Neferu

Gareth 22 (Neferu) (TSA 1013)

Katzen hatten dem Volksmund nach neun Leben. Neun, die heilige Zahl des Phex.
Und nicht nur das, es gab sie überall – auf dem Land, in der Stadt, in schmutzigen Gassen und auf prachtvollen Anwesen.
Suchet, dann werdet ihr finden, hieß es und Neferu war nach einigen Stunden fündig geworden: Eine kleine weiße Katze hatte den Mann, der die Leiche bei ihr abgelegt hatte, gesehen.
Das gepflegte Kätzchen war auf ihn aufmerksam geworden, weil die große rote Feder an seinem enormen Hut so lustig und verführerisch gewippt hatte. Wie gerne hätte die Samtpfote mit dem herrlich tanzenden Federchen getollt, aber leider war der Kerl, der das Ding auf dem Kopf getragen hatte, zu weit weg gewesen.

Nachdem die Hexe diese Bilder aus dem Kopf der Katze gesehen hatte, war sie nach Eschenrod gegangen.
Zwar wusste sie, dass Voltan Sprengler, der Weibel des Puniner Tors am kommenden Morgen mit ihrem Erscheinen rechnen würde, aber es war doch einiges wert, wenn sie eine Information dabei hatte, die er noch nicht kannte. Vielleicht würde er sich ihr dann irgendwann offenbaren – der Schein-Wachmann, als phexischer Hintermann. Sie schmunzelte genüsslich bei dem Gedanken, einen Jünger der Geheimnisse dazu zu bringen, sich ihr anzuvertrauen.
So früh am Tag war außer Knüppel-Golle, dem Festumer Goblin mit seinen stumpfen, schlichten Waffen fast noch niemand auf den Beinen. Einige Menschen lagen oder saßen herum, lungernd, hustend – aus leeren Augen starrend oder noch den Rausch der letzten Nacht ausschlafend. Aber fast niemand stand.
Rahjas Festung war ein altes Doppelhaus aus Holz. Es erinnerte Nef an die Häuser, die sie in Baliho gesehen hatte.

Sie klopfte hart.
„Hallo? Ich muss mit Euch reden!“
Ein zweites Mal.
Dann endlich eine Reaktion von innen: Ein Murren, eine Beleidigung, dann ein Verriegeln der Tür.
Verblüfft stand Nef vor dem Gebäude. Sie war es nicht mehr gewohnt, derart rüde abgefrühstückt zu werden. Aber vor der Mittagsstunde ging hier wohl gar nichts.
Sie war gekränkt und weigerte sich, so schnell auf eine Sackgasse zu stoßen.
Gleichzeitig hatte die in den Morgen gedehnte Nachtruhe des Etablissements vielleicht auch seine Vorteile: Sie könnte unbehelligt mit einem oder zweien der Mädchen sprechen, wenn sie sich reinschlich…
Die Tür war kein Hindernis. Der Dunkelheit im Inneren begegnete sie mit dem Zauber der Katzenaugen.
Auf leisen Sohlen durchquerte sie einen leeren, muffigen Schankraum mit runden Tischen. Sie drehte ihren Armreif in der Finsternis und ließ den Zauber wirken. So würden sie sie wenigstens nicht wiedererkennen, wenn sie einen dummen Fehler machte und gesehen werden würde.

Die Ereignisse im Bordell überschlugen sich mit einem Eifer, den Neferu nicht erwartet hatte. Sie hatte einige Informationen und Begriffe hinter einer verschlossenen Tür aufschnappen können. Namen, vielleicht Orte, aber dann schon, hatten sie nach ihr gesucht. Zehn Männer aus dem oberen Stockwerk, alle mit Floretten bewaffnet. Spitzenkrägen und Hüte waren bei diesen Kerlen offenbar in größter Mode. Sie sprachen mit einem Akzent – almadanisch?
Weitere fünfzehn kamen von unten. Es waren Schlagetots aus Eschenrod, sicher bezahlte Tagelöhner und gewalttätige Nichtsnutze.
Sie hielt sie mit einem Hexenknoten auf, einer Mauer, die das Schlimmste zeigte, die einem das Blut gefrieren ließ – der selbe Zauber mit dem sie vor Kurzem in der Kanalisation ein paar vermeintliche Schmuggler vertrieben hatte.
Niemand hatte die Hexe bisher gesehen – und das allein Dank eines Zaubers. In harmloser Gestalt floh sie in das Zimmer eines der Mädchen, fragte die Verängstigte nach Jelka. Die abgerissene junge Frau schluchzte, als sie von dem Schicksal der anderen erfuhr.
„Den Almadanern gehört hier alles…!“ gab sie leise flüsternd, zitternd vor Angst, zu verstehen.
Ihnen gehörte der Laden, gut zu wissen.
Die Zimmertüren wurden brachial aufgerissen, Frauen schrien und heulten – es hörte sich an, als würden sie auf den Flur des Obergeschosses, auf die Balustrade geschleift werden.
Neferu rettete sich unter das Bett, wo sie selbst fast geschrien hätte: Die Hinterlassenschaften von Ratten warteten da auf sich. Mit glasigem Blick starrte sie die Unterseite des durchgelegenen Bettes an, presste beide Hände auf den Mund. Ratten…! Das Mädchen, mit dem sie eben noch gesprochen hatte, wurde aus ihrem Zimmer gezerrt.
Fast sah Neferu rot. Beinahe hätte sie Laut gegeben. Doch das Schließen der Lider und das Konzentrieren auf die Atmung, retteten ihr Versteck.
Oh Schatten Alverans, aus dem Dunkel komme ich, ins Dunkel gehe ich…
„Wo bist du, Mäuslein…?“ Hörte sie eine melodiöse Stimme, bösartig fragen. Ihr Herz raste. Sie hielt sich beide Handflächen vors Gesicht.
Gewähre mir die Gnade, zu schwarzer Nacht zu werden…
Schritte kamen in die stickige, fensterlose Kammer. Seine Stiefel hatten hörbare Absätze. Er ließ sich Zeit, keine Eile war ihm anzumerken. Er fuchtelte mit seinem Degen herum.
Riss den Schrank auf, der sich halbhoch in eine staubige Nische kauerte. Es war, als würde es ihm Spaß machen, sie zu jagen.
…und im Grau untergehen. Wie der Neumond am Sternenhimmel.
Er kam auf das Bett zu, sie schob sich zeitgleich in bedächtigen Bewegungen darunter hervor.
Der Almadaner blickte an ihr vorbei, als sei sie gar nicht da.
Sie kniff die Augen zusammen, aber hielt in der befreienden Bewegung nicht inne, als seine Waffe mit der Spitze zuerst zu Boden sauste und das Bett durchstach. Halb war sie noch drunter!
Als er ein zweites Mal zustach, waren wie in Zeitlupe auch ihre Beine der Gefahr entronnen. Sie lag auf dem Boden, direkt neben ihm und hielt den Atem an. Sie betete inbrünstig, dass er ihr trockenes Schlucken nicht hörte.
Dieser Mensch hätte schön sein können, hätten seine harten Züge ihn nicht zu einem Scheusal gemacht, stellte sie beobachtend fest. Auch er trug einen großen Lederhut mit Feder – doch war sie weiß. Nicht rot wie in der Erinnerung des Kätzchens.
„Na gut…“ schnurrte er gespielt, „Wenn du nicht herauskommen willst, mein Mäuslein, dann muss ich eben ein Mädchen töten.“ Er wendete sich zum Gehen der offenen Tür zu.
Nef riss in Panik die Augen auf, starrte ihm nach. Nein!
Ihre nächste Entscheidung war nicht geplant, aber das Gefühl obsiegte, die Tat verhindern zu müssen.
Sie bat Phex um Kraft. Stärke ihres Körpers. Es war ungewöhnlich, aber nicht unmöglich.
Nach nicht einmal drei Sekunden sprang sie auf, hechtete den Mann um, dessen niedergerissener Körper die Tür zuwarf, die nach innen aufging.
„Du wirst sie nicht töten!“
Sprach sie aus dem Schatten des Neumondes und würgte ihn.
„Schlampe!“ krächzte er wütend. „Das wirst du büßen..!“
Er rang mit ihr, doch Phex hatte Rondra überzeugt, ihrem Körper die nötige Stärke zu geben, dem Schurken Einhalt zu gebieten.
Sie überwältigte ihn, doch hörte sie bereits seine Kumpanen auf der Treppe! Schnell spreizte die Phex-Hexe die Finger auf dem Boden, schob den bewusstlosen Körper aus dem Weg, warf den Türflügel auf und sprang die Brüstung der Balustrade an. Noch würden sie sie nicht sehen, höchstens hören – also hing sie am Geländer und verhielt sich still.
Sie musste irgendwie aus dieser Schnapsidee wieder rauskommen!!
„Hier ist niemand! Di Calmo regt sich nicht mehr!“ brüllte einer aus der Kammer, in der sie eben noch festgesteckt hatte.
„Findet den Eindringling!“ war der allgemeine Tenor der bewaffneten Männer. Sie sah keine einzige Frau unter ihnen… Nur die zehn Mädchen knieten leise oder laut wimmernd in der Mitte des Schankbereiches, als seien sie Geiseln. Oder Verurteilte vor ihrer Hinrichtung.
„SanRebra!“ kläffte eine Stimme – „Töte eines der Mädchen! Das Hässlichste! Dann zeigt sich die Schlampe!“
Dieser Idee schienen diese Almada-Hunde generell nicht abgeneigt. Und sie wussten, dass ihr ungewünschter Besuch eine Frau war. Natürlich – sie hatte gesprochen, als sie um Einlass gebeten hatte.
Ein bulliger Schrank von einem Mann schälte sich in die Raummitte, direkt unter ihr kam er her.
Phex, verlass mich jetzt nicht…
Was trieb sie da? Einem Alveranskommando gleich, sprang sie gezielt auf den Rücken des glatzköpfigen Bullen.
„Ihr alle seid verflucht!“ brüllte sie mit so tiefer, eindringlicher Stimme, wie sie es vermochte. Er versuchte sie abzuschütteln. „Die zwölf Götter werden euch für eure Sünden zerschmettern! Eure Seelen werden nicht mehr euch gehören, sondern als Spielzeuge für die grauenhaftesten Foltermeister der Niederhöllen dienen, wenn ihr euch nicht besinnt!“ orakelte sie kreischend.
SanRebra hatte seine Waffe gezogen, stach ungezielt nach ihr. Sie sah keinen anderen Weg… Die unsichtbare Angreiferin rammte ihrem wildgewordenen Gegner zwei Finger in die Augenhöhlen. Blut spritzte.
Zumindest die angeworbenen Schläger des Südquartiers zeigten Reaktion. Die Ermahnung, ihr Seelenheil zu verlieren, schlug einige wenige von ihnen in die Flucht.
Trotzdem war sie deutlich in der Unterzahl.
Und jemand anders aus ihren Reihen tötete das hässlichste Mädchen. Neferu sah zu, wie der verletzte Stiernacken in den hinteren Bereich gebracht wurde, eine Tür klappt.
Sie musste hier irgendwie raus!
„Da läuft sie! Sie ist eine Hexe, die unsere Sinne täuscht!“ Wenn sie wüssten, wie Recht sie hatten…
Ihre Schritte waren nicht zu überhören.
Sie hielt den Spinnenlauf aufrecht, rannte die Wand hoch, klebte dann in sicherem Abstand an der Decke. In diesem Augenblick, als ihr das Blut unangenehm in den Kopf floss, war sie heilfroh schwindelfrei zu sein. Die Decke des Schankraumes maß sicher vier Schritt Höhe, vielleicht sogar fünf, die umlaufende Balustrade war von Männern gespickt.
„Ihr habt ein Mädchen getötet! Jelka! Der Mann mit der Roten Feder hat ihren Körper beseitigt! Dafür werdet ihr bezahlen! Ich bin eine Geweihte der Zwölfe! Warum habt ihr das getan?!“
polterte Nef von ihrem Deckensicherheitsabstand aus. Noch immer war sie ungesehen. Aber sie war nicht gerade leise. Phex verbarg zwar ihre Gestalt, aber nicht die Geräusche, die sie von sich gab. Unbequem hing sie an der hölzernen Decke.
Sie versuchte, die Männer zu überzeugen, sprach von Phex, der Seele und den Versuchungen von Nicht-Phex. Sie appelierte an die Vernunft, an die Tugenden der Zwölfe, an Gerechtigkeit und Respekt. Und alles, was sie erhielt war Spott und Hohn. Dem Anschein nach waren die Männer keine Paktierer oder Erzbösewichte.
Ihre Argumente waren ernüchternd und erschütternd. Sie waren skrupellos, aber sie waren einfache Menschen.
Es gab Geld, es hielt sie am Leben, wenn nicht sie ein Bordell unter diesen Umständen führten, dann jemand anders.
Und was Jelka anging.. sie fand zumindest heraus, dass eine schön anzusehende Schlampe, die in der Weststadt baute, Ärger machte. Sie glaubte, sich darin zu erkennen… Aber welchen Ärger konnte sie diesen Gesellen machen? Sie hatte keine Ahnung. War es wegen des Waisenhauses? Wegen des Wunsches nach Bildung und einer Zukunft für die Alleingelassenen?
Die unsichtbare Götterdienerin, die an der Decke klebte, distanzierte sich von dieser Frau – erfand ein glaubhaftes Konstrukt, wer sie war: Eine im Schatten agierende Phexdienerin, die keinen Mord an einfachen Mädchen zulässt. Jemand, dem die Belange der gut situierten Bürger aus der Weststadt egal waren. Jemand, der für Eschenrod und seine Menschen kämpfte. Und für Hoffnung.
„Warum lässt du dann keine Feuerbrunnen bauen?“ patzte ein Almadaner verhöhend. „Und lässt uns in Ruhe? Niemand fragt nach einer toten Hure…“

Sie konnte nicht mehr.
Das Brennen in ihrem Leib nahm zu. Die Energie ihres Zaubers ging zur Neige – das qualvolle Gefühl, die letzte Astralmacht durch die Finger rinnen zu spüren, saugte sie aus – wie es sonst nur Zerwas vermocht hatte.
Vorsichtig entfernte sie sich von der Decke, überkletterte die Wände. Unter sich sah sie die Männer, die nach ihrem Blut gierten.
Jemand war vor der Tür postiert.
Mit dem letzten Rest an magischer Macht, überzeugte sie den Türsteher, für sie zu öffnen… Taumelnd rannte sie in die Hinterhöfe. Mehrfach krümmte sie sich zusammen.
Sie war leer und ausgelaugt. Der Kopfschmerz näherte sich der Unerträglichkeitsgrenze.
Durchhalten!
Sie würde wiederkommen…
Durch Gassen, die sie von Jugend an kannte, hielt sie auf den Tempel der Schatten zu, den nur Eingeweihte kannten.
Sie brauchte Ruhe! Musste meditieren!

Eine. Ganz. Miese. Idee.
Resümierte Neferu, während die Sehstörungen ihr den Weg nach Westen erschwerten.

Gareth 21 (Neferu) (TSA 1013)

Mit unruhigem Herzen folgte Neferu dem Wachmann durch den diesigen Morgen, hin zur Weststadt Gareths.
Die Straßen waren noch nicht erwacht, einige Lichter glommen milchig durch den Nebel, der in den Gassen schwebte.
Sie zog den Umhang auf Brusthöhe eng zusammen und musste sich Mühe geben, mit dem Gardisten Schritt zuhalten.
Zwar hatte die Kälte sie schlagartig wach gemacht, aber ihr Geist war dennoch angespannt.
„Wer ist die Leiche?“ fragte sie leise, in der Hoffnung, durch einige Fragen und die darauf folgenden Antworten ihre persönliche Situation in dieser misslichen Lage einzuschätzen.
Sie hatte nichts getan. Allerdings wusste sie nicht, ob das auch für Salpico galt, der unweigerlich irgendwann in diesem Keller Experimente durchführen würde, für die ihn der Strang erwartete, sollte das Wissen darum den Untergrund des Weststadthauses je verlassen. Hatte er schon damit angefangen? Wenn ja, war sie mit im Netz gefangen?
Als Hexe – und diesen Umstand würden sie unweigerlich herausfinden – war sie so gut wie verurteilt.

„Eine Frau.“ war seine knappe Antwort. Er blickte sie kurz an. Mit diesem abschätzigen Blick, den Ermittler hatten, wenn sie nicht ausschließen konnten, dass sie mit dem Täter zu tun hatten. „Ihr Körper war kaum kalt.“ fügte er an, ohne zu ihr zu sehen.
Das Unwohlsein machte sich in ihrem Leib breit und erschwerte das Atem holen.
„Wer ist sie?“
„Das weiß ich nicht. Fragt die ermittelnden Wachleute. Es befinden sich sicher fünfzehn auf Eurem Grundstück.“ Ob das eine Mahnung oder gar Drohung war?

Er hatte ein bisschen übertrieben, aber nicht sehr. Etwa zwölf Wachleute durchforsteten das Gras und die Büsche des weiträumigen Geländes.
Die Morgendämmerung hatte eingesetzt, aber noch war die Praiosscheibe nur durch ein dunkelrotes Licht zu erahnen.
Ein Mann in Mantel war unter den anderen. Ein Wachhabender höheren Ranges. Er saß in der Hocke, unten im Keller.
Und da lag sie. Ein weißes Tuch war über ihr ausgebreitet worden.
Neferu schritt die Steinstufen hinab in den offen zugänglichen Untergrund.
Der Mann erhob sich. Er war groß und schlank und als er sich zu ihr umwandte, erkannte sie ihn. Es war der ernste Weibel des Puniner Tors – den sie mittlerweile als Voltan Sprengler identifiziert hatte. Er hatte sie schon vor einigen Tagen neugierig gemacht. Zwar hatte er kein Wort mit ihr gewechselt, doch waren ihr zwei Sachen an ihm ins Auge gestochen: Er maß die Leute mit flinken Blicken, wie ein Dieb die Menschen, die er zu berauben gedachte. Und er trug ein Schmuckstück um den Hals, dessen Anhänger stets verborgen war.
So, so.. Voltan Sprengler.. dachte sie skeptisch und fragte sich, was der Offizier des Südtores in der Weststadt zu suchen hatte. Sie traute ihm nicht. Sie vermutete einen zu phexnahen Hintergrund bei diesem ach so sauberen Wachmann.
Sprengler wiederholte ruhig, was sie ohnehin in Erfahrung gebracht hatte: Eine weibliche Leiche, die kaum kalt und frühzeitig entdeckt worden war.
„Jemand wurde gesehen, wie er die Mauer erkletterte und das hier hinterlassen hat.“ Er entblößte den Körper bis zu den Schlüsselbeinen.
Sie war blass und soweit Neferu das beurteilen konnte, nackt. Zumindest oberhalb. Die Hände waren über ihrem Kopf mit einem groben, billigen Strick gefesselt. Das war nicht Salpico gewesen. Niemals.
„Über die Mauer? Warum ist dann das Tor offen?“ fragte sie mit einem Blick auf die Tote.
„Ich habe es geöffnet.“
Ihre Augen huschten zu Sprengler. „So, so.. ein Einbrecher seid Ihr also..“ Sie versuchte ihre Worte locker klingen zu lassen, trotz der Umstände.
„Im Dienste der Wache muss auch ein Schloss geknackt werden. Ich habe es dort gelernt.“
Es klang ehrlich und überzeugend, aber sie glaubte ihm trotzdem nicht.
„Darf ich sie untersuchen, Weibel?“
Die grauen Augen des Mannes sahen sie abschätzig an. „Warum wollt Ihr das?“

Der Mut der in die Enge Getriebenen leitete sie, als sie ihm die Wahrheit sagte. Sie gab von sich preis, was die Wache mit einigem Stochern ohnehin herausfinden würde.
Sie beobachtete mit einer Mischung aus Spott und Amüsement, wie er nach dem Eisen seiner Waffe griff, einem abergläubischen Mittel gegen das Böse, als sie ihm sagte, dass sie eine Tochter Satuarias war. Sie gab an, dass sie selbst und ein Schwarzmagier auf dieses Grundstück ziehen wollten und dass sie ganz offensichtlich jemand diffamieren wollte, bevor sie nur einen Fuß in ihr künftiges Haus gesetzt hatten. Sie bekräftigte, dass Dexter Nemrod höchstpersönlich von ihrer Natur wusste und es billigte, da sie ’nicht mehr praktizierte‘ und sie zusätzlich außerordentliche Dienste in den Orkenkriegen geleistet hatte, durch die sie mit einem Heldenbrief ausgezeichnet worden war.
„Und ich habe auch dort… ermittelt. Ich erkenne Dinge, Hinweise, Spuren – auch Dank meiner Gabe. Wenn Ihr mich also lasst, diesen Körper einer Untersuchung zu unterziehen, kann ich Euch möglicherweise helfen, den wahren Schuldigen an dieser Missetat zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen, damit der Schwarzmagier und ich nicht in die Bedrängnis geraten, die Opfer einer vorurteilsbelasteten Gerichtsbarkeit zu werden und unschuldig im Feuer zu enden. Ich lasse mir das hier nicht anhängen! Ihr erlaubt?“
Er gab ihr mit deutender Geste den Weg frei.
Durchatmend ließ Neferu sich neben dem Mordopfer nieder.
Sie schlug sachte das Tuch zurück. Das Mädchen war komplett nackt. Die ermittelnde Hexe schätzte sie auf nicht älter als dreiundzwanzig Jahre. Ihre Augen waren geschlossen. Nef wusste nicht, ob die Wachen sie geschlossen hatten. Ihre Suche begann bei den Händen. Schwielen – aber nicht solche, die bei einer schweren Handarbeit entstanden. Die Finger waren rissig, als ob sie häufig mit Wasser in Berührung kamen. Außerdem rochen sie leicht nach Pisse, als die Suchende ihre Nase dicht an die Finger der Leiche heranführte.
„Eine Wäscherin..?“ murmelte sie unschlüssig.
Sprengler beobachtete sie schweigend aus dem Hintergrund. Sie ließ sich nicht nervös machen. Sie wusste, was sie tat. Und außerdem wollte sie hinter sein Geheimnis kommen. Irgendwie würde sie dieses Rätsel lösen und vielleicht musste sie ihn dafür beeindrucken.
Eine halbmondförmige, leichte Verbrennung war da am Handballen. Konzentriert betrachtete Nef die Stelle genauer. Was war das?
Unter den schmutzigen Fingernägeln befand sich Blut. Der Dreck war älter als das Blut. Die junge Frau musste ihren Angreifer gekratzt haben, bevor er sie tötete…
Neferus Aufmerksamkeit sank herab zu dem blassen Gesicht.
Das Mädchen war hübsch, die Zähne mäßig in Stand. Ihr Mund roch leicht alkoholisch. Sie zupfte sich augenscheinlich ihre Brauen und Achseln, versuchte sich trotz wenig komfortabler Lebensumstände zu pflegen. Auch der Schambereich war rasiert. Ausschlag, gereizte Poren umrahmten ihren Rahjahügel.
Die dunklen Haare rochen nach Rauch, Bier und Fett.
„Eine Schankmaid.. die in der Küche hilft.“ Das musste es sein. Eine Schankbedienstete aus den Elendsvierteln. Genau! Die Verbrennung.. vielleicht der Griff einer Pfanne oder eines Topfes.
Aber was war da noch..?
Die Würgemale an ihrem Hals waren unübersehbar und mit Sicherheit der Grund ihres Todes, hatte sie doch sonst keine äußeren Verletzungen. Die blauen Striemen waren deutlich und schmal. Das Opfer war nicht von einer Hand gewürgt worden, sondern vielleicht mit einem Halstuch oder Strick. Die Knie waren aufgeschürft, die Fußsohlen aber sauber. Man hatte sie erst hier ausgezogen oder lange getragen. Das Mädchen hatte sicher noch kein Kind gehabt. Die Brüste waren noch fest. Spuren einer Vergewaltigung zeigten ihre Schenkel nicht. Neferu untersuchte auch ihre Rückseite, fand aber nichts Aufschlussreiches mehr.
„Sie ist eine Schankmagd aus Meilersgrund oder Eschenrod, richtig? Seltsam, dass sie nicht vergewaltigt worden ist.“ Im knien hob sie den Blick, sah Sprengler an.
„Das ist richtig. Sie ist aus Eschenrod, ihr Name ist Jelka.“
Er wusste es schon..? Warum hatte er sie dann suchen lassen…?
„Außerdem,“ fügte er an, „hat man sie nicht vergewaltigt, da sie ihm ein Geschenk gemacht hätte..“
Ein Geschenk..? Verwirrt linste Nef zu dem mittlerweile kalten Körper. Ah… eine Krankheit im unteren Bereich. Sie nickte leicht.
„Sie ist eine Hure gewesen. Bis sie wegen der wuchernden Erkrankung nicht mehr taugte.“ Der Weibel schien die Hexe als Ermittlerin akzeptiert zu haben oder er belehrte sie. Sie war sich darüber nicht ganz einig. „Rahjas Festung – ein hässliches kleines Bordell in Eschenrod. Der Mann, der das getan hat, ist von einer jungen Patrizierin gesehen worden, die erst heute Morgen auf dem Nachhauseweg war. Er trug eine Maske und einen großen, ausladenden Hut. Das ist alles, was wir wissen.“
„Warum seid Ihr hier, Weibel? Seid Ihr nicht im Puniner Tor stationiert?“
„Mein Dienstplan umfasst auch Eschenrod. Und die Tote ist aus Eschenrod. Deshalb bin ich dazugerufen worden.“
Die Wache ermittelte schnell, gestand Neferu anerkennend.
„Ich bin ebenfalls aus Eschenrod, aufgewachsen dort und in Wallgraben.“ Hatte sie zuviel gesagt? Sie nahm gerne etwas Vertrautheit vorweg, um das Misstrauen ihr gegenüber zu mildern.
„Ich bin auch in Wallgraben aufgewachsen.“ Was war das? Er unterhielt sich mit ihr, während er die Leiche zudeckte.
„Tatsächlich?“ Neferu lächelte matt, lief gemeinsam mit ihm noch einmal das Grundstück ab. Sie wollte jeden Stein umdrehen… „Vielleicht hat man sich als Kind sogar gesehen und erinnert sich nicht.“
Sie wollte dieses nette Gespräch nicht abreißen lassen. Sollte es doch zu einer Anklage kommen, konnte er aussagen, dass sie die ganze Zeit über sehr informativ und kooperativ gewesen war. Vielleicht bekam sie sogar seine Sympathie.
„Ich denke nicht. Ich.. war als Kind nicht viel draußen. Ich war sehr dick.“
Sie hob verblüfft die Brauen: „Dick? Kein Leben in Armut…?“ Sie war überrascht, hatte sie in ihn schon eine ähnliche Kindheit hineinprojeziert wie die, die sie gehabt hatte. Ein entbehrungsreiches Leben.
„Keine Armut, nein. Meine Eltern hatten viel zu Essen, waren aber kaum da. Ich war meistens allein.“
Neferu nickte sachte. Wie zugänglich er schien… Zu zugänglich. Sie traute der vermeintlichen Offenheit nicht. Sie musste die Informationen prüfen.

Dort, ein Fußabdruck!
Hinter einem Busch war er im Erdreich zu sehen. Groß, männlich und entweder war derjenige schwer oder schwer beladen gewesen.
Ja, man hatte diese Frau bei ihr deponiert. Aber warum? Als Denunzierung? Als Warnung? Sie hatte nicht einmal eine Ahnung.
„Sehen wir uns die Mauer von außen an.“ schlug sie vor.
Er hatte die Hände in seinen Manteltaschen und stimmte zu.

Und da war sie: Die weiße Feder. Sie prangte aufgemalt auf ihre Mauer in der Dunkelheit. Reinweiße Farbe. Es war kein Diebeszinken, das wusste sie.
Was sollte sie also bedeuten? Eine Greifenfeder? Praioten?
Sprengler glaubte nicht daran, dass das Symbol etwas mit der Praioskirche zu tun hatte. Auch sie selbst war sehr unsicher, bezüglich dieser Theorie.
„Ich muss gehen, der Wachdienst an der Mauer ruft. Werdet Ihr Euch noch weiter umsehen?“ fragte er sachlich.
Neferu nickte. „Ich werde noch bleiben. Und Sprengler.. haltet die Augen nach Katzen offen!“
„Katzen?“ Verwundert hoben sich seine Brauen, wirkte perplex.
„Ja, ich kann.. sehen was sie gesehen haben. So ein Hexending.“
Er nickte wiegend, aber zäh. Die satuarische Sache war ihm definitiv alles andere als geheuer.
„Wie geht es jetzt weiter?“ fragte Neferu, als er ging. Die Sonne zeigte sich endlich am Morgenhimmel.
„Kommt morgen früh zur achten Stunde ans Tor. Ich kann Euch vielleicht gebrauchen.“
„Gut, morgen früh – zur achten Stunde.“

Bis dahin – da war sie sich sicher – hatte sie noch eine Menge herausgefunden.

Gareth 20 (Neferu) (TSA 1013)

Die Regentropfen klopften unablässig ans Fenster. Abertausende kleine nasse Fäuste, die Neferu aus dem Schlaf hämmerten.
Passend zum Wetter war heute Wassertag. Ein Tag, der einmal die Woche wiederkam, aber selten so treffend von Efferds Element derart durchdringend begleitet wurde.
Während Neferu und Phexdan beim Frühstück das Weidener Früchtebrot vertilgten, dass der Maraskaner am vorherigen Tag aufgetrieben hatte, fiel beiden Geweihten des listigen Fuchsgottes ins Auge wie derart besiegt der Affe Dajin VII durch den Raum schwankte. Von seiner pfiffigen Sprunghaftigkeit war nichts zu erkennen, er schlich mit auf dem Boden schleifenden Händen über die Dielen und kippte dann auf seine Stirn.
Wortlos, den Bissen im Mund vergessend, sahen sich die zwei Menschen, die zusammen die Wohnung im ersten Stock in Frau Ahlemeyers alter Sattlerei bewohnten, ratlos an.

Jemand hatte den Affen vergiftet! Oder besser: Betrunken gemacht. Neferu ärgerte die Erkenntnis tatsächlich, hätte das Tier doch sterben können. Phexdan kümmerte sich um das leidende Bündel, während sie selbst sich auf die Spuren machte, von denen sie hoffte, sie würden sie zum Verantwortlichen führen. Frau Ahlemeyer berichtete, dass der Hofhund mitten in der Nacht angeschlagen hatte. Dajin war lange unterwegs gewesen. Der Affe konnte die Fensterläden selbsttätig öffnen, was ihn zu einem nennenswert selbstständigen Geschöpf machte, mit all seinen Vor- und Nachteilen.
Sie fand draußen im Regen einen umgeworfenen Eimer und einige Kieselsteinchen, die auffallend nah beieinander lagen.
Sonst nichts weiter.
Hatte es tatsächlich Spuren gegeben, so hatte der Regen sie weggewaschen.

Sie schlug den Weg nach Tempelhöhe ein. Vielleicht konnte Lamiadon helfen. Als Elf und als Liebhaber von Rätseln hatte er eine ganz besondere Neigung, den Schuldigen zu finden, wenn ein Tier vergiftet worden war. So dachte Neferu zumindest. Andererseits war er, soweit ihre Kenntnis, schon eine ganze Weile in Gareth ansässig.
In der Smaragdnatter waren unangenehmerweise Pfeile des Lichts zugegen.
Magister Meinloh von Gareth höchstselbst, den sie einmal beiläufig im Magistrat gesehen hatte und neben ihm einen Mann, der so gar nicht zu der imposanten, weißbärtigen Gestalt des ältlichen Weißmagiers passte: Ein Mann mit langem blonden Haar und heiterem Gemüt, wie sein Lachen schnell verriet. Offenbar auch ein Magier.
Beide zogen Neferus unwillkürliche Aufmerksamkeit auf sich. In ihr keimte der Wunsch mit dem Feuer zu spielen…

Zur Mitte des Tages konnte sie eine erfolgreiche Zwischenbilanz ziehen:
– Dajin war kein Affe, sondern ein Tier namens ‚Maki‘.
– Lamiadon hatte doch tatsächlich Interesse an einem Kind, das ihm in der Schankstube helfen konnte!
– Die Schüler der Schwert&Stab-Akademie zu Gareth übten gerade den Klarum Purum. Ein dummer Junge namens Zordan hatte seine Kompetenzen überschritten und den Reversalis an Phexdans Haustier geübt – außerhalb des Schulgeländes! Das würde bestraft werden, hatte ihr sein Lehrmeister versprochen – Eulrich Durenald, der lebenslustige Albernier an Meinlohs Seite.
– Die Kinder des Waisenhauses brauchten Unterricht! Bei diesem Gedanken, der sich in kürzester Zeit massiv festigte, fühlte sie einen Ansatz, der ausnahmsweise kein Tropfen auf den heißen Stein war, sondern den Mädchen und Jungen der Lowanger-Greiber-Einrichtung möglicherweise wirklich weiterhalf. Sie fühlte sich berufen dazu, die zwölfgöttlichen Kirche an ihrer Ehre zu packen und sie zu einer Spende zu bewegen. Neferu legte sich zurecht, was sie sagen wollte.
Zuerst der Hesindetempel, dann der der lustvollen Rahja.
Die Hexe wusste, dass ihr das Talent eigen war, mit Worten umzugehen. Sie wollte diese Gabe nutzen, um eine Zukunft für ihre Schützlinge durch überzeugende Rede zu erstreiten.
Die Rechnung ergab, dass ein täglicher Unterricht (bis auf Praiostags, denn da sollte Zeit sein, in den Tempel zu gehen) in grundlegenen Dingen wie Schreiben, Lesen, Rechnen, Geschichte, Zwölfgötterlehre und Weltenkunde im Jahr 480 Dukaten verschlingen würde.
40 Silber im Monat. Es war ein Experiment. Sie hatte noch nicht gehört, dass so etwas je zuvor versucht worden war.

Eine Frau mit unordentlich hochgestecktem Haar, die nach Mohacca roch, bekam einen Bruchteil des Gesprächs von Neferu und der Hesindegeweihten mit und wie durch ein Wunder sagte diese Fremde, die sich als Gerhalla Isenbrook vorstellte, die Finanzierung zweier ganzer Monate zu. Neferu war irritiert, aber erfreut. Wer war die verbissen dreinschauende Mittvierzigerin, die scheinbar ihr privates Vermögen in dieses Unterfangen steckte?
Auch die Hesindekirche sagte einen Monat zu. Neferu schöpfte Hoffnung, dass ihr Plan aufgehen konnte, wenn sie hartnäckig blieb.
Auf dem Weg zum Rahjatempel erinnerte sie sich, was sie einst über den Tempelvorsteher gehört hatte: Ein Moha, der einen Ritter hatte hinrichten lassen, da er das Pferd seines Gegenübers getötet hatte. Ihr war nicht ganz wohl bei der Sache. Der Mann schien nicht von der zimperlichen Sorte, wenn es um seine Überzeugungen ging.
Es regnete noch immer – die Tropfen prasselten auf ihre Kapuze und perlten ihr von der Nase.
Der hochgewachsene Moha empfing sie in den weiten Hallen des rosafarbenen Tempels. Er war sehr ernst für einen Geweihten der berauschenden Rahja.
Er hörte sich ihr Anliegen an. Und er stimmte zu. Es wirkte fast, als sei es ihm ein persönliches Anliegen. Ihr war nicht entgangen, dass er einen Akzent hatte. Er war mit Sicherheit nicht in Gareth geboren worden… irgendwo in der Geschichte seines Lebens, schien dieser gestrenge Hochgeweihte eine Verbindung zu den verlorenen Seelen der Elendsviertel zu haben. Sie fragte nicht nach. Es ging sie nichts an. Aber es erfüllte sie mit Zuversicht.
Trotz des Wetters machte sie einen Umweg, um auf dem Al’Anfaner Markt ein Säckchen Marzipan, ein paar kandierte Aprikosen und einige Stücke Lakritze für Phexdan zu erstehen. Was versuchte sie da? Die Liebe des Leckermauls mit Süßigkeiten zu erkaufen? Und wenn schon – Liebe ging ja bekanntlich durch den Magen.
Sie packte die Zuckerspeisen in ihre Tasche und hielt auf Südquartier zu.

Bis zum Einbruch der Nacht gehörte sie dem Phextempel, erst danach würde Phexdan seine Naschereien erhalten.

~

Am 22. Tsa des Jahres 1013 nach Bosparans Fall wurde Nef durch lautes Klopfen geweckt. Zuerst war sie unsicher, ob sie das dringliche Geräusch geträumt hatte, aber dann wiederholte es sich. Sie setze sich auf, legte vorsichtig den Arm des anschmiegsamen Fuchses bei Seite.
Draußen war es dunkel und nebelig. Es war sicher noch vor der achten Stunde.
Wer wollte zu so früher Stunde etwas von ihr? Schlaftrunken kam sie aus dem Bett.
Frau Ahlemeyers Stimme durchdrang gehetzt die geschlossene Tür.
„Fräulein Banokborn? Fräulein Banokborn! Vor der Tür ist ein Gardist der Weststadt! Er will Euch dringend sprechen!“
Ein Gardist? Irritiert runzelte sie die Stirn und zog sich an. Und dann auch noch von der Weststadt…
„Ich komme nach unten!“ antwortete sie eilig.
Frau Ahlemeyers Schritte entfernten sich ungewöhnlich schnell, während sie sich für praktische Kleidung entschied, den gefütterten Umhang überwarf und nach unten folgte.

Die Vermieterin hielt eine Henkelkerze in der Hand und stand ungeduldig unten an der offenen Tür. Der kalte Wind erfüllte einnehmend den ganzen Flur. Es musste wirklich noch früh sein.
Neferu fasste den unbekannten Wachmann ins Auge, der uniformiert und aufrecht im diesigen frühmorgendlichen Dunst stand.
Sie trat an die Tür.
„Ich bin Neferu Banokborn. Gibt es ein Problem?“
„In der Tat, Fräulein. Ihr seid die Besitzerin eines Grundstücks in der Weststadt auf dem gerade gebaut wird, richtig?“
Ihr wurde unwohl. „Das ist richtig… Was ist damit?“
„Es wurde heute früh zur sechsten Stunde im bereits fertiggestellten Keller eine Leiche entdeckt. Würdet Ihr mich bitte begleiten?“

Gareth 19 (Neferu) (TSA 1013)

Gefährlich ist es, im Nebel zu wandern.
Ja. Nein.

Die Kraft des Phexhandschuhs aus der Brache vermochte es zu helfen, Backsteine zu entdecken, die unter den unzähligen Weiteren der gemauerten Kanalisation besonders waren.
Denn dahin hatte der geheime Gang sie geführt: Nach unten. In die düsterfeuchten Wurmlöcher, die seit Jahrhunderten unter der Stadt lagen und von jedem Menschen mit Verstand gemieden wurden.
Sie war schon einmal hier gewesen, es war nicht einmal lange her. Das Gewirr von Gängen war ein Irrgarten und ein gefährlicher dazu, konnte man doch nie sagen, was sich hier unten eingenistet hatte und nur darauf wartete, gesundes Frischfleisch zwischen die Kiefer zu bekommen. Sie dachte an die Ghoule und fröstelte. Und ebenso versuchte sie die Gedanken an all die trippelnden, fiepsenden Ratten zu verdrängen.
Die Mauersteine, die auf den Handschuh reagierten, ließen sich aus dem Verbund der Wand lösen. Auf ihren Rückseiten, waren Worte graviert.
Ja, ist es. Gefährlich im Nebel zu wandern. Antwortete Neferu in Gedanken und ging in die Richtung auf der das ‚Ja‘ verzeichnet war.
Nebel konnte Schutz bedeuten, aber nur der Närrische würde die mögliche Gefahr ignorieren. Ähnlich war es hier unten, in den Gedärmen alter Zeit.
Leise bewegte sie sich vorwärts, immer voran.

Phex hilft dem, der sich selbst hilft.
Ja. Nein.

Eindeutig ja. Sie folgte auch dieser Richtung und leise drangen raue Männerstimmen an ihr Ohr.
Vorsichtig schlich sie in der Dunkelheit des Garether Untergrundes voran. Sie wollte lieber langsam sein, als irgendwelchen Halsabschneidern hier unten in die Finger zu geraten.
Der Zauber der Katzenaugen ließ sie einigermaßen sehen. Tunnel um Tunnel, alle sahen sich so ähnlich. Ihre Orientierung waren nur die Angaben auf den Steinen.

Bei einer falschen Antwort lauert der Tod.
Ja. Nein.

Ja. Sie war sich ziemlich sicher, dass das hier kein Spiel war. Ein Wartungstunnel verband zwei Abschnitte. Die Stimmen wurden lauter. Der Hall der Wände ließ sie näher erscheinen, als sie waren. Vorsichtig spähte Nef um die Ecke und fand drei Männer, die auf einem notdürftig errichtetem Lager ausharrten, auf etwas zu warten schienen. Wie sie aussahen, ungepflegt und abgerissen, gehörten sie sicher nicht zur Alten Gilde. Sie machten zotige Witze, lachten dumpf, aber leise.
Neferu wollte die Kerle nicht verletzen. Aber sie mussten gehen, denn sie saßen mitten in ihrem Weg. Die Hexe riss sich ein Haar aus, band eine Schlaufe und warf den Knoten in einer bedachten Bewegung in die Richtung der Gestalten. Konzentriert separierte sie das Gefühl von Macht, dem Verbreiten von Schrecken und dem Genuss, wenn andere vor einem schreiend flohen. Ihre Gedanken formten das Bild einer Mauer, ließen gepeinigte Seelen schreien, Arme aus Blut und Feuer ausstrecken und den Geruch von Schwefel und Rauch verbreiten.
Die drei Schmuggler sahen die dämonische Wand und suchten ihr Heil in der Flucht. Abergläubisch fluchend stieben sie davon und ließen Decken, einen alten Rucksack und einige leere Flaschen Alkohol zurück.
Die Lauernde im Schatten atmete sachte durch und beglückwünschte sich zum Aberglauben des einfachen Volkes, der ihr selbst normalerweise negativ entgegen schlug, wenn sie sich als das offenbarte, was sie war: Eine Tochter Satuarias. Aus dem Geschäft der drei würde heute wohl nichts mehr werden. Trotzdem musste sie achtsam bleiben.

Es roch muffig und feucht da unten. Irgendwie nach Pilzen. Vom Lärm der Metropole hoch über ihr war nichts zu bemerken.
Sie betete inständig, keinem Ghoul zu begegnen. Oder zumindest nicht die Besinnung zu verlieren, wie das letzte Mal. Dieses Mal war sie allein. Es war kein Phexdan da, der ihr den Arsch retten konnte. Sie hatte dieses drängende, ehrgeizige Gefühl, dass das hier unten ihre Prüfung war und niemandes sonst. Die vormalige Schnitzeljagd hatte sich als etwas viel größeres entpuppt, das konnte sie spüren. Es war ein Test. Und am Ende stand alles oder nichts. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, ihre Sinne blickten scharf in die Gänge, in das Labyrinth Unter-Gareths.

Der Kerker der Stadt ist ausbruchssicher.
Ja. Nein.

stand auf der Rückseite des nächsten Steins geschrieben. „Nein.. sicher nicht..“ flüsterte sie leise in die kühle Luft.
Kaum, dass sie die Kurve genommen hatte, stach ein Schimmer in ihre empfindlichen Augen. Sie bemerkte, wie sich die schmalen Pupillen der Katzenaugen verengten.
Was war das?
Da, am Ende des Ganges leuchtete es Rot. Alles war bedeckt von rotem Moos.
Feuermoos… Sie hatte davon gehört. Von Phygius. Das Zeug war schlimmer als klassische Säure. Es fraß alles Organische. Metall, Stein oder Glas waren vor ihm sicher. Sollte ihr Weg hier zu Ende sein? Das Moos bedeckte den Boden sicher ganze fünfzig Schritt weit, sie konnte kaum das Ende dieser flammenfarbenen Flechte sehen.
Die Tunneldecke allerdings war frei davon. Es hatte sich nur auf dem Boden und an Teilen der Wände ausgebreitet. Sie drückte die Lippen aufeinander, dachte nach.
Und dann hatte sie es! Sie kehrte hastig um, nahm den direkten Weg zurück zu dem dürftigen Lager der immer noch absenten Schmuggler. Sie nahm die zwei leere Flaschen mit.
Auf ihrem Weg sammelte sie vier Backsteine ein, die nicht mehr ganz waren und irgendwann aus den alten Wänden gebrochen waren.
Das war halsbrecherisch. Mal wieder.
Ihre behandschuhten Finger griffen einmal beherzt in ihre Faust. Dann ließ sie es darauf ankommen.
Immer zwei Steine als Trittfläche legte sie vorsichtig auf das Feuermoos. Einen dritten, um den unsicheren Pfad über das Feuer mit ihm fortzuführen. Und einen letzten als Ersatz. Sie ließ ihren Umhang und das meiste Zeug in ihrem Rucksack zurück. Sie wollte nicht fallen. Sie wollte nicht im Moos zu einem Häufchen Nichts vergehen.
Die Flaschen nutzte sie als Stütze links und rechts. Sie flüsterte leise ein Stoßgebet, bat um Glück.
Auf diese Weise quälte sie sich in einer schier unendlichen Zeit über das tödliche Gewächs, das sie in Augenblicken vollständig aufzulösen vermochte.
Der Schweiß stand auf ihrem roten Gesicht. Nicht nur ein Krampf plagte sie. Aber etwas trieb sie an. Zuerst die Neugier und die Gewissheit, dass da am Ende etwas war, das es wert sein würde. Und als sie auf der Mitte war, trieb sie der Willen zu überleben an.
Und dann.. endlich.. hatte sie es geschafft.
Sie fiel keuchend auf den feuchten Kanalisationsboden und wollte den nackten Stein küssen – was sie dann doch besser unterließ. Sie blieb eine gefühlte Stunde liegen, massierte ihre gepeinigten Beine und Arme, ehe ihre angestrengte Muskulatur sich bereit erklärte, sie weiter voran zu tragen. Nur voran..

~

Haarscharf war die Moosakrobatik gewesen. Wie hätte das ausgehen können… Sie wischte den Gedanken fort.
Ein fünfter Stein wartete an einem Gitter in der Mauer auf sie.

Glaubst du, dass es den Mond gibt?
Ja. Nein.

Natürlich gab es ihn. Sie folgte der linken Abzweigung. Eine steinerne Wendeltreppe führte so tief herunter, dass man ihr Ende nicht sehen konnte.
Sie wusste nicht viel, aber dass es den Mond tatsächlich gab, den obersten Erleuchteten der Phexkirche, das zweifelte sie niemals an.
Mit jedem Schritt nach unten wurde es wärmer. Ging sie ins Innere von Sumus Leib? Warum hörte die Treppe nicht auf? Da waren nur ihre Schritte und dann und wann ein Tropfen.
Das seltsame Gemisch an Gefühlen in ihr wallte auf: Hochstimmung und bedrückende Mulmigkeit.
Der Steinzylinder in dem sie sich in die Tiefen schraubte, gab ein weiteres Geräusch preis von dem er irgendwann gänzlich erfüllt war: ein Rauschen. Zuerst war es leise, doch irgendwann, denn ihre Schritte wurden nicht zaghafter, schwoll das Rauschen zu einem regelrechten Getöse an.
Sie betrat den Boden des Zylinders. Ein Gang lag offen vor ihr. Laut brach sich das Geräusch wütenden Wassers tausendfach an gemauerten Wänden.
Neferu trat langsam durch den Durchgang.
Sie kam in einen zweiten Zylinder, in dem es ohrenbetäubend laut war. Und vor allen Dingen war es eine Sackgasse. Ein frei hängender Steg ragte ziegelgemauert über einem Abgrund, einem tosenden Strudel! Und an dem Steg wuchs rotglimmend Feuermoos, nur in der Mitte einen schmalen Grat frei lassend.
Die Geweihte wagte sich wenige Schritte vor, spähte dank ihrer magischen Augen und mittels eines spiegelnden Dolches hinab auf den wirbelnden Strom.
Dort unten schwamm etwas.. Ein großer dunkler Körper kämpfte auf der Stelle, immer gegen die mächtigen Wasser an.
Sie biss die Kiefer zusammen, dass es knirschte. Ein Dämon? War das da unten ein Dämon? Die Kreatur musste monströs groß sein…
Gut, dass sie Erpelgriebs Rädchen dabei hatte. Doch das Windrad blieb still. War es doch keine niederhöllische Kreatur oder funktionierte das alberne Spielzeug schlichtweg nicht..? Hatte Erpelgrieb sie übers Ohr gehauen?
Neferu fühlte sich ratlos. Was sollte sie hier? Was erwartete das Rätsel von ihr? Sie musste irgendeine zündende Idee haben.
Weiter ging es auf keinen Fall, da war sie sich sicher, nachdem sie sich noch einmal gründlich umgesehen hatte.
Da waren nur der Steg und der Strudel…
Da fiel ihr auf, dass ganz am Ende des Steges ein Backstein lag.
Vorsichtig, nach ein paar Wimpernschlägen des Zauderns, näherte sie sich dem gefahrvollen Feuermoos und angelte den Quader mit einer erloschenen Fackel zu sich heran.
Auf seiner Rückseite stand in deutlicher Gravur:

Du denkst, alles ist sinnlos? Geh zurück, sei fleißig, demütig, ängstlich. Du glaubst, alles ist voller Sinn? Stürz dich mit einem Salto vom Feuersteg.
Sie starrte den Stein an.
Es verschlug ihr einen Moment lang gänzlich den Atem.
Fleißig, demütig, ängstlich.. klang es in ihrem Innern wider.
Die Kreatur dort unten schwamm noch immer in einer ewiglichen Aufgabe gegen die Flussrichtung.
Sie haderte mit sich. Sterben wollte sie nicht. Was war, wenn das alles nur eine Finte war?
Aber.. was war, wenn es das nicht war…?
Fühlte es sich wie eine bösartige Falle an?
Nein. Sie hatte das Gefühl, vor etwas ganz Großem zu stehen. Vor der größten Sache ihres bisherigen Lebens.
Phex, was auch immer ich finden werde… Ich werde es dir schenken. Alles davon soll dein sein!
Sie trat zurück, nahm Anlauf … und sprang.

~

Das Rauschen war fort. Da war nur Stille, so dass ihr eigenes Atmen, das glücklicherweise noch immer intakt war, das einzige war, das sie hören konnte.
Dann sprach wie aus dem Nichts heraus eine Stimme zu ihr. Sie wagte die Augen zu öffnen und blickte in eine Höhle gigantischen Ausmaßes. Tropfsteine ragten von der entfernten Decke herab und alles war in ein bläuliches Licht getaucht, das von einer felsigen Empore aus zu scheinen schien.
Wenige Schritt von ihr entfernt stand ein Mann in grauer Robe.
Und überall – auf jedem Flecken des Bodens – befanden sich Hügel und Berge aus Schätzen, Kostbarkeiten! Ein Meer aus Dukaten, Reichtümern und Artefakten.
Sie vergaß das Atmen, während der Graue sie begrüßte.
Er warf die Kapuze zurück. Es war ihr Vogtvikar, der Leiter des Tempels der Schatten. Jereminas Torfstecher.
Lebte sie noch? Sie musste – denn Torfstecher war nicht tot. Auch wenn sie sich so bisher die ewigen Hallen Phexens hätte vorstellen können.
„Wo bin ich?“ war das erste, was ihr einfiel.
„Das hier ist Phexens Silberhort. Und du bist jetzt sein Hüter.“

„Silberhort?“ Es versagte ihr die Sprache.
„Der Großteil aller Opfer an Phex aller Zeiten landete und landet hier – ohne unser Zutun. Es geschieht einfach. Phex selbst tut sein Werk.“
„Was? Hüter?“ Sie war schon einmal ein besserer Gesprächspartner gewesen.
Irgendwo klimperten Dukaten. Ein neuer Gegenstand tauchte auf. Ein kürzlich gespendetes Opfer an den Herrn des Nebels kullerte von einem Geldberg hinab, bis es seinen Platz fand zum Liegen zu kommen.
Staunend wie ein Kind starrte sie die fremde Umgebung an.
„Er hat dich für würdig befunden. „Torfstecher schmunzelte. „Die drei Vogtvikare Gareths gelangen immer hier her. Hüter gibt es nur einen. Du hast ein Jahr Zeit, ein neues Rätsel zu gestalten. Das letzte Mal hat es vier Jahre gedauert, bis das aktuelle Rätsel nun von dir aufgelöst wurde. Ich hatte die Vision, dass du kommen würdest, deshalb bin ich hier.“
„Vier Jahre!“ Noch immer ließ die Faszination und der Schrecken, mit dem Leben davongekommen zu sein nicht nach. „Wer.. war es vor mir? Wer war der Hüter?“
„Talimee Nebelstern war deine Vorgängerin.“
Langsam kam Neferu auf die Beine. Alles klimperte und klirrte, Münzen rollten.
„Es ist dir gestattet, etwas zu nehmen.“ Mit einer anbietenden Geste deutete er auf all den Reichtum, „Nimm dir, was du willst…“ Die letzten Worte waren mahnend. Gier war alles andere als eine Tugend und nichts, was Phex schätzte.
„Und du kannst einen Gast herbringen, der sich genau einen Gegenstand aussuchen darf. Nur einen einzigen. Der Gegenstand wird ihn erkennen, nicht anders herum.“
Neferu nickte stumm, die Flut von Informationen und der Anblick edelster Gegenstände ließ sie glauben, zu träumen. Glücklicherweise war sie nie goldgierig gewesen.
„Und..“ setzte der Vogtvikar an, „Der Mond soll ab und zu hier herkommen, Sprich ihn nicht an! Das bringt Unglück.“
„Wie.. werde ich ihn erkennen?“
„Du wirst ihn erkennen.“
Ich habe Phex seinen eigenen Hort geopfert… kam es ihr in den Sinn. Sie schmunzelte, als sie an ihr Versprechen kurz vor dem Sprung dachte.
Und dann sprach sie es aus: „Ich habe Phex versprochen, was auch immer ich finden würde. Ich kann nichts nehmen.“
„Sei nicht albern, Bescheidenheit ist keine Tugend. Du hast es dir verdient. Du hast Phex seinen Hort geschenkt – ich habe es wohl gesehen: Als du ankamst, verschwand alles für einen Augenblick und war dann wieder da. Und jetzt legt der Graue dir seinen Hort offen. Er belohnt dich.“
Jereminas wandte sich um. Dann zeigte er ihr den Ausgang und beschrieb ihr die Möglichkeit zurück in diese heiligen Grotten kehren zu können.

Nachdem sie mehrere Stunden in dem Hort geruht hatte – tatsächlich wäre sie fast eingeschlafen, der Ort hatte trotz seiner Imposantheit etwas Friedliches – sah sie sich genauer um. Sie ließ Geld zwischen ihren Fingern hindurchrinnen, beguckte sich schöne Kannen und prachtvolle Gemälde. Sie zog Ringe auf die Finger, nur um sie wieder abzulegen. Es war schöner das alles zu bestaunen, anstatt es zu besitzen. Sie fand einen wunderschönen Dolch für Salpico, einen reichbestickten aranischen Teppich und eine Karte, die in einer feingearbeiteten Hülle aus Bosparanienholz steckte für Phexdan, einen Doppelkhunchomer in reicher Scheide, voll von Rubinen und Diamanten für Zerwas.
Das waren ihre Geschenke an die Menschen, die sie liebte.
Sie selbst nahm zwei Bücher und eine Erinnerungskette an sich. Erinnerungsstücke hatten ihr schon immer gut getan. Die Kette sah aus wie eine Phiole an einem Silbergeschmeide, mit eingefassten roten Steinen.
Am Ende zog sie am Seil und stand wie durch Zauberhand mitten in der Nacht im Theater ‚Fuchsbau‘..

~

Am nächsten Morgen war das Wetter schön. Wenige Wolken bedeckten einen klaren Frühlingsmorgen. Mit voranschreitendem Tsa kam der Geruch von Blüten und von frischem Wind.
Es war der Beginn des elften Tsa im Jahre 1013 nach Bosparans Fall.
Und es war der Tag an dem Muamer ibn Hakim, den zu dieser Zeit jeder nur als Zerwas kannte, nach Khunchom ging, in die Stadt, in der seine Ahnen gelebt hatten. Mit dem Doppelkhunchomer, dem letzten Geschenk auf seinem Rücken, verließ er Gareth.
Neferu wusste, sie konnte ihm schreiben, auch wenn Boten teuer waren. Sie wusste, er war nicht ganz aus der Welt.
Sie tröstete sich, dass das nicht das letzte Kapitel ihrer gemeinsamen Zeit sein musste, hatten sie beide doch die Ewigkeit vor sich.
Er hatte ihr zum Abschied gesagt, er wolle ihre letzte Liebe sein.
Ob er sich mit diesem Gedanken selbst Trost schenkte oder ob er es wahrhaftig so meinte, war einerlei. Der Geschmack auf ihrer Zunge war durch diese Worte weniger bitter gewesen, verhießen sie doch, dass es in dieser Sache kein endgültiges Ende gab. Neferu war nicht gut dabei, wenn sie mit endgültigen Enden zu tun hatte. Sie hatte hart mit Abschlüssen zu kämpfen.

Die Phex-Hexe ließ sich durch den Trubel der Stadt treiben, ihren Gedanken nachhängend. Elster war bei ihr. Die junge Stute liebte lange Spaziergänge. Irgendwann waren sie beide noch hinter Rosskuppel auf der Reichsstraße. Gareth und seine ländlichen Vorstädte verblassten in der Entfernung.
Das dunkle Haar wurde von der Frühjahrsbrise verweht und sie ließ sich auf einem Meilenstein nieder, während Elster den Hals bog und das frische, kurze Tsagras zupfte.
Und wie sie da saß fing Neferu an zu weinen, bis ihr Gesicht ganz entstellt, rot und unansehnlich war. Es war befreiend, so weit weg zu sein und einfach die Schleusen zu öffnen.
Sie hockte da eine ganze Weile, Elster kümmerte es nicht, solange sie etwas zu fressen in Aussicht hatte. Den Mittag musste der Tag schon passiert haben, als ein älterer Reisender das Wort an sie richtete. Der Mann war Zyklopäer. Er hieß Mermydion Phyrikos und er entschied zuzuhören. Er war ein guter Mann, stets bemüht, das richtige zu tun und eine helfende Hand zu reichen, wenn er es als notwendig erachtete. Ein freundlicher Ausländer, der nach Wallgraben wollte. Neferu hatte keine Ahnung, wer er war. Aber sie erzählte ihm tränenblind von dem Menschen, der gegangen war und den sie lange Zeit geliebt hatte, aber dann irgendwann nicht mehr.
Irgendwann hatte sie sich soweit gefasst, dass sie ihm den Rennweg zeigte, denn der war sein eigentliches Ziel. Sie verabschiedeten sich und Neferu wusste, dass sie den Fremden wohl nie wieder sehen würde.
Irgendein Fremder…
Auch Zerwas war einst irgendein Fremder gewesen. Und vielleicht würde er es wieder werden. Aber vielleicht auch nicht.
Mit stumpfem Gefühl im Bauch, trottete sie verhangenen Blickes an der Seite der gutgelaunten Elster zu Ahlemeyer. Sie würde von nun an dort wohnen.
Phexdan erwartete sie.
Er schloss sie in die Arme, drückte sie wohlmeinend und gab ihr Wein zu trinken – Aquenauer Südhang… Wie passend das war.
„Du hast Kummer. Lass uns trinken!“ Er lächelte aufmunternd und sie hielt seinen Rat für durchaus befolgenswert. Gemeinsam mit Salpico soffen sie die halbe Nacht und scherten sich nicht um den Kater, der am nächsten Morgen unvermeidbar auf sie lauern würde.

~

Nach den ersten Tagen Herumliegen und die Decke anstarren entschloss Neferu, dass sie vom Nachdenken keine neuen Geistesblitze erringen würde.
Es war seltsam, dass Zerwas gegangen war. Noch seltsamer war, dass er ihr nicht fehlte. Es war vielmehr so, als sei die Wunde, die sein vermeintlicher Tod in Greifenfurt gerissen hatte, endlich verschlossen worden war. Sie hatte auf einem guten Weg abschließen können. Ohne Gewalt und Zwiespalt. Ohne Hinterhalt.
Phexdan und Neferu mieteten die Wohnung des ersten Stocks bei Ahlemeyer. Ein Versorgen von Elster war im Preis inbegriffen, der Stallmeister von gegenüber spielte bei der Vereinbarung mit. Die sechzehn Dukaten im Monat hatten es in sich, aber gemeinsam würden sie die Summe stemmen können.
Sie wollte sich nicht in eine Beziehung mit Phexdan stürzen. Und sie spürte, dass er das genau sowenig im Sinn hatte. Sie wollte nur die Nähe ihres Vertrauten. Und sie wollte ihm Nähe schenken. Nicht zwingend körperliche Nähe, auch wenn das Füchschen des Nachts tat, was es mit am Besten konnte: Sich anschmiegen, trotz dem er jede leidenschaftliche Regung vermissen ließ.
Sie wollte versuchen, mit ihm zusammen zu wachsen, wie Geschwister im Geiste.
Ihre Liebe für Phexdan hatte bis jetzt alles überstanden. Und sie war noch da.
Sie musste ihn nur ansehen und wusste, dass dieser wirre Maraskaner ihr das Liebste auf der Welt war.
Phexdan war ihr Halt – damals wie heute. Gut gelaunt und lächelnd. Auch wenn sie nie ganz bei ihm ankam, wenn er Geheimnisse hatte und dazu neigte, Chaos statt Ruhe zu stiften, so fühlte sie sich in seiner Gegenwart lebendig.
Die folgende Woche übten sie nach Einbruch der Dämmerung stets gemeinsam das Klettern in Tuchrüstung und bespitzelten TeGuden. Zwar hatte Neferu vor, sich mit dem Errichten des Dachstuhls Zeit zu lassen, aber es war nie zu früh, mit den Vorbereitungen zu beginnen. TeGuden verdiente gut. Er hatte ein Haus in Heldenberg, in der Windmühlenstraße. Ein altes Gebäude im bosparanischen Stil. Er kam regelmäßig nach Hause und hatte keine direkten Nachbarn. Soweit, so gut.
Phexdan probierte die Karte aus, die Neferu ihm aus dem Silberhort mitgebracht hatte – mit dem Ergebnis, dass sie magisch war. Sie zeigte einem einen bestimmten Ort oder den Aufenthalt einer Person, wenn man nur danach fragte. Es funktionierte nur mit einer Suche innerhalb Gareths, aber schon das war Gold wert. Nur schien der Geist in der Karte außerordentlich eigensinnig und widerspenstig zu sein, so dass sie wohl letztlich nicht mehr als eine Spielerei war, denn man konnte davon ausgehen, dass das Artefakt streikte, wenn man es wirklich dringend brauchte. Sie spielten mit dem aufsässigen Geist, fragten nach allem, was ihnen einfiel.
„Wo ist Phexdan?“ fragte Neferu zuletzt, die direkt neben ihm lag.
„Wollt ihr mich verarschen, ihr dummen Bälger?“ schrieb die Karte beschimpfend mit dem magischen Sand, der ihr Mittel der Kommunikation war.
Beide Menschen sahen sich an und mussten ehrlich und unwillkürlich lachen.

~

Auch Tage nach Zerwas‘ Fortgehen hatte Phexdan sie nicht angerührt. Ein Teil von ihr verstand ihn. Er brauchte Zeit. Nach allem, was geschehen war. Sie hatten einen Totgeglaubten erhoben und trotz dem er ein Paladin Borons geworden war, blieb er ein Vampir. Ein anderer Teil vermisste Körperlichkeit. Sie dachte wehmütig an die alte Zeit, als sie Phexdan von sich werfen musste, um zu Atem zu kommen. Sie hatte weder von Zerwas, noch von Phexdan aus Begehren gespürt. Keiner hatte sich mit ihr vereint oder es nur darauf ankommen lassen. Sie schämte sich, dass ihr das Gefühl fehlte, sich jemandem ganz hinzugeben und jemanden so zu erleben, wie im innigsten Moment. Sie musste diese lästigen emotionalen Fesseln abwerfen, die ihren Verstand ständig mit Gefühlsduselei und dem Bedürfnis nach Tuchfühlung blockierten.
Sie musste sich auf etwas Greifbares konzentrieren: Ihren eigenen Aufstieg in Gareth.
Mit all ihren Referenzen ging sie zum Magistrat und meldete, ihre Heldenurkunde in Empfang nehmen zu wollen. Es hatte sie gegeben, nach dem Sieg über die Orks, nach dem was sie, Garion, Richard und Tarambosch in Greifenfurt geleistet hatten. Ihr Anliegen würde bearbeitet werden, wurde ihr zugesichert. Sie hasste Ämter.
Im Magistrat begegnete ihr ein schielendes blondes Mädchen. Was für eine merkwürdige Erscheinung sie war – so verloren… Ihre leicht abstehenden Ohren rundeten das Bild ab.
Sie war ganz offensichtlich fremd in der Stadt und wirkte so weltfern und fehl am Platz, dass Nef sich gezwungen sah, sich ihrer anzunehmen.
Die Kleine war eine Schwarzmagierin aus Mirham. Sie sah gar nicht wie eine der dunklen Gilde aus. Neferu musste unwillkürlich über das naive Ding lächeln und gleichzeitig empfand sie den Ansatz von fürsorglicher Zärtlichkeit in der Brust. Sie wollte ihr eine Freundin und eine Anleitung sein.
„Komm mit, ich kenne da eine gute Frau, die Zimmer vermietet…“ Sie nahm den Blondschopf mit zu Ahlemeyer.

Der Tsa wollte nicht vergehen. Jeder Tag war gespickt mit Aufgaben: Dem Rekrutieren von Spitzeln in Eschenrod, dem Einholen von Kostenvoranschlägen für ihre Hauseinrichtung, dem Waschen lassen von Theobaldus (dem Propheten vom Scherbenmarkt), dem mildtätigen Annehmen einiger Bedürftiger (und dem Wissen, daraufhin einen gut zu haben), Gängen zu Ämtern und dem ersten Dienst an die Spießbürger. Die Patrouille in Heldenberg war nicht nur ein Abarbeiten ihrer bürgerlichen Pflichten gegenüber der Stadt, sondern auch eine Möglichkeit, die Villa von TeGuden im Auge zu behalten.
Auch bemühte sich die Hexe, die Kinder im Waisenhaus zu besuchen, herauszufinden, wo die Talente und Neigungen der Kleinen lagen. Sie sah auch bei denen vorbei, die bereits raus waren, aus der dreißigköpfigen Schar von Halbwüchsigen, die eine Anstellung gefunden hatten. Es sollte ihnen gut ergehen, dafür wollte Neferu Sorge tragen. Besser als ihr selbst in früherer Zeit und besser als sie es bisher gehabt hatten. Und irgendwann würden die Waisen es ihr zurückzahlen, sich an sie erinnern und ihr einen Gefallen tun. Sie war trotz allem eine Phexgeweihte.

Isabella Hafergarb, die blonde Magierin, die Nef im Magistrat getroffen hatte, mietete sich ebenfalls bei Ahlemeyer ein, direkt neben dem Zimmer von Salpico.
Sie war in der Lage Kleidung mittels ihrer Kräfte umzunähen, was Nef staunend zur Kenntnis genommen hatte. Und sie führte Selbstgespräche, was immer wieder irritierte.
Alles in allem schien sie ein unsicheres Mädchen zu sein, die aus unerfindlichen Gründen ihre Eltern mied, die ebenfalls in Gareth lebten.

Phexdan war mit seinen eigenen Dingen beschäftigt. Er knüpfte Kontakte zur Alten Gilde und dressierte den Affen. Auch sein Garten bekam eine gute Portion seiner Aufmerksamkeit. Mal war er da, mal nicht. Er tauchte erneut ab in seine eigene Welt.
Neferu versuchte sich nicht mit ihren Gedanken zu beschäftigen. Wenn sie das tat, bekam sie einen Spiegel ihrer eigenen Fehler vorgehalten. Sie hatte keine Lust darauf. Also vermied sie, sich daran zu erinnern, dass ihr der anhängliche, temperamentvolle Phexdan aus Grangor fehlte.
Und dann… eines morgens schien es soweit zu sein, dass etwas von ihm zurückkehren wollte. Klamm und kalt lag Gareth draußen vor dem beschlagenen Fenster. Phexdan herzte sie wie seit Monaten nicht und endlich waren die Küsse wieder da, die sie so erbeben ließen. Fordernde Küsse…
Vielleicht wäre es weiter gegangen, hätte Ahlemeyer nicht geklopft. Ein Bote war gekommen. Mit ihrer Heldenurkunde. Sie musste zahlen, aber wen scherte die Dukate.
Endlich! Sie hielt die Reputation in den Händen und war seltsam stolz auf sich. Sie hatte etwas erreicht. Sie war ein Kriegsheld! Ehrlich zufrieden zeigte sie Phexdan die Auszeichnung.
Guter Laune backte sie an diesem Morgen mit Phexdan in Ahlemeyers Küche Kekse.
Sie wollte sie an die Wachen des Puniner Tors verteilen, um ein Stein im Brett zu haben, wenn es darauf ankam.
Die Wächter sahen furchtbar übernächtigt aus. Die Frage, ob sie nicht genug Schlaf bekämen, begründeten sie mit ihrem Weibel. Die Kekse nahmen sie gerne.

Phexdan und Neferu schlenderten Hand in Hand durch Eschenrod. Wie immer sammelten sich Pilger vor den Toren des jähzornigen Thorn Aisingers, der für heilig gehalten wurde. Man munkelte, Zyklopen hätten ihn ausgebildet und seine Waffen seien besser als die von vielen Ingerimm-Geweihten.
Sie wanderten beschwingt zum Tempel der Schatten, sahen sich an, lächelten. Die Morgensonne erhellte die Gesichter der Menschen.
Die Karren standen den halben Eslamsweg entlang. Es herrschte ein Gedränge, wie es das nur in Gareth gab. Wären sie Taschendiebe auf der Pirsch gewesen, sicher hätten sie reiche Beute gemacht!
Sie stiegen den Geheimgang in den Tempel hinab, die grauen Seidentücher überall im Raum vermittelten den Eindruck von Rauch oder Nebel.
Die Phexgeweihten schritten über das altbekannte Garradanbrett auf dem Fußboden: Weiße und schwarze Kacheln. Und jede gab ein anderes Geräusch von sich. Ein Lachen, ein Würfeln, ein Klopfzeichen, ein Schlossklicken.. Sie opferten im Schrein vor der Holzstatue und erhielten den hellverwaschenen Kiesel, den Phex jedem schenkte, der ihm eine Gabe darbrachte.
Anschließend trennten sich die Wege des Maraskaners und der Tulamidin. Ein bisschen traurig sah sie ihm nach – wie er das Ende des herrlichen Morgens einleitete. Wie er wieder auf seine eigene, geheime Mission ging, wie eine Katze, die ihre geheimen Schleichwege mit niemandem teilen wollte.
Sie selbst blieb noch im Tempel. Sie wechselte ein paar Worte mit Torfstecher und sann über das Rätsel nach, dem sie sich jetzt gegenübersah. Einen Götterlauf hatte sie Zeit..

Als sie durch das Puniner Tor zurück nach Alt-Gareth ging, fiel ihr unter den anderen Wachgardisten ein Mann ins Auge. Er gehörte zur Wache, ein Gefreiter vielleicht. Gab es diesen Rang überhaupt? Blondes zurückgebundenes Haar. Ein nachdenklicher Typ. Sie grüßte ihn lächelnd, er sah sie nur kurz an, als wäre es ihm nicht gelungen, gänzlich Abstand zu seinen einnehmenden Gedanken zu halten.
Sie musste einen Gemmenschleifer finden, der ihr ein Bürgersiegel machte! Ein NB sollte es sein, geschwungen und edel.
Ein paar Süßigkeiten für Phexdan kaufte sie ebenso ein. Sollte das Füchschen sich über etwas Süßes freuen! Sie liebte es, ihn befreit grinsen zu sehen.

~

Ein grauer, bleierner Tag war gekommen. Gemeinsam mit strömendem Regen – beides lockte nicht, das Haus Ahlemeyers zu verlassen. Es war warm und kuschelig drinnen, dank Salpicos Hitzeglyphen. Zu warm, laut der Hauswirtin, die sich darüber beschwerte, dass aus einem ihrer Eier ein Küken geschlüpft war.
Trotzdem musste Neferu diesen fast heimatlichen Ort verlassen. Sie war viele Verpflichtungen eingegangen, auch wenn viele nur moralischer Natur waren.
Die Mängelliste vom Waisenhaus war wichtig – es war ihr überaus ernst, zu wissen, an was es fehlte, welche Kosten gedeckt werden mussten.
Die kleine Isabella – sie wusste nicht, warum sie an sie als „die Kleine“ dachte, war die Magierin doch noch ein Stück größer als sie selbst – konnte gar nicht nicht gut mit Schmutz und hatte ein Auge auf Salpico geworfen. Und allein war sie offensichtlich auch nicht gerne, denn an diesem Morgen klemmte sie sich an Nefs Fersen.
Im Regen nahm die Tulamidin die Blonde mit nach Eschenrod. Bella war alles andere als begeistert von dem ganzen Dreck und Schmutz. Und von den Kindern war sie es noch weniger.
„Diese dreckigen kleinen Hände! Das gibt Handabdrücke! Nimm sie weg!“ Das Zitat hallte in Nefs Geist nach und unwillkürlich musste sie schmunzeln.
Immerhin stellten sie durch das Durcheinander im Waisenhaus fest, dass Kuliff magisch begabt war: Das Kind, das versuchte sich an Isabella festzuhalten, war gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen (selbstverständlich von der Magierin ausgelöst), hatte begonnen zu schreien und der kleine Junge mit dem magischen Potential schaffte um sich herum eine Aureole aus Stille, so dass man das Kleinkind zwar plärren und rotzen sah, es aber nicht hörte.
Nef und Mutter Harika versuchten dem Zirkus Herr zu werden, die Kleinkinder zu beruhigen, die im Chor solidarisch mitheulten, während die Magierin türmte und sich vor den Halbwüchsigen in Sicherheit brachte.
Die Ereignisse im Waisenhaus provozierten einen handfesten Streit mit Salpico. Nefs Idee den kleinen Kuliff in einer weißmagische Akademie in Gareth anzumelden stieß auf taube Ohren und nicht auf Gegenliebe. Selber adoptieren wollte er den Bengel aber auch nicht. Dabei wäre es auf lange Sicht so wunderbar gewesen, einen Verbündeten innerhalb der Weißmagier zu haben.
Akut war das Problem nicht – Kuliff war ohnehin noch vier Jahre zu jung für eine Akademie, aber irgendwann mussten sie darüber entscheiden.
Es waren einfach zu viele Kinder. Zu viel Verantwortung. Und es war nicht einmal das einzige Waisenhaus der Stadt. Zu viele Seelen ohne Perspektive. Nicht, dass die jungen Menschen Eschenrods, die noch Bezugspersonen hatten, es leichter hatten. Doch bei ihnen hatte man keinen Zugriff, keinen Weg einen einfachen Einfluss auf ihr Leben zu nehmen – das war anders bei den Elternlosen.
Im Wind des immernoch graupeligen Tages, der langsam sein Licht verlor, kamen sie zurück zum Puniner Tor.
Ihre kleinen Pflänzchen hatten ein neues Gerücht für sie gehabt: Jemand war ins Gebiet der Alten Gilde eingedrungen.. Eine Information, die vielleicht zu anderer Zeit wichtig werden würde.

Das Tor war noch offen, aber es durfte nicht mehr lange dauern und statt dem weiten Durchgang wäre nur noch die Mannluke zu passieren, für die man gute Gründe haben musste, ehe sie einem dann auch tatsächlich geöffnet wurde.
Ihre Füße waren nass, als sie den kurzen Tortunnel passierte.
Sie blieb stehen. Sie musste Nägel mit Köpfen machen, jede Möglichkeit ergreifen, das Haus der Kinder zu entlasten.
So versuchte es sie am Tor. Neferu erklärte den Gardisten das Schicksal der Kinder und bat um Mithilfe, sie zu vermitteln. Sollten sie mitbekommen, dass sich jemand sehnlichst Nachwuchs wünschte oder selber kinderlos sein und es sich anders erhoffen: Sie hatte die Lösung.
Ein bisschen kam sie sich so vor, als würde sie die Kinder verscherbeln.
Aber sie tat es nur zu ihrem Besten, sie auf diese Weise anzupreisen. Immerhin hörten die Wachen sie an, mehr hatte sie gar nicht erwartet. Sie würden die Augen offen halten, versprachen sie. Sollte sie ein Flugblatt aufhängen wollen, so sollte sie sich an den Befehlshabenden wenden, der nicht zugegen war. Er hieß Voltan Sprengler, wie ihr mitgeteilt wurde und wäre wohl am Besten mit einem Schriftstück zu erreichen, da er diesen Tags die Abend- und Nachtschicht hatte und noch nicht am Posten.
Sie schloss nicht aus, irgendwann noch einmal mit diesem Sprengler wegen des Anliegens, das ihr am Herzen lag, noch einmal zu tun zu haben.

Gareth 18 (Phexdan & Neferu) (TSA 1013)

Niemand hatte damit gerechnet, dass Phexdan so kurz nach einem Aufenthalt im Perainetempel krank werden würde.
Den kälteempfindliche Maraskaner, der den Winter ebenso verabscheute wie sein pelziger Gefährte Dajin es tat, erwischte ein ganz mächtiger Dumpfschädel und er verbrachte zwei Tage leidend und unbrauchbar unter einer dicken Decke in seinem Zimmer bei Ahlemeyer. Und wie er doch litt!
Kaum dass Neferu in die alte Sattlerei gekommen war, um nach ihm zu sehen, bemühte er sich nach Kräften, sein regelrechtes Siechtum überzeugend darzustellen.
Und es half: Sie konnte nicht nein sagen.
Sie konnte nicht ablehnen, als er sie mit leiser Stimme und fiebrig gläsernen Augen fragte, ob sie bei ihm bleiben und sich um ihn sorgen würde.
Salpico erklärte sich murrend bereit, einmal quer durch das winterliche Gareth zu stapfen, um dem Blutsauger bescheid zu geben, dass er vorerst alleine in seiner vermaledeiten Wohnung in Rosskuppel auszuharren hatte. So formulierte es Phexdan in Gedanken.
Ihm gefiel der Gedanke. Nicht, dass er sich nicht wirklich hundeelend fühlte. Aber dieser kleine zusätzliche Triumph gegen den Vampir versüßte ihm die Gliederschmerzen und das Brummen im Schädel.
Der letzte Kampf um seine Frau war noch lange nicht geschlagen. Und das war sie: Seine wankelmütige, weichherzige, vorschnelle Hexenfrau, die für ihn Tee kochte, wenn er krank war. Er hatte schon vor Jahren entschieden, dass er sie haben wollte. Keine andere passte besser zu ihm. Keine andere war so schwer zu halten.
„Bringst du mir Stricken bei? Ich will ein Jäckchen… für Dajin..“ keuchte er kränklich, einem inneren Themawechsel abrupt folgend. Sie bejahte. Er würde stricken lernen!

Seine Finger berührten ihr Haar, als sie diese Nacht bei ihm lag.
Das Fieber ließ ihn frösteln und schwitzen, seine Stirn hämmerte. Aber durch den nebeligen Schleier der Krankheit war sie da.
Er drückte seinen Körper eng an sie und umarmte sie innig. Er gab ihr die Wärme, die sie bei dem Unsterblichen nie bekommen konnte und noch mehr.

~

Am Rondratag dann, kränkelte Neferu selbst. Sie hatte sich angesteckt, als sie Phexdan viel zu nahe gekommen war. Sie schob den Gedanken hastig bei Seite. Sie konnte nicht darüber nachdenken.
Phygius würde an diesem Tag in einer der beiden Tavernen erscheinen und sie musste ihm begegnen! Aber erst gegen Abend…
Es lag kaum mehr Schnee, begann früh zu tauen dieses Jahr. Er blieb zurück als bräunlicher Matsch, der von tausenden Füßen und Hufen in den Boden getreten wurde, bis er verschwand und nur schlammige Straßen zurückließ.
Sie nutzte den Tag, um Verträge zu besiegeln. Phexdan ruhte sich aus, das Fieber war allmählich gesunken.
Zerwas begleitete Neferu, er hatte sie am Eisenmarkt abgepasst.
Zu gerne hätte sie mit ihm gesprochen, ihm Antworten gegeben zu Fragen, die er nie gestellt hatte. Sie wollte ihm mitteilen, dass sie sich schuldig fühlte. Dass sie am Leben hing. Am pulsierenden Leben mit all seinen Facetten. An einem Leben voll Wärme und Chancen und Zerbrechlichkeit. Neferu wollte dem schönen, stattlichen Unsterblichen mitteilen, dass sie nicht bereit war für die Ewigkeit. Aber dazu war sie nicht mutig genug. Sie hatte Angst, ihn so zu verletzten und auch davor, dass sie ihn verlieren würde. Angst aus Egoismus und das es eine solche war, wusste sie. Es machte ihr zu schaffen, doch sie fühlte sich machtlos sich selbst gegenüber.
Neferu nieste. Sie hoffte, dass es bei ihr nicht zu Fieber kommen würde.

Sie unterschrieb ein Abkommen mit dem Alchemisten Grabensalb und erhielt als Vorschuss einen schwachen Astraltrank. Großartig! Im Gegenzug gab er ihr eine Liste von Ingredienzien, die er aus der Brache brauchte.. Meteoreisen, rauchendes Braunöl, Spinnennetze, schwarzer Mohn. Zusätzlich als Beweis, dass sie im Stande war, auch wertvollere und seltenere Dinge zu bekommen, erhielt er als Vorgeschmack ihre Jadesteine, die sie schon seit Jahren in Gareth lagerte.
Sie eilte durch die Stadt, fragte bei Gesses Eisen- und Rüstwaren nach der Herkunft von Meteoreisen und zu guter letzt besuchte sie den Architekten Nerix Sandsteiner in Wallgraben, um mit ihm den Bauvertrag auszuhandeln und ihn beim Magistrat beglaubigen zu lassen. 3221 Dukaten wechselten durch die Festumer Handelsstube den Besitzer.
Ab jetzt war sie arm. Völlig arm!
Ein gutes Gefühl. Seltsamerweise. Ab jetzt konnte sie alles erreichen, denn sie hatte nichts. Bis auf einen funktionierenden Brunnen auf einem leeren, großen Weststadtgrundstück. Sie konnte sich etwas verdienen, von dem sie auch merkte, dass es einen Unterschied machte. Das erste Mal an diesem Tag lächelte sie, denn sie hatte etwas verloren. Es war seltsam, dass es gut tat.

Sie blickte schuldbewusst zu Zerwas, der sie zur Almada-Stube begleitete wie ein dunkler, prachtvoller Leibwächter. Sie sah seine wachsamen Augen auf ihr und der Umgebung, doch sie konnte in seinem Blick keine Liebe erkennen, denn sie war verborgen hinter einem unruhigen Geist, den er nicht nach außen weichen, nicht erkennen ließ. Stoisch schritt er voran, sprach über die Pferde, den Hof auf dem er arbeitete und über die Vergangenheit. Nie kam ihrer beider Zukunft über die Lippen – weder über seine, noch ihre.
Er scherzte auf seine aristokratisch-intellektuelle Art und gab ihr nonverbal zu verstehen, dass er sich gut fühlte, wenn sie bei ihm war – aber es war unverkennbar, dass sich auch unter seiner Oberfläche etwas zusammenbraute.
Phygius II entpuppte sich als junger Mann mit Augenglas, der Oliven liebte und aus dessen Taschen es bellte. Er ließ sich überzeugen, sie in die Brache zu begleiten, sofern man versprach, sich von schwarzen Türmen fern zu halten. Er erzählte, dass sein „Vormieter“ im Brachenturm ein Gildenbruder gewesen war, dem die täglichen Gefahren der Brache dann irgendwann doch den Gar aus gemacht hatten.
Er stellte seine offensichtlich chimärologisch erschaffene Belllilie Hassan vor und wollte Neferu am morgigen Tag am Blitzbaum treffen. Einige Stunden nach Sonnenaufgang.
Die Geschichten, die Phygius zum Besten gab und die Neferu mit Fragen anfachte, um dem Magier Interesse zu suggerieren, waren grotesk: Menschen die ins Wasser gehen wollten und magisch mit einem Hecht verschmolzen wurden, ein Bärwolfhai namens Hadrian, gefährliches Feuermoos und „unnette“ Hexen in der Brache. Der Mann war ganz eindeutig verrückt. Nicht wegen der Themen, die er auf Lager hatte, sondern wegen der Art, wie er sie vortrug. Fast leichtfertig… Eine traurige Kreatur, wie aus einer Tragikkomödie. Und der einzige, der ihr helfen konnte…

~

Den kommenden Morgen verbrachte sie mit letzten Vorbereitungen. Vom Artefaktmagier Erpelgrieb konnte sie ein kleines Windrad erstehen, das sich wild drehen würde, sobald sich etwas Dämonisches näherte. Es funktionierte allerdings nur ein einziges Mal. Ihre Tuchrüstung, um beweglich zu bleiben und nicht im Sumpf zu versinken, eine geweihte Waffe, Mondstaub, Steinsalz, Bannstaub, eine Decke mit einem Pentagramm… Sie ging alles noch einmal durch. Hatte sie etwas vergessen?
Mit Zerwas schritt sie in der aufkommenden Helligkeit zur Brache. Es fühlte sich gefährlich an, aufregend und vollkommen halsbrecherisch!
Neferu unterdrückte ein Zittern durch das Aufbeißen ihrer Kiefer.
An dem alten, gesplitterten Baum fanden sie Phygius, der bereits wartete.
Von überall her drangen Geräusche ohne ersichtliche Quelle auf sie ein, aus dem Augenwinkel schwankte knarrend etwas Baumelndes an einem Ast. Sie vermied genauer hinzusehen.
Ihr Weg führte sie auf einem Pfad entlang zu einem uraltem Boronsanger. Die Steine der Gräber waren bemoost und von Satinav ihrer Festigkeit beraubt worden. Viele bröckelten, andere waren zerbrochen.
Unschuldig. Stand da auf einem Grabstein. Einen Augenblick später etwas anderes: Travihilde 873 nBF.
Neferu gab sich alle Mühe, nichts von dem, was sie hier sah, besondere Bedeutung beizumessen. Innerlich sprach sie wiederholend zu sich selbst: Lass dich nicht täuschen, dir keine Angst machen. Es ist nur eine Illusion, um dir den Verstand zu kosten.
Da war auch ein Grab mit ihrem eigenen Namen… Schnell folgte sie der Richtungsangabe des Papiers, welches das Rätsel aufwies.
Hörner klangen durch den Nebel, Baumwesen griffen mit dürren Fingern nach den Eindringlingen, ein uraltes Pentagramm aus Steinen und Steinpilzen ließ sie sich orientieren.
Die Brache hatte ihre eigenen Gesetze, was die Zeit anging, es dunkelte gegen Mittag.
Ein Rauchfeld, undurchsichtig und beißend, raubte Neferu den Atem und die Sicht. Sie rief nach Zerwas, aber der antwortete nicht. Konnte es nicht. Er rang mit einer Kreatur..
..die urplötzlich verschwand, als sie einen Bärenschädel ertastete.
Der Schädel vom Rätselpergament…
Was war diese Brache nur? Eine Aneinanderreihung von Gefahren und unerklärlichen Phänomenen. Eine Brutstätte von allem, was den Zwölfen fern war.
Sie folgte stur den Richtungsangaben auf der Karte, ließ sich nicht locken und nicht rasten.
Überquerte eine absurd schöne Lichtung, ein Blumenmeer auf dem mitten darin eine goldene Statue des Götterfürsten stand.
„Mit blitzendem Stahle gegen finster Gezücht mit Schwarz gegen Schwarz, die Wahrheit vernichtet jedes Gerücht.“ Stand da in den nachtdunklen Sockel gemeißelt.
Mit Scheuklappen des Willens ausgestattet, ging sie vorüber, nach rechts. Ein Bach rauschte. Sie wurde schneller, als sie die drei Steine in seinem Bett wiedererkannte, die auf das Papier gemalt waren. Es konnte nicht mehr weit sein!
Der Wald wurde dichter, die wirren Äste niedriger. Sie bildeten ein Dach. Die Bäume wurde mit jedem Schritt, den sie zurücklegte bleicher…
Und dann erkannte sie auch diesen Hinweis: Das Knochenhaus!
Eine Tür führte hinaus.
Es war wie im Traum… In einem unnatürlichen Alptraum, in dem sich alles verformte und nichts fest stand.
Hinaus ging es auf eine Wiese blasser Tulpen in Menschengröße, die ihre Köpfe kränklich in den düsteren Himmel ragten.
Der Weg durch das Blumenfeld war lang und beschwerlich. Die absonderlichen Pflanzen wiegten sich, zwangen sich in die Wahrnehmung, wie eine Seuche breiteten sie sich aus. Wo eben noch keine gewesen war, wuchs eine Neue, die einen ohne Arme festzuhalten versuchte!
Phygius, Zerwas und Neferu bissen sich durch. Und irgendwann, außerhalb der bleichen Stauden erwuchs etwas anderes: Ein Felszacken mit silbernen Adern im Gestein.
Mit der Hilfe von Zerwas erkletterte sie den felsigen Finger und überblickte die Büsche. Dort sah sie in einiger Entfernung den See! Sie glich ab. Ja! Er ähnelte sogar der Zeichnung auf der Schatzkarte.
Neferu fühlte das Blut in ihren Ohren, ihre eiligen Füße hielt im Labyrinth aus Hecken in die Richtung, die sie für die Richtige hielt. Hinter ihnen wuchs der Weg zu einer verworrenen Mauer aus Dickicht…Und es wurde immer dunkler.
Bis sie an eine riesengroße Buche gelangten. Außer Atem – bis auf den Vampir – blickte sie in die Baumkrone hinauf. Die Wipfel schienen gesund und voller Leben. Da war sogar ein Rotkehlchen in seinem Geäst! Der mächtige alte Riese passte nicht in dieses verfluchte Land. Seine Blätter rauschten beruhigend in einem lauen Wind.
Und an seinen üppigen Wurzeln stand eine beschlagene Holzkiste.
Das Schloss war verzwickt, aber keine große Herausforderung.
Neferus Herz klopfte in aufgeregter Erwartung, als sie den Deckel aufklappte: Ein sauberes, weiches Handtuch lag darin. Die Stickerei verhieß, dass es sich um eines aus dem Seelander handelte. Darunter lagen eine leere Flasche Aquenauer Südhang und ein Paar schwarze Handschuhe mit dem Symbol des Listenreichen.
Ein sonniges Lächeln dominierte Nefs Mimik, als sie die Schätze begutachtete.
Sie zeigte sie Zerwas und auch er hob schwach einen Mundwinkel.

Als sie gegangen waren und die Hexe zurückblickte, war da nur der vom Blitz zerstörte, uralte Baumstumpf. Vom einstigen Leben in seinem mächtigen, sattgrünen Geäst war nichts mehr zu sehen und auch der Vogel war fort.

~

Salpico analysierte die Gegenstände. Handtuch und Weißweinflasche waren definitiv nicht magisch und lediglich Hinweise auf einen Ort: Den Seelander.
Die Handschuhe hingegen waren anderer Natur. Im dünnen, schwarzen Leder war Magie schwach verwoben. Astrale Spuren, die unter das Hotel führten, das sie ohnehin schon verdächtigt hatte, der nächste Schauplatz der phexischen Schnitzeljagd zu sein.

Bevor sie dem nobelsten der noblen Etablissements einen Besuch abstattete, tauschte sie die Ingredienzien, die sie in der Brache gefunden hatte bei Grabensalb ein.
Sie wollte sich ohnehin Zeit lassen. Die Brache hatte sie ausgelaugt. Neferu entschied, den Seelander gleich um einige Tage zu verschieben.
Wichtiger war ohnehin, sich mit Zerwas auszusprechen. Er war Jahre fort gewesen und sie hatte weitergelebt. Sie war nicht glücklich gewesen, aber das Rad der Zeit hatte sich gedreht.
Den ganzen Tag streunte sie durch Gareth.
Sie zeigte Phexdan die Grundlagen des Strickens, kümmerte sich um das Fohlen Elster, sah bei ihrer Freundin Duridanya vorbei, ließ Phexdan die Seele Dajins prüfen (wider erwarten war der Affe keine Kreatur der Niederhöllen) und nachdem sie den Stadtadvokaten TeGuden bei Sonnenuntergang nach Hause verfolgt und ihn einige Momente bespitzelt hatte, kehrte sie „Zuhause“ in Rosskuppel ein.
Zerwas wartete, starrte aus dem Fenster der Dachwohnung. Er hob den Kopf als sie kam. Ihrer beider Blicke verrieten, dass sie reden mussten.
Bis nach Mitternacht saßen die zwei Alterslosen beisammen.
Sie sprachen über die Bedeutung eines langen Lebens und über ihre Ziele.
Zerwas war die Unsterblichkeit gewöhnt. Er hatte ein Meer von Möglichkeiten und bisher war er an der Küste geblieben und nur deshalb erschien ihm diese unendliche Zeitspanne trist und grau. Neferu hingegen war noch mitten drin im menschlichen Leben. Die Ewigkeit hatte noch keine Spuren an ihrem Gemüt, ihrer Seele hinterlassen. Sie war gewöhnungsbedürftig für ihn in ihrer Menschlichkeit mit ihren menschlichen Gewohnheiten und Bedürfnissen. Er sprach aus, was an ihm nagte. Jahr für Jahr schien alles, was er tat, weniger Freude zu bereiten. In Trallop hatte er Männer (vermutlich großzügig) bezahlt, damit sie seinen Schatz aus dem Versteck in Greifenfurt bargen. Seine Unsummen, die da hinter der unsichtbaren Tür warteten. Er wollte das Geld investieren, für einen Zweck der Boronkirche. Neferu verstand nicht vollständig, was er vor hatte, aber sie war froh, dass er etwas verfolgte, das seiner Existenz einen weiteren Sinn gab. Einen guten Sinn, im Dienste eines der Zwölfgötter. Die Hexe konnte nicht anders. Sie musste in seinen Geist eindringen.
Sie hatte erwartet, dass sie an seinem Willen brechen würde. Dass er sie nicht durchlassen würde.
Aber es ging verhältnismäßig leicht, einen Blick zu erhaschen: Ein Häuschen im Horasreich, am Wasser gelegen. Ein Geldsack war auf dem Schild abgebildet. „Horas d’Or“ konnte sie lesen. Dann änderte sich das Bild und mehrere fein gekleidete Männer saßen in bürokratischer Manier beieinander in einem dunklen Raum. Männer einer Stiftung… Dann brach das Bild ab. Er fixierte sie. Sicher hatte er gemerkt, dass sie in seinen Kopf eingebrochen war. Doch er sagte nichts dazu, vielleicht hatte er es sogar absichtlich zugelassen.
Sein kühler Humor, die ruhige, bodenständige Art beeindruckten sie, wie es auch damals gewesen war.
Wenn er etwas für sie tat, hatte sie nie das Gefühl, dass er eine Gegenleistung erwartete. Und trotzdem.. Diese Art von Gefühlen reichten nicht. Und auch er zweifelte, wie sie feststellte. Ihrer beider Liebe war verjährt. Waren zu einer schönen Erinnerung aus Greifenfurt geworden. Zerwas‘ Ziele waren ein gewisses Maß an Macht und ein Denkzettel für Greifenfurt. Was waren ihre Ziele? Sie wollte sich etwas in Gareth aufbauen.. irgendetwas. Wie sollte sie das spezifizieren?
Es war nicht greifbar. Aber sie wusste, dass ihre Zukunft in Gareth lag. Wenigstens ihre nahe Zukunft.
Und jedes seiner Worte ließen sie erkennen, dass sie seine Stärke überschätzt hatte.
Der Verlust des Schwertes hatte eine tiefere Wunde geschlagen, als dieser stolze Mann preisgegeben hatte. Zurückgelassen hatte Seulasslintan einen unsterblichen Mann, der verunsichert war, der sich selbst nicht traute und sich nicht einmal wagte, sich einer Frau zu nähern, aus Furcht unkontrollierbar und unberechenbar zu werden.
Er hatte sich die letzten Wochen zurückgezogen. Er blieb lieber allein, erstickte im Keim schon jede aufkommende Leidenschaft und jedes forsche Gefühl.
Es tat Neferu weh, diesen einst so starken Mann so zu sehen. Es überkam sie der Wunsch, für ihn da zu sein, ihm zur Seite stehen. Sie wollte ihm helfen, sich selbst wiederzufinden.
Aber als Geschöpf des Gefühls wusste sie, dass sie ihm kein großer Nutzen sein würde und dass sie diese stoische Zurückhaltung wohl nicht lange würde ertragen können.
Und deshalb riss sie sich zusammen und überließ ihn sich selbst. Es war am Besten so.
Er – ursprünglich eine leidenschaftliche Kreatur – musste seine Selbstkontrolle perfektionieren, um die Kraft zu erlangen, wieder zu sich selbst zu finden.
Sie begrub den Gedanken, anknüpfen zu müssen, denn sie hatte verstanden, dass sie ihm die Sicherheit, die er brauchte nur geben konnte, indem sie bald schon getrennte Wege gingen.

~

Das Gespräch mit Zerwas klang in ihren Gedanken nach, als sie Tage später endlich zum Hotel Seelander ging.
Die Hintertür kam ihr Recht. Und ebenso der Fakt, dass Parel sich bis in dieses außergewöhnlich teure Hotel hochgearbeitet hatte.
Vor vier Jahren hatte er noch einige warme Mahlzeiten im Lowanger-Greiber-Waisenhaus bekommen, jetzt war er mit seinen fünfzehn Jahren fast raus aus den Kinderschuhen und steckte in einer geregelten Arbeit.
Und das im Seelander! Sie fühlte Stolz. Er war zwar nur für minderwertige Aufgaben verantwortlich, aber das im Seelander! Ihre Gedanken konnten es nicht oft genug wiederholen. Er war ihre Eintrittskarte. Mit seiner Unterstützung – auch wenn er erst intensiv überredet werden musste – konnte sie unbemerkt in den Keller gelangen.
Zuerst schien der Keller unscheinbar. Er hatte gewaltige Ausmaße und war randvoll mit Wein in Kisten, Fässern, Fässchen und Flaschen.
Die größten Fässer lagen auf ihrer Seite und hätten sicher einer kleinen Familie Platz geboten, wenn sie sich zusammengekauert hätten..
Auf einem der Fässer prangte: Aquenauer Südhang.
Hinter diesem erstaunlich leichten Fass für dieses enorme Ausmaß verbarg sich ein undeutliches Wandrelief im Stein. Einige Symbole waren da in den Backstein graviert, andere standen hervor.
Ein Sichelmond war darunter. Und das Drücken seiner Form öffnete einen schmalen Gang…

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