Grangor

Grangor 19 (Garion)

Angewidert hob der Rondrit seinen Blick an. Der Geruch nach Urin und anderen Fäkalien beherrschte seine Zelle, durchzog das vom Mist der anderen Gefangenen feuchte Stroh, das eigentlich seinen Schlafplatz darstellen sollte.

Noch einmal fuhr er sich mit der Handfläche der Linken durch das Gesicht und betrachtete, was in der Hand zurückblieb: Ein ekelerregendes Gemisch verschiedenster Körpersäfte und weicher Exkremente. Eine der Wachen hatte den Eimer, der hier unten gemeinhin als „der Donnerbalken“ bezeichnet worden, in seine Zelle und damit über ihn geleert. Vorgeblich ein Versehen, aber Garion wusste es besser. Er hatte sich das Gesicht des Gardisten eingeprägt; Dieser Übergriff hatte nichts mit einer gerechten Strafe zu tun, das war eine unnötige Demütigung, die er nicht zu tolerieren gewillt war.

Rasch fuhr er sich mit der Hand an den Rücken, als etwas juckte. Sicher ein Rinnsal dieser abartigen Brühe., dachte er und spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Nicht einmal sich zu waschen war ihm erlaubt worden. Und dann diese Kopfschmerzen. Seine Finger erreichten die Stelle des Juckreizes, stießen allerdings nicht auf die erwartete Flüssigkeit, sondern auf einen kleinen, harten und vielbeinigen Körper. „Was bei Rondras Donnerfürzen…?!“, fluchte der Ardarit erschrocken, umfasste das Insekt und riss es hervor um sich den Übeltäter zu besehen. Die Schabe zwischen Garions Fingerspitzen bemühte sich nach Kräften ihre verlorene Freiheit wieder zu erlangen, tastete mit ihren Fühlern nach dem überraschend festen Griff, der sie gefangen hielt, zappelte mit den Beinen und bot mit ihrem von menschlichen Exkrementen besudeltem Panzer einen äußerst unappetitlichen Anblick.
Garion schluckte einen schalen Geschmack hinunter und löste den Blick von dem zappelnden Insekt in seinen Fingern, ließ ihn stattdessen über den Boden seiner Zelle wandern. Da waren sie, ein ganzes Heer von Ungeziefer. Es wimmelte zwischen den Strohhäufchen umher, angelockt vom Geruch der menschlichen Hinterlassenschaften, dem Herd der Krankheiten, die ganze Zivilisationen ausrotteten.
Rasch erhob er sich und schnippte das zappelnde Etwas in seiner Hand durch die Stäbe seiner Zelle nach draußen auf den Flur des dunklen Kerkers. Leise hörte er den Panzer der Schabe an der Wand gegenüber abprallen.
Phexdan!, schoss es ihm durch den Kopf. Das war alles die Schuld dieses zwölfgötterverfluchten Bettlers! Ein kräftiges Husten unterbrach seine Gedanken, ein heftiger Krampf schüttelte seinen geschwächten Körper. Etwas nahm ihm die Luft zu atmen! Er sank auf die Knie und griff mit seinen verdreckten Händen an seine Kehle. Panik stieg in ihm auf. Der Rondrit hatte keine Angst vor einem Kampf mit einem bewaffneten Gegner, auch nicht vor dem Kampf mit einem Dämon. Die Angriffe jedes noch so überlegenen Gegners konnte man sehen, konnte wenigstens versuchen sie abzuwehren, aber das hier?!
Er spürte wie sein Körper zur Seite kippte und auf dem mit Brackwasser überzogenen Boden aufschlug. Sein Sichtfeld engte sich ein, Dunkelheit drängte von den Seiten auf seine Augen zu, als er verzweifelt zu husten begann, dann gab sein Körper nach und schenkte ihm die erlösende Bewusstlosigkeit des Kraftlosen.
Er atmete tief ein. Zwar umgab ihn Dunkelheit, aber er spürte etwas. Unter ihm bewegte sich ein kräftiger Leib, er hörte den dumpfen Schlag von Hufen, die ihr Stakkato in weichen Boden hämmerten. Der Wind, der ihm um die Nase pfiff trug ihm eine laute, befehlsgewohnte Stimme an die Ohren:“Eine Linie! LANZEN FREI!“
Plötzlich lichtete sich die Dunkelheit. Garion konnte rechts und links neben sich andere Reiter erahnen, spürte die eingelegte Lanze an seinem rechten Arm. Grassoden wurden dem Boden entrissen, als die Reiter auf breiter Front aus dem Wald hervorbrachen, der ihrem Anritt bis eben noch Deckung gegeben hatte, und auf eine Lichtung von ungefähr 200 Schritt Durchmesser hinaus preschten. In einiger Entfernung konnte der Rondrit eine niedrige Bauernkate ausmachen, die soeben Feuer gefangen hatte. In den Haufen dunkler Gestalten davor, kam Bewegung, als die Reiter bemerkt wurden. Rasch drängten die Bewaffneten sich zusammen und versuchten eine lose Kampfordnung aufzustellen. Als die Reiter näher kamen, verließen zwei ihrer Gegner die Nerven. Die beiden Männer rannten nach rechts und links los, hielten verzweifelt auf den Waldrand zu, doch Garion wusste, dass ihr Schicksal besiegelt war, als er zwei Reiter aus seinem Trupp ausscheren und die Verfolgung aufnehmen sah.
Sein Blick ruckte zu den verbliebenen Verteidigern zurück. Sie hatten sich zu einer recht schiefen Linie zusammengefunden und starrten den Angreifern angstvoll entgegen.
Nicht einfach in die Menge reiten, Garion. Such dir einen aus, lass ihn wissen, dass er DEIN Gegner ist. Er soll Boron kommen sehen., dachte er bei sich und ließ seinen Blick suchend über die Feinde und die Spitzen der bereits ausgerichteten Lanzen seiner Kameraden gleiten.
Dann fand sein Blick ein Gesicht…Es kam ihm merkwürdig bekannt vor. Schwarzes, strubbeliges Haar, grüne Augen, in der Hand nichts weiter als ein Rapier. Phexdan!
Die Spitze von Garions Kriegslanze blitzte im Licht der Abendsonne unheilverkündend auf, als er sie ein letztes Mal ausrichtete, es gab einen dumpfen Schlag als die lange Waffe ihr Ziel traf, dann folgte ein langgezogener Schrei, der ihn aus dem Traum zurück in die Realität riss.
Leise keuchend öffnete er die Augen. Er zitterte am ganzen Leib und schaffte es kaum den Kopf zu heben. Sein Kopf schwirrte und nur von Fern hörte er das Rasseln von Rüstungen und eine Frauenstimme, die in einem Anfall von äußerster Wut derbe Verwünschungen ausstieß, wie man sie nur im Feld lernte. Vorsichtig tastete er umher, griff in die Fäkalien seiner Zelle und das von Gewürm verseuchte Stroh seiner Schlafstatt. Sein Kopf dröhnte wie Ingerimms Schlag auf einem Amboss. Wie durch einen Nebel nahm er wahr, was vor seiner Zelle geschah.
Eine kräftige Frauengestalt, ganz offensichtlich die, die eine Verwünschung nach der anderen ausstieß, hielt eine zweite, männliche Gestalt gepackt, die die Farben der grangorer Garde am Leib trug.
Garion blinzelte noch einmal, als der Gardist von der Frau mit fürchterlicher Wucht gegen das Gitter seiner eigenen Zelle geschlagen wurde, zu bluten begann und auf dem Boden zusammensackte.
„Holt unseren Bruder aus der Zelle und werft diesen Sohn einer räudigen Hündin hinein! Dieser Narr hat sich an der Herrin Rondra versündigt, lasst ihn spüren, wie wir mit Ketzern verfahren!“, hallte die weibliche Stimme hart von den Wänden des Gefängnisses wider.
Der Rondrit spürte wie ihn zwei Paar kräftiger Hände unter den Armen packten und auf die Füße zogen, dann verlor er den Bodenkontakt, als die weibliche Gestalt seine Füße anhob um ihn mit ihrem Glaubensbrüdern aus der dreckigen Zelle zu schaffen. Er registrierte noch die Veränderung der Lichtverhältnisse, spürte die Wärme der Sonne auf seiner Haut, dann umfing ihn wieder die Dunkelheit.
Als er wieder erwachte atmete er tief ein. Der widerwärtige Geruch der Zelle war Vergangenheit, es roch vielmehr nach den sauberen Laken eines Bettes und als er seine Finger aneinander rieb fühlten sie sich sauber an, wie direkt nach einem warmen Bad. Vorsichtig öffnete er seine Augen und blinzelte in das Licht einer offenbar frisch entzündeten Talkkerze auf einem kleinen Beistelltischchen.
Er fühlte sich besser, das Gewicht auf seiner Lunge war verschwunden, der Reiz zu husten gewichen.
Einen Moment rieb er sich die Augen, ehe er seine Füße neben das Bett schwang um sich zu erheben. Der Raum um ihn herum war merklich größer als die winzige Zelle in den Kerkern der Stadtgarde. Das Bett, auf dem er bis eben gelegen hatte war mit sauberen Laken bezogen und groß genug für so ziemliche jede Art von Krieger. Zu seinen Füßen lag ein weicher, blutroter Teppich, in dem er für einen Moment die Zehen vergrub.
Das Tischchen mit der Kerze, ein recht niedriger Nachttisch, war nicht der einzige Tisch im Raum. Unter dem kleinen, vergitterten und verglasten Fenster stand ein Sekretär mit einem passenden Stuhl bereit, dessen mit Tinte befleckte Oberfläche ihn als vorzüglichen Ort seine Gedanken niederzuschreiben auswies. Alles in allem eine deutliche Steigerung, befand er, als sein Blick auf ein kleines, rotes Büchlein auf dem Nachttisch fiel. Garion runzelte die Stirn. Er erinnerte sich keines solchen Buches in seinem Besitz.
Zwei lange Schritte trugen ihn zu dem Schriftwerk hinüber, ehe er sich vorbeugte um den auf die Vorderseite gravierten Titel lesen zu können. „Rondra Vademecum“, flüsterte er leise.
Nachdenklich legte er die Stirn in Falten, er hatte von diesem Buch gehört. Es war eine Art religiöser Leitfaden für reisende Geweihte der Herrin Rondra. Eine Erinnerung an die Werte und Tugenden in Schriftform, eine Zusammenfassung der wichtigsten Gebete und Andachten.
Er musste schmunzeln. Niemals hatte er eines besessen, aber interessiert hatte es ihn schon immer.
Mit einer andächtigen Geste griff er nach dem Buch mit dem roten Ledereinband und strich über den stilisierten Löwen auf der Vorderseite. Gerade hatte er sich damit in der Hand niedergelassen, als es an seiner Tür klopfte. „Nur herein!“, antwortete er dem Klopfen mit fester Stimme, ehe sich die Tür nach innen öffnete und ihm einen hereintretenden Geweihten der Rondra offenbarte.
„Knappe der Göttin, es freut mich, dass ihr wieder wach seid. Wir haben uns erlaubt euch aus den Kerkern der Garde zu holen. Man hat euch dort vollkommen unangemessen behandelt, es war eine Schande. Ich hoffe es geht euch wieder besser?“, begrüßte der Mann Garion, der für einen Moment um Worte verlegen war und nur nickte, sich dann aber eines besseren besann. „Vielen Dank dafür. Ja, es geht mir besser…Sehr viel besser sogar.“, noch einmal nickte er dem Geweihten zu, als sei die Befreiung seine Entscheidung gewesen.
„Nun, zwar seid ihr dem Kerker entronnen, aber dennoch muss eure Verfehlung gesühnt werden, dafür habt ihr sicher Verständnis.“, Garion nickte. „Ihr steht noch bis morgen früh unter Arrest. Ich werde die Tür eurer Kammer allerdings aufgeschlossen lassen, ihr könnt euch im Tempel frei bewegen, ihn aber auf keinen Fall verlassen, hört ihr?“
Garion nickte…Er hatte gehört. „Natürlich, ich werde mich an den Arrest halten, darauf mein Wort. Aber danach werde ich mir diesen Gardisten vornehmen, der…“, der blonde Geweihte mit dem Spitzbart schnitt ihm das Wort ab:“…Der euch die Fäkalien der Kerkerinsassen über das Haupt schüttete?“, er grinste. „Ich denke, um den hat sich die Ritterin der Göttin Selissa bereits gekümmert. Er wird mindestens einen Götternamen lang keinen Dienst mehr schieben können. NIEMAND vergeht sich auf solch tolldreiste Art an unseren Brüdern und Schwestern!“, beschied er Garion erregt, ehe er sich rasch räusperte und einen Blick auf das Buch in Garions Hand warf.
„Ah. Ihr habt das Rondra Vademecum gefunden. Als wir eure Sachen aus dem Arsenal der Garde bargen fiel uns auf, dass sich keines in eurem Besitz zu befinden schien. Behaltet es…es ist ein Geschenk der Kirche. Eure anderen Besitztümer könnt ihr an euch nehmen – Waffen und Rüstungen natürlich nicht, seht es uns nach.“
Wieder nickte Garion. Natürlich, man bewaffnete niemanden, der unter Arrest stand, das verstand er nur zu gut, also nickte er dem Geweihten ein letztes Mal zu. „Ich danke euch für alles. Wenn ihr erlaubt, dann werde ich mich nun ein wenig in der Lektüre ergehen. Meine Sachen hole ich später.“
Wenig später hatte der Geweihte die kleine Kammer nach einem knappen Gruß wieder verlassen und der Rondrit Garion Rondrior von Arivor war wieder allein. Einen Moment noch blieb er nachdenklich auf dem kleinen Bett sitzen, dann erhob er sich um den niedrigen Raum zu verlassen. In der Haupthalle des Tempels würde sich sicherlich eine zum Lesen geeignete Nische finden lassen und durch das geöffnete Tor des Tempels könnte er wenigstens nach draußen sehen.

Grangor 18 (Neferu)

Zwei volle Wochen noch gingen ins Land, ehe Neferu ihr Reiseziel erreichte: Grangor, die Inselstadt an der Westküste.
Sie trug die zweite Gestalt, die boronsweiße Schönheit mit dem schwarzen Haar und den Eisaugen, an deren Körper sie sich beinahe gewöhnt hatte, da er ihr die letzte Zeit gute Dienste erwies. Der Hexenleib, der ihr vom magischen Armband verliehen wurde, war nicht nur durchweg charismatisch – er bewahrte sie auch davor, dass die Dämonenpaktierer, mit denen sie den Handel um Phexjes Leben eingegangen war, ihr Antlitz je wiedererkennen konnten. Zudem hatte sie ihre schwarze Robe wohlweislich eingepackt und ihren ansehnlichen Leib unter der bodenlangen Boronskutte verborgen.

Ob alles gut gegangen war? Ob Phexje wirklich wieder lebte? Sie biss sich auf die blutrote Unterlippe, die eigentlich nicht die Ihrige war. Natürlich vertraute sie den düsteren Gestalten aus Tobrien nicht, denen sie die dreitausend Dukaten überlassen hatte. Sie war sich aber auch nicht vollends darüber bewusst, was sie tun sollte, wenn die Paktierer aus dem Osten sie über den Tisch gezogen hatten.

Schnell schüttelte die dunkelhaarige Schöne die grimmigen Gedanken ab. Nur nicht daran denken… Keinen Gedanken an den schlechtesten Ausgang ihrer Einzelmission verschwenden. Sie musste sich vergewissern. Sie musste Phexdan aufsuchen… Und gleichzeitig konnte sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Es brauchte nicht lang den Bettlerkönig zu finden. Mittlerweile hatte sie vom Hörensagen herausgefunden, dass es tatsächlich so war, wie sie es sich erhofft hatte: Ein totgeglaubter Junge war in Grangor wiederauferstanden. Ein Wunder Tsas!
Phexdan saß unrasiert und mit abgespanntem Gesicht auf seinem Stammplatz – auf der Brücke beim Schneider. Während die Menschenmassen den Übergang von beiden Richtungen passierten, nutzte Neferu deren Bewegungen, um für einen Moment ungesehen zu verharren. Der stehengebliebenen vermeintlichen Boroni wurde kommentarlos ausgewichen.
Die jetzt blauen Augen der Halb-Tulamidin-Halb-Thorwalerin wanderten über die sitzende Gestalt. Ein ganz normaler Bettler unter vielen, oder nicht? Zerzaustes, ungebändigtes Haar, fahle Haut, übernächtige Augenringe, zerlumpte Kleidung, ein Verband über dem Nasenbein – Phexdan reihte sich an diesem hellen, wolkenlosen, aber doch kühlen Herbsttag besser als sonst in die Reihen der bettelnden Hilfsbedürftigen ein.

Die fremde Schwarzhaarige hielt auf den jungen Mann zu, der im Schneidersitz auf seiner Matte hockte und ein Loch in die Luft starrte. In eleganter Manier ging sie vor ihm auf ein Knie und grüßte ihn samtig, während sie ihm einige Silber spendete. Er hob den Blick… als sähe er durch sie hindurch.
Säuselnde Worte entkamen den sinnlichen Lippen der Frau. Versprechende, lockende Töne erzählten von Nahrung, Wärme und Gold. Nährten seine Eitelkeit und sprachen zu ihm von seinem anziehenden Äußeren. Phexdan gab ihr einen Handkuss.
Raureif legte sich frostig klirrend um Neferus Herzregion, während sie sich gleichermaßen innerlich gut zuredete, dass der Mann, den sie vom ersten Augenblick ins Auge gefasst hatte, lediglich seine Höflichkeit spielen ließ.
Oder würde er die außergewöhnlich hübsche Fremde tatsächlich an sich heranlassen? Jetzt, wo sein Versprechen Phexje gegenüber eingelöst war, wo sein Leib frei war zu tun, wonach auch immer ihm Sinn und Lust standen. Sie schluckte knapp den bitteren Geschmack herunter und der Drang zu prüfen woran sie war, nahm stetig zu und ließ sie die Kiefer aufeinanderbeißen.

Der Strom der Pilger ebbte nicht ab, der die zwei umsäumte.
Phexdan erhob sich – er willigte ein mit ihr in eine Taverne zu gehen und sich ein gutes Essen ausgeben zu lassen. Neferu riet sich zur Vorsicht. Ihr einstiger Goldsegen war für das Leben des kleinen Jungen so dermaßen geschrumpft, dass sie acht geben musste nicht selbst zu verhungern. Ein äußerst unglücklicher und leidlicher Umstand, den sie besonders in diesem Moment verfluchte. Sie spielte eine Rolle, deren Mittel sie nicht länger zur Verfügung hatte. Ein Faktum, an das zu gewöhnen sie sich nun stärker einzuprägen gedachte.
Aus dem Augenwinkel sah sie zu dem Bettler, der ihr gefolgt war. Was hatte er vor? Würde er mit der Fremden mitgehen und geradewegs in Neferus aufgestellte Falle laufen? Seine Mimik wirkte alles andere als begeistert. Entweder ein gutes Zeichen oder lediglich ein Merkmal seiner offensichtlichen Müdigkeit oder was auch immer es war, das an seiner Erscheinung genagt hatte.
Da… noch dreißig Meter. Die Taverne näherte sich rasant.
Neferu entschied sich, alles auf eine Karte zu setzen und machte dem Gauklerbettler eindeutig unzweideutige, unmoralische Angebote:
„Bist du dir sicher, dass du nach dem reichlichen Mahl, das ich dir bezahlen werde nicht doch noch Nachtisch willst? Ich nehme dich mit auf mein Zimmer… Es ist sehr bequem dort. Natürlich werde ich dich reich für diese Unannehmlichkeit bezahlen…“
Er verneinte. Phexdan lehnte strikt ab – trotz der Aussicht auf Gewinn, hatte er nicht vor mit der atemberaubenden Schönheit in ihr Bett zu steigen. Die blasshäutige Frau atmete tief durch und bog in eine etwas minder belebte Seitengasse der Kanalstadt ein.
Phexdan folgte ihr – möglichweise mit einem Stirnrunzeln.
„Ich darf dich also nicht berühren?“ entkam es der Borongläubigen sanftmütig, als sie ihm den Rücken zuwandte. Schwarzes, glattes Haar fiel gesund und dicht bis auf den Ansatz ihres wohlgerundeten Pos, der sich nur angedeutet unter der Robe abzeichnete.
„Nein…“ raunte Phexdan.
Neferu konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, welches er aufgrund ihrer Abgewandtheit glücklicherweise nicht wahrnehmen konnte.
„Ach… Ich rettete deinen kleinen Phexje, indem ich Onkel Boron bat, ihn mir zurückzugeben und als Dank darf ich dich immer noch nicht berühren?“ schmunzelte sie gewitzt, während sie im Innern ihrer weiten schwarzen Ärmel das Armband dreimal zurückdrehte, dass der Spuk vor Phexdans grünen Augen ein Ende nahm und das lange, gepflegte schwarze Haar sich direkt eine Armlänge von ihm entfernt in die vielen rotbraunen Zöpfe Neferus verwandelten, die nur bis zu ihren Schulterblättern reichten.

„Neferu?“ wisperte der Verwirrte mit weit geöffneten Augen.
Langsam drehte sie ihm ihr Gesicht zu, gefolgt von ihren Schultern und dem Rest ihres Leibes, der zwar immernoch in der schwarzen Robe steckte, aber jetzt durch und durch das Original war.
Ihre geschwungenen Lippen zierte ein neckisches Lächeln.
„Wer sonst?“ grinste sie ihn an, wohl wissend, dass ihr Auftritt allerlei Fragen mit sich brachte. Was hätte sie alles dafür gegeben in diesem Moment seine Gedanken lesen zu können.
Noch während sie dieser verlockenden, aber unmöglichen Vorstellung nachhing, wurde sie aufs Heftigste von dem nur einen Finger größeren Fuchs umarmt. Seine kräftigen Arme schlangen sich um sie und drückten ihren Körper an sich, in der sehnigen Kraft geschult durch lange Jahre als Gaukler.
Phexdan… Sie nutzte augenblicklich die Gunst der Stunde und vergrub ihre Nase an seinem Hals. Sein Duft… Wie hatte sie ihn vermisst. Ihre Hände strichen besitzend über den groben Stoff der Bettlerkleidung seines Rückens.
„Wo warst du…? Wie hast du das alles gemacht? Bist du eine Magierin? Oder… eine Hexe?“ huschten die ersten verwirrten Fragen an ihr Ohr.
„Nein, ich… bin keine Magierin… und auch keine Hexe.“ Flüsterte sie lachend, „…bitte..frag nicht weiter.“

Er ging ihrer Bitte ohne das kleinste Murren nach und stellte ebenfalls eine stumme Bitte, als sein Mund sich ihren Lippen näherte, sich zögerlich herantastete, um sie dann zu küssen.
Ihr erster Kuss mit dem Füchschen raubte ihr den Atem. All die Jahre der fleischlichen Entbehrung durch ein willensstark eingehaltenes Versprechen und die plötzliche, innige Nähe der lang Vermissten veranlassten ihn dazu, sie mit einer Leidenschaft und Tobsucht zu küssen, dass ihr schwindelig wurde. Immer wieder pressten die Muskeln seiner Arme den Körper des geliebten Menschen an den seinen, während er Küsse an ihren warmen Lippen in erkundender Neugier und gleichzeitiger innerer Hitze probierte und das erste Mal erfuhr.
Sein Mund streichelte, liebkoste, küsste, schmiegte sich an und öffnete sich leicht, um seiner Zunge freies Geleit zu verschaffen. Mehrere Minuten standen sie so in der Seitengasse Grangors und liebten sich mit Zärtlichkeiten durch Hände und Lippen. Neferu ließ ihre Finger in sein schwarzes Haar gleiten. Sie liebte die vielen Wirbel und Drehungen, die es immer und überall unordentlich und wild aussehen ließen.
Endlich durften sie sich berühren und ihre ersten Berührungen prägten sich verheißungsvoll auf Haut und Seele des anderen und schienen nachholen zu wollen, was schon im ersten Moment leise und noch ungehört in beiden geflüstert hatte, als sich die gleichfarbenen Augen das erste Mal mit Blicken begegnet waren.

Beide waren müde von den vergangenen Tagen und Wochen. Beide sehnten sich nach Schlaf, so dass ihre Schritte sie in die nicht weit entfernte „Offene Hand“ lenkten. Noch war Neferu das Bett zu schmal für sie beide, so dass Phexdan zwei Matratzen auf dem Boden aneinanderschob. Endlich wurde sie diese schwarze Boronsrobe los unter der sie die blaue Kleidung Phexdans trug, die sie sich in Trallop auf den Leib hatte schneidern lassen. Königsblaue Kleider. Wie sie sich doch ähnelten, die smaragdäugigen, fast gleichgroßen Phexdiener, die beide in dieselbe Farbe gewandet waren. Königsblau.
Stirn an Stirn gelehnt schliefen sie ein, jeder unter seiner Decke. Lediglich hier ein Streicheln und dort eine Hand, die zu der nahen anderen Person herüber tastete.
„Sind Richard und Garion in der Stadt?“ wisperte Neferu leise beim Einschlafen, sich über den Verbleib ihrer Gefährten vergewissernd.
„Ja, Richard schläft bei den Hortemanns, soweit ich weiß und Garion…. Ist im Kerker. Er hat mich geschlagen… Deswegen auch der Verband…“ Phexdan tippte sich mit leidender, müder Miene an die Nase.
Neferu seufzte resigniert. Die hinter sich gelassene Odyssee saß noch zu tief in ihren Knochen, um sie zu einem weiteren Nachfragen hinreißen zu lassen. Sie ließ sich in Borons Arme sinken und empfing süßen Schlaf.

Grangor 17 (Rahjard)

Nicht einmal im Schlaf konnte sich Rahjard mehr des leichten Lächelns erwehren, das seinem Antlitz im Zusammenspiel mit seinen anderen Aspekten in den vergangenen Praiosläufen einen (eher unfreiwilligen) Hauch von Vollkommenheit verliehen hatte. Ausgelöst hatte niemand geringeres als der Knappe der Göttin die ungewohnte Glückseligkeit beim bukanischen Piratenspross. Die Rechte des Rondrageweihten hatte sich mit Schwung in das Gesicht von Phexdan gedrückt. Doch nicht etwa das Leid des Bettlers und Gauklers, sondern viel mehr das des Geweihten ließ ihn derart frohlocken. Noch bevor sich Rahjard auf Phexdan zubewegt hatte, stellte er sich jedoch die alles entscheidende Frage, was die Motivation für diesen „Schicksalsschlag“ gewesen sein mochte. Konnte es sein und war es möglich, dass die Wurzel allen Übels tatsächlich nichts weiter als die täglich zunehmende Frustration hinsichtlich des Verlusts seiner geliebten Neferu war und dass er nicht einsehen konnte oder wollte, dass sie ihm einen grangorer Bettler vorzog?

Sicherlich waren die Liebe und ihre Mysterien noch nie das Spezialgebiet der Weiberhelden aus der Familie Lowanger-Greiber gewesen, dennoch war Rahjard trotz all der fehlenden Erfahrung von einer Sache überzeugt und zwar, dass noch mehr dahinter stecken musste. Denn schließlich kann nur verloren werden, was man bereits besessen hat. Es beschwerte sich doch auch niemand bei einem Würfelspiel von vier Runden, mit vier Teilnehmern, schon in der Dritten darüber eine Dukate verloren zu haben, wenn der Einsatz bis dahin bei zwei Silbertalern lag. Garion war es nie gelungen, sie zu seinem Eigen zu machen. Worüber beklagte er sich also, …sexuelle Unausgeglichenheit?

Eine Antwort wollte ihm nicht einfallen und daher betrachtete er stirnrunzelnd das Geschehen, wie der Ritter des alten Weges von einigen Gardisten abgeführt wurde. Nicht seine erste Haftstrafe, die er in Grangor verbüßen musste, und gewiss auch nicht die letzte. Schließlich stand Rahjard vor Phexdan. Beide nickten einander leicht zu, begutachteten sich für einen Augenblick den jeweils anderen und kamen erst dann allmählich ins Gespräch. Zunächst ging es, wie nicht anders zu erwarten, um die möglichen Gründe von Garion zum Serientäter zu werden. Kurz zuckte Rahjard mit den Schultern und entgegnete dem Bettler nachfolgend, dass es an den tiefen Gefühlen des Bronnjaren für die Halb-Thorwalerin-Halb-Tulamidin liegen musste. Eine Situation, in der ihm nach einem Augenrollen zumute war. Phexdan wohl auch.

Solche Schlüsse zu ziehen stellte für keinen der Beiden eine Herausforderung dar.
Wenige Fußschritte später fanden sich beide in einer improvisierten Heilerstube wieder, die Rahjard bekannt vorkam. Auch er hatte sich in der tiefsten Gosse irgendwelcher Städte schon die Nase richten lassen müssen, in Andrafall. Einer Stadt, im glorreichen Königreich Andergast.
Zumindest kurz trieb ihm dieser Gedanke ein Schmunzeln auf die Lippen, ehe Phexdan alle Aufmerksamkeit mit nahezu weibischem Gehabe wieder auf sich lenkte: „Aua!“
Beinahe hätte Rahjard noch angefangen Phexdan zu bemitleiden, tat er doch so, als wäre dies die erste geballte Faust eines anderen Mannes gewesen, die sich in sein Gesicht verirrt hätte. Unmerklich schüttelte der Bukanier sein Haupt, während Phexdan immerhin bewies, keine bleibenden Schäden von diesem Hieb davongetragen zu haben: Er beabsichtigte, die Haftstrafe des Rondriten zu verlängern. Zwei, drei oder vier Wochen? Nach kurzer Überlegung zog sich eine Sorgenfalte über die Stirn des Halb-Norbarden.
„So gerne ich das auch sehen würde, ich glaube Neferu mag Garion.. irgendwie. Gutheißen würde sie es sicher nicht, wenn sie herkommt und er insgesamt drei oder vier Wochen einsitzen muss. Eine oder zwei sollten genügen, ihn etwas abzukühlen“, meinte Rahjard und Phexdan nickte. „Warte hier… das mache ich lieber allein“, entgegnete der Bettler und verschwand im nächsten Gebäude, welches Rahjard aufgrund all der Banner und sonstigen Verzierungen zweifellos der städtischen Garde zuordnen konnte.

Schulterzuckend sah er dem Bettler nach und verschwendete einige, wenige Gedanken an den eitlen, liebestollen Knappen der Göttin und Ritter des alten Weges, Garion Rondrior von Arivor; ob er die kommenden Praiosläufe genießen würde und was Neferu wohl von seinem Überfall auf Phexdan halten würde. IHREM Phexdan. Kurzzeitig flammte ein Grinsen in seinem Gesicht auf, bis er den Gaukler wieder erspähte und ihm nach einem kurzen Nicken mitteilte, dass der Rondrit genug Zeit haben werde, über sein Fehlverhalten nachzudenken. Zu diesem Zeitpunkt übermäßige Schadenfreude zu zeigen war sicher nicht angebracht, doch das musste er auch gar nicht… Phexdan gelang es als Meister der Improvisation, Rahjard auf andere Gedanken zu bringen als das Leid des Geweihten, indem er ihn in sein Lieblingsteehaus einlud. Das behauptete er zumindest. Ein erster, das Etablissement sondierender Blick offenbarte dem dunkelhäutigen Bukanier jedoch, dass es sich dabei weniger um ein Teehaus zu handeln schien, als ein drittklassiges Bordell. All die gemütlichen, kuscheligen Ecke, die raumtrennenden Vorhänge und ein leichter Duft von Rauschkräutern ließen zumindest darauf schließen. Dumm nur, dass er mit Phexdan dort war… wo dieser doch überhaupt nicht sein Typ war. Rahjard hob ohne ein Wort darüber zu verlieren einen Mundwinkel an und ließ sich gegenüber von Phexdan nieder, nachdem dieser sich einen Platz ausgesucht und die erste Runde – Tee – ausgegeben hatte. Wie schon auf dem Weg dorthin, sprachen die beiden hauptsächlich über die offenbar einzige Frau in ihrer beider Leben, die maraskanliebende Neferu.

Alleine die Frage, wie sie sich überhaupt kennengelernt hatten, wie seine erste Begegnung mit Garion verlaufen war und die letzten Ereignisse rund um Andergast, Burg Dragenstein und Marek den Schlitzer oder ein erneutes Nachfragen bezüglich Archon Megalon nahmen etwa eine halbe Stunde, wenn nicht mehr, in Beschlag. Tatsächlich war Rahjard in all den Jahren viel herumgekommen, hatte viel mit Neferu erlebt… leider auch einiges mit Garion. Zwar konnte er es auch in seinen Erzählungen einigermaßen kaschieren, doch Phexdan hatte es zu diesem Zeitpunkt mehr als geahnt, dass Rahjard alles andere als Sympathie oder mehr als den Gedanken einer Zweckgemeinschaft für den Rondrageweihten übrig hatte. Dann jedoch verstummte der Redeschwall Rahjards, als Phexdan unerwarteten Besuch erhielt und ihm etwas ins Ohr getuschelt wurde. Ein recht kurzes, knappes und präzises: „Komm mit“, hatte Rahjard dazu veranlasst, an der Seite von Phexdan durch Grangor zu eilen, bis hin zum Efferdtempel, den sie ebenso schnell durchquerten wie die Stadt. Bis sie schließlich, was Rahjard zu einem leichten Schlucken veranlasste, in einem ihm völlig fremden Gewölbe standen. Schlagartig war es ihm klar geworden, wohin all die Dukaten der Bettler geflossen waren. Solch eine Stadt ohne einen solchen Ort, das wäre auch kaum zu glauben gewesen. Rahjard wollte gerade ein Lächeln aufsetzen, als ein Ruck durch seinen Leib ging. Phexdan, der eben noch vor ihm gewesen war, hatte sich auf einmal hinter ihm versteckt und hielt sich an der Schulter des mehr oder minder unbekannten Bukaniers fest, dessen Brauen sich bei diesem Anblick leicht wölbten. Dass es um Phexje gehen sollte, hatte er eher auf dem Weg an diesen Ort mitbekommen, dass sich Phexdan aber zu etwas nicht trauen würde – das war ihm neu.

Schulterzuckend trat er voran in den kleinen Raum, in dem nicht viel mehr Bett und ein Boroni standen. Im Bett lag Phexje, beinahe wieder quickfidel. Rahjards Kinnlade machte augenblicklich Anstalten, nach unten auf den Boden zu sacken, während sich Phexdans Hand schlicht an seiner Schulter verkrampfte. Neferu hatte Erfolg gehabt, …hatte sie? Etwas missmutig betrachtete Rahjard erst den Jungen, dann den Boroni und wieder den Jungen. Dann stürmte Phexdan förmlich vor und nahm die Gelegenheit war, sich an seinen totgeglaubten Bruder zu klammern. Eine Sache, die dem Boroni ebenso wenig gefallen wollte, wie jedes einzelne Wort, das gesprochen wurde. Selbstverständlich zählten die eigenen Laute nicht dazu. Rahjard musste spätestens bei der dritten Ermahnung mit den Augen rollen.

Lediglich ein einzelner Augenblick hätte selbst dem oft so gefühlskalten Bukanier eine Träne in die Augen getrieben, als der Boroni Phexdan entgegnete, dass der kleine Phexje noch recht schwach sei und in dieser Zeit etwas bräuchte, an dem er sich festhalten könne. Einen Wimpernschlag später hatte Phexdan ihm bereits einen hölzernen Fuchs in die Hand gedrückt. Eben jenen, den er einst von Neferu auf dem Markt geschenkt bekommen hatte. Während sich alle der Tatsache erfreuten, den Fuchs und Phexje wieder vereint zu sehen, knirschte der Boroni mit den Zähnen. Wahrscheinlich hatte er, noch während er sprach, an etwas anderes gedacht, irgendetwas das mit Boron zu tun habe, aber im Leben nicht an einen Holzfuchs.

Minuten vergingen und man sah Phexdan an, dass er der Bitte des Boroni nur sehr ungerne nachkam, dem Jungen noch ein wenig Ruhe zu gönnen. Doch was sein musste, musste sein. Noch während sie die das gut gehütete Geheimnis, den im Bau befindlichen Phextempel zu Grangor, verließen, überkam Rahjard allerdings ein wenig Unmut. Auf der einen Seite freute er sich, dass Phexje wieder unter den Lebenden weilte und Alveran hatte verlassen dürfen, jedoch… war Neferu mit 3000 Dukaten fortgegangen. Dreitausend. Durchaus eine Summe, mit der man vieles, das nicht unbedingt boron- oder überhaupt zwölfgöttergefällig sein musste, anstellen konnte. Phexdan klopfte ihm eher nebenbei auf die Schulter und zerrte Rahjard mehr mit in seine Lieblingstaverne, oder die nächstbeste. Was genau, darüber wollte er nicht weiter reden. Sicher war nur, dass Phexdan eine großangelegte Feier für zwei Personen im Sinn hatte. Seine Investition am Tresen sprach zumindest dafür. Noch ehe sie jedoch auch nur ein Wort über Phexjes plötzliche Rückkehr verloren, ging es wieder um die Angebetete des Rondriten – und von Phexdan. Auch bei diesem, durchaus fröhlichen Beisammensein konnte Rahjard wieder über vieles erzählen. Allen voran das, was Neferu ihm über die Jahre übermittelt hatte. So sprachen sie von Maraskan, ihrer liebsten Insel, und auch von Scheïjian. Ihrem letzten, großen Schwarm, ehe sie Phexdan begegnet war.

„Was gibt es schöneres als einen Maraskaner?“, meinte Phexdan darauf unter anderem, was Rahjard dazu veranlasste die Stirn sachte zu runzeln und das Kinn sodann leicht anzuheben. „Ich bin doch auch ganz schön anzusehen“, entgegnete er dem Bettler und es fiel ihm selbst schwer, sich in diesem vor Arroganz nur so strotzenden Moment keinem schallenden Lachen hinzugeben. Sein Possenspiel war jedoch derart überragend, dass er sich die Gedanken daran nicht anmerken ließ. Phexdan wölbte dennoch nur die Brauen und raunte ihm ein leises „naja“ entgegen. Beinahe so als wüsste er um diesen Umstand, den er sich aber nur ungern eingestehen wollte. Rahjard schmunzelte daraufhin abermals, ehe er die Augen leicht zusammenkniff.

Was war das? Er blinzelte leicht… und fuhr dann mit seinen Erzählungen fort, gar nicht realisierend, dass er und Phexdan eher nebenbei einen nach dem anderen Humpen geleert hatten und es dem jeweils anderen immer schwerer fiel, den Gegenüber vor lauter leichtem, mittelschweren und unüberhörbaren Lallen überhaupt noch zu verstehen. Insbesondere bei einer Aussage musste Phexdan noch einmal nachhaken, orderte offenbar vorsichtshalber dennoch Ausschank im Wert von vielleicht zwanzig Dukaten. Rahjard hatte jedoch alle Mühe, sich noch einmal zu wiederholen. Er glaubte, es wäre gerade um Phexje gegangen… was, hm. Seine Schultern leicht hebend wiederholte er, was ihm als erstes wieder in den Sinn kam: „Irgendwie.. muss sie das geschafft haben.. sie hatte 3000 Dukaten und meinte wir.. könnten ihr vertrauen. Hoffentlich hat sie aber.. ihre Seele nicht für… seine gegeben.“

Phexdans Gesicht verzog sich leicht, er nahm einen ordentlichen Schluck aus dem nächsten Humpen… und noch einen, ehe er unter einem recht dumpfen Aufschlag zu Boden ging und wenige Augenblicke später von einigen Bettlern aufgehoben und sein herumliegendes Habe eingesammelt wurde. Während Rahjard versuchte aufzustehen, trugen sie ihn bereits hinaus. Er folgte wankend und gab nahe der Tür beinahe noch eine Flugeinlage zum Besten, die einen der Bettler auch zu ihm hinübersehen ließ. Dieser fragte ihn… irgendetwas und der mitgenommene Bukanier nickte langsam. Sie brachten ihn wohl dorthin, wo sie Phexdan in solchen Fällen auch hinbrachten, dachte er sich noch und legte den Kopf anschließend in den Nacken.

Unter einem lauten Dröhnen seines Kopfes öffnete der Halbnorbarde-Halbmittelländer seine Augen und sah sich um, rieb sich die Stirn und schreckte leicht auf, als er Phexdan in einem Bett neben sich liegen sah. Sofort ruckte sein Blick herum zu einem Vorhang und musterte die Einrichtung an sich. Bei den Zwölfen… waren sie etwa gerade dort, wo er dachte, wo sie waren und hatten sie irgendetwas getan? Phexdan brauchte noch einige Minuten, ehe auch er erwachte und sich schlicht und ergreifend erhob, um sich waschen zu lassen. Rahjard folgte ihm, mit mehr als nur einem Hauch von Skepsis in der Miene, in Richtung des hinteren Bereiches, wo sich einige Geweihte der Schönlinge annahmen und eine zierliche, aber wenigstens gutaussehende Geweihte ihn auf Nachfrage darüber aufklärte, wie die beiden hergekommen seien und das zwischen ihm und Phexdan nichts gewesen sei. Zumindest nichts, das laut genug war um es zu hören. Damit lächelte sie ihm verschmitzt zu und Rahjard kniff die Augen zusammen. Er brauchte etwas Ablenkung, sah zu der Geweihten und war überzeugt, dieser Augenblick wäre ideal für eine Massage… ein Gebet.

Phexdan hingegen verließ den Tempel ohne viele Worte an seinen Begleiter zu verlieren. Er habe zu tun, oder etwas derartiges war es wohl. Im Angesicht des anstehenden Gebets mit der Rahjageweihten war es nicht leicht, sich auf Phexdan und seine Worte zu konzentrieren. Er würde ihn schon wiederfinden. Dafür gab es in Grangor doch all die Bettler, um Phexdan zu finden, so man ihn suchte…

Grangor 16 (Feqzjian)

Gewandt bahnte der junge Mann sich seinen Weg durch die dichtgedrängte Menge in den Straßen der Handelsmetropole Grangor. Er ärgerte sich über sich selbst. Er hatte Neferu zu früh über Phexjes Tod unterrichtet, hatte angenommen, sie würde zu ihm eilen und ihn trösten. Wie hätte er auch ahnen können, dass sie stattdessen sofort ihren Kurs ändern und nach einer Lösung suchen würde, die es nicht gab? Er ballte die Faust. Er hätte es wissen müssen, aber Trauer und Verzweiflung hatten sein Urteilsvermögen getrübt. Er hatte sich einfach nicht genug Zeit gelassen die Lage zu beurteilen und vorschnell gehandelt.
Jemand rempelte ihn an.
Mein guter Junge, junges Füchschen, halte mich nicht für ungerecht, aber ich weiß, dass es keine Möglichkeit gibt dich aus Borons Hallen zurück zu holen und sie sollte mir nicht fern sein, obwohl ihre Bemühungen keine Früchte tragen können, dachte er bei sich. Sicher, er vermisste Phexje, aber erstens war er ganz sicher durch die Pforten Alverans geschritten, hatte es dort gut und zweitens gab es keine Möglichkeit die Seele eines Verstorbenen zurück zu holen. Mit gerunzelter Stirn schob er einen feisten Händler zur Seite. Diese Leute waren eine Landplage, aber eine gut zahlende.

Er musste dringend zu dem zweiten Hochgeweihten der Stadt, zu seinem Stellvertreter, zu seinem besten Freund. Er brauchte jemanden, dem er sein Herz ausschütten konnte.
Schnell wich er eine Doppelpatrouille der Stadtgarde aus, die sich aufmerksam umsah und bog dann nach rechts, in Richtung der Schneiderei ab. Ein paar wenige Schritte trugen ihn zu dem bekannten Gesicht hinüber, ehe er sich hinab beugte und dem alten Freund auf die Schulter klopfte.
Kaum, dass dieser den Kopf gehoben und ihn mit einem Lächeln angesehen hatte, spürte auch Phexdan ein Klopfen auf seiner Schulter. Mit gerunzelter Stirn wandte er den Kopf zur Seite.
Wer bei allen zwölf Göttern konnte gerade jetzt etwas von ihm…?
Ein kräftiger Faustschlag traf ihn mitten ins Gesicht. Der Schmerz, der in seinem Kopf explodierte, riss seine Gedanken ein, ließ ihn taumeln. Wie im Reflex zog er seine Hände schützend vor die getroffene Nase. Er spürte eine warme Flüssigkeit über seine Hände fließen. Blut! Er blutete. Der Schlag hatte gesessen. Vorsichtig öffnete er die Augen und blinzelte sich die Tränen des Schmerzes aus den Augen, um den Angreifer sehen zu können.
Ein paar Bettler waren herbeigesprungen und hatten den Unhold gepackt. „Garion…?“, blinzelte der Phexgeweihte irritiert, als die Doppelpatrouille, die er vor ein paar Augenblicken noch passiert hatte den Bettlern ihre Last abnahm und den offenbar wütenden Rondriten mit sich schliff.
„Was bei den Niederhöllen war das denn…?“, fragte er halblaut und sah dem Verrückten nach, wie er von den beiden Gardisten durch die sich teilende Menge gezerrt wurde. Eine Stimme von der Seite riss ihn aus dem Starren: „Da fragst du noch? Er ist eifersüchtig, er hat sich in Neferu verguckt…nicht aufgefallen?“
Der Fechter sah zur Seite auf. Richard, der sonst so wortkarge Begleiter Neferus und Garions.
Rasch entwickelte sich ein Gespräch. Es schien, dass auch Richard, der dunkelhäute Schönling, nicht besonders viel Sympathie für den ach so tapferen Recken der Herrin Rondra empfand. Jedes Wort, das seinen Mund über Garion verließ, schmähte die Bedeutung des Ardariten für das Leben im Allgemeinen und das Richards im Speziellen. Eine Ansicht, die Phexdan, wie ihm seine schmerzende Nase anriet, nur zu gerne teilte. Eine kleine Abkühlung und eine verlängerte Haftstrafe konnten diesem Narren nur gut tun. Doch Richard brachte es auf den Punkt: „Sicher, verdient hätte er es ohne jeden Zweifel, aber zuerst solltest du dich vielleicht in die Obhut eines Heilers begeben, du siehst furchtbar aus.“ Phexdan seufzte, nickte dann aber. Ja, ein Heiler musste her, das bestätigte auch ein Blick auf seine rötlich verfärbten Hände.

Wenig später knackte es vernehmlich.
„Autsch!“, rief der Geweihte Phexens seinen reflexartigen Protest laut heraus. Dieser verdammte Heiler nahm einen beinahe ketzerischen Geldbetrag dafür ihm weitere Schmerzen zufügen zu dürfen, hatte ihm aber wenigstens versprochen, dass er keine bleibenden Schäden davontragen würde. Richard stand mit einem undeutbaren Grinsen zwei Schritt entfernt. Phexdan war bereit zu Richards Gunsten anzunehmen, dass ihm noch immer die Bilder Garions, wie er abgeführt wurde im Kopf umhergingen, als der alternde Heiler eine Art Druckverband auf seiner Nase befestigte.
„So mein Freund…“, begann er mit einem schmalen Lächeln. „Das wird eure Nase zwar heilen lassen, aber ihr solltet sie trotzdem für eine Weile nicht wieder zu tief in fremde Angelegenheiten stecken.“
Fremde Angelegenheiten? Was erdreistete dieser Kurpfuscher sich? Mal völlig davon abgesehen, dass seine Nase eher gesteckt wurde, als dass er selbst sie irgendwo hin gehalten hatte, war die Angelegenheit in der er sich diesen Schlag eingefangen hatte von höchstpersönlicher Natur! Was wusste dieser Quacksalber schon?!
Mit einem bestenfalls höflichen Wort des Abschieds verließ er gemeinsam mit Richard diesen vermaledeiten Metzger und schlug ohne ein weiteres Wort den Weg in Richtung der Wachstube ein. Er war zu dem Entschluss gekommen, den einmal gefassten Plan so rasch wie möglich umsetzen zu müssen um nicht im letzten Moment noch davon abzukommen. Niemand durfte ihm Neferu streitig machen wollen – schlimm genug, dass sie selbst ständig abwesend war. Das Letzte was er brauchen konnte, war ein strahlender Ritter, der ihm seine große Liebe streitig machen wollte!

Mit Richard im Schlepptau bog er nach links, dann wieder nach rechts ab und stand endlich vor dem Bau, der das Hauptquartier der Zweililiengarde beherbergte.
„Warte hier, das mache ich besser alleine.“, raunte er Richard wortkarg zu, ehe er eine Leidensmiene aufsetzte und die ausgetretenen Stufen mit zwei langen Schritten hinter sich brachte.
Im Innern der Wache war es kühler als draußen und für einen Moment fröstelte er. Dann aber besann er sich auf sein Vorhaben und trat mit einem langgestreckten Seufzer an den Tresen, der hier zum Empfang diente.
Ein kurzer Blick des Gardisten reichte um dem Neuankömmling in den durchaus teuren Kleidern seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn sich jemand wie dieser feine Herr persönlich in die Wache bemühte, dann musste sein Anliegen von nicht geringer Wichtigkeit sein.
„Herr Gardist!“, näselte der Geweihte mit falschen Tränen in den Augen aufgeregt. „Hier ist doch heute ein Rondrit verhaftet worden, wegen des Übergriffes auf seinen unbescholtenen Bürger nicht wahr?!“, ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort, die Frage war rhetorischer Natur gewesen. Mit ausladender Gestik deutete er auf seine verbundene Nase. „Seht nur, was er angerichtet hat! Ich bin nicht nur Schausteller, nein, ich führe auch wichtige Gespräche für das Handelsunternehmen meines Onkels. Aber mit dieser Nase…Nein, nein! Mit dieser Nase kann ich keiner meiner Berufungen nachkommen. Die Geschäftspartner meines Onkels würden sich doch über diesen vertrimmten Hallodri wundern, der ihnen als Gesandter geschickt wird. Ich wünsche…Nein…Ich fordere, dass dieser Mann auf das härteste bestraft wird! Immerhin soll er für meinen nicht geringen Verdienstausfall Buße tun!“, gerade so gelang es ihm ein belustigtes Grinsen zu unterdrücken. Nur nicht im letzten Moment noch alles ruinieren. Ein rascher Blick zeigte ihm, dass seine Posse bereits Wirkung zeigte. Der Gardist sah durchaus verärgert aus. Dann ereiferte er sich ihm zu versichern, dass man das höchstmögliche Strafmaß, also eine Woche Kerkerhaft ansetzen wolle um diese Straftat zu ahnden.
Als Phexdan wieder auf die Straße hinaustrat war er durchaus zufrieden mit sich und zwinkerte Richard zu.
„Was hältst du davon, wenn wir einen Tee trinken gehen?“, sein Blick glitt über das nachdenkliche Gesicht des jungen Mannes. „Nur wenn du zahlst.“, antwortete dieser.

Mit einem kurzen Lächeln stimmte er zu. So günstig kam man selten an Informationen, die einen wirklich brennend interessierten. Richard musste eine Menge über Neferu zu berichten haben, vielleicht wusste er sogar wo sie sich derzeit aufhielt!
Das nächste Teehaus lag drei Straßen weiter auf der rechten Seite. Ein niedriger Bau mit offener Front, ein wirklich gemütliches Fleckchen Deres. Die beiden bestellten Tees waren schnell gebracht, das Gespräch rasch entflammt. Zu seiner Enttäuschung musste Phexdan jedoch schnell feststellen, dass Richard ebenso wie er absolut keine Ahnung hatte, wo die schöne Dunkelhaarige, mit den tulamidisch anmutenden Augen sein mochte. Wenigstens konnte er mit einigem Wissenswerte über die Holde selbst aufwarten, das war besser als nichts und den Preis für den Tee allemal wert.
Gerade hob er die tönerne Tasse wieder an seine Lippen, als ein bunt gekleideter Gaukler in das Teehaus stürmte und sich rasch zu ihm hinab beugte um ihm etwas ins Ohr zu flüstern:“Phexje…Er…Er lebt…im Tempel.“ Phexdan riss die Augen auf und spuckte den Tee in die Tasse zurück, ehe er dem Mann einen erschrockenen Blick zuwarf. „Richard! Los komm mit!“, brachte er noch über die Lippen, ehe er in einen raschen Lauf verfiel, bei dem er sich nicht sicher war ob Richard würde mithalten können.

Phexje lebte? Hatte Neferu Recht behalten? Hatte er eine Möglichkeit übersehen eine Seele aus den Hallen des stillen Gottes zurück zu rufen? War es richtig das zu tun? War all das wichtig?
Rasch sprang er über einen Marktkarren hinweg, dessen Besitzer ihm etwas hinterherrief, das er nicht verstand. Seine Lungen begannen zu brennen, als er durch die kleine Tür in der Umfriedung des Gartens des Efferdtempels hechtete und auf die kleine Hintertür des Bauwerks zuhielt.
In dem plötzlichen Zwielicht der großen Tempelanlage erblindete er einen Moment, lief aber nichtsdestotrotz weiter. Er war oft hier gewesen, hatte den Weg auswendig gelernt, fand ihn im Schlaf. Ob Richard ihm würde folgen können, ob er überhaupt noch hinter ihm war, war zweitrangig. Er musste mit eigenen Augen sehen, was der Mann ihm berichtet hatte.
Hinter einer Ecke bog er scharf in eine dunkle Nische ab und riss die dort verborgene Falltür auf um – die Leiter missachtend – einfach direkt in das Dunkel zu springen und seinen Weg dann auf dem schnellsten Weg fortzusetzen. Ohne langsamer zu werden durchquerte er die noch im Bau befindliche Haupthalle des Phextempels und hielt auf die Tür gegenüber zu, vor der sich einige Neugierige versammelt hatten.
Vor dem Holz der stabilen, geschlossenen Tür hielt er inne als sei er gegen eine unsichtbare Barriere gestoßen. Was, wenn die Nachricht falsch gewesen war? Was wenn der Junge nur für einige letzte Worte aus den Hallen des dunklen Gottes zurückgekehrt und längst wieder gestorben war?
Er konnte einfach nicht gleich hinein! Rasch sah er sich um. Richard!

Schnell griff er zu und schob den Halunken vor sich her auf die Tür zu. „Geh du zuerst! Ich trau mich nicht!“, gab er ihm mit auf den Weg, ehe er ihm einen letzten Schubs gab und ihn durch die Türöffnung in den Raum verschwinden sah.
Zwei…Vielleicht drei Sekunden ertrug er die folgende Stille, dann schlich er sich wie eine Grabräuber in die Kammer mit dem ersehnten Schatz durch die Tür und lugte über Richards Schulter. Tatsächlich. Auf dem Bett lag der Junge und sah sich verwirrt in dem Raum um. Neferu hatte es wirklich geschafft, der Junge war wieder unter den Lebenden und erfreute sich – zumindest dem Anschein nach – bester Gesundheit.
Sein Blick glitt zu den anderen Anwesenden. Außer ihm, Richard und Phexje waren nur noch zwei andere Personen im Raum. Einerseits ein Geweihter des Fuchses und andererseits ein äußerst griesgrämig anmutender Geweihter des Totengottes, dessen schwarze Robe die Würde seines hohen Amtes unterstrich. Seine langen, bleichen Finger tasteten den Jungen ab, der den Boroni mit äußerster Skepsis und stets bereitem Holzfuchs beäugte.
„Phexje!“, brach es endlich aus Phexdan hervor, als er Richard zur Seite schob und auf das Bett zustürmte.
„PSCHT!“, entkam es der schwarzen Robe, die in ihren Tiefen ganz sicher irgendwo einen Geweihten beherbergen musste.
Doch in diesem Moment konnte er keine Ruhe zeigen. Sein längst tot geglaubter, kleiner Bruder war zurück. Neferus Künste und ihre Gerissenheit wollte er in einem Gesang vor Phex loben. Der Anblick des missmutigen Boronis ließ ihn davon absehen – vorerst.
Er drückte den Jungen an sich. Er war wahrhaftig zurück!
Erst nach Minuten entließ er den Jungen aus seiner Umarmung. Als hätte er auf diesen Moment gewartet beugte der Diener des Rabengottes sich vor und zog aus dem weiten Ärmel seiner Robe eine Kette mit Amulett hervor, um sie dem Jungen umzulegen, eher er mit einer erstaunlichen Gewandtheit dem Angriff eines Holzfuchses auswich und dem offensichtlichen Unwillen des kleinen Jungen nachgab. „Lasst ihm seine Ruhe, er wird sie brauchen, so wie sie jeder Mensch tief in seinem Innern braucht.“, ließ er flüsternd verlauten und scheuchte die Anwesenden mit knappen Gesten aus dem Raum.
Phexdan winkte dem Jungen ein letztes Mal zu und ließ sich dann von dem schwarz Bekutteten hinausschieben. Das…Bedurfte einer Feier!
„Richard! Ich lade dich ein. Wir trinken auf Neferu!“, rief er auf dem Weg hinaus in den umfriedeten Garten des Efferdtempels und schlug sogleich den Weg in Richtung der nächstbesten Taverne ein.
Wie es zu erwarten war, folgte Richard seiner Einladung ohne zu zögern. Ein breites Grinsen legte sich auf die Miene des jungen…Ja…des jungen was eigentlich? Phexdan hob die Schultern. Was scherte es ihn? Die Frau, in die er sich verliebt hatte stand im Bund mit den Göttern und hatte seinen kleinen Bruder zurück geholt! In den nächsten Tagen würde sie an seine Seite zurückkehren und das Leben wäre perfekt!
„Wirt! Macht mir das zu Alkohol! Es gibt etwas zu feiern!“, mit einer geschickten Handbewegung warf er dem Mann hinter dem Tresen einen Beutel mit 15 Dukaten hin.

Der Abend verging rasch. Die 15 Dukaten waren mehr als gut angelegt gewesen. Phexdan und Richard hatten um die Wette getrunken, immer wieder auf Phexje oder Neferu angestoßen und sich gegenseitig mit Lobeshymnen zu übertrumpfen versucht.
Plötzlich aber wurde Richard ernst: „Wasch glaubse war der Preisch, den se zahlen musste, hm?“, lallte er ihm entgegen. „Meinse sie hat ihre S- *hicks* Seele eingetauscht? Also…seine gegen ihre?“
Phexdan musste schlucken. Neferu tot? Für Phexje? Der Nebel um sein Hirn wusste Rat. Er musste nur mehr trinken um diesen Gedanken zu vertreiben. Er brauchte mehr Alkohol!
Fahrig fingerte er an dem Beutel an seinem Gürtel herum, den er dabei beinahe öffnete und warf ihn dann dem Wirt zu, wobei er knappe zwei Schritt zu weit nach rechts zielte. „Machma noch mehr!“, entkam es ihm mit schwerer Zunge. Neferu war nichts passiert! Niemals hätte sie sich einfach so aus seinem Leben entfernt! Ein letztes Mal spürte er den Alkohol in seiner Kehle brennen, dann begann die Welt sich in atemberaubender Geschwindigkeit um ihn herum zu drehen, ehe ihm schwarz vor Augen wurde.

Grangor 15 (Garion)

Sie hatte ihm den Rücken zugedreht. Zu spät sollte es sein…
Er presste die Augen zusammen. Ja, er hatte Mut bewiesen, hatte ihr endlich sein Herz ausgeschüttet, hatte gehofft ihr seine Gefühle beweisen zu können. Aber sie hatte ihn abgelehnt, jeden seiner Versuche ihr nahe zu kommen kaltherzig zurückgewiesen. Hatte ihm gesagt, dass er den Mut drei Monde zuvor hätte finden müssen.

Er verfluchte sich, klagte sich selbst vor dem Tribunal der Götter an, haderte mit dem Schicksal.
Sanft drückte er seinen Körper von hinten an ihren. Einen „toten Fisch“ hatte sie ihn genannt…
Das war es also, was man erhielt, wenn man sich in ruhiger Zurückhaltung übte…
Das war es, was man erhielt, wenn man sich Mühe gab, niemanden zu verletzen, indem man Rücksicht nahm.
Der Löwe in seiner Brust brüllte getroffen. Wie von der Kette gelassen begann er zu toben. Hitze stieg in ihm auf. Da bewegte sich der Körper vor seinem – Neferu drehte sich auf den Rücken und stellte ihre Beine auf. Seine Hand stieß mutig vor und fuhr über ihre Haut, glitt über ihre Hüfte und ihren Bauch. Ihr Atem ging heiß, kein Unbehagen lag in den tiefen Zügen. Ihre Hand berührte seine und führte sie fordernd ihren Körper hinauf.
Die Fronten hatten sich geklärt. Garion stand auf der einen, Phexdan auf der anderen Seite, ein Kampf war unausweichlich.
Vorsichtig schob er sein Bein über ihres und strich damit über die weichen Innenseiten ihres Oberschenkels.
„Ich liebe es deine weiche Haut zu berühren…“, flüsterte er in ihr nahes Ohr.
„Andere Frauen haben auch weiche Haut, Garion…“, gab sie zur Antwort und versetzte seinen Geist damit in flammende Unruhe, er wollte keine andere Frau!
„Sie sind mir nicht wichtig…alles was ich will bist du.“, er hörte sie leise einatmen, wie es schien hatte er endlich etwas gesagt, was ihr Herz berührte. Sie führte seine Hand an sich hinab:“Dann berühr mich Garion.“

Nichts hielt ihn zurück, als er sich ihr vollends zuwandte und seinen tastenden Fingern freien Lauf ließ. Wie lange hatte er diesen Wunsch tief in sich verschlossen, immer in dem Gedanken sie nicht zu brüskieren…und nun lag er hier mit ihr und genoss was er tat. Ihre Lippen begegneten seinen und öffneten sich weit genug um seiner Zunge Einlass zu gewähren. Wie im Fieber antwortete er ihr, ließ seine Zunge vorstoßen und eröffnete den Tanz ihrer Leiber. Dicht zog er sie an sich und flüsterte ihr ins Ohr:“Eben noch hast du jede meiner Annäherungen als ungeziemt zurückgewiesen…was ist los…?“
Die weibliche Stimme die ihm antwortete war die Neferus, doch erschreckte ihn die ihr innewohnende Sinnlichkeit beinahe. „Ich habe mich umentschieden… Garion… Schlaf mit mir.“

Er fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen, ihm wurde heiß und kalt. Wollte sie ihm tatsächlich ihre Jungfräulichkeit schenken oder war das eine neue List Rahjas, die es auf seine totale Vernichtung abgesehen hatte und ihr perfides Spiel mit ihm zu spielen gedachte?

Ihm blieb keine Zeit den Gedanken weiter zu führen. Er versank in dem gierigen Wirbel seiner Instinkte, der Löwe hatte die Oberhand gewonnen und zwang den Körper des Geweihten auf den der jungen Frau. Das war es also: nach Wochen, Tagen und Monaten voller Schmerz und Entbehrung hatte Rahja endlich ein Einsehen und gestand ihm zu, was er sich schon so lange ersehnte, was er kaum zu hoffen gewagt hatte. Alles in ihm schrie danach sie sanft zu nehmen, ohne sie zu verletzten, aber sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Wie im Wahn fiel er über sie her, drang mit aller Macht auf sie ein und bemächtigte sich ihres Leibes. Sie genoss was er tat. Er spürte Schweiß, der sich schimmernd zwischen ihren Körper gebildet hatte, fühlte wie Neferu von einer Gänsehaut übermannt wurde, wie sich seine Nackenhaare in verzehrender Lust aufstellten.

„Bitte lass das keinen Traum sein.“, flüsterte er leise in die Dunkelheit hinein, an niemanden bestimmten gerichtet. Doch trotz des unbestimmten Empfängers erfolgte eine leise Antwort. Die Stimme war die Neferus: “Doch…aber das hast du geahnt.“

Garions Bewegungen wurden langsamer: “Du bist nicht sie…du bist ein Gedankenbild…nicht die Frau die ich liebe.“ Er spürte ihren heißen Atem an seinem Ohr. „Ich bin sie…du fühlst mich…ich bin real…dein Traum ist die Wirklichkeit.“
Etwas in Garion sträubte sich dagegen ihre Worte anzuerkennen…sein Traum war nicht die Realität…Träume waren nichts wert…waren Hirngespinste, Wunschvorstellungen. Er drehte sich auf den Rücken und zog den nackten Leib seiner Geliebten mit sich.
„Du bist nicht Neferu…du bist ein Teil meiner Gedanken…ein Wunsch. Nichts, was mir helfen kann.“.
Sie hob die Arme an und warf ihr Haar zurück. Ihr blanker Busen bewegte sich im Takt ihrer Hüfte, die sich auf dem Leib des Rondriten vor und zurück schob und ihm die Freuden Rahjas offenbarte.
„Ich bin ihr Unterbewusstsein…das was sie wirklich will. Sie wird diese Nacht den gleichen Traum haben wie du.“, ließ sie ihn keuchend wissen. Ihr Unterbewusstsein? War es möglich, dass ihre Geister sich auf der Ebene der Träume trafen?
„Was muss ich tun, damit sie sich mir zuwendet…?“, fragte er leise, unterbrochen von einem Laut der lustvollen Ekstase, die von ihm Besitz ergriffen hatte.
Er erhielt keine Antwort.

Dann öffnete er die Augen. Die Dunkelheit des Zimmers stürzte über ihm zusammen, begrub alle Hoffnung unter sich. Sein Blick wanderte zur Seite, wo ein Sonnenstrahl, der durch die Vorhänge in den Raum eingedrungen war die wahre Neferu beschien. Sie war noch immer von ihm abgewandt, die Kleider, die ihren Körper noch immer verbargen, waren die des Mannes, den sie liebte.
Es…waren nicht seine Kleider.
Schwermut griff nach seinem Herzen, als er ihre Zöpfe betrachtete, die sich wie die Strahlen einer dunklen Sonne um ihr Haupt ausgebreitet hatte. Er konnte nicht anders…er streckte seine Hand nach ihr aus und berührte sie am Arm.
„Schläfst du…?“, einen Moment lang herrschte Stille in dem Raum. Die Gefühle in seiner Brust rangen um die Antwort auf die Frage, ob er sich freuen sollte nicht gehört worden zu sein oder ob ihn die Enttäuschung übermannen sollte, weil sie ihn nicht einmal bemerkte, wenn er sie ansprach. Dann aber wurde ihm die Entscheidung abgenommen:“Nein, Garion…ich schlafe nicht.“

Er blinzelte sachte. Sollte sie im gleichen Moment aufgewacht sein wie er selbst…? Hatte die Neferu in seinem Traum die Wahrheit gesagt…? War sie ihr Unterbewusstsein gewesen? „Hast du etwa…die ganze Zeit noch nicht geschlafen?“, er brauchte einfach Gewissheit.
„Doch, habe ich…und ich hatte einen sehr…beängstigenden Traum.“, ihre Stimme beherbergte ein wenig Misstrauen:“Seit wann interessiert dich, was ich träume…? Ich erkenne dich nicht als den Garion, der du noch gestern warst.“

Er biss sich auf die Unterlippe. Der Garion, den sie gekannt hatte war ein Feigling gewesen. Der, mit dem sie nun sprach hatte Mut gefasst…den Mut eines verwundeten Tieres, das in die Enge getrieben worden war…aber ohne jeden Zweifel…Mut.
„Ich muss es wissen. Ich muss wissen ob unsere Träume sich ähneln.“, seine Kehle war trocken. Er hatte gehofft, dass sie ihm wenigstens diese einfache Frage ohne zu Zögern beantworten würde…aber sie hatte sich wohl doch weiter von ihm entfernt als er gedacht hatte. Vorsichtig nahm er sie in seinen Arm. „Ich…will dir nicht davon erzählen.“, wich sie ihm aus. Noch immer lag sie von ihm abgewandt.
„Und ich sage dir sicher nichts, ehe du mir nicht erzählt hast, was du geträumt hast.“ Herzklopfen. Seine Hände wurden kalt, es kribbelte in seinem Magen. Ihre Fragen trafen immer und immer wieder den Punkt an dem er am Verwundbarsten war.
„Ich habe von dir geträumt…“, versuchte er sie zu bremsen…vergeblich.
„Und was?“ Er schloss die Augen wieder als wäre es ein Weg dieser Situation zu entkommen…in sich selbst zu versinken und seinen Geist tief in dem Labyrinth seines Hirns zu verschließen. „Der Traum spielte…hier in diesem Bett…“

Sie seufzte leise. Tränen sammelten sich hinter seinen geschlossenen Lidern und fanden einen Weg seinen rechten Augenwinkel hinab in die Kissen. Sie hieß es nicht gut.
„Lass mich raten. Ich…habe dich berührt…“.
Er bejahte.
„…dich geküsst…und gestreichelt.“.
Wieder konnte er nur nicken. Sie quälte ihn. All diese Verheißungen von ihren Lippen waren ihm verschlossen, waren nur noch für einen bestimmt. Die Bestätigung seiner Gedanken schnitt wie ein Blitz durch seine Gefühle.
„Dann kann ich mir denken, was du geträumt hast.“, die Stimme war trocken, lieblos, beinahe wie von Gefühlen befreit. Es hätte ihn nicht härter treffen können, hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen und ihn angeschrien, dass sie ihn hasste. Alles um ihn herum begann sich zu drehen.
„Was hast du geträumt…? Sag es mir.“, bat er unter Aufbringung all seiner Kräfte.
„Ich habe von dir geträumt, Garion.“.
Da war er…der Lichtblick…wieder fasste er Hoffnung. Doch etwas trübte das Gefühl. Zu oft hatte er sich die letzten Tag an seine Hoffnung geklammert und war enttäuscht worden. Eine kleine Stimme flüsterte ihm zu, dass auch diese Hoffnung brüchig sei, dass sie ihm keinen Halt bieten würde.
„Was hast du geträumt…?“

Sie zögerte einen Moment zu lange.
“Der Traum spielte vor der offenen Hand…du hast Phexdan zum Duell gefordert, er wählte als Waffe die Zunge und hat dich in Grund und Boden argumentiert.“ Sie hatte gelogen, das fühlte er…hatte eine Lüge geschaffen, die ihn verletzte. War sie seiner über? Wollte sie ihn brechen und für den Rest seines Lebens sicher in der Zelle eines Noionitenklosters verwahrt wissen? „Das ist nicht wahr, Neferu…sag mir die Wahrheit.“, entkam es seinen Lippen, ohne, dass er es wirklich wollte.
„Nein, Garion…es war ein Traum, der mir mehr als unangenehm war…auch wenn du dabei besser weggekommen bist. Zumindest aus deiner Sicht.“, damit verfiel sie in ein Schweigen, das er nicht mehr zu brechen vermochte. Alles was ihm blieb…war ihr warmer Körper, an den er sich klammerte wie ein Ertrinkender an den letzten Rest einer Planke von der wusste, dass er früher oder später abrutschen und dann ertrinken würde.

Sie hingegen hing ebenfalls Gedanken nach, die sie schnell fortwischen wollte. Der Traum war noch so real. Sie hatten sich duelliert und Garion hatte gewonnen. Ihren Phexdan getötet.
Sie presste die Lippen aufeinander und versuchte das Bild des sterbenden Füchschens in ihren Armen zu verdrängen.

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