Bettler und Gaukler
Grangor 18 (Neferu)
Zwei volle Wochen noch gingen ins Land, ehe Neferu ihr Reiseziel erreichte: Grangor, die Inselstadt an der Westküste.
Sie trug die zweite Gestalt, die boronsweiße Schönheit mit dem schwarzen Haar und den Eisaugen, an deren Körper sie sich beinahe gewöhnt hatte, da er ihr die letzte Zeit gute Dienste erwies. Der Hexenleib, der ihr vom magischen Armband verliehen wurde, war nicht nur durchweg charismatisch – er bewahrte sie auch davor, dass die Dämonenpaktierer, mit denen sie den Handel um Phexjes Leben eingegangen war, ihr Antlitz je wiedererkennen konnten. Zudem hatte sie ihre schwarze Robe wohlweislich eingepackt und ihren ansehnlichen Leib unter der bodenlangen Boronskutte verborgen.
Ob alles gut gegangen war? Ob Phexje wirklich wieder lebte? Sie biss sich auf die blutrote Unterlippe, die eigentlich nicht die Ihrige war. Natürlich vertraute sie den düsteren Gestalten aus Tobrien nicht, denen sie die dreitausend Dukaten überlassen hatte. Sie war sich aber auch nicht vollends darüber bewusst, was sie tun sollte, wenn die Paktierer aus dem Osten sie über den Tisch gezogen hatten.
Schnell schüttelte die dunkelhaarige Schöne die grimmigen Gedanken ab. Nur nicht daran denken… Keinen Gedanken an den schlechtesten Ausgang ihrer Einzelmission verschwenden. Sie musste sich vergewissern. Sie musste Phexdan aufsuchen… Und gleichzeitig konnte sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Es brauchte nicht lang den Bettlerkönig zu finden. Mittlerweile hatte sie vom Hörensagen herausgefunden, dass es tatsächlich so war, wie sie es sich erhofft hatte: Ein totgeglaubter Junge war in Grangor wiederauferstanden. Ein Wunder Tsas!
Phexdan saß unrasiert und mit abgespanntem Gesicht auf seinem Stammplatz – auf der Brücke beim Schneider. Während die Menschenmassen den Übergang von beiden Richtungen passierten, nutzte Neferu deren Bewegungen, um für einen Moment ungesehen zu verharren. Der stehengebliebenen vermeintlichen Boroni wurde kommentarlos ausgewichen.
Die jetzt blauen Augen der Halb-Tulamidin-Halb-Thorwalerin wanderten über die sitzende Gestalt. Ein ganz normaler Bettler unter vielen, oder nicht? Zerzaustes, ungebändigtes Haar, fahle Haut, übernächtige Augenringe, zerlumpte Kleidung, ein Verband über dem Nasenbein – Phexdan reihte sich an diesem hellen, wolkenlosen, aber doch kühlen Herbsttag besser als sonst in die Reihen der bettelnden Hilfsbedürftigen ein.
Die fremde Schwarzhaarige hielt auf den jungen Mann zu, der im Schneidersitz auf seiner Matte hockte und ein Loch in die Luft starrte. In eleganter Manier ging sie vor ihm auf ein Knie und grüßte ihn samtig, während sie ihm einige Silber spendete. Er hob den Blick… als sähe er durch sie hindurch.
Säuselnde Worte entkamen den sinnlichen Lippen der Frau. Versprechende, lockende Töne erzählten von Nahrung, Wärme und Gold. Nährten seine Eitelkeit und sprachen zu ihm von seinem anziehenden Äußeren. Phexdan gab ihr einen Handkuss.
Raureif legte sich frostig klirrend um Neferus Herzregion, während sie sich gleichermaßen innerlich gut zuredete, dass der Mann, den sie vom ersten Augenblick ins Auge gefasst hatte, lediglich seine Höflichkeit spielen ließ.
Oder würde er die außergewöhnlich hübsche Fremde tatsächlich an sich heranlassen? Jetzt, wo sein Versprechen Phexje gegenüber eingelöst war, wo sein Leib frei war zu tun, wonach auch immer ihm Sinn und Lust standen. Sie schluckte knapp den bitteren Geschmack herunter und der Drang zu prüfen woran sie war, nahm stetig zu und ließ sie die Kiefer aufeinanderbeißen.
Der Strom der Pilger ebbte nicht ab, der die zwei umsäumte.
Phexdan erhob sich – er willigte ein mit ihr in eine Taverne zu gehen und sich ein gutes Essen ausgeben zu lassen. Neferu riet sich zur Vorsicht. Ihr einstiger Goldsegen war für das Leben des kleinen Jungen so dermaßen geschrumpft, dass sie acht geben musste nicht selbst zu verhungern. Ein äußerst unglücklicher und leidlicher Umstand, den sie besonders in diesem Moment verfluchte. Sie spielte eine Rolle, deren Mittel sie nicht länger zur Verfügung hatte. Ein Faktum, an das zu gewöhnen sie sich nun stärker einzuprägen gedachte.
Aus dem Augenwinkel sah sie zu dem Bettler, der ihr gefolgt war. Was hatte er vor? Würde er mit der Fremden mitgehen und geradewegs in Neferus aufgestellte Falle laufen? Seine Mimik wirkte alles andere als begeistert. Entweder ein gutes Zeichen oder lediglich ein Merkmal seiner offensichtlichen Müdigkeit oder was auch immer es war, das an seiner Erscheinung genagt hatte.
Da… noch dreißig Meter. Die Taverne näherte sich rasant.
Neferu entschied sich, alles auf eine Karte zu setzen und machte dem Gauklerbettler eindeutig unzweideutige, unmoralische Angebote:
„Bist du dir sicher, dass du nach dem reichlichen Mahl, das ich dir bezahlen werde nicht doch noch Nachtisch willst? Ich nehme dich mit auf mein Zimmer… Es ist sehr bequem dort. Natürlich werde ich dich reich für diese Unannehmlichkeit bezahlen…“
Er verneinte. Phexdan lehnte strikt ab – trotz der Aussicht auf Gewinn, hatte er nicht vor mit der atemberaubenden Schönheit in ihr Bett zu steigen. Die blasshäutige Frau atmete tief durch und bog in eine etwas minder belebte Seitengasse der Kanalstadt ein.
Phexdan folgte ihr – möglichweise mit einem Stirnrunzeln.
„Ich darf dich also nicht berühren?“ entkam es der Borongläubigen sanftmütig, als sie ihm den Rücken zuwandte. Schwarzes, glattes Haar fiel gesund und dicht bis auf den Ansatz ihres wohlgerundeten Pos, der sich nur angedeutet unter der Robe abzeichnete.
„Nein…“ raunte Phexdan.
Neferu konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, welches er aufgrund ihrer Abgewandtheit glücklicherweise nicht wahrnehmen konnte.
„Ach… Ich rettete deinen kleinen Phexje, indem ich Onkel Boron bat, ihn mir zurückzugeben und als Dank darf ich dich immer noch nicht berühren?“ schmunzelte sie gewitzt, während sie im Innern ihrer weiten schwarzen Ärmel das Armband dreimal zurückdrehte, dass der Spuk vor Phexdans grünen Augen ein Ende nahm und das lange, gepflegte schwarze Haar sich direkt eine Armlänge von ihm entfernt in die vielen rotbraunen Zöpfe Neferus verwandelten, die nur bis zu ihren Schulterblättern reichten.
„Neferu?“ wisperte der Verwirrte mit weit geöffneten Augen.
Langsam drehte sie ihm ihr Gesicht zu, gefolgt von ihren Schultern und dem Rest ihres Leibes, der zwar immernoch in der schwarzen Robe steckte, aber jetzt durch und durch das Original war.
Ihre geschwungenen Lippen zierte ein neckisches Lächeln.
„Wer sonst?“ grinste sie ihn an, wohl wissend, dass ihr Auftritt allerlei Fragen mit sich brachte. Was hätte sie alles dafür gegeben in diesem Moment seine Gedanken lesen zu können.
Noch während sie dieser verlockenden, aber unmöglichen Vorstellung nachhing, wurde sie aufs Heftigste von dem nur einen Finger größeren Fuchs umarmt. Seine kräftigen Arme schlangen sich um sie und drückten ihren Körper an sich, in der sehnigen Kraft geschult durch lange Jahre als Gaukler.
Phexdan… Sie nutzte augenblicklich die Gunst der Stunde und vergrub ihre Nase an seinem Hals. Sein Duft… Wie hatte sie ihn vermisst. Ihre Hände strichen besitzend über den groben Stoff der Bettlerkleidung seines Rückens.
„Wo warst du…? Wie hast du das alles gemacht? Bist du eine Magierin? Oder… eine Hexe?“ huschten die ersten verwirrten Fragen an ihr Ohr.
„Nein, ich… bin keine Magierin… und auch keine Hexe.“ Flüsterte sie lachend, „…bitte..frag nicht weiter.“
Er ging ihrer Bitte ohne das kleinste Murren nach und stellte ebenfalls eine stumme Bitte, als sein Mund sich ihren Lippen näherte, sich zögerlich herantastete, um sie dann zu küssen.
Ihr erster Kuss mit dem Füchschen raubte ihr den Atem. All die Jahre der fleischlichen Entbehrung durch ein willensstark eingehaltenes Versprechen und die plötzliche, innige Nähe der lang Vermissten veranlassten ihn dazu, sie mit einer Leidenschaft und Tobsucht zu küssen, dass ihr schwindelig wurde. Immer wieder pressten die Muskeln seiner Arme den Körper des geliebten Menschen an den seinen, während er Küsse an ihren warmen Lippen in erkundender Neugier und gleichzeitiger innerer Hitze probierte und das erste Mal erfuhr.
Sein Mund streichelte, liebkoste, küsste, schmiegte sich an und öffnete sich leicht, um seiner Zunge freies Geleit zu verschaffen. Mehrere Minuten standen sie so in der Seitengasse Grangors und liebten sich mit Zärtlichkeiten durch Hände und Lippen. Neferu ließ ihre Finger in sein schwarzes Haar gleiten. Sie liebte die vielen Wirbel und Drehungen, die es immer und überall unordentlich und wild aussehen ließen.
Endlich durften sie sich berühren und ihre ersten Berührungen prägten sich verheißungsvoll auf Haut und Seele des anderen und schienen nachholen zu wollen, was schon im ersten Moment leise und noch ungehört in beiden geflüstert hatte, als sich die gleichfarbenen Augen das erste Mal mit Blicken begegnet waren.
Beide waren müde von den vergangenen Tagen und Wochen. Beide sehnten sich nach Schlaf, so dass ihre Schritte sie in die nicht weit entfernte „Offene Hand“ lenkten. Noch war Neferu das Bett zu schmal für sie beide, so dass Phexdan zwei Matratzen auf dem Boden aneinanderschob. Endlich wurde sie diese schwarze Boronsrobe los unter der sie die blaue Kleidung Phexdans trug, die sie sich in Trallop auf den Leib hatte schneidern lassen. Königsblaue Kleider. Wie sie sich doch ähnelten, die smaragdäugigen, fast gleichgroßen Phexdiener, die beide in dieselbe Farbe gewandet waren. Königsblau.
Stirn an Stirn gelehnt schliefen sie ein, jeder unter seiner Decke. Lediglich hier ein Streicheln und dort eine Hand, die zu der nahen anderen Person herüber tastete.
„Sind Richard und Garion in der Stadt?“ wisperte Neferu leise beim Einschlafen, sich über den Verbleib ihrer Gefährten vergewissernd.
„Ja, Richard schläft bei den Hortemanns, soweit ich weiß und Garion…. Ist im Kerker. Er hat mich geschlagen… Deswegen auch der Verband…“ Phexdan tippte sich mit leidender, müder Miene an die Nase.
Neferu seufzte resigniert. Die hinter sich gelassene Odyssee saß noch zu tief in ihren Knochen, um sie zu einem weiteren Nachfragen hinreißen zu lassen. Sie ließ sich in Borons Arme sinken und empfing süßen Schlaf.
Grangor 17 (Rahjard)
Nicht einmal im Schlaf konnte sich Rahjard mehr des leichten Lächelns erwehren, das seinem Antlitz im Zusammenspiel mit seinen anderen Aspekten in den vergangenen Praiosläufen einen (eher unfreiwilligen) Hauch von Vollkommenheit verliehen hatte. Ausgelöst hatte niemand geringeres als der Knappe der Göttin die ungewohnte Glückseligkeit beim bukanischen Piratenspross. Die Rechte des Rondrageweihten hatte sich mit Schwung in das Gesicht von Phexdan gedrückt. Doch nicht etwa das Leid des Bettlers und Gauklers, sondern viel mehr das des Geweihten ließ ihn derart frohlocken. Noch bevor sich Rahjard auf Phexdan zubewegt hatte, stellte er sich jedoch die alles entscheidende Frage, was die Motivation für diesen „Schicksalsschlag“ gewesen sein mochte. Konnte es sein und war es möglich, dass die Wurzel allen Übels tatsächlich nichts weiter als die täglich zunehmende Frustration hinsichtlich des Verlusts seiner geliebten Neferu war und dass er nicht einsehen konnte oder wollte, dass sie ihm einen grangorer Bettler vorzog?
Sicherlich waren die Liebe und ihre Mysterien noch nie das Spezialgebiet der Weiberhelden aus der Familie Lowanger-Greiber gewesen, dennoch war Rahjard trotz all der fehlenden Erfahrung von einer Sache überzeugt und zwar, dass noch mehr dahinter stecken musste. Denn schließlich kann nur verloren werden, was man bereits besessen hat. Es beschwerte sich doch auch niemand bei einem Würfelspiel von vier Runden, mit vier Teilnehmern, schon in der Dritten darüber eine Dukate verloren zu haben, wenn der Einsatz bis dahin bei zwei Silbertalern lag. Garion war es nie gelungen, sie zu seinem Eigen zu machen. Worüber beklagte er sich also, …sexuelle Unausgeglichenheit?
Eine Antwort wollte ihm nicht einfallen und daher betrachtete er stirnrunzelnd das Geschehen, wie der Ritter des alten Weges von einigen Gardisten abgeführt wurde. Nicht seine erste Haftstrafe, die er in Grangor verbüßen musste, und gewiss auch nicht die letzte. Schließlich stand Rahjard vor Phexdan. Beide nickten einander leicht zu, begutachteten sich für einen Augenblick den jeweils anderen und kamen erst dann allmählich ins Gespräch. Zunächst ging es, wie nicht anders zu erwarten, um die möglichen Gründe von Garion zum Serientäter zu werden. Kurz zuckte Rahjard mit den Schultern und entgegnete dem Bettler nachfolgend, dass es an den tiefen Gefühlen des Bronnjaren für die Halb-Thorwalerin-Halb-Tulamidin liegen musste. Eine Situation, in der ihm nach einem Augenrollen zumute war. Phexdan wohl auch.
Solche Schlüsse zu ziehen stellte für keinen der Beiden eine Herausforderung dar.
Wenige Fußschritte später fanden sich beide in einer improvisierten Heilerstube wieder, die Rahjard bekannt vorkam. Auch er hatte sich in der tiefsten Gosse irgendwelcher Städte schon die Nase richten lassen müssen, in Andrafall. Einer Stadt, im glorreichen Königreich Andergast.
Zumindest kurz trieb ihm dieser Gedanke ein Schmunzeln auf die Lippen, ehe Phexdan alle Aufmerksamkeit mit nahezu weibischem Gehabe wieder auf sich lenkte: „Aua!“
Beinahe hätte Rahjard noch angefangen Phexdan zu bemitleiden, tat er doch so, als wäre dies die erste geballte Faust eines anderen Mannes gewesen, die sich in sein Gesicht verirrt hätte. Unmerklich schüttelte der Bukanier sein Haupt, während Phexdan immerhin bewies, keine bleibenden Schäden von diesem Hieb davongetragen zu haben: Er beabsichtigte, die Haftstrafe des Rondriten zu verlängern. Zwei, drei oder vier Wochen? Nach kurzer Überlegung zog sich eine Sorgenfalte über die Stirn des Halb-Norbarden.
„So gerne ich das auch sehen würde, ich glaube Neferu mag Garion.. irgendwie. Gutheißen würde sie es sicher nicht, wenn sie herkommt und er insgesamt drei oder vier Wochen einsitzen muss. Eine oder zwei sollten genügen, ihn etwas abzukühlen“, meinte Rahjard und Phexdan nickte. „Warte hier… das mache ich lieber allein“, entgegnete der Bettler und verschwand im nächsten Gebäude, welches Rahjard aufgrund all der Banner und sonstigen Verzierungen zweifellos der städtischen Garde zuordnen konnte.
Schulterzuckend sah er dem Bettler nach und verschwendete einige, wenige Gedanken an den eitlen, liebestollen Knappen der Göttin und Ritter des alten Weges, Garion Rondrior von Arivor; ob er die kommenden Praiosläufe genießen würde und was Neferu wohl von seinem Überfall auf Phexdan halten würde. IHREM Phexdan. Kurzzeitig flammte ein Grinsen in seinem Gesicht auf, bis er den Gaukler wieder erspähte und ihm nach einem kurzen Nicken mitteilte, dass der Rondrit genug Zeit haben werde, über sein Fehlverhalten nachzudenken. Zu diesem Zeitpunkt übermäßige Schadenfreude zu zeigen war sicher nicht angebracht, doch das musste er auch gar nicht… Phexdan gelang es als Meister der Improvisation, Rahjard auf andere Gedanken zu bringen als das Leid des Geweihten, indem er ihn in sein Lieblingsteehaus einlud. Das behauptete er zumindest. Ein erster, das Etablissement sondierender Blick offenbarte dem dunkelhäutigen Bukanier jedoch, dass es sich dabei weniger um ein Teehaus zu handeln schien, als ein drittklassiges Bordell. All die gemütlichen, kuscheligen Ecke, die raumtrennenden Vorhänge und ein leichter Duft von Rauschkräutern ließen zumindest darauf schließen. Dumm nur, dass er mit Phexdan dort war… wo dieser doch überhaupt nicht sein Typ war. Rahjard hob ohne ein Wort darüber zu verlieren einen Mundwinkel an und ließ sich gegenüber von Phexdan nieder, nachdem dieser sich einen Platz ausgesucht und die erste Runde – Tee – ausgegeben hatte. Wie schon auf dem Weg dorthin, sprachen die beiden hauptsächlich über die offenbar einzige Frau in ihrer beider Leben, die maraskanliebende Neferu.
Alleine die Frage, wie sie sich überhaupt kennengelernt hatten, wie seine erste Begegnung mit Garion verlaufen war und die letzten Ereignisse rund um Andergast, Burg Dragenstein und Marek den Schlitzer oder ein erneutes Nachfragen bezüglich Archon Megalon nahmen etwa eine halbe Stunde, wenn nicht mehr, in Beschlag. Tatsächlich war Rahjard in all den Jahren viel herumgekommen, hatte viel mit Neferu erlebt… leider auch einiges mit Garion. Zwar konnte er es auch in seinen Erzählungen einigermaßen kaschieren, doch Phexdan hatte es zu diesem Zeitpunkt mehr als geahnt, dass Rahjard alles andere als Sympathie oder mehr als den Gedanken einer Zweckgemeinschaft für den Rondrageweihten übrig hatte. Dann jedoch verstummte der Redeschwall Rahjards, als Phexdan unerwarteten Besuch erhielt und ihm etwas ins Ohr getuschelt wurde. Ein recht kurzes, knappes und präzises: „Komm mit“, hatte Rahjard dazu veranlasst, an der Seite von Phexdan durch Grangor zu eilen, bis hin zum Efferdtempel, den sie ebenso schnell durchquerten wie die Stadt. Bis sie schließlich, was Rahjard zu einem leichten Schlucken veranlasste, in einem ihm völlig fremden Gewölbe standen. Schlagartig war es ihm klar geworden, wohin all die Dukaten der Bettler geflossen waren. Solch eine Stadt ohne einen solchen Ort, das wäre auch kaum zu glauben gewesen. Rahjard wollte gerade ein Lächeln aufsetzen, als ein Ruck durch seinen Leib ging. Phexdan, der eben noch vor ihm gewesen war, hatte sich auf einmal hinter ihm versteckt und hielt sich an der Schulter des mehr oder minder unbekannten Bukaniers fest, dessen Brauen sich bei diesem Anblick leicht wölbten. Dass es um Phexje gehen sollte, hatte er eher auf dem Weg an diesen Ort mitbekommen, dass sich Phexdan aber zu etwas nicht trauen würde – das war ihm neu.
Schulterzuckend trat er voran in den kleinen Raum, in dem nicht viel mehr Bett und ein Boroni standen. Im Bett lag Phexje, beinahe wieder quickfidel. Rahjards Kinnlade machte augenblicklich Anstalten, nach unten auf den Boden zu sacken, während sich Phexdans Hand schlicht an seiner Schulter verkrampfte. Neferu hatte Erfolg gehabt, …hatte sie? Etwas missmutig betrachtete Rahjard erst den Jungen, dann den Boroni und wieder den Jungen. Dann stürmte Phexdan förmlich vor und nahm die Gelegenheit war, sich an seinen totgeglaubten Bruder zu klammern. Eine Sache, die dem Boroni ebenso wenig gefallen wollte, wie jedes einzelne Wort, das gesprochen wurde. Selbstverständlich zählten die eigenen Laute nicht dazu. Rahjard musste spätestens bei der dritten Ermahnung mit den Augen rollen.
Lediglich ein einzelner Augenblick hätte selbst dem oft so gefühlskalten Bukanier eine Träne in die Augen getrieben, als der Boroni Phexdan entgegnete, dass der kleine Phexje noch recht schwach sei und in dieser Zeit etwas bräuchte, an dem er sich festhalten könne. Einen Wimpernschlag später hatte Phexdan ihm bereits einen hölzernen Fuchs in die Hand gedrückt. Eben jenen, den er einst von Neferu auf dem Markt geschenkt bekommen hatte. Während sich alle der Tatsache erfreuten, den Fuchs und Phexje wieder vereint zu sehen, knirschte der Boroni mit den Zähnen. Wahrscheinlich hatte er, noch während er sprach, an etwas anderes gedacht, irgendetwas das mit Boron zu tun habe, aber im Leben nicht an einen Holzfuchs.
Minuten vergingen und man sah Phexdan an, dass er der Bitte des Boroni nur sehr ungerne nachkam, dem Jungen noch ein wenig Ruhe zu gönnen. Doch was sein musste, musste sein. Noch während sie die das gut gehütete Geheimnis, den im Bau befindlichen Phextempel zu Grangor, verließen, überkam Rahjard allerdings ein wenig Unmut. Auf der einen Seite freute er sich, dass Phexje wieder unter den Lebenden weilte und Alveran hatte verlassen dürfen, jedoch… war Neferu mit 3000 Dukaten fortgegangen. Dreitausend. Durchaus eine Summe, mit der man vieles, das nicht unbedingt boron- oder überhaupt zwölfgöttergefällig sein musste, anstellen konnte. Phexdan klopfte ihm eher nebenbei auf die Schulter und zerrte Rahjard mehr mit in seine Lieblingstaverne, oder die nächstbeste. Was genau, darüber wollte er nicht weiter reden. Sicher war nur, dass Phexdan eine großangelegte Feier für zwei Personen im Sinn hatte. Seine Investition am Tresen sprach zumindest dafür. Noch ehe sie jedoch auch nur ein Wort über Phexjes plötzliche Rückkehr verloren, ging es wieder um die Angebetete des Rondriten – und von Phexdan. Auch bei diesem, durchaus fröhlichen Beisammensein konnte Rahjard wieder über vieles erzählen. Allen voran das, was Neferu ihm über die Jahre übermittelt hatte. So sprachen sie von Maraskan, ihrer liebsten Insel, und auch von Scheïjian. Ihrem letzten, großen Schwarm, ehe sie Phexdan begegnet war.
„Was gibt es schöneres als einen Maraskaner?“, meinte Phexdan darauf unter anderem, was Rahjard dazu veranlasste die Stirn sachte zu runzeln und das Kinn sodann leicht anzuheben. „Ich bin doch auch ganz schön anzusehen“, entgegnete er dem Bettler und es fiel ihm selbst schwer, sich in diesem vor Arroganz nur so strotzenden Moment keinem schallenden Lachen hinzugeben. Sein Possenspiel war jedoch derart überragend, dass er sich die Gedanken daran nicht anmerken ließ. Phexdan wölbte dennoch nur die Brauen und raunte ihm ein leises „naja“ entgegen. Beinahe so als wüsste er um diesen Umstand, den er sich aber nur ungern eingestehen wollte. Rahjard schmunzelte daraufhin abermals, ehe er die Augen leicht zusammenkniff.
Was war das? Er blinzelte leicht… und fuhr dann mit seinen Erzählungen fort, gar nicht realisierend, dass er und Phexdan eher nebenbei einen nach dem anderen Humpen geleert hatten und es dem jeweils anderen immer schwerer fiel, den Gegenüber vor lauter leichtem, mittelschweren und unüberhörbaren Lallen überhaupt noch zu verstehen. Insbesondere bei einer Aussage musste Phexdan noch einmal nachhaken, orderte offenbar vorsichtshalber dennoch Ausschank im Wert von vielleicht zwanzig Dukaten. Rahjard hatte jedoch alle Mühe, sich noch einmal zu wiederholen. Er glaubte, es wäre gerade um Phexje gegangen… was, hm. Seine Schultern leicht hebend wiederholte er, was ihm als erstes wieder in den Sinn kam: „Irgendwie.. muss sie das geschafft haben.. sie hatte 3000 Dukaten und meinte wir.. könnten ihr vertrauen. Hoffentlich hat sie aber.. ihre Seele nicht für… seine gegeben.“
Phexdans Gesicht verzog sich leicht, er nahm einen ordentlichen Schluck aus dem nächsten Humpen… und noch einen, ehe er unter einem recht dumpfen Aufschlag zu Boden ging und wenige Augenblicke später von einigen Bettlern aufgehoben und sein herumliegendes Habe eingesammelt wurde. Während Rahjard versuchte aufzustehen, trugen sie ihn bereits hinaus. Er folgte wankend und gab nahe der Tür beinahe noch eine Flugeinlage zum Besten, die einen der Bettler auch zu ihm hinübersehen ließ. Dieser fragte ihn… irgendetwas und der mitgenommene Bukanier nickte langsam. Sie brachten ihn wohl dorthin, wo sie Phexdan in solchen Fällen auch hinbrachten, dachte er sich noch und legte den Kopf anschließend in den Nacken.
Unter einem lauten Dröhnen seines Kopfes öffnete der Halbnorbarde-Halbmittelländer seine Augen und sah sich um, rieb sich die Stirn und schreckte leicht auf, als er Phexdan in einem Bett neben sich liegen sah. Sofort ruckte sein Blick herum zu einem Vorhang und musterte die Einrichtung an sich. Bei den Zwölfen… waren sie etwa gerade dort, wo er dachte, wo sie waren und hatten sie irgendetwas getan? Phexdan brauchte noch einige Minuten, ehe auch er erwachte und sich schlicht und ergreifend erhob, um sich waschen zu lassen. Rahjard folgte ihm, mit mehr als nur einem Hauch von Skepsis in der Miene, in Richtung des hinteren Bereiches, wo sich einige Geweihte der Schönlinge annahmen und eine zierliche, aber wenigstens gutaussehende Geweihte ihn auf Nachfrage darüber aufklärte, wie die beiden hergekommen seien und das zwischen ihm und Phexdan nichts gewesen sei. Zumindest nichts, das laut genug war um es zu hören. Damit lächelte sie ihm verschmitzt zu und Rahjard kniff die Augen zusammen. Er brauchte etwas Ablenkung, sah zu der Geweihten und war überzeugt, dieser Augenblick wäre ideal für eine Massage… ein Gebet.
Phexdan hingegen verließ den Tempel ohne viele Worte an seinen Begleiter zu verlieren. Er habe zu tun, oder etwas derartiges war es wohl. Im Angesicht des anstehenden Gebets mit der Rahjageweihten war es nicht leicht, sich auf Phexdan und seine Worte zu konzentrieren. Er würde ihn schon wiederfinden. Dafür gab es in Grangor doch all die Bettler, um Phexdan zu finden, so man ihn suchte…
Grangor 16 (Feqzjian)
Gewandt bahnte der junge Mann sich seinen Weg durch die dichtgedrängte Menge in den Straßen der Handelsmetropole Grangor. Er ärgerte sich über sich selbst. Er hatte Neferu zu früh über Phexjes Tod unterrichtet, hatte angenommen, sie würde zu ihm eilen und ihn trösten. Wie hätte er auch ahnen können, dass sie stattdessen sofort ihren Kurs ändern und nach einer Lösung suchen würde, die es nicht gab? Er ballte die Faust. Er hätte es wissen müssen, aber Trauer und Verzweiflung hatten sein Urteilsvermögen getrübt. Er hatte sich einfach nicht genug Zeit gelassen die Lage zu beurteilen und vorschnell gehandelt.
Jemand rempelte ihn an.
Mein guter Junge, junges Füchschen, halte mich nicht für ungerecht, aber ich weiß, dass es keine Möglichkeit gibt dich aus Borons Hallen zurück zu holen und sie sollte mir nicht fern sein, obwohl ihre Bemühungen keine Früchte tragen können, dachte er bei sich. Sicher, er vermisste Phexje, aber erstens war er ganz sicher durch die Pforten Alverans geschritten, hatte es dort gut und zweitens gab es keine Möglichkeit die Seele eines Verstorbenen zurück zu holen. Mit gerunzelter Stirn schob er einen feisten Händler zur Seite. Diese Leute waren eine Landplage, aber eine gut zahlende.
Er musste dringend zu dem zweiten Hochgeweihten der Stadt, zu seinem Stellvertreter, zu seinem besten Freund. Er brauchte jemanden, dem er sein Herz ausschütten konnte.
Schnell wich er eine Doppelpatrouille der Stadtgarde aus, die sich aufmerksam umsah und bog dann nach rechts, in Richtung der Schneiderei ab. Ein paar wenige Schritte trugen ihn zu dem bekannten Gesicht hinüber, ehe er sich hinab beugte und dem alten Freund auf die Schulter klopfte.
Kaum, dass dieser den Kopf gehoben und ihn mit einem Lächeln angesehen hatte, spürte auch Phexdan ein Klopfen auf seiner Schulter. Mit gerunzelter Stirn wandte er den Kopf zur Seite.
Wer bei allen zwölf Göttern konnte gerade jetzt etwas von ihm…?
Ein kräftiger Faustschlag traf ihn mitten ins Gesicht. Der Schmerz, der in seinem Kopf explodierte, riss seine Gedanken ein, ließ ihn taumeln. Wie im Reflex zog er seine Hände schützend vor die getroffene Nase. Er spürte eine warme Flüssigkeit über seine Hände fließen. Blut! Er blutete. Der Schlag hatte gesessen. Vorsichtig öffnete er die Augen und blinzelte sich die Tränen des Schmerzes aus den Augen, um den Angreifer sehen zu können.
Ein paar Bettler waren herbeigesprungen und hatten den Unhold gepackt. „Garion…?“, blinzelte der Phexgeweihte irritiert, als die Doppelpatrouille, die er vor ein paar Augenblicken noch passiert hatte den Bettlern ihre Last abnahm und den offenbar wütenden Rondriten mit sich schliff.
„Was bei den Niederhöllen war das denn…?“, fragte er halblaut und sah dem Verrückten nach, wie er von den beiden Gardisten durch die sich teilende Menge gezerrt wurde. Eine Stimme von der Seite riss ihn aus dem Starren: „Da fragst du noch? Er ist eifersüchtig, er hat sich in Neferu verguckt…nicht aufgefallen?“
Der Fechter sah zur Seite auf. Richard, der sonst so wortkarge Begleiter Neferus und Garions.
Rasch entwickelte sich ein Gespräch. Es schien, dass auch Richard, der dunkelhäute Schönling, nicht besonders viel Sympathie für den ach so tapferen Recken der Herrin Rondra empfand. Jedes Wort, das seinen Mund über Garion verließ, schmähte die Bedeutung des Ardariten für das Leben im Allgemeinen und das Richards im Speziellen. Eine Ansicht, die Phexdan, wie ihm seine schmerzende Nase anriet, nur zu gerne teilte. Eine kleine Abkühlung und eine verlängerte Haftstrafe konnten diesem Narren nur gut tun. Doch Richard brachte es auf den Punkt: „Sicher, verdient hätte er es ohne jeden Zweifel, aber zuerst solltest du dich vielleicht in die Obhut eines Heilers begeben, du siehst furchtbar aus.“ Phexdan seufzte, nickte dann aber. Ja, ein Heiler musste her, das bestätigte auch ein Blick auf seine rötlich verfärbten Hände.
Wenig später knackte es vernehmlich.
„Autsch!“, rief der Geweihte Phexens seinen reflexartigen Protest laut heraus. Dieser verdammte Heiler nahm einen beinahe ketzerischen Geldbetrag dafür ihm weitere Schmerzen zufügen zu dürfen, hatte ihm aber wenigstens versprochen, dass er keine bleibenden Schäden davontragen würde. Richard stand mit einem undeutbaren Grinsen zwei Schritt entfernt. Phexdan war bereit zu Richards Gunsten anzunehmen, dass ihm noch immer die Bilder Garions, wie er abgeführt wurde im Kopf umhergingen, als der alternde Heiler eine Art Druckverband auf seiner Nase befestigte.
„So mein Freund…“, begann er mit einem schmalen Lächeln. „Das wird eure Nase zwar heilen lassen, aber ihr solltet sie trotzdem für eine Weile nicht wieder zu tief in fremde Angelegenheiten stecken.“
Fremde Angelegenheiten? Was erdreistete dieser Kurpfuscher sich? Mal völlig davon abgesehen, dass seine Nase eher gesteckt wurde, als dass er selbst sie irgendwo hin gehalten hatte, war die Angelegenheit in der er sich diesen Schlag eingefangen hatte von höchstpersönlicher Natur! Was wusste dieser Quacksalber schon?!
Mit einem bestenfalls höflichen Wort des Abschieds verließ er gemeinsam mit Richard diesen vermaledeiten Metzger und schlug ohne ein weiteres Wort den Weg in Richtung der Wachstube ein. Er war zu dem Entschluss gekommen, den einmal gefassten Plan so rasch wie möglich umsetzen zu müssen um nicht im letzten Moment noch davon abzukommen. Niemand durfte ihm Neferu streitig machen wollen – schlimm genug, dass sie selbst ständig abwesend war. Das Letzte was er brauchen konnte, war ein strahlender Ritter, der ihm seine große Liebe streitig machen wollte!
Mit Richard im Schlepptau bog er nach links, dann wieder nach rechts ab und stand endlich vor dem Bau, der das Hauptquartier der Zweililiengarde beherbergte.
„Warte hier, das mache ich besser alleine.“, raunte er Richard wortkarg zu, ehe er eine Leidensmiene aufsetzte und die ausgetretenen Stufen mit zwei langen Schritten hinter sich brachte.
Im Innern der Wache war es kühler als draußen und für einen Moment fröstelte er. Dann aber besann er sich auf sein Vorhaben und trat mit einem langgestreckten Seufzer an den Tresen, der hier zum Empfang diente.
Ein kurzer Blick des Gardisten reichte um dem Neuankömmling in den durchaus teuren Kleidern seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn sich jemand wie dieser feine Herr persönlich in die Wache bemühte, dann musste sein Anliegen von nicht geringer Wichtigkeit sein.
„Herr Gardist!“, näselte der Geweihte mit falschen Tränen in den Augen aufgeregt. „Hier ist doch heute ein Rondrit verhaftet worden, wegen des Übergriffes auf seinen unbescholtenen Bürger nicht wahr?!“, ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort, die Frage war rhetorischer Natur gewesen. Mit ausladender Gestik deutete er auf seine verbundene Nase. „Seht nur, was er angerichtet hat! Ich bin nicht nur Schausteller, nein, ich führe auch wichtige Gespräche für das Handelsunternehmen meines Onkels. Aber mit dieser Nase…Nein, nein! Mit dieser Nase kann ich keiner meiner Berufungen nachkommen. Die Geschäftspartner meines Onkels würden sich doch über diesen vertrimmten Hallodri wundern, der ihnen als Gesandter geschickt wird. Ich wünsche…Nein…Ich fordere, dass dieser Mann auf das härteste bestraft wird! Immerhin soll er für meinen nicht geringen Verdienstausfall Buße tun!“, gerade so gelang es ihm ein belustigtes Grinsen zu unterdrücken. Nur nicht im letzten Moment noch alles ruinieren. Ein rascher Blick zeigte ihm, dass seine Posse bereits Wirkung zeigte. Der Gardist sah durchaus verärgert aus. Dann ereiferte er sich ihm zu versichern, dass man das höchstmögliche Strafmaß, also eine Woche Kerkerhaft ansetzen wolle um diese Straftat zu ahnden.
Als Phexdan wieder auf die Straße hinaustrat war er durchaus zufrieden mit sich und zwinkerte Richard zu.
„Was hältst du davon, wenn wir einen Tee trinken gehen?“, sein Blick glitt über das nachdenkliche Gesicht des jungen Mannes. „Nur wenn du zahlst.“, antwortete dieser.
Mit einem kurzen Lächeln stimmte er zu. So günstig kam man selten an Informationen, die einen wirklich brennend interessierten. Richard musste eine Menge über Neferu zu berichten haben, vielleicht wusste er sogar wo sie sich derzeit aufhielt!
Das nächste Teehaus lag drei Straßen weiter auf der rechten Seite. Ein niedriger Bau mit offener Front, ein wirklich gemütliches Fleckchen Deres. Die beiden bestellten Tees waren schnell gebracht, das Gespräch rasch entflammt. Zu seiner Enttäuschung musste Phexdan jedoch schnell feststellen, dass Richard ebenso wie er absolut keine Ahnung hatte, wo die schöne Dunkelhaarige, mit den tulamidisch anmutenden Augen sein mochte. Wenigstens konnte er mit einigem Wissenswerte über die Holde selbst aufwarten, das war besser als nichts und den Preis für den Tee allemal wert.
Gerade hob er die tönerne Tasse wieder an seine Lippen, als ein bunt gekleideter Gaukler in das Teehaus stürmte und sich rasch zu ihm hinab beugte um ihm etwas ins Ohr zu flüstern:“Phexje…Er…Er lebt…im Tempel.“ Phexdan riss die Augen auf und spuckte den Tee in die Tasse zurück, ehe er dem Mann einen erschrockenen Blick zuwarf. „Richard! Los komm mit!“, brachte er noch über die Lippen, ehe er in einen raschen Lauf verfiel, bei dem er sich nicht sicher war ob Richard würde mithalten können.
Phexje lebte? Hatte Neferu Recht behalten? Hatte er eine Möglichkeit übersehen eine Seele aus den Hallen des stillen Gottes zurück zu rufen? War es richtig das zu tun? War all das wichtig?
Rasch sprang er über einen Marktkarren hinweg, dessen Besitzer ihm etwas hinterherrief, das er nicht verstand. Seine Lungen begannen zu brennen, als er durch die kleine Tür in der Umfriedung des Gartens des Efferdtempels hechtete und auf die kleine Hintertür des Bauwerks zuhielt.
In dem plötzlichen Zwielicht der großen Tempelanlage erblindete er einen Moment, lief aber nichtsdestotrotz weiter. Er war oft hier gewesen, hatte den Weg auswendig gelernt, fand ihn im Schlaf. Ob Richard ihm würde folgen können, ob er überhaupt noch hinter ihm war, war zweitrangig. Er musste mit eigenen Augen sehen, was der Mann ihm berichtet hatte.
Hinter einer Ecke bog er scharf in eine dunkle Nische ab und riss die dort verborgene Falltür auf um – die Leiter missachtend – einfach direkt in das Dunkel zu springen und seinen Weg dann auf dem schnellsten Weg fortzusetzen. Ohne langsamer zu werden durchquerte er die noch im Bau befindliche Haupthalle des Phextempels und hielt auf die Tür gegenüber zu, vor der sich einige Neugierige versammelt hatten.
Vor dem Holz der stabilen, geschlossenen Tür hielt er inne als sei er gegen eine unsichtbare Barriere gestoßen. Was, wenn die Nachricht falsch gewesen war? Was wenn der Junge nur für einige letzte Worte aus den Hallen des dunklen Gottes zurückgekehrt und längst wieder gestorben war?
Er konnte einfach nicht gleich hinein! Rasch sah er sich um. Richard!
Schnell griff er zu und schob den Halunken vor sich her auf die Tür zu. „Geh du zuerst! Ich trau mich nicht!“, gab er ihm mit auf den Weg, ehe er ihm einen letzten Schubs gab und ihn durch die Türöffnung in den Raum verschwinden sah.
Zwei…Vielleicht drei Sekunden ertrug er die folgende Stille, dann schlich er sich wie eine Grabräuber in die Kammer mit dem ersehnten Schatz durch die Tür und lugte über Richards Schulter. Tatsächlich. Auf dem Bett lag der Junge und sah sich verwirrt in dem Raum um. Neferu hatte es wirklich geschafft, der Junge war wieder unter den Lebenden und erfreute sich – zumindest dem Anschein nach – bester Gesundheit.
Sein Blick glitt zu den anderen Anwesenden. Außer ihm, Richard und Phexje waren nur noch zwei andere Personen im Raum. Einerseits ein Geweihter des Fuchses und andererseits ein äußerst griesgrämig anmutender Geweihter des Totengottes, dessen schwarze Robe die Würde seines hohen Amtes unterstrich. Seine langen, bleichen Finger tasteten den Jungen ab, der den Boroni mit äußerster Skepsis und stets bereitem Holzfuchs beäugte.
„Phexje!“, brach es endlich aus Phexdan hervor, als er Richard zur Seite schob und auf das Bett zustürmte.
„PSCHT!“, entkam es der schwarzen Robe, die in ihren Tiefen ganz sicher irgendwo einen Geweihten beherbergen musste.
Doch in diesem Moment konnte er keine Ruhe zeigen. Sein längst tot geglaubter, kleiner Bruder war zurück. Neferus Künste und ihre Gerissenheit wollte er in einem Gesang vor Phex loben. Der Anblick des missmutigen Boronis ließ ihn davon absehen – vorerst.
Er drückte den Jungen an sich. Er war wahrhaftig zurück!
Erst nach Minuten entließ er den Jungen aus seiner Umarmung. Als hätte er auf diesen Moment gewartet beugte der Diener des Rabengottes sich vor und zog aus dem weiten Ärmel seiner Robe eine Kette mit Amulett hervor, um sie dem Jungen umzulegen, eher er mit einer erstaunlichen Gewandtheit dem Angriff eines Holzfuchses auswich und dem offensichtlichen Unwillen des kleinen Jungen nachgab. „Lasst ihm seine Ruhe, er wird sie brauchen, so wie sie jeder Mensch tief in seinem Innern braucht.“, ließ er flüsternd verlauten und scheuchte die Anwesenden mit knappen Gesten aus dem Raum.
Phexdan winkte dem Jungen ein letztes Mal zu und ließ sich dann von dem schwarz Bekutteten hinausschieben. Das…Bedurfte einer Feier!
„Richard! Ich lade dich ein. Wir trinken auf Neferu!“, rief er auf dem Weg hinaus in den umfriedeten Garten des Efferdtempels und schlug sogleich den Weg in Richtung der nächstbesten Taverne ein.
Wie es zu erwarten war, folgte Richard seiner Einladung ohne zu zögern. Ein breites Grinsen legte sich auf die Miene des jungen…Ja…des jungen was eigentlich? Phexdan hob die Schultern. Was scherte es ihn? Die Frau, in die er sich verliebt hatte stand im Bund mit den Göttern und hatte seinen kleinen Bruder zurück geholt! In den nächsten Tagen würde sie an seine Seite zurückkehren und das Leben wäre perfekt!
„Wirt! Macht mir das zu Alkohol! Es gibt etwas zu feiern!“, mit einer geschickten Handbewegung warf er dem Mann hinter dem Tresen einen Beutel mit 15 Dukaten hin.
Der Abend verging rasch. Die 15 Dukaten waren mehr als gut angelegt gewesen. Phexdan und Richard hatten um die Wette getrunken, immer wieder auf Phexje oder Neferu angestoßen und sich gegenseitig mit Lobeshymnen zu übertrumpfen versucht.
Plötzlich aber wurde Richard ernst: „Wasch glaubse war der Preisch, den se zahlen musste, hm?“, lallte er ihm entgegen. „Meinse sie hat ihre S- *hicks* Seele eingetauscht? Also…seine gegen ihre?“
Phexdan musste schlucken. Neferu tot? Für Phexje? Der Nebel um sein Hirn wusste Rat. Er musste nur mehr trinken um diesen Gedanken zu vertreiben. Er brauchte mehr Alkohol!
Fahrig fingerte er an dem Beutel an seinem Gürtel herum, den er dabei beinahe öffnete und warf ihn dann dem Wirt zu, wobei er knappe zwei Schritt zu weit nach rechts zielte. „Machma noch mehr!“, entkam es ihm mit schwerer Zunge. Neferu war nichts passiert! Niemals hätte sie sich einfach so aus seinem Leben entfernt! Ein letztes Mal spürte er den Alkohol in seiner Kehle brennen, dann begann die Welt sich in atemberaubender Geschwindigkeit um ihn herum zu drehen, ehe ihm schwarz vor Augen wurde.
Donnerbach 2 (Neferu)
Die Tage waren rasend schnell vergangen.
Der Abschied aus Grangor bei dem sie Phexje in den Arm genommen und er ihr versprochen hatte, dass sie sich in zwei Monden wiedersehen würden.
Die Reise nach Donnerbach über Trallop und der kurze Aufenthalt während der namenlosen Tage in dieser Rondrahochburg. Garion hatte sich den Tempel seiner Löwengottheit angesehen, Neferu war mit ihren Gedanken wieder lange bei Phexdan – Zwei Monate war er fort. Irgendwo… Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sich der dunkelhaarige Halbmaraskaner aufhielt. Alles, was er hatte durchblicken lassen war die Tatsache, dass es nicht gefährlich werden würde.
Dann der Brief Phexdans: Phexje war einer langen Krankheit gegenüber der endgültige Verlierer geworden. Endgültig? Nein… Das wollte sie nicht glauben, nicht einsehen. Es musste eine Möglichkeit geben… Der Tempel des Phex würde dem grangorischen Hochgeweihten Bescheid geben. Sie würde einen Weg finden…
Es war wenig los gewesen in Donnerbach. Nach zwei Tagen hatten sie sich entschieden zu gehen – eine Kutsche fuhr nicht. Immerhin saß Phexdans blaue Kleidung an ihrem Leib jetzt besser, seit der Schneider Hand angelegt hatte.
Sie strich über den eng anliegenden Stoff, während sie durch die Nacht stiefelte. Tobrien… Ein ihr völlig unbekanntes Land befand sich unter ihren Füßen. Hier würde sie jemanden Treffen. 3000 Dukaten… Ein kleines Vermögen, aber Phexjes Leben war dieser Mammon alle mal wert. Sie fasste sich ein Herz als sein Klopfen sich verschnellte. Sie war allein… Allein und einsam des Nachtens unterwegs zu Dämonenpaktierern. Schweigend schluckte sie den Gedanken fort und konzentrierte sich auf ihre Gedanken.
Kaum hatten sie Donnerbach zu Fuß verlassen, hatte eine alte Frau sie auf einen Waldpfad in den Blautann aufmerksam gemacht. Eine Abkürzung? Der Wald lag in der Düsternis gespenstisch, aber lockend da. Sie spürte das angenehme Kribbeln in der Magengegend, als sie die Tannenzweige zur Seite bog und gefolgt von Garion dem schmalen Waldpfad dem Finsterkamm entgegen folgte.
Ein schwarzer Hund. Seltsam… Er führte sie zu einer wunderschönen Frau. Eine Hexe? Glitt es Neferu sofort durch die Gedanken, ehe sie sie schnellstens stoppte – man sagte, Hexen seien in der Lage Gedanken zu lesen.
Zehn Dukaten für jeden, um Instrumente zu spielen, die immer die schönsten Melodien anstimmten. Neferu war der Meinung selten einfacher Gold verdient zu haben.
Ohne es zu ahnen waren sie auf ein Treffen der Hexen Aventuriens gestoßen – gemeinsam brauten sie bei Tanz, Festessen und Musik hier zu dieser Jahreszeit ihre Flugsalbe. Etwas kutschüberfahren fühlte sich die Garetherin schon, aber sie hatte schon immer neugieriges Interesse für diese Frauen gehabt. Also, warum nicht? Ihr Blick huschte ab und an zum manchmal etwas verknöcherten und konservativen Rondriten, aber auch der hielt die Füße still. Ob es ihm eine der schönen Hexerinnen angetan hatte?
Überall Tiere, die mit ihnen Musik anstimmten, tanzende, sich im Wind wiegende Hexen – ein wenig hatte Neferu dann doch das beschämende Gefühl auf einem Mohacca-Trip zu sein, aber sie konzentrierte sich um Seriosität bemüht auf ihre Silberquerflöte.
Dann tauchte der verwundete Pallikratz auf, der Kater von Luzelin, der „Oberhexe“. Diese war von ihrer Gegenspielerin Achaz entführt worden. Neferu ahnte Fürchterliches – sie hatte besseres zu tun, aber andererseits… Hexen auf ihrer Seite? Das konnte sich in der Zukunft nur als Vorteil erweisen…
Als hätte sie es nicht geahnt.
Garion und sie selbst wurden für den Geiselabtausch gegen den Topf Flugsalbe auserwählt. Gesagt, getan. Dummerweise legte die alte Achaz sie widerlich lachend und in ihrem fliegenden Fass fliehend rein.
Aber so einfach ließen sich der Bornländer und die Halbtulamidin nicht abschütteln. Sie entdeckten zuerst Achaz‘ Haus, welches sich an den Finsterkamm schmiegte und durchsuchten es penibel, wobei sie einige Versuchstiere befreiten und die eigentümlichsten magischen Gegenstände entdeckten (und zum Teil mitnahmen).
Doch auch in diesem Haus keine Luzelin. War da nicht noch eine Hütte im Wald? Hütte Hühnerbein, eine laufende, kleine Behausung, die aufs Wort gehorchte – vorausgesetzt man reimte. Es dauerte nicht lange und die zwei Reisenden lauerten dem Hühnerbein auf. Sie kamen durch feines Reimen rein in Hühnerbein, aber… Drinnen erwartete sie neben einer eingesperrten Taube, die eine Nadel in der Brust stecken hatte auch der Dämon Nirraven in gigantischer Rabengestalt.
Sie besiegten den Raben, vertrieben die kurz hereinschneiende, aber anscheinend überforderte Achaz und verliehen Luzelin (der weißen Taube) wieder ihre ursprüngliche Gestalt.
Der Dank der Hexen war nicht nur für Neferus Seele Balsam, auch ihr Zweckdenken war hocherfreut, als sie die silberne Querflöte behalten durfte und ihr erklärt wurde, wie sie das Armband der Gestaltwandlung würde verwenden können. Wunderbar.
Und Hexenfreunde… So durfte sie sich fortan nennen. Praktisch, wirklich überaus praktisch.
Kaum wieder in Gareth war auch Richard, hergelockt durch einen Schrieb Neferus anzutreffen. Sie warfen all ihr Gold zusammen, verkauften Ketten und Wertgegenstände, nahmen tausend Dukaten von der Nordlandbank auf, bis sie eine beträchtliche Summe zusammen hatten – 3000 Dukaten. In Worten dreitausend.
Von jetzt an ging es allein weiter. Sie wollte Richard und Garion ihre Pläne weder wissen lassen, noch sie hinein ziehen.
Dämonenpaktierer… Dämonen… Asfaloth.
Sie kannte das Risiko. Mit klappernden Zähnen kam sie an die alte Hütte, die als Treffpunkt diente. Wenigstens gab es kein Wiedererkennungsrisiko. Das Armband mit dem blauen Stein leistete gute Dienste und hatte sie in eine schwarzhaarige Schönheit mit blauen Augen verwandelt.
Warum rettete sie Phexje? Warum nahm sie soviel Risiko, soviel Gefahr für ihre eigene Seele auf sich für einen kleinen Jungen? Sie wusste, dass es mehrere Gründe gab. Er war vom selben Schlage wie sie selbst, er gehörte zu Phexdan und… sie war sich bewusst geworden dass, was das Kind für sie empfand auch andersherum galt: Sie liebte Phexje wie einen Bruder.
Trallop 1 (Garion)
Sie hatten die Kutsche für den Rest der Zeit für sich alleine gehabt, waren ungestört gewesen. Neferu hatte ein wenig mit ihm gesprochen und sich gegen ihn gelehnt. Hatte ihn gestreichelt und ihn mit ihrer sanften Stimme verwöhnt, ihn sogar mit dem Thema Phexdan verschont. Er war in ihren Schoß gesunken, hatte sich den Kopf von ihr kraulen lassen und sich an die Vorstellung geklammert, dass es ein Traviabund zwischen ihr und ihm sei, der bevorstand. Ihre sanften Finger auf seiner Stirn, an seiner Wange und in seinen Haaren waren ihm zum Genuss geworden und hatten ihn in Borons Arme hinüber geleitet. Es war ein angenehmer Traum, der ihn dort umsorgt hatte, ein Traum der sein Leben mit einer einzigen Veränderung der Realität gegenüber perfekt gemacht hatte – dann war er wieder aufgewacht. Auf seinem Gesicht hatte er Tränen gespürt, die Tränen Neferus. Auch sie hatte sich von dem sanften Schaukeln der Kutsche in den Schlaf wiegen lassen. Ihr Traum allerdings schien ihr etwas anderes offenbart zu haben als die Schönheit einer winzigen Veränderung. Sie war wieder in Schweigen verfallen und hatte sich ihm verschlossen.
Er hatte sie umarmt, ihr beruhigend den Nacken geküsst, aber ihre Tränen waren nicht versiegt. Die Feuchtigkeit auf ihren Wangen hatte in ihm einen furchtbaren Verdacht keimen lassen, den er wenig später bestätigt fand. Neferu hatte von ihrer eigenen Zukunft in Grangor geträumt…einer Zukunft in der offenbar weder Phexdan noch er vorgekommen waren. Sie war alleine mit ihrem und Phexdans Kind zurückgeblieben, einem Kind, das seine Gesichtszüge, aber ihre Augen und ihr Haar getragen und verzweifelt nach seinem toten Vater gefragt hatte…seinen Tod nicht hatte begreifen können und ihn eher als eine Art lange Reise verstanden und Phexdan nach einem oder zwei Götternamen zurückerwartet hatte.
Garion blinzelte mehrfach. Er lag noch immer auf dem Rücken, hatte sich kaum gerührt. Die Geräusche der Regentropfen auf seinem Zeltdach waren seltener geworden und ein Blick in Richtung seiner Füße zeigte ihm, dass es sich bei den wenigen Treffern nur noch um die Tropfen handeln konnte, die den Ästen des Baumes über ihm zu schwer wurden.
Statt des Regens benetzten nun seine Tränen den Boden neben sich. Vor einigen Wochen in der Kutsche hatte er in seinem Schreck über Neferus Trauer etwas übersehen, was ihn nun mit voller Härte einholte. Er war in ihrem Traum nicht vorgekommen…nicht einmal als Ersatzvater für ihren Jungen oder wenigstens als tröstender Freund. Er war wie weggewischt gewesen, wie eine vergessene Erinnerung, wie einer der vielen Teile eines Menschenlebens, die erstanden, existierten und vergingen ohne vermisst zu werden.
Rasch drückte er seine Lider aufeinander. Doch auch das konnte den Fluss seiner Tränen nicht aufhalten. Immer wieder sah er vor seinem inneren Auge eine verzweifelte Neferu, die sich trotz ihrer Trauer und ihrer Ängste nicht an ihn erinnern wollte. Die plötzliche Wärme der Tränen auf seiner Wange, die die Kälte der Nacht gewohnt war, ließ ihn erbeben. Niemals durfte ihr Traum in dieser Form Wahrheit werden. Selbst wenn er Nefs Seite für eine Weile verlassen sollte, würde er ein so schwerwiegendes Ereignis erfahren und an ihre Seite eilen, da war er sich sicher.
Er schluckte unter der Last seiner Tränen schwer und rieb sich mit einem leisen Schluchzen über die trockene Kehle.
Er hatte tatsächlich geplant sich einen Rückzugsort für den Fall seiner Niederlage zu schaffen, etwas, dass ihm im Falle des schwersten Verlustes etwas bieten konnte, das ihn am Leben erhielte, das ihm die Nähe zu Neferu wenigstens suggerierte. Der Plan war schon eine Weile in ihm gereift, doch fehlten noch einige Dukaten und ein Besuch bei seinen wahren Eltern um ihn umsetzen zu können.
Nie hatte er es zugegeben, nie mit jemandem darüber geredet, aber außer Neferu waren Prajeg und Felia die einzigen Menschen, denen er weit genug vertraute um vor ihnen zu weinen. Seine Gedanken glitten zu seinen Eltern, besonders zu seiner liebenden Mutter. Sie hatte schon in den frühesten Jahren stets Verständnis für ihren Ältesten gehabt, hatte sich geduldig seine Sorgen angehört und ihm Trost gespendet, wann immer er ihn gebraucht hatte.
Er presste seine blassen Lippen aufeinander und atmete tief ein. Seine Mutter würde ihm die Hilfe nicht verweigern, das wusste er.
Er hatte Neferu nach ihrem Traum zu beruhigen versucht. Hatte ihr versichert, dass ihr geliebter Phexdan schon auf sich aufpasste und ganz sicher nicht früh starb. Sie hatte sich beruhigt und aus dem Fenster gesehen, hinaus auf die rasch vorbeiziehende Landschaft des tralloper Umlandes.
Am selben Abend hatten sie die Stadt erreicht und sich in eine kleine Kaschemme zurückgezogen, die auf den klangvollen Namen „Kreuzergrab“ hörte. Der Wirt und auch die Gäste dort waren Garion ein wenig horasisch vorgekommen, aber die Gedanken waren wie hinweggefegt, als der Wirt ihnen großherzig erlaubte ein Einzelzimmer zu zweit zu beziehen. Der Rondrit war froh gewesen nicht getrennt von Neferu schlafen zu müssen und hatte sich mit ihr das Bett geteilt. Es hatte eine Weile gedauert, aber schließlich hatte er sich an den warmen Leib der Frau geschoben, die er liebte die aber den Traviabund mit einem anderen plante, und war eingeschlafen.
Der nächste Morgen hatte ihn unsaft aus dem Schlaf gerissen. Er hatte das laute und unnachgiebige Klopfen an der hölzernen Tür der Kammer bis in seinen Traum gehört und war nur unwesentlich nach Neferu erwacht. Garion war noch halb dem Schlaf verhaftet gewesen, hatte sich aber trotzdem aufgerichtet um Neferu den Weg zu ersparen. An der Tür hatte ihn der Wirt des Kreuzergrabes erwartet und ihn gefragt ob eine Neferu Banokborn in seinem Zimmer sei.
Er hatte ihm zur Antwort mit gerunzelter Stirn zugenickt und das Pergament an sich genommen, das der Wirt bei sich trug.
„Ein Bettler hat es vorbei gebracht, ich glaube ich hab‘ den schon öfter beim Tempel des Phex gesehen.“, diese Worte hatten gereicht um Nef das Stück Pergament sofort einfordern und lesen zu lassen, während Garion sich neben sie setze.
Das Lesen der Nachricht konnte kaum mehr als fünfzehn Augenblicke gedauert haben, doch hatte sie mindestens sechzig auf das Geschriebene gestarrt, ehe sie sich mit Tränen in den Augen zurück auf das Bett geworfen hatte.
Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen um die letzten Tränen zu verscheuchen und legte seine Hände dann unter dem Kopf zusammen. Noch immer sah er den Brief vor Augen, er hatte ihn immer und immer wieder gelesen, er lautete:
„Phex zum Gruße Neferu,
die Zeit ist gekommen, da du erfährst, was mich davon abgehalten hat dich zu meinem Eigen zu machen. Schon seit Jahren hat sich der junge Phexje mit einer Abart der Blauen Keuche gequält. Damals, als ich davon erfuhr habe ich ihm geschworen, dass ich nur für ihn da sein werde, so lange er lebt. Wir haben abgemacht, dass eine Frau mich davon mit Sicherheit abbringen würde. Und ich daher seine Zustimmung…oder seinen Tod bräuchte. Unglücklicherweise muss ich dir mit dieser Nachricht mitteilen, dass beides zusammenfällt. Phexje hat vor nicht ganz zwei Stunden den Kampf gegen seine Krankheit verloren und mir auf dem Sterbebett verraten, dass er dich liebt wie eine Schwester. Ich werde deine Rückkehr voller Sehnsucht erwarten. Wir sehen uns in 3 Wochen.
In dir ewig zugetaner Liebe,
Phexdan“
Er runzelte die Stirn und räusperte sich. Er hielt es nicht länger aus hier herum zu liegen, die Enge des Zeltes machte ihm normalerweise nicht zu schaffen, aber da er ohnehin nicht schlafen konnte, wirkte sie auf ihn wie ein Gefängnis. Mit vorsichtigen Bewegungen rutschte er zum Fußende der Schlafstatt und krabbelte schließlich ein wenig steifbeinig ganz heraus. Ein frischer Wind strich ihm um die Nase und ließ ihn frieren, während er einen kurzen Blick über den Lagerplatz gleiten ließ. Richard war tatsächlich schon verschwunden, wie er es vermutet hatte. Die Gegend war nicht sonderlich gefährlich, sie waren keine fünfzig Schritt von der Reichsstraße entfernt, wilde Tiere oder Räuberüberfälle waren hier nicht zu befürchten, so hatten sie sich darauf verständigt auf eine Wache zu verzichten.
Wenn er sich recht erinnerte, dann hatte er bei errichten des Lagers nicht weit entfernt einen kleinen Bach glitzern sehen, dessen Ufer flach und einfach zu erreichen war.
Kurzentschlossen griff er nach seiner Krötenhaut und warf sie sich über. Sie würde den Wind abhalten und unerwartete Begegnungen im Unterholz ungefährlicher machen. Für einen Moment sah er auch zu seinem Schwert hinüber, verwarf den Gedanken dann aber, er würde es nicht brauchen, im Falle eines Angriffes könnte er sich auch so wehren – davon, dass er keinen Kampf erwartete einmal abgesehen. Auf dem Weg zu dem leise glucksenden Gewässer wandten sich seine Gedanken wieder Vergangenem zu.
Neferu war nicht lange erstarrt geblieben, sie hatte sich rasch angekleidet und war mit einer Eile auf die Straße hinaus gerannt, die Garion vollkommen überrascht hatte. So war es gekommen, dass er erst Minuten nach ihr auf die Straße hinaus getreten und sie nur noch in der Ferne gesehen hatte. Aufzuholen war ihm unmöglich gewesen, nur bis zu einem Bettler, der an einer Gabelung der Straße mit dem Rücken an einen Brunnen gelehnt saß, hatte er ihr folgen können ehe er sie aus den Augen verlor. Nervös und zum Warten verdammt war er auf dem Vorplatz des Brunnens im Kreis gelaufen, den Kopf voller Gedanken und das Herz von ihren Tränen beschwert.
Damals war die Zeit ihm lang geworden. Er war unsicher gewesen ob sie aus dem Phextempel, den sie hatte aufsuchen wollen zurückkommen würde oder ob sie sich bereits ein Pferd oder eine Kutsche zurück nach Grangor organisierte. Da er aber nun darüber nachdachte, konnte er nicht viel länger als fünf, vielleicht zehn Minuten gewartet haben, ehe sie aus einer der Seitengassen links von ihm hervorgetreten war und auf ihn zugehalten hatte. Ein seltsames Lächeln hatte ihre Lippen umspielt und ihn erleichtert durchatmen lassen, dann hatte sie ihn fest umarmt und an sich gedrückt.
Mit einem Lächeln sah er auf das im Licht des Madamals funkelnde Wasser hinab. Irgendwo in der Nähe quakte leise ein Frosch oder eine Kröte. Von hier oben sah der Bach dunkel, beinahe schwarz aus.
Noch einmal sah Garion sich aufmerksam um, ehe er langsam in die Hocke ging und eine Hand nach der belebenden Kälte des Gewässers ausstreckte. Leise glucksend umspülte das Wasser des flachen Bächleins seine Finger, trieb einen kleinen Ast dagegen, riss ihn aber sogleich wieder mit sich fort. Ob es das war, was die Götter sahen, wenn sie das Leben eines Menschen beobachteten? Einen Stock, eine unbelebte Materie, die vom Strom der Zeit davon gerissen wurde?
Rasch griff er nach dem Stock und zog ihn aus den kalten Fluten um ihn einen Moment in Händen zu drehen. Schließlich aber legte er ihn zur Seite. Philosophie war nie seine Stärke gewesen und es gab wahrlich Wichtigeres um das er sich Gedanken machen musste.
Mit zwei Fingern massierte er seine Nasenwurzel. Er spürte noch immer keine Müdigkeit obwohl die Nacht dem Morgen sicherlich bereits näher war als dem Abend. Seufzend ließ er sich am Ufer des kleinen Bachs auf den Hosenboden fallen.
„Ich muss noch zu einem Schneider, Garion! Diese Tunika muss an der Taille dringend enger gemacht werden.“, hatte Neferu gesagt und das königsblaue Kleidungsstück mit ihren Händen so in Form gezogen, dass es ihren kurvenreichen Körper voll zur Geltung gebracht hatte. Ja, er war ganz ihrer Meinung gewesen, es musste dringend enger gemacht werden – sie sah wundervoll aus.
Sie waren auf dem schnellsten Weg in das Kreuzergrab zurückgekehrt um ihre Sachen zu holen. Dort jedoch hatten sie Zweifel beschlichen, ob die Zeit tatsächlich noch reichen würde einen Schneider aufzusuchen. Die Stunde zu der sie sich wieder bei der Kutsche einfinden sollten war schon sehr nahe gerückt, sodass sie sich entschlossen auf den Besuch der Schneiderei zu verzichten und besser sofort die Kutschstation aufzusuchen.
Dort angekommen waren sie von einem verwunderten Kutschfahrer begrüßt worden:“Guten Morgen. Ich hatte euch gar nicht so früh hier erwartet. Es sind doch noch mindestens vierzig Minuten bis zur zehnten Stunde.“, er hatte über das mangelnde Zeitgefühl der beiden gegrinst, ihnen aber dennoch erlaubt ihr Gepäck schon auf das Dach der Kutsche zu laden. In der übrigen Zeit war es ihnen dann tatsächlich gelungen einen Schneider – einen erstaunlich geschickten Thorwaler – aufzutreiben, dem es gelang die Tunika mit einigen, wenigen Stichen in die gewünschte Form zu bringen. Nicht einmal teuer war der Besuch gewesen, obgleich Neferu sich auch einen Satz neue schwarze Stiefel gekauft hatte. Als sie wieder zu der Kutschstation zurückgekehrt waren, waren sie noch immer einige Minuten zu früh dran gewesen, hatten sich aber schon in der Kutsche niedergelassen und sich leise unterhalten.
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