Bettler und Gaukler

Grangor 2 (Neferu)

Die Erinnerungen spielten sich greifbar vor ihrem inneren Auge ab, trieben sie ziellos durch die kanalzerfurchte Stadt. Die Praiosscheibe begann hinter den Häusern Grangors zu versinken, während Neferu analytisch und nachsinnend darauf aus war, ihre Gefühlswelt zumindest in den Ansätzen zu begreifen und nötigenfalls systematisch zu bekämpfen.

Noch während der Ermittlungen waren Doran Harder und seine Immanspieler in einem Gässchen über sie und Richard hergefallen, da er die zwei für den Tod seines Vaters verantwortlich gemacht hatte, der ermordet worden war als beide sich erst knapp drei Tage in Grangor aufhielten – die Bettler, die unter ihren Lumpen auch Gaukler waren, retteten sie beide in letztem Moment vor dem Ende als blutiger Fleck auf einem Grangorer Müllhaufen. Auch Phexdan war unter den Spielenden und Tanzenden. Zwischen zwei halbbekleideten Frauen, die wie strahlende Ausgeburten Rahjas wirkten und ihm ihre üppigen Fronten zugewendet hatten, jonglierte er Messer.
Sie erinnerte sich, dass sie ihn angesprochen und er sie verlegen gemacht hatte. Die Stirn runzelnd schritt sie schnell die Straße entlang. Sie konnte sich beim besten Willen nicht an seine Worte entsinnen… Am selben Tag hatte sie den Gardisten Peffer nach Phexdan befragt.
…ständig wollen Frauen Informationen über ihn…
…er ist es gewohnt, dass er weibliche Aufmerksamkeit auf sich zieht…
…glaubt Ihr, Ihr seid die erste, die nach ihm fragt?

Einen Tag später war sie in die „Offene Hand“, die Pilgerherberge gegangen, um ihn zu suchen – sie hatte zwar weitgehend alle wichtigen Informationen zu den Mordfällen, aber das tat nichts zur Sache. Sie fand ihn. Nach geringem Wortwechsel wandte sie sich an einige Soldaten, die ihr bekannt waren und begann zu würfeln – Die Garetherin verstand es als ihre Pflicht ihm zu signalisieren, dass sie seine Anwesenheit nicht benötigte und auch nicht viel auf sie gab. Er verließ die Herberge, schnell folgte sie – leise und keinen Laut verursachend. Durch mehrere Gassen war sie sein Schatten. Dann plötzlich passte er sie hinter einer Hausecke ab. Ein zugemüllter Hinterhof, nur er und sie. Kurz hatte sie überlegt, ob sie sich ihm wie eine räudige, läufige Hündin um den Hals werfen sollte, ehe sie sich eine Minute lang für diesen entwürdigenden Gedanken verachtete. Sie war stolz und sie durfte keine Blöße zeigen. Auf seine Frage, wo sie hinwolle, fielen ihr nur schlechte Ausreden ein. Normalerweise war sie deutlich besser im Lügen, man konnte fast meinen, sie hätte diese Gabe perfektioniert, aber hier, vor ihm, hatte sie ein Gefühl wie vom Fieber. Ein ähnliches wie jenes, das einen unangenehm beengend überkommt, wenn ein Lehrender eine Frage stellt und man die Antwort nicht weiß, während andere lachen. Ähnlich, ja – nur erregender und weniger unangenehm.
Sie stellte rasch in einem armseligen Rettungsversuch ihres Gesichts die Gegenfrage.
„Ich wollte nur sehen, ob du mir folgst…“
Pause. Sie musste ihn angesehen haben wie… wie.. ja wie eigentlich?
Sie zog die bodenlos amateurhafte Zeichnung ihres Gegenübers aus der Tasche unter der in geschwungener Schrift sein Name prangte. Das Bedürfnis war in ihr gewachsen, ihm seine Unwichtigkeit vor Augen zu führen.
„Ich wollte nur das hier auf den Müll werfen.“
Er nahm ihr das Papier ab und steckte es in seine Jacke.
Ihre Hände berührten sich.
Sie betete zu Phex, dass sie ihn temporär würde brandmarken können und es gelang. Der Stern funkelte auf seiner Handfläche, während sie ihm in ruhiger, bemüht selbstsicherer Art zulächelte. Dann ging sie und ließ ihn zurück – wie immer schnell und ohne zurückzublicken. Sollte er nur nicht denken er sei ihr einen Blick zurück wert.
Als sie auf ihre eigene Handfläche sah, wurde sie beinahe geblendet. Ein Stern, wie sie nie zuvor einen gesehen hatte, leuchtete ihr eindrucksvoll entgegen.
Wieder einen Sonnenlauf später gingen sie und Richard mit Phexje auf den Markt, dem jüngsten Spross der Familie Hortemann. Nicht einmal ein dutzend Jahre alt und gewitzt, wie er bewies. Neferu kaufte ihm einen Holzfuchs. Sie empfand das nur als passend, nachdem er ihr eine gestohlene Dukate präsentiert hatte. Gemeinsam suchten sie Phexdan, der mit der Efferdhochgeweihten in eben jenem Tempel stand. Diesmal in gutbürgerlicher, blaufarbender Kleidung und dazu passendem Barett.
Kurze Aufruhr, Peinlichkeiten, ein knappes Gespräch – er hatte versucht sie auszufragen, sie war bemüht abzublocken.
„Ich werde dann erstmal nicht tiefer in dich eindringen.“ beschwichtigte er nachsichtig.
Innerlich war ihr die Kinnlade bei dieser eindeutigen Zweideutigkeit auf die Füße gefallen.
Unglaublich…
Er war ein Herzensbrecher. Ein Weiberheld, der ohne Zweifel, ohne einen winzigen Kratzer in seinem Selbstbewusstsein davon ausgehen konnte, dass die Frauenwelt Deres seinem Charme hoffnungslos verfiel.

Phexjes Fuchs fiel wenig später ins Wasser und der ältere Phex rettete ihn und zeigte seinen gut gebauten Körper anschließend in eng anliegender, nasser Kleidung.
Sie begleitete ihn auf sein Zimmer in die „Offene Hand“. Er zog sich vor ihr aus – nachdem sie dem Anblick des wohlgeformten Oberkörpers ansichtig geworden war, wandte sie sich gehetzt zur Tür. Sie hörte im Rücken seinen Gürtel klirren und schloss kurz die Augen.
Wenn jemand einen Strick um ihren Hals gelegt und fleißig daran gezogen hätte, wäre das Gefühl in ihrer Halsregion ähnlich gewesen, hatte sie in jenem Moment gemutmaßt.
Vier Stunden hatte sie ihn für sich. Sie erzählte viel und bot ihm ihre Schneeflockenkette an, was sie einen Wimpernschlag wieder bereute – zu aufdringlich. Er nahm die Halskette nicht an, aber gab ihr im Gegenzug eine von den seinen (eine beträchtliche Sammlung). Ein leeres Medaillon.
„Du hast gesagt, du sammelst Andenken an Dinge, an die du dich erinnern willst. Und ich will, dass du dich an mich erinnerst.“
An jenem Tag fand sie auch heraus, dass Phexje und Phexdan Brüder waren (dass es sich bei den beiden doch nur um Blutsbrüder handelte, erfuhr sie erst sehr viel später). Es wunderte sie nicht im Mindesten.
Den letzten Tag, bevor sie und Richard die Verstrickungen der Mordfälle gelöst hatten, mussten sie für beschuldigende Beweise gegen die alte Vanderzee sorgen. Sie hatten einen eher spärlich durchdachten Plan angewandt: Etwas schwachsinnige, stumme Schwester sucht Asyl bei fremden Leuten vor ihrem brutalen, besoffenen Bruder. Wie durch ein Wunder klappte es besser als erwartet und Neferu kam ins Haus, wo auf sie aufgepasst wurde. Richard schnauzte ihren Gastgebern irgendein Märchen entgegen, für dessen Kreativität Neferu ihn einen Augenblick lang bewunderte.
Sie glaubte also in ihrer Idiotie mit einem Mann verlobt zu sein, der nichts von ihr wissen wollte und versetzte ihre Eltern so in Gram und Schande – so die Geschichte.
Abwartend und über die schauspielerische Vorgabe des Freundes von den Pirateninseln nachdenkend, blieb ihr nichts anderes übrig als an ihrem „Zufluchtsort“ zu warten.
Lautes Klopfen. Richard war zurück mit Phexdan im Schlepptau, der der schwachsinnigen Stummen äußerst dramatisch bewusst machte, dass auch er sie liebte und dass sie zwei endlich wieder vereint sein sollten. Nur ein Schauspiel, das war ihr mehr als bewusst. Und Phexdan war gut darin, als er sie umarmte. Nichts anderes hatte sie von ihm erwartet. Er war ihr ähnlich. Spielerisch und vorgaukelnd – in dem Moment, durch diesen einen Gedanken wurde ihr tiefkalt und sie schüttelte sich leicht.
Im Nachhinein hatte sich ohnehin herausgestellt, dass Richard ihm für die Farce zwanzig Dukaten hatte zukommen lassen, auch wenn Phexdan es sich nicht nehmen ließ in seiner provokanten Art zu beteuern, dass er die Rolle des Verlobten auch für keinerlei Entgelt übernommen hätte.
Als die Belohnung ausgezahlt und Richard und sie in ganz Grangor als Helden bezeichnet wurden, führte ihr Weg sie erneut zu Phexdan.
In den vorangegangenen Tagen hatte sie viel über ihn erfahren. Noch immer lag einiges im Dunkeln, sprach doch meistens sie bei ihren Begegnungen, aber die Streunerin ging davon aus, ihn dennoch einschätzen zu können. Er war ein Bettler, gleichsam ein fingerfertiger Gaukler, Taschenspieler, Lebemann. Er schlief im Rahjatempel (was für sie schon Indiz genug war) oder in der „Offenen Hand“ in einem eigenen Zimmer. Er trug bunte Kleidung unter seiner Bettlerkluft. Und… Er war ein hoher Geweihter ihres Gottes.
Aus diesem Grund hatte sie vor gehabt, ihn ein allerletztes Mal aufzusuchen… auch wenn es nicht bei diesem Vorhaben blieb.
„Du musst dich mir… ganz öffnen. Vertrau mir.“ War seine Reaktion auf ihre Bitte sie zu lehren und ebenso eine anbietend ausgestreckte Hand.
Sie reichte ihm die Ihrige und er führte sie tief in den Efferdtempel.
Zugegebenermaßen hatte sie sich bereits auf etwas Tuchfühlung eingestellt. Sie hatte mit sich abgemacht spontan zu reagieren, da sie ihr Verhalten nicht zu planen im Stande war.
Was folgte war unbeschreiblich. In der Kammer legte er seine Hände auf ihre Schultern, nachdem er sie dazu angehalten hatte zu Phex zu beten. Ein unvergleichliches Gefühl durchströmte sie und sie warf den Kopf in den Nacken, während ihre Augen wie im Rausch glasig wurden. Eine Woche verbrachten sie beide zusammen in dieser Kammer.
Die Entrückung, die sie ihrem Gott näher denn je gebracht hatte, war bei ihr bereits nach drei Tagen verklungen, aber sie verließ die Kammer nicht. Sie wusste, es hätte genug gegeben, die sich um ihn kümmern wollten. Es hätte vermutlich genug gegeben, die sich darum rissen, ihn, der wie entrückt auf dem Boden lag, zu gesellschaften. Aber sie wollte all jene in diesen wenigen Stunden ausstechen.
Als er erwachte, schlief sie bei ihm auf dem Boden. Sie geleitete ihn zu seiner Kammer in der Herberge, nachdem er sich gewaschen und etwas gegessen hatte. Beide waren von echter Müdigkeit gezeichnet. Er bot ihr an in seinem Zimmer zu nächtigen.
„Du kannst bei mir schlafen.“
„Wie lange..?“
„Eine Woche..?“
„Nur eine Woche…?“
„Oder auch einen Monat. Ich lege mir eine Matte auf den Boden und du kannst im Bett nächtigen.“

Eine Nacht lang ging sie darauf ein. Als er tief und fest schlief, gab sie sich dem Gefühl, das in ihr keimte einen kurzen Moment hin. Sie betrachtete ihn und sank neben ihn auf den Boden. Vorsichtig und ohne ihn zu berühren, näherte sie sich. Tief einatmend, sog sie die Luft in ihre Lungen, die seine Haut in Schulterregion umgab. Rosenduft.
Am nächsten Morgen verließ er das Zimmer früh. Sie gab vor zu schlafen. Kaum war er fort, schrieb sie auf einen der herumliegenden Zettel (es war nicht gerade aufgeräumt in seinem kleinen Reich) eine Nachricht: Ich werde fortan wieder bei den Hortemanns schlafen. Du solltest dein Bett für dich haben.
Die folgende Nacht ließ sie die Worte wahr sein.
Dann, ohne ihren Rucksack, ihre Waffen oder ihre Rüstung verließ sie noch vorm Dämmerlicht so unauffällig wie möglich Grangor.

Maraskan 1 (Neferu) – Vorgeschichte (TRA 1007)

„Kennt Ihr einen Scheijian?“
„Sagt Euch der Name Scheijian von Tarschoggyn etwas…?“
„Kennt Ihr einen Mann mit Namen Scheijian, der in Tuzak beheimatet ist oder dort Verwandte hat?“

Viele die diesen landesüblichen Vornamen trugen wurden der garethischen Frau mit dem haselbraunen Haar vorgestellt. Aber nicht er, den sie suchte.
Doch sie wusste, dass sie ihn auf diese Weise finden würde. Oder vielmehr: Er würde sie finden. Das hatte er schon einmal getan – vor Jahren.

Nach drei Tagen kam er zu ihr.
Der Abend hatte sich über das Land geneigt, als sie in einer Herberge in Tuzak in einfacher dunkelroter Kleidung an einem kleinen, robusten Holztisch saß und bei Kerzenlicht einen Brief in die Heimat verfasste. Die Stadt mit den etwa achttausend Einwohnern schlief noch lange nicht. Schwül zog der Dunst des Dschungels über die hölzernen Häuser, die wie üblich in Maraskan in die Höhe gebaut worden waren. Düstere Schlagschatten verdunkelten den Raum durch das sachte flackernde Licht, dem sich eine todesmutige Motte immer wieder aufs Neue näherte. Mit Bedacht faltete sie das Schreiben an Lanyana, während sie mit konzentrierter Miene die Pfalzlinie begutachtete. Warme Schwüle… Sie öffnete die Kordel ihres Hemdes auf Höhe ihrer Schlüsselbeine und schob die Leinenärmel über die Ellenbogen, während sie deutlich ausatmete.
„Du hast nach mir gesucht, Bruderschwester… warum?“ Die Stimme war beinahe sanft.
Neferu fuhr gänzlich in sich zusammen und instinktiv versuchte sie sich in dem Bruchteil der Sekunde an den Aufenthaltsort ihres Klingenstabes zu entsinnen, der ruhig an der östlichen Wand des Raumes lehnte. Bei Phexens Sinnenschärfe… Sie hatte den späten Besucher nicht kommen hören. Wie auch das letzte Mal, entsann sie sich. In ihrer Brust tat ein stechendes Gefühl einen schmerzhaften Sprung, als sie erwartungsvoll den Kopf hob. Ihre Augen glitten an seiner Gestalt empor, bis sie in den schwarzen Augen mündeten, die so eigenartig und anziehend erschienen, dass er sich allein durch ihren Ausdruck von allen anderen Maraskanern unterschied.
Der abendliche Gast war nicht groß – er maß etwa soviele Schritt wie sie selbst. Ein feingliedriger Mann, dunkel gewandet mit einem Satz Kleidung, welche an den Fasarer Stil erinnern mochte. Sein rabenschwarzes Haar fiel ihm auf die Schultern herab, während er sein sitzendes Gegenüber schweigend musterte.
Scheijian. Schön und alterslos (zumindest nach Neferus Maßstäben) wie damals stand er in dem kleinen, gemieteten Raum der Herberge, zwei Schritte weit von ihr entfernen, die Tür in seinem Rücken – nach wie vor geschlossen.
Sie wusste in diesem Moment nichts zu antworten und starrte ihn aus katzenhaften Augen an, die beim Schein der kleinen Flamme wie Smaragde funkelten. Als sie spürte, dass ihre Lippen offen standen und sie ihm zu ihrer Schweigsamkeit auch zusätzlich einen recht tumben Eindruck vermitteln musste, leckte sie mit der Zungenspitze rasch darüber und verschloss sie eilig.
„Ich…“ Sie wusste keine konkrete Antwort und hielt inne. Sie hatte keinen Auftrag für ihn und auch sonst keine nennenswerten Informationen, die den Weg für ihn eventuell lohnend gemacht hätten.
„Du weißt dass solche die mich suchen… von mir gefunden werden. Und dass ich oft das Letzte bin, das sie aufgrund ihrer Neugier suchen zu müssen glaubten, ehe sie der Schwester begegneten. Was ist dein Begehr, Bruderschwester?“ Er hielt die Arme locker verschränkt, nicht abweisend, sondern abwartend, während er ruhig lächelte.
Neferu aus Gareth schluckte trocken herunter. Zwei Jahre… oder waren es schon zweieinhalb? Und er stand unvermittelt vor ihr. Was sollte sie sagen…? Die Wahrheit? Würde er ihre Beweggründe missbilligen?
Langsam erhob sie sich von dem Hocker, der ihr bis zu diesem Moment als unbequeme Niederlassung gedient hatte und legte die Schreibfeder nieder, die auf dem Tisch einen dunkelblauen Fleck ausbreitete. Er rührte sich nicht und verharrte in der Türregion, die dunklen, mandelförmigen Augen auf die junge Frau gerichtet.
„Du warst in meinen Träumen… Ich wollte dich finden.“ Begann sie leise, aber fest zu wispern, während sie sich ihm auf einen Schritt Abstand näherte, wie eine Raubkatze, die sich unauffällig an ihr Opfer näher zu pirschen hoffte.
„Was du tust ist riskant, Bruderschwester… Ich kann dir die Fragen nicht beantworten, die dir seit damals auf der Seele liegen. Halte dich fern von den Pflichten des Zweiten Fingers und du wirst leben.“ Nachsicht prägte die samtige Stimme, keine Drohung. Seine Arme senken sich vorsichtig aus ihrer Verschränkung, während er stetig Blickkontakt hielt, wachsam und voll Aufmerksamkeit. Sie spürte als stechenden Schmerz, welcher sich durch den gesamten Körper einen Weg bis in die Kehle hinauf bahnte, dass er missverstand.
„Findest du… mich schön?“ Die gewisperte Frage war ungewöhnlich, doch er blieb ernst.
„Rur hat alles in Schönheit erschaffen. Und Ihr.. gehört unzweifelhaft auch dazu.“ War die bedachte und religiös korrekte Antwort.
Die drängende Unruhe, die sie all die Zeit abseits der Insel Maraskan ihr Gemüt genannt hatte, pulsierte nun bereits als Pochen in ihren Schläfen. Er verstand nicht… Sie biss die Kiefer aufeinander, dass ihre Zähne leise aufeinander mahlten und stockend, wenig überlegt artikuliert huschten nacheinander die Satzteile in schneller Abfolge aus ihrem geschwungen geformten Mund, die sich in ihre Gedanken eingebrannt hatten, seit ihre Augen die anmutige Gestalt des meuchelnden Magiers hatten erblicken dürfen. Ob Unvernunft oder nicht – es war zu spät.
„So lange musste ich warten… So lange habe ich mich gewunden Maraskan fern zu bleiben… weise mich nicht ab… tu das nicht..deinetwegen Scheijian… lass mich in deiner Nähe leben… hier in Tuzak. … ich bitte dich.“ Die letzten Worte entkamen ihr nur noch als leise, gebrochene Töne, da ihre Unterlippe zu Zittern begonnen hatte. Ihr Blick reflektierte das Licht der Kerze und hatte sich erbarmungslos an ihn gefesselt.

Erst jetzt hoben sich seine schwarzen Brauen. Irritation auf seinem Gesicht – das erste Mal seit sie ihn kannte. Dicht stand die dunkelhaarige Freundin Phex‘ vor dem maraskanischen Mörder des Zweiten Finger Tsas, während ihre Brust sich durch die verhängnisvolle Schwere der Thematik mühsam hob und senkte. Für einen Moment Stille. Er sah sie zögerlich an, der schwarze Blick glitt über die Konturen ihres Gesichts, blieb kurz an der kleinen Dreiecksnarbe hängen und tastete sich weiter über ihren Nasenrücken zurück zu den schrägstehenden Augen. Nachdenklich gewann er seine typische Ruhe und Ausgeglichenheit wieder.
„Meine Nähe ist der Tod…“ raunte der schmale Mund leise in ihre Richtung.
„Dann lass es der Tod sein, den du mir schenkst, Scheijian – ich biete dir mein Leben an – so oder so.“ war ihre geflüsterte, aber entschlossen klingende Antwort. Alles oder nichts. Sie hob die rechte Hand.
Er packte sie schnell und geschmeidig, aber ohne jegliche Brutalität am Handgelenk. Wie ein aufgetürmter Schwall von Efferds Wogen stürzte das Konstrukt der Gedanken und Gefühle über ihr zusammen und spülte Vernunft und Angst mit sich fort. Ihr Ziel war nur eine Armlänge entfernt.
„Lass mich dich… nur einmal…“ begann sie mit weicher Stimme zu murmeln und während er aus lauter Vorsicht und unter der ruhigen Oberfläche überfordert von der überaus ungewöhnlichen Situation immer noch ihre Rechte in Schach hielt, näherte sich ihm bereits ihre linke Hand. Sie berührte den dunkel Gekleideten kaum. Fingerspitzen glitten fast von Andacht überwältigt über den Stoff seines Armes.
Sein Griff lockerte sich – Keine Gefahr. Getrieben von lang zuvor zurückgehaltenem Drängen strebte die Freigelassene in seine Richtung.
„Ich will bei dir sein…“ Es war dunkel im Raum, den ihre Worte leise erfüllten, nahe seinem Ohr. Die Kerze war heruntergebrannt und in ihrem eigenen Wachs erstickt. Ein kurzes, letztes Aufflackern und der Schein wich der nächtlichen Finsternis. Er sprach nicht. Ob er wahrhaftig geschockt von ihren Aussagen die Sprache verloren hatte konnte sie in der Düsternis nicht sagen.
Trotz aller Instinkte und dem Wissen um das Metier des Mannes, der allein mit ihr war, begann sie ihn leise und vorsichtig mit beiden Händen in der Taillenregion zu umfassen.
Der Meuchelmörder stand aufrecht und ließ es geschehen. Sein Haupt war geneigt, während er ihre Mimik und Gestik analysierend betrachtete und gleichsam bewertete. Mit vielem hatte er gerechnet: Aber ganz gewiss nicht damit. Die fünf Finger seiner rechten Hand umschmeichelten den Griff seiner tödlichen Nadel. Immernoch Schweigen.
„Scheijian..“ Sein Name… gehaucht… sanft – ungewohnt selten.
Seine Nackenhärchen stellten sich bei den zarten Lauten leicht auf – doch diesmal schien es ihm nicht ein Anzeichen für die Gefahr, die er für gewöhnlich witterte.
Ihre zartfühlenden Fingerspitzen hatten eine Wanderschaft über die anmutigen Konturen seines Oberkörpers begonnen, als man ihre ersten Schritte nicht vereitelt hatte.
Er atmete scharf ein. Dennoch ließen seine ausgebildeten Sinne keine Ablenkung zu. Er bemerkte den einsetzenden warmen Regen der draußen die großen Blätter der Dschungelpflanzen prasselnd benetzte, den leisen Wind der frühen Nacht, ein Tier, vielleicht ein Parder – der einige hundert Schritt entfernt knurrte; er spürte die gegenwärtige Dunkelheit – er sah alles.
Sie – sah ihn.
Er war nicht leicht zu brechen, doch die wohlige Wärme lockte.
Sie brannte ihm einen samtig wohligen Kuss ihrer harrenden Lippen auf den Hals – er zuckte unmerklich. Es war ein Weilchen her, dass er ähnliches genossen hatte.

Sie sank auf ihr Lager… er war über ihr – Sie blinzelte nicht. Verklärt sahen ihm tiefgrüne Augen hoffend und fiebernd entgegen – fahrig wagte sie den Versuch dem Mörder noch näher zu kommen. Ob er sie töten würde?
Seine Menschenkenntnis und die Schärfe seiner Sinne flüsterten ihm ein, dass es anders war als sonst. Es war keine Falle. Es war, was es ist.

Als sie aufwachte war es noch immer dunkel und schwül. Schlagartig öffnete sie die Lider und starrte an die hölzerne Decke. Einsamkeit. Tief saugte sie die maraskanische Luft in ihre Lungen.
Ein Traum..? Tastend berührte sie ihren eigenen Leib. Bekleidet.
Sie schloss sinnend die Augen.
Ein Traum.

Grangor 1 (Neferu) ( –––)

Neferu ließ sich an der übermannshohen Steinmauer, welche den kaum von außen zu erahnenden Gartenbezirk des Efferdtempels abtrennte, langsam und in nachdenklicher Zögerlichkeit herabsinken.
Auf die gleiche Art und Weise taten es ihre Lider dem in sehr eigen und fast archaisch zusammengeschneiderten roten Kleidern steckenden Körper der Phexgeweihten nach.
Tief durchatmend verharrte sie eher erschöpft als aufrecht auf dem kopfsteingepflasterten Boden, den Rücken an den kühlen Stein der aufragenden Abgrenzung gelehnt.

Die letzten vier Monaten hatten sie nach ihrer eigenen Einschätzung zu einem neuen, anderen Menschen geformt, sinnierte sie in theatralisch angehauchter Grübelei.
Während sie mit geschlossenen Augen und umwölkter Stirn die Kälte des Untergrundes in ihrem Leib heraufkriechen ließ, was ihr eine Gänsehaut bescherte, drangen leise und dennoch einvernehmend die Laute der Gartentätigkeit jenseits der Mauer in ihr Ohr. Die metallene kleine Schaufel drang ruckartig in die Erde, welche anschließend beiseite geräumt wurde. Kurze Zeit Stille, dann das Festklopfen des Bodens.
Die Gänsehaut, die steil aufrecht auf ihren Armen prangte, wurde zu einem Frösteln, welches sie in sekundenschnelle und nur den Bruchteil eines Augenblicks durchflutete.
Phexdan. In ihrem Kopf rumorte es und die Bilder der letzten Tage und Wochen drangen ohne Warnung auf sie ein. Sie war aufgrund eines Auftrages nach Grangor gekommen, einem Ort von dem sie zuvor nur vage gehört hatte. War das Ziel, welches sie in besagter Theatralik beinahe schon als ihren göttergewollten Auftrag betrachtet hatte in der Vergangenheit Maraskan gewesen, so schwand dieses ehemalig drängende Gefühl diesen Ort betreffend Tag für Tag, während es von ihren Erlebnissen in der Kanalstadt Grangor erbarmungslos übermannt wurde.
Im Schnelldurchlauf ließ sie das Geschehene in ihren Gedanken noch einmal Wirklichkeit werden. Richard und sie waren mit der Nereide, einem Grangor-Hai in wenigen Tagen von Ferdok zu ihrem Ziel gelangt um einen der Altvorderen vor einem Serienmörder zu schützen, welcher sich als alte Druidin herausstellte, die bei Archon Megalon gelehrt worden war und die den unrechtmäßigen Tod ihres Sohnes an den damals Verantwortlichen rächen wollte. Neferu hatte Verständnis für das Handeln der Frau, aber dennoch hatte sie sich entschieden, diese fremde, aber augenscheinlich freundliche Person gemeinsam mit Richard ans Messer zu liefern.
Während der Ermittlungen, bereits am ersten Tag in Grangor war ihr einer der vielen Bettler aufgefallen, die in der Stadt der Wasserstraßen wie Könige zu residieren schienen. In der Nähe eines Schneiders hatte er seinen Platz. So wie er da saß, schätzte sie den Schwarzhaarigen nicht groß, vielleicht einen Finger höher gewachsen als sie selbst und ebenfalls nicht alt, vielleicht einen oder zwei Götterläufe mehr als ihr Alter betrug. Anfang zwanzig mochte er also sein und lockte mit seinem einnehmenden Äußeren die Passanten, dessen Spenden er mit einem uneinschätzbarem Lächeln quittierte. Seine Kleidung war schäbig und zum Teil zerrissen, das kurze Haar umgab struppig sein Haupt und auch sein Bartwuchs, den er seit mindestens einer halben Woche nicht gestutzt hatte, vermittelte den Eindruck einer gewissen Verwahrlosung, aber trotzdem passte sein den Augen schmeichelndes Erscheinungsbild nur schwerlich in die Szenerie der Alten und Krüppel, deren Bild man gemeinhin von Bettlern im Kopf hat.
Neferu kannte den Wissensschatz solcher Obdachlosen nur zu genau und so fokussierte sie den jungen Mann an und schritt mit zielgerichtetem Tunnelblick geleitet von ihrem Begleiter Richard auf ihn zu.
Wenn sie im Nachhinein darüber nachdachte, so hatte sich bereits beim ersten Blick ein Magnetismus ausgewirkt, der sie unweigerlich zu ihm gezogen hatte und nicht zu einem der vielen anderen hundert Bettler von Grangor.
Mit seiner Hilfe und seinen Informationen, die sie ihm gut bezahlte, lösten sie die Mordfälle. Währendessen kreuzten sich immer wieder ihre Wege. Na gut. Sie musste zugeben, ab und an ließ sie sie absichtlich kreuzen. Bei dem Gedanken, dass sie sich die Blöße geben könnte einem Mann ernsthaft nachzustellen, verzog sie ihre nachdenkliche Miene in deutlichem Unbehagen und erhob sich mit einem ertappten Blick zur Pforte, die in das Garteninnere führte, wo Phexdan sich noch immer um das Gedeien der Pflanzen bemühte.
Es gelang ihr sich von der Wand zu lösen, die zwischen ihr und dem Fuchs stand. Mit jedem Schritt widerstrebend, aber entschlossen entfernte sie sich. Die Richtung war ihr einerlei, nahm sie Grangor ohnehin nur durch den rauchigen Schleier ihrer eigenen Gedankenwelt war.

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