nieder, die auf dem Tisch einen dunkelblauen Fleck ausbreitete. Er rührte sich nicht und verharrte in der Türregion, die dunklen, mandelförmigen Augen auf die junge Frau gerichtet.
„Du warst in meinen Träumen… Ich wollte dich finden.“ Begann sie leise, aber fest zu wispern, während sie sich ihm auf einen Schritt Abstand näherte, wie eine Raubkatze, die sich unauffällig an ihr Opfer näher zu pirschen hoffte.
„Was du tust ist riskant, Bruderschwester… Ich kann dir die Fragen nicht beantworten, die dir seit damals auf der Seele liegen. Halte dich fern von den Pflichten des Zweiten Fingers und du wirst leben.“ Nachsicht prägte die samtige Stimme, keine Drohung. Seine Arme senken sich vorsichtig aus ihrer Verschränkung, während er stetig Blickkontakt hielt, wachsam und voll Aufmerksamkeit. Sie spürte als stechenden Schmerz, welcher sich durch den gesamten Körper einen Weg bis in die Kehle hinauf bahnte, dass er missverstand.
„Findest du… mich schön?“ Die gewisperte Frage war ungewöhnlich, doch er blieb ernst.
„Rur hat alles in Schönheit erschaffen. Und Ihr.. gehört unzweifelhaft auch dazu.“ War die bedachte und religiös korrekte Antwort.
Die drängende Unruhe, die sie all die Zeit abseits der Insel Maraskan ihr Gemüt genannt hatte, pulsierte nun bereits als Pochen in ihren Schläfen. Er verstand nicht… Sie biss die Kiefer aufeinander, dass ihre Zähne leise aufeinander mahlten und stockend, wenig überlegt artikuliert huschten nacheinander die Satzteile in schneller Abfolge aus ihrem geschwungen geformten Mund, die sich in ihre Gedanken eingebrannt hatten, seit ihre Augen die anmutige Gestalt des meuchelnden Magiers hatten erblicken dürfen. Ob Unvernunft oder nicht – es war zu spät.
„So lange musste ich warten… So lange habe ich mich gewunden Maraskan fern zu bleiben… weise mich nicht ab… tu das nicht..deinetwegen Scheijian… lass mich in deiner Nähe leben… hier in Tuzak. … ich bitte dich.“ Die letzten Worte entkamen ihr nur noch als leise, gebrochene Töne, da ihre Unterlippe zu Zittern begonnen hatte. Ihr Blick reflektierte das Licht der Kerze und hatte sich erbarmungslos an ihn gefesselt.

Erst jetzt hoben sich seine schwarzen Brauen. Irritation auf seinem Gesicht – das erste Mal seit sie ihn kannte. Dicht stand die dunkelhaarige Freundin Phex‘ vor dem maraskanischen Mörder des Zweiten Finger Tsas, während ihre Brust sich durch die verhängnisvolle Schwere der Thematik mühsam hob und senkte. Für einen Moment Stille. Er sah sie zögerlich an, der schwarze Blick glitt über die Konturen ihres Gesichts, blieb kurz an der kleinen Dreiecksnarbe hängen und tastete sich weiter über ihren Nasenrücken zurück zu den schrägstehenden Augen. Nachdenklich gewann er seine typische Ruhe und Ausgeglichenheit wieder.
„Meine Nähe ist der Tod…“ raunte der schmale Mund leise in ihre Richtung.
„Dann lass es der Tod sein, den du mir schenkst, Scheijian – ich biete dir mein Leben an – so oder so.“ war ihre geflüsterte, aber entschlossen klingende Antwort. Alles oder nichts. Sie hob die rechte Hand.
Er packte sie schnell und geschmeidig, aber ohne jegliche Brutalität am Handgelenk. Wie ein aufgetürmter Schwall von Efferds Wogen stürzte das Konstrukt der Gedanken und Gefühle über ihr zusammen und spülte Vernunft und Angst mit sich fort. Ihr Ziel war nur eine Armlänge entfernt.
„Lass mich dich… nur einmal…“ begann sie mit weicher Stimme zu murmeln und während er aus lauter Vorsicht und unter der ruhigen Oberfläche überfordert von der überaus ungewöhnlichen Situation immer noch ihre Rechte in Schach hielt, näherte sich ihm bereits ihre linke Hand. Sie berührte den dunkel Gekleideten kaum. Fingerspitzen glitten fast von Andacht überwältigt über den Stoff seines Armes.
Sein Griff lockerte sich – Keine Gefahr. Getrieben von lang zuvor zurückgehaltenem Drängen strebte die Freigelassene in seine Richtung.
„Ich will bei dir sein…“ Es war dunkel im Raum, den ihre Worte leise erfüllten, nahe seinem Ohr. Die Kerze war heruntergebrannt und in ihrem eigenen Wachs erstickt. Ein kurzes, letztes Aufflackern und der Schein wich der nächtlichen Finsternis. Er sprach nicht. Ob er wahrhaftig geschockt von ihren Aussagen die Sprache verloren hatte konnte sie in der Düsternis nicht sagen.
Trotz aller Instinkte und dem Wissen um das Metier des Mannes, der allein mit ihr war, begann sie ihn leise und vorsichtig mit beiden Händen in der Taillenregion zu umfassen.
Der Meuchelmörder stand aufrecht und ließ es geschehen. Sein Haupt war geneigt, während er ihre Mimik und Gestik analysierend betrachtete und gleichsam bewertete. Mit vielem hatte er gerechnet: Aber ganz gewiss nicht damit. Die fünf Finger seiner rechten Hand umschmeichelten den Griff seiner tödlichen Nadel. Immernoch Schweigen.
„Scheijian..“ Sein Name… gehaucht… sanft – ungewohnt selten.
Seine Nackenhärchen stellten sich bei den zarten Lauten leicht auf – doch diesmal schien es ihm nicht ein Anzeichen für die Gefahr, die er für gewöhnlich witterte.
Ihre zartfühlenden Fingerspitzen hatten eine Wanderschaft über die anmutigen Konturen seines Oberkörpers begonnen, als man ihre ersten Schritte nicht vereitelt hatte.
Er atmete scharf ein. Dennoch ließen seine ausgebildeten Sinne keine Ablenkung zu. Er bemerkte den einsetzenden warmen Regen der draußen die großen Blätter der Dschungelpflanzen prasselnd benetzte, den leisen Wind der frühen Nacht, ein Tier, vielleicht ein Parder – der einige hundert Schritt entfernt knurrte; er spürte die gegenwärtige Dunkelheit – er sah alles.
Sie – sah ihn.
Er war nicht leicht zu brechen, doch die wohlige Wärme lockte.
Sie brannte ihm einen samtig wohligen Kuss ihrer harrenden Lippen auf den Hals – er zuckte unmerklich. Es war ein Weilchen her, dass er ähnliches genossen hatte.

Sie sank auf ihr Lager… er war über ihr – Sie blinzelte nicht. Verklärt sahen ihm tiefgrüne Augen hoffend und fiebernd entgegen – fahrig wagte sie den Versuch dem Mörder noch näher zu kommen. Ob er sie töten würde?
Seine Menschenkenntnis und die Schärfe seiner Sinne flüsterten ihm ein, dass es anders war als sonst. Es war keine Falle. Es war, was es ist.

Als sie aufwachte war es noch immer dunkel und schwül. Schlagartig öffnete sie die Lider und starrte an die hölzerne Decke. Einsamkeit. Tief saugte sie die maraskanische Luft in ihre Lungen.
Ein Traum..? Tastend berührte sie ihren eigenen Leib. Bekleidet.
Sie schloss sinnend die Augen.
Ein Traum.

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