Bettler und Gaukler

Grangor 11 (Neferu)

Sie fühlte sich gelähmt wie das Kaninchen vor der Schlange und starrte beirrt und wie die Personifikation der Konfusion geradeaus. Noch hatte sie nicht gewagt den Blick zu Phexdan zu wenden, der sich lächelnd neben ihr an das Brückengeländer gelehnt hatte.
Ihre Zunge fühlte sich an wie ein trockener Lappen, der am Gaumen klebte und die intensiv grünen Augen begannen zu brennen, da sie vergessen hatte sie auch ab und zu schließen zu müssen. Nie zuvor hatte sie so viele Stimmen gleichzeitig in ihrem Kopf gehabt, so dass sie vollkommen weggetreten in der Welt ihrer wirren und schnellen Gedanken gefangen war. Wo kam Phexdan so plötzlich her? Hatte er gelauscht? Wo war Maran? Hatte Maran Phexdan zu ihr geschickt? War Phexdan Maran? Wie konnte das sein? Fast gleichzeitig schlich sich ein Wort in ihr Unterbewusstsein. …Schattenlarve… Leise geflüstert übertönte der Begriff in einem Bruchteil von Sekunden alle anderen Spekulationen und Ideen, die sie in der Zeit des letzten Atemzuges innerlich im Zeitraffer ausgesprochen hatte.
Mit Hintern und Rücken lehnte sie gegen das steinerne Brückengeländer. Sie hatte sich mit nach hinten geführten Armen abgestützt, mittlerweile drückte sich jeder einzelne Finger schmerzhaft gegen das harte Material, so dass jegliche Farbe aus ihm wich.
Mühsam trennte sie ihre Zunge von ihrem Gaumen und schluckte schwer herunter. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sie es geschafft hatte in ihrer Entrückung den Kopf zu ihm zu wenden. Mit sanfter Leichtigkeit lächelte er ihr wissend entgegen.
„Wo… kommst du her..?“ wisperte sie schließlich heiser und hoffte inständig auf eine Antwort, die sie zufrieden stellen konnte. Doch seine Antwort, die sie angstvoll vorhergesehen hatte, traf sie wie ein weiterer Schlag mitten ins Gesicht:
„Ich war doch die ganze Zeit da…“

Ihr Blut wallte heiß und unkontrolliert in die Richtung ihres Kopfes und wurde in Schüben abgelöst von kalter Gänsehaut. Sie erwartete, dass ihr jeden Moment schwarz vor Augen werden würde, doch es kam anders. Ihr Fluchtinstinkt war ob dieser unvergleichlichen Verlegenheit, nein…Scham, oder besser noch angstvollen Panik angeschlagen. Und ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und rannte blindlings über die menschenbefüllte Brücke. Sie schob und stieß, und bahnte sich wie ein fliehendes Tier, das keinerlei Rücksicht mehr nehmen konnte, ihren Weg. Fort. Sie wollte einfach nur fort. Welchem Spott hatte sie sich ausgesetzt! Sie hatte ihm in Unwissenheit ihr Inneres nach außen gekrempelt, sich einmalig verletztbar gemacht und nun musste sie… weg. Weit weg, ehe sie sich weiter der Lächerlichkeit preisgeben konnte.

Natürlich hatte sie ihn unterschätzt. Sie musste zugeben, sie hatte in keinem Fall damit gerechnet, dass er ihr nachkommen würde. Er war nicht der Typ, der anderen nachlief – jemand der vor Phexdan davonlief hatte selbst Schuld.
Am Ende der etwa 50 Schritt langen Brücke hielt sie inne und sah zurück mit der absoluten Gewissheit, dass er nicht länger in Sichtweite sein würde, aber schon stand er neben ihr.
Er war ihr nachgekommen.
Ihr Kopf ruckte zur Seite und der letzte Ausweg schien das Wasser des Kanals. Sie sprang. Wieder hatte sie ihn verkannt… Er sprang hinterher.

Sie schwamm wie um ihr Seelenheil, aber unter einer der Brücken holte er sie ein, da sich ihre Kleidung an einem Nagel verfangen hatte, der aus einem der hölzernen Pfeiler ragte. Zu spät. Er schwamm ihr Gegenüber, dass er Neferus bleiches (trotz Bräune) Gesicht sehen konnte und sah sie an, während seine Schwimmbewegungen ihn auf der Stelle hielten. Sie war außer Atem und rang nach Luft – er hingegen hatte sich anscheinend nicht einmal abmühen müssen ihr hinterherzukommen, sein Atem ging fast normal schnell.
Ihr Haar lag nass an ihrem Kopf an, ebenso wie seines, während sie sich im Schlagschatten der Brücke begegneten. Ihre flammenden grünen Augen starrten ihm entgeistert und vollkommen perplex entgegen, während ihr verschnellter Atem den offenen Lippen entkam. Sie sagte nichts. Das plätschern des Wassers, wie es rhythmisch ans Kanalufer schlug dominierte ebenso wie der Lärm der Menschen über ihnen die Akkustik.
„Warum musstest du auch in den Kanal springen? Das kann gefährlich sein… So musste ich dir wohl oder übel hinterher.“ sprach er ruhig, die Stille zwischen beiden durchbrechend. Außer ihren stetigen Schwimmbewegungen, die sie über Wasser hielten, war an Neferu kein Lebenszeichen zu bemerken.
Er kam ihr näher und schlang den rechten Arm um ihre Hüfte. Ihre Steifheit übertraf die eines Brettes bei weitem. Ihrer Kleidung wurde ein Loch gerissen, wo sich der Nagel verwickelt hatte, als er sie an sich zog. Sie hielt endgültig den bereits flach gehaltenen Atem an.
Behutsam hob er die verstörte junge Frau aus dem Wasser.

Tropfnass saß sie auf dem Stein, mit angezogenen Beinen. Phexdan hob sich ebenfalls aus dem Nass und wieder wurde sie seines athletischen, schönen Körpers gewahr, der sich deutlich unter der tropfenden Bettlerkleidung abzeichnete, die zuvor Maran getragen hatte und setzte sich unmittelbar neben sie, ohne sie jedoch weiter zu berühren.
Noch immer fiel ihr das Blinzeln schwer und entrücktes Starren und Ausdruckslosigkeit dominierten ein nichtvorhandenes Mienenspiel.
Nach mehreren Minuten öffnete sie dann doch die mittlerweile vor Kälte lila gefärbten Lippen.
„Wie… geht es deinem Garten?“ raunte sie weit weg.
„Gut. Er gedeiht prächtig… Und, was sagst du zum Wetter heute?“
Schnell wie ein Pfeil, der von der Sehne gelassen wurde antwortete die Streunerin aus Gareth, noch immer ohne zu seiner nahen Gestalt herüberzusehen.
„Der Himmel ist blau und die Sonne scheint, aber… es ist dennoch recht kühl.“
Er lachte erheitert auf: „Eigentlich meinte ich nur… dass das eine ähnlich peinliche Frage sei wie die nach meinem Garten.“

Neferu runzelte matt die Stirn und wagte nun einen Blick zur Seite. Da saß er. Phexdan, zum Greifen nahe. Phexdan, der nun praktisch jedes Gefühl kannte, das ihr Geist und ihr Körper im geheimsten Inneren beherbergten.
„Wieviel lächerlicher kann ich mich denn heute noch machen… Ich habe mir die ultimative Blöße gegeben.“ Sprach sie bitter und brachte damit ihre verworrenen Gedanken auf den Punkt. Mittlerweile begann sie zu zittern. Die nasse Kleidung entzog ihrem Körper die Wärme und ließ sie beben wie Espenlaub. Als er ihres Zustandes bewusst wurde, legte er wärmend einen Arm um ihre Schulter. Die Bettler, die überall die Wege der nähe säumten, wandten sich sichtlich von der Szenerie der beiden ab.
„Warum denkst du, es sei etwas Schlechtes, dass ich nun weiß, was du für mich empfindest?“ erklang seine sanfte Stimme an ihrem Ohr.
Sie verstand die Welt nicht mehr. Hatte sie sich so in ihm getäuscht? War sie ihm tatsächlich aufgefallen?
„Ich will… wie ich auch Maran bereits sagte… nicht nur ein einzelner Finger von vielen für dich sein, sondern… gleich beide Hände.“ wiederholte sie tonlos flüsternd, was ihr augenscheinlich viel Überwindung kostete.
„Was hindert dich daran?“ sprach die männliche Stimme ruhig.
„Du schläfst mit den Geweihten im Rahjatempel.“ entgegnete sie fast beklommen. Wieder schmunzelte er fast nachsichtig.
„Ich schlafe bei ihnen, das ist richtig, denn es ist warm dort. Aber sicher nicht mit ihnen.“
„Und was ist mit den halbnackten Tänzerinnen, die dich begleiten?“ wollte sie misstrauisch wissen.
„Sie ziehen lediglich die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich, mehr nicht.“
Verhöhnte er sie? Oder konnte es wirklich sein, dass… Sie blinzelte mehrfach und wagte nicht, den seligen Gedanken weiterfortzuführen, während ihre Lippen noch immer durch die Kälte in Bewegung waren. Sie beschloss seine Ernsthaftigkeit zu prüfen.
„Küss mich, Phexdan.“ provozierte sie ihn ernst und sah ihn fest an.
„Noch nicht…“ raunte er seine Antwort. „Ziehen wir dir erst einmal trockene Sachen an.“

Statt zu den Hortemanns zu gehen (Neferu sperrte sich dagegen), nahm er sie dann doch mit in die „Offne Hand“ in sein Zimmer, das ihr mittlerweile bekannt war.
Beide zogen sich um, während der andere wegguckte und sie musste unweigerlich lächeln, als seine nasse Kleidung an ihr vorbeiflog, an die Wand klatschte, herunterfiel und dort liegen gelassen wurde. Sie liebte ihn allein schon dafür, stellte sie innerlich in seltsamer Heiterkeit und Beschwingheit fest.
Blaue, sehr bequeme und gemütliche Kleidung hatte er ihr gegeben. Schnitt und Qualität waren recht bürgerlich und Hose, sowie Hemd passten ihr nur mäßig, da der Stoff um die Hüften herum etwas spannte und ihren gerundeten Po übermäßig betonte und widerrum um die Schultern und die Taille schlackerte.
„Man müsste es hier etwas enger machen…“ raunte sie und hielt mit den Fingern den Stoff an ihren Seiten fest, so dass er die weibliche Eieruhrfigur ihres Oberkörpers nachformte.
Als sie den Kopf hob und den Mann musterte, der mit ihr allein in diesem kleinen Zimmer stand, begann ihr das Herz wieder einmal bis zum Hals zu schlagen, bis sie das Blut in ihren Ohren rauschen hören konnte. Phexdan… Es war so ein Hochgenuss ihn einfach zu betrachten und selbst wenn sie die Augen schloss, konnte sie seine Präsenz weiterhin spüren, die ihr so angenehm war wie es nichts Vergleichbares auf Dere gab. Was hatte er nur mit ihr gemacht? Ohne wirkliche Kontrolle über ihr Handeln kam sie bedächtig auf den ebenfalls Blaugewandeten zu.
Er sah sie an und mit bebenden Gliedern, diesmal abern nicht mehr aus Kälte, kam sie vor ihm zum stehen.
Sie wollte ein für alle Mal wissen, was wahr und was falsch war. Sie hatte in den letzten Stunden und Tagen gelernt, dass sie sich auf ihre Spekulationen und Vermutungen alles andere als verlassen konnte, bei ihm hatte ihre hochgelobte Menschenkenntnis komplett versagt.

„Hast du.. das ernst gemeint?“
wisperte sie voll Festigkeit und Drängen in der sanften Stimme, während sie beide nur ein halber Schritt Abstand trennte.
„Was meinst du..?“ flüsterte er zurück.
„Den Traviabund…“ huschte es ihr schnell und gleitend über die wohlgeformten, roten Lippen.
„Ja, ich denke… ja.“ raunte er ihr mit weicher Stimme zu und der Blick seiner grünen Augen drang tief in die selbe Farbe der ihrigen.

Ihr wurde schwindelig und ein Hochgefühl bemannte sich ihrer. Eines, das ihr so fremd war, dass es sie fast von den Füßen warf. Sie bemühte sich hartnäckig um einen klaren Kopf.
„Seit wann? …Seit wann fühlst du etwas für mich?“ Setzte sie ihr zärtliches Gespräch fort, das bisher ohne Berühungen auszukommen schien. Sie war gehemmt und wollte sich nicht aufdrängen, denn er blieb auf Abstand.
„Seit wann… kennen wir uns?“ War seine leise Gegenfrage, die er ruhig stellte, nicht ohne das Grün ihrer beider Augen aus der Verschmelzung zu entlassen.
„Unsere erste Begegnung war vor.. vier Monaten. Auf der Brücke in der Nähe des Schneiders. Ich kam durch die Menschenmenge auf dich zu, auf der Suche nach Informationen.“ atmete sie schnell. Sie konnte ihrem Körper das Verlangen nach ihm nicht austreiben und ihr Leib reagierte auf seine Nähe und die leisen Worte.
„Von dem Moment an.“ beantwortete er ihre Frage dann ernst.

Wie auf Stichwort umarmte sie ihn innigst. Neferu vergrub ihr Gesicht in seiner Kleidung und drängte ihren warmen Körper an seinen. Auch er schlang für den Moment wie in Eile die kräftigen Arme um die etwa gleichgroße Frau und drückte sie so fest an sich, dass ihr beinahe die Luft wegblieb, doch das war ihr vollkommen gleich, im Gegenteil. Die Intensität seiner Nähe war Balsam für ihre Seele und sie fühlte sich in diesen wenigen Sekunden vollkommen wie nie: Sie hielt ihr Gegenstück, ihre Liebe in den Händen.
„Küss mich…“ bat sie erneut leise in die Richtung seines Ohres raunend.
Sogleich war der Spuk vorbei. Er beendete die Umarmung so abrupt wie sie entstanden war und alles in ihr setzte sich einem Trennen ihrer beiden Leiber entgegen, aber sie sagte nichts.
„Glaub mir.. Ich würde nichts lieber. Doch ich kann nicht…“ war seine niederschmetternde Antwort. Sie verstand die Welt von einer Sekunde auf die andere nicht mehr, als er seinen Blick von ihr fort zum Fenster wandte und ein melancholischer Glanz in seinen Augen beängstigende Überhand nahm.

Kurz blickte sie ihn fassungslos an und alles schrie in ihr in aufgebrachter Panik, dass die Liebe, die eben noch so sehr die ihre gewesen war schon wieder dabei war fortgerissen zu werden. Was hatte sie falsch gemacht? Warum konnte er sie nicht küssen…?
„Phexdan…“ flüsterte sie sanft seinen Namen und legte ihre Hand an seine Wange, die gleich darauf durch sein dunkles, zerzaustes, aber weiches Haare glitt. Sie hatte sich so oft vorgestellt eben das tun zu können.
„Warum kannst du mich nicht küssen…? Was ist los…?“ sprach sie mit Vorsicht und einem Hauch Angst in der Stimme.
Die Melancholie in seinem Blick nahm nicht ab. „Die Zeit wird es dir zeigen…“ raunte er eine mysteriöse Antwort, die sie alles andere als zufrieden stellte.
Neferu nahm seine Hand, sie zitterte. Mit vorsichtigen, samtigen Fingerspitzen streichelte sie Finger, Handfläche und Handrücken, ehe sie sie anhob und auch mit ihren Lippen streichelte, nicht küsste. Sie bemerkte, wie die Härchen seines Handrückens sich aufstellten und flüsterte ihm leise zu:
„Es ist… nicht schlimm, dass ich dich nicht küssen kann. Solange du nur bei mir bist.“

Er lächelte schwermütig. „Eigentlich… war die Umarmung schon zuviel..“
Sie ließ von seiner Hand ab und runzelte die Stirn.
„Ist es ein Fluch? Tut es dir weh? Wenn das so ist… werde ich dich nie wieder-„ mischte sich verwirrte Verzweiflung in ihre Worte. Sie durfte ihn also nicht berühren? Welche Art von bösem Zauber war das?

Mit immernoch traurigem Lächeln schüttelte der schwarzhaarige Gaukler den Kopf.
„Das ist es nicht… Aber.. ich muss jetzt gehen, Phexje und ich haben ein Treffen geplant.“
Sie nickte langsam und kam ihm sehr nahe und konnte sich nicht in soweit beherrschen, dass sie ihren Kopf hätte hindern können sich an den seinen zu schmiegen. Er reagierte nicht auf diese Annäherung.
„Kann ich nicht… mitkommen?“ bat sie leise, aber eindringlich.
„Ich fürchte Phexje hat soetwas wie einen Männerabend geplant.“ war die ernüchterne Antwort. Sie seufzte, wollte sie sich doch nicht von ihm lösen.
Doch die für die niederschlagenste Neuigkeit kam erst noch.

„Ich werde für einige Zeit weg sein.“ setzte er sie in Kenntnis. Langsam nickte sie. „Für wie lange…?“
„Etwa zwei Monate…“
„Zwei Monate?!“ Ihr zärtlicher Blick verwandelte sich wieder in ein fast entsetztes Starren.
Er schmunzelte sachte, die Melancholie hatte sich erbarmungslos und hartnäckig in seine grünen Augen gesät.
„Ja… zwei Monate. Ich muss gehen…“

Er drehte sich von ihr fort und schritt zur Tür. Schweigend sah sie ihm nach. Und einen Augenblick später… war Phexdan wieder wie aus ihrem Leben getreten.
Sie hatte geglaubt mittlerweile recht viel von ihm zu wissen. Aber in dem Moment, in dem sie wieder allein in seinem Zimmer stand, musste sie einsehen, dass sie eigentlich gar nichts wusste.

Grangor 10 (Rahjard)

Schweigend sah sich Rahjard im Zimmer um, dass er am vorherigen Praioslauf bezogen hatte. Dem jungen Phexje hatte er diesen Entschluss bereits zwei Tage zuvor verraten, das Haus Hortemann nach all den Monaten hinter sich zu lassen. Selbst das Bitten und Flehen der kugelrunden Töchter des Altvorderen hatte ihn nicht umstimmen können. Um nicht zu viel Aufsehen zu erregen hatte er es auch vorgezogen, sich nicht bei Garion oder Neferu abzumelden. Davon abgesehen hatte er sich erhofft, allmählich Abstand vom Gedanken der Garetherin mit dem Grangorer nehmen zu können. Und es würde ihnen vielleicht auffallen, dass er und seine Sachen sich klammheimlich aus dem Staub gemacht hatten.

Ruhig verschränkte er die Arme vor der Brust und schüttelte mit Blick aus dem Fenster, auf den Pilgerhafen, sachte das Haupt, schmunzelte dann jedoch plötzlich, als er sich den Namen des Gasthauses noch einmal auf der Zunge zergehen ließ – Silberfisch. Diese Veränderung sollte ein erster Schritt sein, ein erster Schritt fort aus Grangor. Die Fakten sprachen für sich… weder die Bettler, noch seine eigentlichen Begleiter würden ihn vermissen. Jedoch gab es noch immer eine Frage, auf die er keine Antwort kannte: „Wohin des Weges?“

Ein leises Seufzen entglitt seinen Lippen und er senkte den Blick zu dem kleinen Tisch, der unter der Fensterbank seinen Platz gefunden hatte. Darauf lag ein zusammengerolltes Papier, das er vor Wochen schon beschrieben hatte. Eigentlich wollte er es einem Beilunker oder sonst einem Boten anvertrauen, doch würde er auf diese Art und Weise nur das werden, was Neferu ihm vorwarf zu sein: ein Herzensbrecher. Nur warum wollte er überhaupt, wie kam er auf den Gedanken, ausgerechnet die geduldige Mirhidan aus ihrem goldenen Käfig zu entlassen? Ein Fehler, bedachte man, dass sie seine einzige, wirkliche Möglichkeit darstellte sich zurückzuziehen, außer er wollte selbst in seinem Schließfach in der Nordlandbank liegen.

Eher nebenbei hob er Mittel- und Zeigefinger der Rechten und kratzte sich an der Stirn. Als er beim letzten Mal einen Gedanken an sie verschwendet hatte, war sie noch die Wanderhure. Doch konnte sie ihm auch schlecht das Gegenteil beweisen. Wenngleich sie ob seiner Art wohl ahnen konnte, dass wenigstens er sich immer wieder Lust verschaffte – oder verschaffen ließ. Während sie geduldig abwartete…? Akribisch schüttelte er den Kopf und strich sich mit dem Zeigefinger nochmals über die Stirn, über die sich eine unnatürlich lange Falte erstreckte.

Zumindest Rahja war ihm nicht böse. Dann konnte es doch eigentlich nicht falsch sein.

Außer man belächelte Rahja und setzte den Glauben an Travia als Maßstab an. Dann wäre er verdammt, ein Dasein in den Niederhöllen zu fristen. Wieder schüttelte er den Kopf. Wenn er ehrlich zu sich selbst sein sollte, wusste er selbst nicht was er wollte. Durchatmend neigte er sich leicht vor und nahm das Papier mit der Rechten auf, nahm es in beide Hände und zerriss es etwa mittig. Nicht mal der erbärmlichste Weiberheld, würde sich solcher Methoden bedienen. Jedoch… bleib offen, was nun aus ihm und Mirhidan werden sollte. Besuchen würde er sie auf jeden Fall, auf ewig bleiben würde er nicht. Noch nicht. Vielleicht eines Praioslaufes, wenn er alt und gebrechlich war… wenn er sein durch und durch rahjagefälliges Leben in vollsten Zügen genossen hatte. Dann vielleicht… was?

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ließ sich Rahjard in den abgenutzten Sessel fallen der rechts neben ihm stand und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Das Bornland würde er auf jeden Fall aufsuchen. Also von Grangor nach Ferdok, von Ferdok nach Gareth und weiter nach Festum. Eine halbe Weltreise, die ihn immernoch weniger Dukaten kostete als zwei Wochen in Grangor. Naserümpfend legte er den Kopf in den Nacken und sah zur Decke auf.

Erst dann fiel ihm ein, dass er wahrscheinlich schon seit Tagen, wenn nicht Wochen… kein wirkliches Wort mehr mit seinen Begleitern gewechselt hatte. Wenn sie es nicht mitbekommen würden, wäre das aber auch kein Beinbruch. Neferu hatte Phexdan, das schien sicher… und Garion einen neuen Wilbur. Zwar etwas massiger, höchstwahrscheinlich aber ähnlich fromm und hilfsbereit.

Das Beste an diesem Wilbur war allerdings, wenn man es ernsthaft betrachtete, dass er kein Gaukler war. Denn Gaukler brachten ihm einfach kein Glück.

Grangor 9 (Garion)

Langsam aber sicher begann er sie zu spüren. Kälte, die nach seinem Körper griff. Es schien als breit sie sich von seiner Brust aus über seinen ganzen Körper aus. Er riss die Augen auf und sah rasch umher. Noch immer lag er in dem Bottich, doch das Licht der hereinfallenden Sonne war ein ganzes Stück weiter durch den Raum gewandert, seit er die Augen geschlossen hatte. Er musste eingeschlafen sein…er wagte eine Bewegung. Sofort kam das unangenehm kalte Wasser in Bewegung und schwappte an eine bisher unberührte Stelle. Seine Nackenhaare stellten sich auf.

Er wusste nicht wie lange er geschlafen hatte, aber eigentlich war das auch nicht wichtig. Neferu war nicht im Haus, er wusste nicht einmal wo sie war und so wie er sich fühlte hätte er keine lange Suche durchgestanden. Stattdessen ließ er seinen Blick durch den Raum gleiten bis er an der Wand gegenüber hängen blieb. Sie erinnerte ihn an etwas…ja…ganz sicher. Sie erinnerte ihn an eine andere Holzwand, eine, die er in glücklicheren Zeiten gesehen hatte. Damals, in der Taverne Heldentrutz hatte er den glücklichsten Moment seines Lebens erlebt. Er hatte wahren Mut bewiesen, hatte sich nahe an Neferu rangewagt, sie berührt, rückwärts an die Wand gedrückt. Ja, er war mutig gewesen. Er musste matt lächeln. Er wusste dass viele in den Rondriten den Inbegriff des Mutes sahen, stellten sie sich doch beinahe jedem Kampf, aber er wusste es besser. Mutig zu sein hieß Ängste zu besiegen die einen quälten…aber er fürchtete den Kampf nicht. Ein Kampf war planbar, wenn man auf alle Einzelheiten achtete wusste man, wer gewinnen würde. Man wusste ob man selbst oder der Gegner besser war. Mut hatte er bewiesen, als er sie geküsst hatte…den Gedanken, dass sie ihn von sich stoßen oder ihn verachten würde weit von sich geschoben hatte und den Sprung gewagt hatte.
Er ballte seine rechte Hand zu einer lockeren Faust, die Finger die seinen Handteller berührten waren kalt, wohl vom Wasser. Seine Zunge hatte mit ihrer gerungen, sein Mut hatte sich gelohnt und er war sich sicher, dass seine Gefühl erwidert wurden, dass sich die Pforten Alverans gerade weit aufgetan hatten um ihn zu empfangen, dann hatte Richard geklopft und der Moment war vorbei.
Was er wohl tun musste, damit sie ihn bemerkte? Ja, das war die wichtigste Frage…was musste er tun? Sie zu beschützen wo immer er konnte schien ihr nicht zu reichen – Rücksicht war nicht, was sie beeindruckte.
Wieder zog der mächtige Zweihänder neben der Tür seinen Blick an. Garion hatte seinen Besitzer getötet. Vorgeblich, weil er einen Anhänger des Namenlosen hatte auslöschen wollen, das entsprach auch durchaus der Wahrheit, der Mann war ihm ein Dorn im Auge gewesen…aber das war nicht alles. Den Mann hätte sein Schicksal ohnehin ereilt, ob nun durch die Vernichtung der Stadt, weil die drei versagt hätte oder nach ihrem Erfolg und durch ein paar Gardisten der Rondratempelwache. Nein, sein Angriff war nicht durch die pure Anwesenheit eines Speichelleckers des Namenlosen provoziert worden. Er hatte vor seinem inneren Auge gesehen, wie der Mann mit seinem Schwert über Richard und Neferu hergefallen war. Hatte gesehen, wie die große Klinge ein Stück Fleisch aus seiner Liebe gerissen hatte, hatte ihre Schreie im Ohr gehabt…sein Blut hatte gekocht, der Mann hatte sterben müssen.
Sein Blick glitt an der großen Klinge hinauf und hinab. Die lange, gerade Klinge, das breite Schwertheft der Griff, der für zwei Hände gedacht war. Leise und vorsichtig atmete er ein – ja, in dieser Klinge sah er sein Schicksal. Seine Blicke streiften die getrockneten Blutflecken – nicht sein Eigenes, das eines weiteren Ketzers. Der Anblick weckte eine unbekannte Art der Trauer in ihm, er fühlte sich unwohl in seiner Haut. Die Kälte des Wassers wurde ihm schmerzhaft bewusst, doch noch immer dachte er nicht daran den Badezuber zu verlassen, die Ruhe der Abgeschiedenheit dieses Raumes verschaffte ihm die willkommene Gelegenheit seine Gedanken zu ordnen.
Niemals würde er aufgeben, niemals von ihrer Seite weichen. Seine Stirn legte sich in tiefe Falten, er musste über seinen Schatten springen, so viel war ihm bewusst. Er schluckte schwer und rührte abwesend mit seinem rechten Finger in dem Wasser herum. Aber die Alternative schreckte ihn weitaus mehr. Mit einer langsamen Bewegung zog er seine rechte Hand aus dem kühlen Nass und begann über den geschliffenen Rand des Zubers zu streichen. Es fühlte sich angenehm unter seinen geschrumpelten Fingern an – es war so viel tapferer als er. Das Holz unter seinen Fingern stand hier sicher seit Jahren. Hatte Freude und Leid der Welt geteilt und hatte niemals gezweifelt, war niemals gewankt, hatte immer um seinen Platz gewusst. Ein trauriges Lächeln glitt über die Züge Garions. An was er so dachte. Seine Finger hielten bei einer kleinen Kerbe inne und betasteten sie. Die Zeit ging also auch an diesem Zuber nicht spurlos vorbei. Er hatte sich offenbar der Realität gestellt und dabei eine Narbe erfahren.
Seufzend griff er mit beiden Händen nach den Rändern des Zubers und richtete sich mit einem raschen Zug auf. Der Schmerz seiner Rippen wurde von der Kälte der Raumluft überschattet, die silbrigen Perlen des Badewassers rannen ihm den Leib hinab und fanden leise plätschernd den Weg zurück in ihre Heimat. Mit nachdenklicher Miene griff er zu dem Leinenhandtuch, das auf einem Haken an der Wand auf seinen Einsatz wartete. Er wischte sich damit über das Gesicht, eine seltsame Angewohnheit wie er fand…der ganze Körper fror und war nass, aber aus irgendeinem Grund trocknete er nach jedem Bad zuerst sein Gesicht. Rasch wandte er sich seinem Oberkörper, der Brust, dem Bauch und den Achseln zu. Er würde versuchen sich ihr mehr zu öffnen, behutsam, ganz vorsichtig…aber doch deutlich. Seine Stirn legte sich in hilflose Falten. Aber wie? Er mochte sich vor keinem Kampf scheuen, um den Einsatz vieler Waffen wissen, aber die Aufgabe vor der er nun stand schien ihn zu erdrücken. Achtsam stieg er aus dem Zuber und wandte sich der Trocknung seines Unterleibs und der Beine zu. Alles was er über das Umwerben einer Frau wusste, hatte er von seinem „Bruder“ Ven erfahren. Wieder entrang sich ein entmutigter Seufzer seiner Brust. Ven war keine große Hilfe gewesen, er hatte beinahe monatlich die Frau an seiner Seite gewechselt, ihm war kein Glück in einer Beziehung beschieden wie es schien. Alles woran Garion sich mit seinen schmerzenden Gliedern erinnern konnte, war das Ven ihn einmal spöttisch angesehen und gesagt hatte:“Du bist zu schweigsam Garion. Vielleicht ist es das Beste, wenn du die Blumen für dich sprechen lässt. Frauen mögen Blumen.“, er hatte ihm lachend auf die Schulter geschlagen und war mit seiner neuen Flamme auf den Markt in Festum gegangen. Garion war damals wie heute allein gewesen, allein mit sich selbst und seinen Gedanken. Aber…warum sollte er eigentlich nicht versuchen eine Blume sprechen zu lassen? Ven wusste wovon er sprach, zumindest hoffte er das, und sollte Neferu sich nicht über die Blume freuen, so musste er wenigstens ihr Gesicht nicht sehen.
Mit klammen Fingern griff er nach seiner weit geschnittenen Hose. Er hatte sie in der Khomwüste als Geschenk erhalten und sie war ohne Frage bequem. Das dazugehörige Hemd und die Hose ebenfalls, diese Kleider würden seine Quetschung schonen, so würde zumindest sein Körper zu Ruhe kommen, auch wenn er zweifelte, dass sein Geist ihm nachfolgen würde.
Mit seinen Gedanken weit von seinen Handlungen entfernt schloss er die Hose und warf sich das Hemd über. Als er nach den Stiefeln griff sah er zu seiner dreckigen Kleidung. Die Magd, die das Bad bereitet hatte, hatte ihm gesagt er solle sie einfach dort zurücklassen, sie würde sie waschen. Das war ihm nur recht, er hatte den Kopf nicht frei genug um sich um seine Wäsche zu kümmern.
Mit einem Ruck brachte er den zweiten Stiefel fest an seinen Fuß und ging zu der Tür hinüber um sie zu entriegeln. Die Zeit der Ruhe, der Besinnung und der Planung war vorbei, der Tag war noch jung genug um in die Stadt zu gehen, mit einem Blick zur Seite entschied er seine Waffe später in sein Zimmer zurück zu bringen, immer in der Hoffnung, dass sich niemand daran stören würde.
Er verließ den Raum und nahm den Weg den Flur hinab in Richtung der Stufen, die ihn in das Erdgeschoss des Anwesens führen würden, hinunter in den Hof und hinaus auf die Straße. Ihm war bewusst, dass die wenigsten, die es sich leisten konnten die Seewege durch die Stadt zu nutzen sich freiwillig in die engen Straßen der Stadt begaben, aber er war der Ansicht, dass ein wenig Lärm, Gestank und Leben ihm jetzt nicht schaden konnten. Schon bei seiner Ankunft in Grangor hatte er gesehen, was nun sein Ziel war. Nahe des Südtores der Stadt, kaum mehr als 500 Schritt in eine Gasse zu seiner Linken lag ein kleiner Blumenladen, der sich beinahe schüchtern in den Schatten der hohen Stadtmauer zu ducken schien, genau dort wollte er hin.
Auf seinem Weg merkte er kaum, dass er mehrfach angerempelt oder abgedrängt wurde. Seine Gedanken waren nicht mit dem Getummel auf den Straßen beschäftigt sondern mit einem Gesicht, das ihm nicht aus dem Kopf wollte. Immer wieder sah er Neferus ernste, braungebrannte Miene, wie er sie am Abend ihrer Rückkehr in der offenen Hand vor sich gesehen hatte. Irgendetwas hatte sie verändert – hatte das Funkeln ihrer Augen abgewandelt, ihr das kecke Lächeln von den Lippen gewischt. Schwermütig seufzend bog er in eine Ecke und tauchte in die Dämmerung einer kleinen Gasse ein. Eine fürchterliche Erinnerung, die sich ihm machtvoll auf das Gemüt zu legen begann.
„Kopf hoch, Garion. Eine Schlacht magst du verloren haben, aber der Krieg ist nicht vorbei!“, schalt er sich selbst und reckte das Kinn ein wenig empor um sich selbst zu beweisen, dass noch etwas Kraft in ihm war. Er hielt inne, vor ihm lag der Blumenladen, den er gesucht hatte…es war an der Zeit das erste Mal auf diesem Weg seinen Mut zu beweisen. Ehe er sich noch umentscheiden konnte war er an der Tür und drückte sie etwas zu kräftig auf. Überrascht hob eine kleine, verhutzelte Frau ihren Blick an und sah zu ihm auf. „Holla, junger Mann. Lasst Vorsicht walten, meine Tür ist beinahe so alt wie ich selbst.“, sie kicherte leise.
Garion schluckte schwer:“Ich…tut mir leid.“, er kam sich dumm vor, jeder Dreizehnjährige konnte eine Blume kaufen und er stellte sich an wie ein Schaf auf dem Weg zur Schlachtbank. „Ich, ähm, wollte eine Blume kaufen.“, was war das denn für eine hirnrisse Ankündigung? Was sollte er sonst hier wollen? Die Frau auf der anderen Seite der Theke schien mehr Nachsicht mit ihm zu haben als er selbst, sie lächelte ihm herzlich entgegen:“Natürlich mein Junge. Was für eine darf es denn sein? Sag…ist sie für ein Mädchen?“
Garion schluckte leise, nickte aber stumm. „Wie schön! Was ist ihre Lieblingsfarbe?“, fragte das Mütterchen freundlich und offenbar aufrichtig erfreut über eine junge Liebe.
Garion zögerte. Er hatte Neferu nie nach ihrer Lieblingsfarbe gefragt, aber er glaubte, dass ihre Kleider ihre Lieblingsfarbe repräsentierten. Er holte tief Luft:“Ich denke, sie mag Rot.“, wie sprachlich geschliffen seine Ausführungen heute waren. Innerlich verdrehte er die Augen.
Sein Gegenüber aber klatschte freudig in die Hände:“Dann habe ich genau das Richtige für dich! Warte einen Moment.“, damit huschte sie durch eine niedrige und etwas schiefe Tür in einen für Garion nicht einsehbaren Nebenraum. Er blinzelte sachte. Ganz offensichtlich hatte er zumindest mit der Wahl dieses Ladens etwas richtig gemacht, die Frau vermittelte ihm das Gefühl die richtigen Worte gefunden zu haben. Vielleicht lag es aber auch an seinem Gesichtsausdruck. Wie mochte er gerade aussehen? Ängstlich? Verzweifelt? Stocksteif? Er wusste es nicht.
In diesem Moment kehrte die untersetzte Frau mit einer Blume in der Hand zurück in den Laden und wuselte um die Theke herum. Die Blüten der einzelnen Blume waren blutrot und nicht ganz geöffnet, an ihrem grünen Stiel zeigten sich hier und dort Dornen, die allerdings ausgedünnt genug schienen um ohne große Gefahr zugreifen zu können. „Eine Rose. Hier Junge, nimm. Vermutlich mache ich mir damit irgendwann den Laden kaputt, aber ich kann euch jungen Leuten einfach keine drei Kreuzer abnehmen, wenn ihr so ein Gesicht zieht.“, damit drückte sie ihm die Blume in die Hand.
Einen Moment lang betrachtete er die Blume nachdenklich…Rot…ob das ein gutes Zeichen war? Immerhin war Rot sowohl unter den Farben Rondras als auch Rahjas. Ein schwacher Schmerz seiner Rippe riss ihn in die Gegenwart zurück und als er an sich hinab sah, erkannte er den Grund dafür. Das Muttchen hatte ihn umarmt. Zwar hatte sie es nicht ganz um ihn herum geschafft, aber sie hatte sich alle Mühe gegeben ihm ein wenig Mut zu machen. „Geh jetzt. Es ist nicht gut solche Angelegenheiten warten zu lassen. Ich wünsche dir von Herzen alles Gute.“, Garion lächelte ihr ein wenig traurig zu. Ja, alles Gute, das wünschte er sich auch.
Mit gemischten Gefühlen ließ er sich nach draußen geleiten und machte sich auf den Weg in Richtung der Hortemanns. Er konnte nur hoffen, dass Neferu nicht in ihrem Zimmer war. Den mütterlich besorgten Blick der Ladenbesitzerin bemerkte er gar nicht, als er ihm folgte…

Grangor 8 (Neferu)

Viele Schritte. Sie kniff ihre ohnehin geschlossenen Augen zusammen, um die lauten im Lärmpegel ansteigenden Geräusche auszublenden, was nicht so recht gelingen wollte.
Obwohl sie die Nacht auf dem steinernen Boden geschlafen hatte, war ihr nicht zum Erfrieren kalt, was sie im Halbschlaf und noch immer im restlichen Drogenrausch verwunderte.
Sie weigerte sich die Lider zu öffnen, konnte sie sich schließlich nicht einmal mehr erinnern, wo sie gerade war. Jemand sprach zu ihr, doch was die Stimme sagte, konnte sie nicht realisieren und sie auch nicht einordnen.

„Lass mich weiterschlafen…“ murrte sie nuschelnd und zog sich die miefende Decke bis zum Ohr. Moment… Decke? Sie wagte ein Blinzeln und zuckte zurück. Soviele Beine und Schuhe, Stiefel und Röcke, die in Bewegung waren, hatte sie ihren Lebtag nicht gesehen, zumindest nicht so beängstigend nah. Erschrocken ob der nahen Gefahr des Zertrampeltwerdens zuckte sie zurück und hob skeptisch die Lider, um sich ihrer Umgebung bewusster zu werden. Wenig körperbeherrscht rieb sie sich übers Gesicht, während sie eine unangenehme Übelkeit in sich aufsteigen spürte.
Das letzte, leidlich Deutliche woran sie sich erinnerte, war der Rahjatempel. Das Stirnrunzeln übermannte ihre gesamte Mimik.
„Wo bin ich?“ fragte sie, ohne jemanden direktes anzusprechen.
„Bist du endlich wach, Mädchen? In Norderstadt bist du!“ erklang eine krächzende, alte Stimme.
Neferu fühlte sich, als wäre sie unter Kutschräder gekommen. Jeder Knochen in ihrem Körper machte sich bemerkbar, wobei sie nicht sagen konnte, was ihrem Befinden mehr Schaden zugefügt hatte, das Schlafen auf einer steinernen Brücke oder der Überkonsum des Rauschkrauts.
„Norderstadt?“ raunte sie irritiert, „nicht mehr in Grangor?“ Die Worte hallten unwirklich und aus unerfindlichem Grund unsinnig klingend durch ihren markant brummenden Schädel.
Sie wurde über den Umstand aufgeklärt, dass Norderstadt ein Teil Grangors war und langsam wurde ihr bewusst, dass sie davon eigentlich schon gehört hatte.
Unbeholfen und blass, wie ein Küken, das eben erst geschlüpft war, entschloss sie ihre Umgebung zu analysieren. Weitaus langsamer als sonst ratterten die Zahnräder ihres Verstandes.
Sie lag auf einer gut besuchten Brücke, soviel war ihr mittlerweile klar. Und zwar erkannte sie die Stelle, an der Phexdan ab und zu geweilt hatte, wenn sie nach ihm suchte. Jemand hatte sie mit einem Satz alter Lumpen zugedeckt, die stanken bis zum Himmel, aber wenigstens warm waren.
Dieser Jemand saß neben ihr: Ein alter Kauz mit weißem Bart, sicher an die 70 Götterläufe alt – er hatte keine Beine mehr, zumindest keine Unterschenkel und sah sie freundlich an. Einer der vielen Bettler hatte sich also ihrer angenommen.
Mit Mühe richtete sie sich ins Sitzen auf.
„Wie spät ist es…?“ Sie rieb sich erneut den schmerzen Schädel mit seinen pochenden Schläfen.
„Etwa die vierzehnte Stunde..!“ klärte der heitere Alte sie auf.
„Zuviel Rauschkraut“, gab sie ihm zur Information, aber nicht ohne zu betonen, dass es das erste und letzte Mal gewesen war, dass sie sich überhaupt dazu hatte hinreißen lassen.

Bei Phex… Sie musste lange an dieser Stelle gelegen haben; wäre es Winter gewesen, hätte sie einem Kältetod nicht entkommen können. Er gab ihr Wasser zu trinken und sie erklärte ihm den Umstand ihres Hierseins, der ihr verschwommen selbst erst bewusst werden musste. Missmutig gab die junge Frau ihre Meinung über die verrückten Rahjajünger preis und die absolute Nichtübereinkunft ihrer und derer Einstellungen. Er gab ihr Recht. Immerhin. Seine Zustimmung spendete ihr etwas Trost. Wenigstens fühlte sie sich, was ihre Meinung anbelangte nicht mehr ganz so allein, schien doch Restdere den rahjaischen Praktiken zu huldigen.
„Weißt du…“ Sie hatte entschieden dem Bettler – mit dieser Bevölkerungsschicht hatte sie in den Jahresläufen ihres Daseins ausschließlich gute Erfahrungen gemacht und fühlte sich ihnen irgendwie verbunden – weitere Einblicke in ihr Leben zu gewähren, „Wenn ich liebe, dann liebe ich ganz und gar. Ich werde meine Liebe nicht aufteilen. Und ich will selbst nicht irgendein Name auf einer langen Liste sein. Ich gebe mich nicht damit zufrieden ein einzelner Finger zu sein – ich will beide Hände sein.“
Er stimmte ihr zu und einen Moment lang starrte sie nachdenklich ein tiefes Loch in die Luft.
„Sag mal… Wo schläfst du eigentlich? Der Boden war unglaublich hart. Und ich sehe nachts nie Leute von euch auf den Straßen. Wo bleibt ihr alle?“
„In der Offenen Hand..“ antwortete er freundlich und offenherzig.
Sie hob sachte die Brauen. „In der Offenen Hand? Schlafen da alle von euch? Ist da überhaupt genug Platz?“ Ruhig und im Vertrauen, verriet er ihr, dass unter der Offenen Hand Räumlichkeiten existieren von denen die wenigsten wussten. Dieses Faktum kam ihr sehr bekannt vor und sie erzählte ihm von den ähnlichen Verhältnissen in ihrer schmierigen und durchaus auch schwierigen Kindheit, während sie an das Brückengeländer lehnte und in den blauen, wolkenlosen Himmel blickte.
„Ich habe auch schon einmal in der Offenen Hand geschlafen…“ fügte sie nachdenklich und mit Blinzeln gen Praiosscheibe zu.
„Ach?“ antwortete der Alte interessiert „Und wo da?“
„Oben… das erste Zimmer links.“
„Bei Phexdan?“ raunte ihr Gesprächspartner fast belustigt.
„Ja…“ sie wandte dem Greis wieder ihr Gesicht zu, „Ich habe einmal bei ihm geschlagen, aber… selbstverständlich nicht…“ Neferu begann etwas unbeholfen zu stammeln. „Also nicht zusammen in einem Bett, er auf einer Matte, du verstehst… Wir haben nicht… Ich würde nicht…“
Er verstand nickend und lächelt ihr sachte zu.

Ein trauriger Ausdruck schlich sich melancholisch auf ihre Miene. Die stechend grünen Augen wurden trübe und sie senkte den Kopf, dass die vielen Zöpfe ihr Gesicht halb verbargen. Dem Krüppel entging die Last ihrer Seele nicht.
„Mädel, das kann man ja nicht ertragen… was ist denn los?“ Er hob die buschigen Brauen und lehnte sich leicht vor.
Nach leichtem Zögern begann sie tatsächlich dem Väterchen ihr Herz zu offenbaren.
„Ich liebe jemanden… Wie ich dir sagte war ich im Rahjatempel. Aus diesem Grund… Ich wollte von ihnen wissen, wie sie über mein Gefühl denken. Ich wollte ihren Rat, aber er hat nichts genutzt, sie sind zu anders als ich. Ich… habe mich sogar an dem Kuss des Priesters gestört, meine Küsse sollen für jemand anderen sein… Aber er… ist ein Frauenheld. Ich will nicht ein Name auf seiner Liste sein… Ich will ihn für mich allein… Schließlich… hätte er auch mich im Gegenzug ganz für sich.“
Aufmerksam hörte der alte Bettler zu und nickte langsam.
„Kenn ich ihn..?“ raunte er ihr anteilnehmend zu.
Sie blickte in die graublauen Augen des Alten. Wohlwollend sah er ihr entgegen.
„Ich kann dir darüber nichts sagen, da ich vermute… Du würdet es ihm erzählen, wenn du ihn kennst. Und das wäre… furchtbar für mich.“ Wisperte sie ernst.
Auch der alte Großvater, der mit ihr an der Bettlerbrücke saß auf der noch immer scharenweise Menschen vorüberzogen brachte ernst in sein faltiges Gesicht. Er legte die rechte Hand auf sein Herz und schwor ihr, dass er ihre Information für sich behalten wollte, eingeschlossen in seinem Herzen.
Ein mattes Lächeln überkam sie bei dem Anblick des zerlumpten, herzlichen Mannes.
„Nun… ja. Er ist dir bekannt. Ich kenne ihn seit ich in Grangor bin, seit einigen Monaten. Es ist nur… Ich weiß, dass er oft im Rahjatempel schläft und so weiß ich auch… Dass ich für ihn niemals das sein kann, was ich sein will. Die Einzige…“ Ihr Blick senkte sich.
„Nur einer von uns schläft im Rahjatempel.“ Lächelte der Greis gewitzt und Neferu nickte resigniert.
„Dann weißt du ja… um wen es sich handelt. Weißt du… Nachdem mein Schmerz zu groß wurde habe ich versucht dem Gefühl zu entfliehen und bin aus Grangor abgereist. Er hat sicher nicht einmal nach mir gesucht. Vielleicht ist er einmal die Straße entlanggelaufen, um zu gucken, wo ich bin, aber…“
„Ich kann dir versichern… Er hat uns ganz schön auf Trab gehalten, als er nach dir suchte.“ Sprach der Bettelnde in gewohnt freundlichem Tonfall.
Neferu hielt inne.
„Das sagst du jetzt nur, damit er nicht ganz so schlecht dasteht.“ Seufzte sie mit schrägem Lächeln. „Weißt du… ich bin sogar soweit gegangen und habe ausgenutzt als er schlief. Oh, versteh mich nicht falsch, ich habe ihn nicht berührt! Aber ich… musste seinen Duft einatmen und habe mich zu ihm herabgebeugt. Der Geruch von Rosen…“ Sie presste die Lippen aufeinander und schämte sich mit einem Mal für ihre exhibitionistische Offenheit dem fremden Alten gegenüber. Ihr Handeln erschien ihr immernoch schleierhaft. Aber sie hatte eingesehen, dass sie sich damit abfinden musste, dass ihr Gefühl ihr seltsame Gesten und Gedanken diktierte.

„Der… schönste Augenblick meines Lebens war… als wir zusammen Rahjarosen pflanzten.“ Lachte sie bitter und mit hoffnungslosem Schimmern in den Augen. „Bis… Bis er mein Geschenk an ihn – eine Schneeflockenkette als genug Erinnerung an mich bezeichnete. Er… er hat bereits damit abgeschlossen, dass ich überhaupt in Grangor weile. Er geht davon aus, ich sei schon mit halbem Bein wieder in Gareth.“ Ihr Redefluss versiegte für einen Augenblick und mit traurigem Lächeln lehnte sie sich an ihren alten Gesellschafter.
„Erinnerungen müssen nicht zwangsläufig die Vergangenheit sein. Wir sitzen schon einige Stunden hier und du hast noch das Bild von mir im Gedächtnis als ich dich weckte, es ist also eine Erinnerung, aber ich bin immernoch gegenwärtig.“ Lächelte er sie aufmunternd an und mit einem leisen Seufzen quittierte sie, dass er dasselbe redete, wie der Rahjapfaffe.

„Ich glaube, Rahja hasst mich.“ Raunte sie bitter und starrte ihre Knie an.
„Was?“ Der greise Mann lachte krächzend auf. „Ich glaube eher… du bist Rahjas Liebchen.“
Rahjas Liebchen? Der Schnaps? Wunderte sich Neferu still, aber schwieg.
Sie bekam zwei Dukaten in den Schoß geworfen, die sie sofort an den Bettler von Grangor weitergab. „Nehmt sie beide. Ich weiß, wohin das Gold fließt und ich will dieses Vorhaben voll und ganz unterstützen. Gibt es eigentlich… eine Anmeldegebühr ein Bettler Grangors zu werden?“ scherzte sie mit einem matten Lächeln auf den schönen Lippen und dem fortwährend schwermütigem Glanz in den Augen. Es gab keine Anmeldegebühr. Vielleicht… Sollte sie wirklich… Es war ohnehin so vieles egal gewoden. Sie ließ sich gehen, das war ihr bewusst. Aber sie spürte nicht die Kraft sich gegen Selbstmitleid, Hoffnungslosigkeit und Melancholie zu erheben. Insofern… schien es ihr für den Moment die Bestimmung ihres Lebens als Bettler zu hausieren.
„Ich denke… ich werde für den Rest meines Lebens hier auf den Straßen sitzenbleiben.“
raunte sie ihm in bitterem Ton scherzend zu. Seine Antwort hatte sie erwartet:
„Es lebt sich nicht schlecht als Bettler in Grangor.“

Einige Schweigeminuten vergingen, während sie ihren grauen Gedanken nachhing, in die sie sich mittlerweile hemmungslos gestürzt und reingesteigert hatte.
Kurz zögerte sie, ehe sie erneut die Lippen teilte und die Konversation wieder aufnahm. Sie hatte die Beine angezogen und ihre Arme darum geschlungen.
„Du bist schon einige Jahrzehnte alt. Der Rahjapriester sagte… Irgendwann erreicht uns die Liebe, auch wenn es viele Jahrzehnte dauert. Hast du… je geliebt? So sehr, dass du sie ganz für dich allein wolltest?“
Er überlegte kurz, ehe der knöchrige Alte von seinem Gefühl zu berichten begann.
„Ja, da gibt es eine. Doch… sie hat meine Gefühle für sie wohl nie ganz verstanden und so… sind wir nicht zueinander gelangt.“
Es schien Neferu durchweg unrichtig, dass sogar der Großvater kein Glück in der Liebe hatte und in vollster Bitterkeit schmeckte sie ihr eigenes Schicksal in seinen Worten.
„Wie wäre es..“ versuchte sie die Bestätigung ihrer Befürchtungen, was das Leben und Rahjas Willkür anging ein Schnippchen zu schlagen. „Wenn wir heiraten. Dann kannst du sie eifersüchtig machen und deine einstige Liebe kommt zu dir zurück.“ Der Weißhaarige lachte keckernd und sprach aus faltigen Lippen: „Ich fürchte, das würde nicht viel helfen.“ Sie fragte nicht weiter. Vielleicht war die Liebe dieses Mannes bereits tot oder verheiratet. Sie wollte nicht bohren und ihn gegebenenfalls verletzten, dazu hatte sie den Kauz zu gerne, wie sie feststellte.
„Wie… heißt du eigentlich?“ fragte sie plötzlich, nachdem sie festgestellt hatte, dass weder sie wusste mit wem sie es zu tun hatte, noch er.
„Maran.“ Kam rasch die Antwort. Auch sie stellte sich vor, vermutend, dass er ihren Namen bereits einmal gehört hatte.
„Maran…“ wiederholte sie freudig, „wie der rotgelbe Greifvogel, den es nur auf Maraskan gibt!“ Sie war ernsthaft glücklich darüber, dass sie eine Verbindung zu diesem Teil der Welt hatte. Es gab immernoch Dinge, die sie glücklich machen konnten und plötzlich klammerte sie sich an den Gedanken an Maraskan.
„Eigentlich wollte ich ihn – sollte ich einst einen Sohn haben – ihn Phexir nennen, aber… jetzt denke ich, dass ich ihn vielleicht auch Maran nennen werde!“

Es folgte ein Redefluss Neferus über ihr bekannte Dinge. Sie erzählte ihm von Maraskan und von Scheijian, den sie zu lieben geglaubt hatte und dessen Name nichts mehr weiter war als ein Name; nicht einmal ein blasses Gefühl war mittlerweile verblieben.
Sie erklärte, wie sie zum Stammesmitglied der Oijianijias wurde und berichtete von Richard und Garion, die ihre Begleiter waren.
Plötzlich lachte sie auf und entschuldige sich für ihr unnachgiebiges Quasseln. Lächelnd scherzte der Alte: „Ich kann ja ohnehin nicht weglaufen.“ Und deutete auf seine Beine, die bei den Knien aufhörten.
Neferu gewann ein heiteres Schmunzeln: „Vielleicht sollte ich dich wirklich heiraten. Du scheinst der perfekte Mann für mich zu sein.“
„Nun, dann wirst du mich aber zum Traviatempel tragen müssen.“ Konterte er mit noch zahnigem Grinsen. Alle Achtung… kam es Neferu in den Sinn. Er hatte sogar noch Zähne.
„Du bist noch so jung…“ krächzte er erneut, „dir steht die Welt offen… für mich hingegen, gibt es wohl keine Hoffnung mehr, was meine Liebe angeht.“ Er zündete sich eine Pfeife an und bot sie ihr an.

Ihre grünen Augen hefteten sich an das rauchende Gerät, dass er sich in den Mund schob und mit leiser Inbrunst sprach sie fest: „Die Liebe ist alterslos, Maran. Du solltest um sie kämpfen, auch wenn du bereits einige Jahre mehr zählst. Lass sie nicht gehen, nur weil du mit deinem Leben abgeschlossen zu haben glaubst.“
Dann verneinte sie die Pfeife, er hieß es gut. Kurz zögerte sie, ehe sie ihm eben jenes gute Stück aus Ton in einer Rangelei in der sie dem Beinlosen überlegen war entwendete.
„Zu ungesund.“ War ihr strenges Urteil und trotz seiner um Rückgabe ausgestreckt bittenden Hand, warf sie das Pfeifchen über ihre Schulter in den Kanal. Schlagartig runzelte sie selbst die Stirn und ehe er noch etwas sagen konnte, war sie wieder am Zug: „Ich hoffe nur… diese Pfeife hatte für dich jetzt keinen ideellen Wert….“ Der Alte gestikulierte aufgebracht: „Ich hatte sie von der Liebe, von der ich dir erzählte…!“

Neferu sprang auf, weitete die Augen und wandte sich in Panik dem Brückengeländer zu.
„Keine Bange! Ich hole sie dir wieder!“ Sie machte ernst. Er hingegen nicht. Während er sie mit den fleckigen alten Händen packte keckerte er: „Nur ein Scherz… Irgendjemand hatte sie mir geschenkt… Nicht weiter wichtig.“
Erleichtert ließ sie sich wieder auf ihre vier Buchstaben fallen.
Es war bereits später Nachmittag geworden, die Zeit, die sie mit dem alten, urigen Kauz verbrachte, verging rasch.

Und dann ließ sich seine Seniorenblase verlauten. Er musste auf die nahe Toilette – eine Mülldeponie hinter einem Haus, wie sie erfuhr. Sie nahm den leichten, alten Mann auf den Rücken und scherzte: „Ist der Reiter startklar?“ Natürlich ging sie seinem Wunsch nach, ihn zu seinem Ziel zu bringen, sie setzte ihn sogar in Position und wartete – natürlich von ihm fortgedreht – an einen Brückenpfosten gelehnt auf sein Rufen, das als Zeichen ausgemacht worden war.

Es war nicht viel Zeit vergangen, da drang von schräg hinter ihr eine Stimme an ihr Ohr. Sie war ihr wohl bekannt und ließ sie zu Donner gerührt versteinern: Phexdan.
„Ich habe eine gute Nachricht für dich…“ begann die weiche, mitteltiefe Stimme. Sie wandte sich nicht zu ihm um.
„Du wirst mich nicht zum Traviatempel tragen müssen….“

Grangor 7 (Garion)

Sein Blick richtete sich wieder an die Decke des Zimmers. Ordentlich aneinandergereihte Bretter, sorgfältig abgeschliffen und lackiert erfreuten das Auge, doch hatte Garion nicht einen Gedanken für diese Kunst.
Sein Leben war schwerer geworden seit er Grangor erreicht hatte. Sicher, anfangs war er voller Zuversicht. Er hatte Richard schnell in einer Taverne gefunden und dieser Hatte ihm auch ein Zimmer vermitteln können, dass seine Taler unangetastet ließ, aber damit schien das Glück dieses Aufenthalts auch erschöpft zu sein. Neferu war seit gut anderthalb bis zwei Wochen nicht gesehen worden. Weder die Gardisten, noch die Bettler hatten Richard sagen können wohin sie gegangen war. Nur in einem Punkt waren sich alle einig – es war sehr wahrscheinlich, dass sie die Stadt nicht verlassen hatte. Nicht nur waren ihre Sachen noch in ihrem Zimmer bei den Hortemanns, nein, auch die Stadtgarde hatte bestätigen können, dass sie ihre Waffen und ihre Rüstung nicht ausgelöst hatte.

Er schloss die Augen und konzentrierte sich einen Moment auf die Wärme des Wassers um seinen Leib. Er hatte sich Sorgen gemacht, war schier verrückt geworden vor Angst. Er war sofort in den Rondratempel gestürmt und hatte die Hilfe seiner Brüder und Schwestern erbeten. Und ja, sie hatten Doppelpatroullien in den Gassen der verrufeneren Stadteile durchgeführt, hatten den ein oder anderen Dieb, Meuchler und Betrüger aufgegriffen und peinlich verhört, aber von Neferu keine Spur.
Er runzelte die Stirn. Seine Sorge hatte ihn weit genug getrieben einen Bettler in einen der Kanäle der Stadt zu werfen, nachdem dieser ihm ein Bein gestellt hatte.
Sein Blick wandte sich auf die vorsichtig spiegelnde Wasserfläche hinab. Das hatte ihm eine Nacht in den Kerkern Grangors eingebracht…eine Nacht, die er zum überlegen genutzt hatte. Es war ihm immer wahrscheinlicher erschienen, dass Neferu die Stadt doch verlassen hatte…irgendwie…unbemerkt. Immerhin war sie zuletzt in der Nähe des Pilgerhafens gesehen worden und war seitdem nicht mehr in der Stadt aufgetaucht.
Er war am nächsten Morgen sofort raus in den Hafen gegangen und hatte sich unter den Kapitänen der vor Anker liegenden Schiffe umgehört. Jedes einzelne Schiff hatte er betreten und sich so lange geweigert es zu verlassen bis er mit dem Kapitän gesprochen hatte…doch auch diese Hoffnungen wurden enttäuscht – keine Spur von Neferu.
Sein Blick wurde starr, als er den Kopf in den Nacken zurück legte. Das warme Wasser kroch seinen Nacken hinauf in seine Haare hinein, da war es wieder dieses Gefühl der Schwerelosigkeit.
Er war Wochen lang nicht zur Ruhe gekommen. Seine Nächte hatten zu keiner Zeit länger als vier Stunden gedauert, Richard hatte ihn zurecht weisen müssen, weil er mitten in der Nacht auf dem Flur im ersten Stock des Hauses Hortemann wie ein Tiger auf und ab gegangen war. Und doch konnte er kaum etwas für sein Verhalten. Die Sorge um die Frau die er liebte hatten ihm Ruhe und Appetit geraubt, hatte sich an seinem Herzen festgekettet und verleidete ihm jedes Vergnügen.
Schließlich hatte er sich einen Ruck gegeben. Wenn sie wirklich in der Stadt war und wenn es diesen Phexdan, der ihr nachgestellt hatte wirklich gäbe, dann müsste er mehr wissen. Er hatte keine Zeit verloren, hatte einen der Bettler bezahlt und ihn nach diesem Kerl auszufragen versucht, hatte versucht ihn ausfindig zu machen, aber er hatte kein Glück gehabt. Niemand konnte oder wollte ihm sagen wo sich dieser Bastard aufhielt. Alles was man ihm zugestanden hatte war, seine Bitte an diesen Halunken heran zu tragen. Es hatte nicht mehr in seiner Hand gelegen.
Traurigkeit überzog das Gesicht des Bronnjars, als er sich ein Stück tiefer in den Zuber sinken ließ, sodass seine Nase nur noch knapp über der Oberfläche des wärmenden Nass war. So musste es sich anfühlen, wenn man geborgen im Leib einer liebenden Mutter heranwuchs.
Trotz der Schlappe auf der Suche nach Phexdan hatte er nicht den Mut verloren. Neferu musste irgendwo sein, also würde er die Suche nicht aufgeben. In den folgenden Tagen hatte er die Patroullien der Rondriten unterstützt, hatte sie erbarmungslos durch die Gassen getrieben, hatte mit glühendem Eifer jeden Hinterhof überwacht. Bis…ja…bis zu dem Tag von Neferus Rückkehr. Gegen Mittag hatte er von einem der Bettler eine Nachricht erhalten – Phexdan war zurück und wollte ihm die Bitte um ein Gespräch erfüllen, er, Garion, sollte in dem Gasthaus Zur offenen Hand auf ihn warten. Er hatte gewartet – oh ja, das hatte er, aber es sollte trotzdem noch bis zur Hälfte der zweiten Nachtstunde dauern, bis er sein Gespräch bekommen hatte. Phexdan sah anders aus, als er ihn sich vorgestellt hatte. Er trug teure Kleider, war glatt rasiert und hatte ohne Frage ein hübsches Gesicht – nichts, was Garion gnädiger zu stimmen vermocht hätte. Kaum, dass der Mann sich gesetzt hatte lächelte dieser Hurensohn ihn freundlich an:“Ihr müsst Garion sein. Ihr wolltet mich sprechen?“
Der Rondrit hatte leise mit den Zähnen genknirscht:“Wo ist sie?“
Die Antwort hatte ihn überrascht:“Ich weiß es nicht. Ich habe sie suchen lassen…aber…wir haben sie nicht gefunden…ich…“, da war es Garion zu viel geworden. Er hatte den jungen Mann am Kragen gepackt und über den Tisch gezogen:“Du mieser, scheinheiliger Betrüger, wenn ich rausfinde, dass du etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hast, dann…!“
Phexdan hatte die Hände gehoben und sich alle Mühe gegeben ihn mit Zusicherungen seiner Unschuld zu beruhigen. „Ich weiß wirklich nicht wo sie ist…ich wollte nicht tiefer in sie dringen…“, hatte er gesagt. „WOLLTEST DU SEHR WOHL! DU WOLLTEST IHR IHRE UNSCHULD RAUBEN!“, war Garion aufgefahren, war lauter geworden als geplant. Wieder hatte Phexdan die Hände abwehrend gehoben und ihn verdutzt angeblickt.“Ich…ihre Unschuld rauben? Wohl eher andersherum…“,das hatte Garion nicht beruhigt…im Gegenteil, seine sonst so ausgeprägte Geduld hatte ihm gänzlich im Stich gelassen…Wut war seine Kehle hinaufgesprungen und er war dem jungen Mann an die Kehle gegangen wie ein verwundeter Löwe. Ein Umstand, dem er es zu verdanken gehabt hatte, dass zwei der Bettlerfreunde dieses gelackten Affen ihn gepackt und in einem der Kanäle abgekühlt hatten.
Wieder hatte man ihm Glück unterstellt, die beiden hatten ihn wieder aus dem Wasser gezogen und an seinen Platz zurück geschliffen, wo er sich mit dem Gefühl einsam und gedemütigt worden zu sein wieder niedergelassen hatte. Er hatte gefroren, aber alles daran gesetzt keine Schwäche zu zeigen, auch wenn es so wirken mochte, der Zorn auf den Zwölfgötterverfluchten Jüngling ihm gegenüber war keinesfalls verraucht, nicht einmal im Ansatz.
Dann war es geschehen, die Tür hatte sich geöffnet, laut und kraftvoll, und Neferu hatte in der Tür gestanden. Garion führte den Stich im Herzen immer noch und rieb sich unter der warmen Decke seines Bades über die linke Brusthälfte. Er hatte sofort gespürt, dass etwas anders war, als er sie in der Tür gesehen hatte – sicher einiges war unübersehbar. Ihre Haut war sehr viel dunkler, sie trug ihre Haare anders und was sie am Leib trug hatte viel von dem luxuriösen Glanz verloren, den es einst besessen hatte. Aber…das war es nicht, was ihm zu schaffen gemacht hatte. Es war etwas in ihren Augen. Etwas an ihrem Blick…an ihrer Haltung hatte sich verändert. Auch jetzt, einen Tag später konnte er nicht genau sagen, was ihn vorgewarnt hatte, aber…war das wirklich wichtig? Er hatte sich an diesem Abend nicht getäuscht. Phexdan war als erster bei ihr gewesen, hatte Anstalten gemacht sie zu umarmen – er musste sich wirklich sehr sicher gewesen sein – hatte aber mit einem Blick zurück zu dem durchnässten Garion darauf verzichtet und die Taverne verlassen. Er selbst hatte Neferu gefragt, wo sie gewesen war, hatte ihr versichert, dass er an seinen Sorgen beinahe zu Grunde gegangen war, aber sie war mit ihren Gedanken woanders, weit weg von ihm. Es hatte nicht lange gedauert, bis er die Taverne nur noch hinter sich lassen wollte. Er hatte sie gefragt ob sie mit ihm käme, zurück zu den Hortemanns, wo er ihr Bett, das er bisher genutzt hatte sofort für sie räumen würde.
Er starrte wieder an die Decke des Bades. Sie hatte verneint, hatte ihm aber bestätigt, dass sie nachkommen würde. Nur mit Richard an seiner Seite war er schweren Herzens zu seiner Lagerstatt zurück gekehrt. Es war zu spät gewesen um nach einem anderen Zimmer zu fragen, so hatte er in Rüstung auf dem Flur übernachtet, ohne an diesem Tag noch etwas von Neferu zu sehen oder zu hören.
Er richtete seinen Blick auf das große Schwert neben der verriegelten Tür. Danach hatten die Ereignisse sich überschlagen, die Klinge legte Zeugnis davon ab. Noch immer klebte Blut an dem schartigen Zweihänder, das Blut Grangorer Bürger, Anhänger des Namenlosen. Wie immer überraschte ihn die Angewohnheit so profane Dinge wie ein erbeutetes Schwert zu analysieren und nach Zeichen für die Geschichte zu suchen, die sie miterlebt hatten. Seine Augen hielten an einer der Scharten inne…er selbst hatte sie geschlagen. Das Schwert war gegen ihn gerichtet gewesen.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Wärme. In seinen Gedanken mischten sich Bilder. Ein großer Krieger holte mit einem Bidenhänder aus und traf ihn mit der Wucht eines Golems nahe der Rippen…sein Geist verlor sich in der Wärme und ehe ihm Boron seinen Segen schenkte sah er wie die braungebrannte Neferu ihm zulächelte. Warm und mit diesem Funkeln in ihren Augen…wie sie es früher einmal getan hatte…

[1][2][3][4][5][6]