Rahjard
Gareth 25 (Rahjard) (5NT 1013)
„Elendiger Blaufink“, murmelte der Al’Anfaner während sich das Buch in seinen Händen schloss und er sich dem Hund neben sich zuwandte und ihn sachte streichelte. So wie viele Garether hatte sich dieses Jahr auch Rahjard größtenteils verschanzt, wenn auch nicht im eigenen Heim. Als Unterkunft diente ihm der RAHja-Tempel der Stadt, in den ihn eine Einladung des Perricumer Hochgeweihten Talafeyar verschlagen hatte. Ein hinreißender Halbelf, den der Scheinbukanier im Moment jedoch weit mehr als Freund und offenes Ohr sehen wollte und weniger als Stück Fleisch. Die Kombination aus Elf und Rahjadiener hatte in jedem Fall eine gewisse Anziehung, das Elfische wahrscheinlich ob der Erlebnisse mit Phileasson. Wer vermochte das zu sagen, vielleicht hatte die Anwesenheit auf einer Orgie am ersten Namenlosen Tag auch schlicht die Entwicklung eines Fetischs begünstigt.
Tief durchatmend fuhr er dem Hund etwas fahriger durch das Fell. Ungerne dachte er an die Begebenheiten in den Bardo-und-Cella-Thermen zurück, förderten sie doch auch die Erinnerung an Rivera, die eigene Mutter und was ihm sonst widerfahren war. Einen halben Tag oder länger hatte er noch im Peraine- und später im Rahja-Tempel mit Talafeyar darüber gesprochen. Nahezu alles hatte er dem Elfen anvertraut, wohl auch um diesen Rahjafluch abzuschütteln, der ihm spätestens seit dem Vorfall in Trallop – eher früher – anhaftete. Der Gedanke leuchtete ihm ein, nachdem er das Treiben in den Thermen erst einmal verdaut, wenn auch nicht unmittelbar verarbeitet hatte.
„Korninger“, raunte er leise.
Alles hatte mit Korninger seinen Anfang genommen. Neferu hatte erwähnt, dass die Tochter des Mannes entführt wurde, sie war durch einen Aushang am Puniner Tor darauf aufmerksam geworden. Eine Entführung. „Wenn es weiter nichts ist…“, ging es ihm durch den Kopf als er den Ausführungen der alten Freundin lauschte. Das erschien machbar.
Er hatte ja keine Ahnung …
Den Morgen darauf, am zweiten Namenlosen, saß ein als Säbeltänzer gewandeter Al’Anfaner tränenüberströmt an einer der Säulen der Thermen und war irgendwie froh; froh, Großinquisitor Nemrod und Sonnenlegionäre zu erblicken; froh, noch am Leben zu sein; froh, noch verhältnismäßig jung zu sein. Dennoch hatte ihn der Abend samt aller Konsequenzen bis ins Mark erschüttert, was jedwede Freude überstrahlte. Es war schließlich Voltan, der nach Neferu fragte, dem er sich nach einigem Zögern zunächst anvertraute nicht wirklich mit der Situation umgehen zu können, Überforderung zu verspüren, nicht zu wissen wie er weitermachen solle.
Ein seltener Moment, das erschloss sich auch dem Al‘Anfaner, in dem ihn all sein Heldenmut offenbar verlassen hatte. Er war plötzlich wieder ein kleiner Junge, er war wieder Rahji, der nach alldem nur von seiner Mutter in den Arm genommen werden wollte. Ein Junge der nur hören wollte, dass alles wieder gut werden würde. Ein Junge, der Angst und Ungewissheit verspürte. Mitten in den Namenlosen Tagen.
Rahji lauschte Voltan, dem Mann an der Seite seiner besten und einzigen, wirklichen Freundin und erinnerte sich, dass es ihm einmal zwar nicht genauso, doch ähnlich ging. Damals, als sie es in einer anderen Stadt mit anderen Mächten und einem anderen Vampir zu tun hatten und war froh, dass Inspektor Weibel Sprengler nicht in der Lage war einen Harmoniesegen zu sprechen und all das Vertrauen, das man ihm schenkte, auf diese Weise zu verspielen. Er nahm sich die Zeit, die der Möchtegern-Säbeltänzer brauchte, hörte sich auch das Klagen über die Namenlosen Tagen des Vorjahres an, über Rivera, seine Mutter und nun das. Zudem machte er die Situation mit einem Ausborgen des Inspektorenmantels sowie einem Schnupftuch deutlich angenehmer.
Ein Königreich für ein Schnupftuch.
Namenlose Nacht 1 (Kalas) (5NT 1013)
In seiner Kindheit auf den Straßen des Südquartiers waren die fünf Namenlosen Tage zwischen den Jahren eine Zeit voller Furcht und Schrecken ohne Unterlass gewesen. Er hatte sie in der Regel hungernd zusammengekauert mit anderen Straßenkindern verbracht. Seit Kalas seiner Heimatstadt als Gardist diente, war es seine Pflicht diesen Schrecken direkter entgegen zu treten und während dieser götterverlassenen Tage die Straßen zu patrouillieren. Doch niemals hätte er es für möglich gehalten sich am Morgen des 2ten NL in einer anzüglichen Aufmachung -angelehnt an das Garether Wappentier- vor der Bardo-Therme wiederzufinden, nachdem er dort die Nacht auf einer Orgie zugebracht hatte. „Veranstaltung“ wäre vermutlich eine bessere Wortwahl für den Bericht, den Großinquisitor Nemrod jetzt von ihm erwartete. Zumindest hielt er es für unklug eine der höchsten Autoritäten der Praios-Kirche unnötig daran zu erinnern, dass Kalas aus freien Stücken und ohne offiziellen Auftrag einer Eskalation von Dekadenz und Frevel beigewohnt hatte. Doch auch umgeben von Sonnenlegionären und Gardisten, die nun die vergangene Nacht aufarbeiteten, überkam den Mann in anrüchiger Fuchsverkleidung keine Reue. Er war einem verzweifelten Bürger beigestanden, der seine vermisste Tochter wiederfinden wollte und dessen Natur es noch weit mehr widersprach dieser Veranstaltung beizuwohnen als Kalas von sich behaupten konnte.
Zusammen mit Travian Korninger, Vater der vermissten Selinde Korninger, Neferu Banokborn, ebenfalls Korporal der Stadtgarde, und Rychard Lowanger-Greiber, der sich vor kurzem unerwarteterweise als Oberst der Armee herausgestellt hatte, hatte Kalas die Orgie infiltriert. Die vergleichsweise harmlosen sexuellen Eskapaden hatte er noch mit Neugier beobachtet, doch die zunehmend enthemmten Perversionen, die die Besucher der … Veranstaltung auslebten, eröffneten ihm Abgründe der menschlichen Natur, die ihn noch eine Weile verfolgen würden. Doch er und seine Begleiter waren darauf bedacht gewesen keinen Aufruhr zu verursachen bis die Sicherheit Fräulein Korningers gewährleistet war. Doch die Grenze des Erduldbaren war erreicht, als sie den Gastgeber der Veranstaltung, den sie bereits als Priester des Namenlosen identifiziert hatten, bei der Schändung einer jungen Frau ertappten. Mit wenig Finesse aber großer Entschlossenheit war er eingeschritten. Zunächst gelang es Zubaran -so hieß der Frevler- Kalas durch ungöttliches Wirken von seinem Vorhaben abzubringen. Doch nachdem seine Kameraden ihn vom Einfluss des Namenlosen befreit hatten, schlugen sie gemeinsam mit umso größerer Härte zurück, sodass sich Zubaran umgeben von den Leichen seiner Handlanger in den Ketten wiederfand, die ihm zuvor sein Opfer ausgeliefert hatten. Die junge Frau, Ditti, war verständlicherweise zutiefst verstört und lieferte dennoch den entscheidenden Hinweis auf den Verbleib Fräulein Korningers: ein Wasserturm nahe der Therme war ihr Kerker gewesen ehe sie in die Fänge Zubarans übergeben worden war.
Doch inmitten all der Dunkelheit gab es auch Lichtblicke zu entdecken. So auch den Vorsteher des Tempels der Rahja in Perricum. Kalas wusste nicht, ob er die Veranstaltung in der Hoffnung aufgesucht hatte fernab der Heimat in diesen schwierigen Tagen ein rahjagefälliges Lustfest vorzufinden, ob er inmitten der vielen fragwürdigen Praktiken selbst in ermittelnder Funktion zugegen war oder ob er andere Beweggründe hatte. Er wusste nur, dass der Elf jegliches anderweitige Vorhaben aufgegeben hatte als er von dem Verbrechen an Ditti erfuhr. Kalas empfand im Angesicht seiner eigenen Hilflosigkeit großen Respekt für die Bereitschaft und Fähigkeit Ditti, der unvorstellbarer Schaden angetan worden war, ein offenes Ohr und trostvolle Worte zu schenken. Auch Levaska hatte sich als positive Bekanntschaft erwiesen, auch wenn sie sich wie Neferu als Hexe entpuppt hatte. Sie hatte die Veranstaltung auf der Jagd nach einem Vampir infiltriert, dem inzwischen auch Neferu auf den Fersen war. Als er Levaska nach deren Kampf mit dem enttarnten Vampir begegnete und ihr in einem Anflug deplatziert anmutender Etikette die Hand bot, hatte er weder wissen können, dass sie beide sich Stunden später im verwaisten Park der Therme dem Liebesspiel hingeben würden, noch dass er sie jetzt bereits vermissen würde. Vage gehofft hatte er es vielleicht. Nicht nur war sie atemberaubend schön und dem offiziellen Anlass entsprechend nur in einen Hauch von Nichts gekleidet, sondern trug sowohl ihre Nacktheit als auch ihre Fähigkeiten mit einer Selbstsicherheit, die Kalas tief beeindruckte. Und offenbar hatte auch er einen guten Eindruck erweckt, war es doch sie, die in den Büschen den ersten Schritt getan und die Führung bei allen weiteren übernommen hatte… Sie hatte Kalas zugesichert, dass sie ihn wiederfinden würde. Doch ihm war in der vergangenen Nacht ein nie dagewesener Einblick in das wechselhafte, unberechenbare und ihm bisher nur aus Ammenmärchen bekannten Wesen der Hexen gewährt worden. Er konnte sich also nicht sicher sein, dass er sie wiedersehen würde und vorerst war es auch besser, dass sie nicht bei ihm war. Zwischen dem Großinquisitor, der Sonnenlegion und seinen Kameraden der Stadtgarde kam doch eine gehörige Menge an Leuten zusammen, die sie für ihre hexerische Natur dem Feuer übergeben würden. Folglich sollte er sie auch aus dem Bericht heraushalten. Neferu schien dagegen geübter darin zu sein ihre Wurzeln zu verbergen und war zur medizinischen Versorgung abtransportiert worden. Kalas konnte sich nicht erklären was sie bewegt hatte den Vampir noch einmal zu konfrontieren ehe Verstärkung aus der Stadt des Lichts vor Ort gewesen war. Doch er konnte nicht leugnen, dass sie bereits davor unter selbstlosem Einsatz von Leib und Leben um das Schicksal Fräulein Korningers und die Aufspürung dunklen Gezüchts bemüht war. Bei Rychard war sich Kalas bisweilen nicht sicher gewesen, ob er sich auf der Veranstaltung nicht in unangemessenem Maß wohl fühlte, beteiligte er sich doch recht freizügig am allgemeinen Treiben. Doch mit zunehmendem Ernst der Lage war auch auf ihn Verlass gewesen.
Unberechenbar war auch manch anderes gewesen, mit dem er es in der vergangenen Nacht zu tun gehabt hatte. Während Neferu im Alleingang Fräulein Korninger und zwei weitere Frauen aus dem Wasserturm befreite, hatten Rychard und Kalas einem magisch untermalten Schauspiel in eine der Grotten der Therme beigewohnt, wo Herr Korninger mit einer anonymen Informantin verabredet gewesen war, die sich als Bedienstete der Veranstaltung entpuppte. Sie konnte noch die Namen der Hintermänner des Menschenhändlerrings liefern. Im Austausch gegen Gold. Kalas konnte es ihr inmitten all der Verschwendungssucht nicht so recht verdenken, etwas Eigennutz zu praktizieren. Auch wenn es nicht ausschlaggebend für sein Engagement war, war auch ihm Bezahlung versprochen worden. Was sie alle nicht wussten war, dass das Schauspiel nur der Deckmantel für ein ausgefeiltes magisches Ritual gewesen war, um ihnen Lebensenergie zu entziehen. Sie waren stetig gealtert, während sie im Nachgang die Stadt des Lichts aufsuchten, um Hilfe zu erbitten. Doch der Großinquisitor und die ihm unterstellten Sonnenlegionäre konnten durch ihr schnelles und beeindruckend effizientes Eingreifen zumindest Rychards und Kalas‘ Leben retten und ihnen die meisten ihrer Lebensjahre zurückgeben. Doch für viele kam die Hilfe zu spät. Unter anderem dem traviatreuen Herrn Korninger, dem die Teilnahme an der Veranstaltung ohnehin schon einiges abverlangt hatte, kostete sie dann in dieser grausamen Wendung auch noch das Leben. Ein Versagen, mit dem auch Kalas würde leben müssen.
Auf den Treppen der Therme war ihm der Morgen nach der fordernden Nacht beinahe vorgekommen, als wären die Namenlosen Tage bereits überwunden. Die Kutschenfahrt durch die düsteren, verlassenen Straßen Gareths riefen ihm nun aber die bedrückenden Tage ins Gedächtnis, die noch vor ihm lagen. Doch für Kalas schienen sie etwas von ihrem mysteriösen Schrecken verloren zu haben. Er war tapfer in die Dunkelheit getreten und hatte konfrontiert, was dort auf ihn lauerte. Später würde er erfahren, dass ihm und seinen Kameraden Neferu und Rychard für ihren Einsatz die Kaiser-Rauls-Schwerter in Bronze verliehen werden sollten. Kalas war sich der damit verbundenen Ehre gewahr, doch empfand er die bemerkenswerte Erkenntnis, dass jeder noch so unvorstellbare Schrecken bezwungen werden konnte, wenn man nur die Kraft dafür aufbrachte, als weit wertvolleren Gewinn dieser Namenlosen Nacht.
Gareth 23 (Neferu) (TSA 1013)
Klimper..!
Später am Tage der überstürzten Morgenentscheidung bezüglich des Bordells ‚Rahjas Festung‘, saß Neferu im Schneidersitz in einer der Nischen des Tempels der Schatten und übte sich im Meditieren. Es wollte nicht klappen.. Ihre Hände waren zitterig, eigentlich musste sie schlafen. Sie würde noch den ganzen Tag Kopfschmerzen haben. Aber Zeit für Schlaf war nicht.
Ihre Astralkraft war aufgebraucht und dieser Zustand fühlte sich an wie schlimmer Hunger.
Klirr.. Die Münze war ihr schon wieder auf den Boden gefallen.
Jedes Geräusch riss sie aus der Konzentration.
Seufzend musste sie erkennen, dass es ihr heute nicht gelingen würde, das Silberstück über die Finger wandern zu lassen.
Morgen würde sie sich mit Voltan Sprengler treffen, dem mysteriösen Weibel von Tor Süd… Sie brütete immer wieder über seinem Geheimnis.
Es machte ihr Freude, Theorien aufzustellen, wer er war und woher er kam. Sie kannte diesen Mann nicht, hätte aber geschworen, dass er Phex nicht eben fremd war.
Sie fühlte sich durch ihn auf eine angenehme Art herausgefordert – auch wenn die Herausforderung selbst noch von Nebel umwoben war.
Als sie im Schacht nach oben kletterte, um den Tempel zu verlassen und die Seilerei zu betreten, lief Neferu Jereminas in die Arme.
Sie packte die Gelegenheit ganz nach Phexens Geschmack und versuchte einen Monat Schulunterricht für die Waisenkinder aus ihm herauszuüberreden. Alle Tricks der Argumentation fruchteten bei ihrem Vogtvikar nicht. Aber immerhin bedrängte sie ihn so sehr mit ihrer Herzensangelegenheit, dass er mit ihr zur Abendmesse des Tempels der Sterne ging.
Seiner Ansicht nach, tat er damit genug: Er gab ihr einen guten Tipp.
Der Sternentempel des Phex lag im Westen der Stadt, ganz in der Nähe des Hauptsitzes der Praioskirche.
Ein sehr offizielles, reich gestaltetes Gebäude, das als Tempel der Kaiserfamilie galt, war der Fuchs doch ihr Patron.
Ein Gerücht besagte, dass er sehr schnell errichtet worden war und dass die Finanzierung aus einem kollektiven Raubzug aller Phexgeweihten in Gareth bestand.
Das Bauwerk hatte etwas von einem Schloss mit seinen Flügeln und der Kuppel, all dem Weiß und Gold und Silber.
Auf dem Weg dorthin, den sie sich durch Nieselregen kämpften, erzählte Neferu ihrem Mentoren von den Almadanern. Sie beschönigte ein wenig und hob besonders präsentierend die Leiche in ihrem Garten hervor.
Torfstecher machte den Anschein, als hätte er von der Bande bereits gehört und sei gar nicht gut auf sie zu sprechen.
Das befriedigte Neferu. Diese Männer waren auf dem falschen Weg und das musste ihnen aufgezeigt werden. Sie fühlte sich bestärkt.
Zwar erhielt sie vom Phextempel nur eine einzige Dukate für ihr Waisenkinder-Vorhaben – und diese Dukate war hart errungen (Am Ende doch von Torfstecher!) – allerdings traf Neferu im Tempel der Sterne einen Mann, den sie da nicht erwartet hatte: Den Reichsgroßgeheimrat Dexter Nemrod.
Sie hatte in den Orkenkriegen als Spitzel für ihn gearbeitet und auch wenn er ein strenger und ernster Kerl war – sie hatte ihn immer gemocht. Ein Typ von Mann an dem andere zerschmetterten, ein Fels, ein Verhängnis für jedes Schiff – so einen Mann hätte sie sich als Vater gewünscht.
Der Fehler, diesen Gedanken Torfstecher gegenüber laut auszusprechen, amüsierte den Vogtvikar der Südstadt vortrefflich.
Neferu hatte keine Berührungsängste, sie wagte sich an den Großinquisitor heran, der sich auf seinen Gehstock stützte, grüßte ihn höflich.
Sie erzählte ihm lang und ausschweifend von der Geschichte der Waisenkinder, nutze all ihr Geschick im Argumentieren.
Zum Glück waren sie zu früh gekommen, die Messe hatte noch nicht begonnen.
Und auch wenn Nemrod ihr Ansinnen im Namen der Praioskirche nicht uneingeschränkt unterstützte, so gestand er ihr zu, acht Götternamen zu finanzieren.
Das war eine Machtdemonstration.
Und nicht nur das, er knüpfte Bedingungen an die Unterstützung: Die Bildung musste in der Stadt des Lichts stattfinden – für alle Kinder. Außerdem erwartete er, dass die fünf Klassenbesten nach Abschluss des ersten Jahres in den Dienst der Praioskirche Gareths treten und von da an zu Diensten sein sollten, je nach Neigung und Talent.
Sie konnte nicht ablehnen und das wusste er.
Der Geweihte des Fuchsgottes am Altar war komplett verhüllt. Man konnte schwerlich sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, denn auch die Stimme war dunkel und unbestimmt.
Unter der Sternenkuppel des Tempels fand ein Gottesdienst statt, wie Neferu ihn selten gesehen hatte. Ein Ritter in voller Rüstung, das Visier ein Fuchskopf, wurde im Namen Phexens einem Segen unterzogen.
Ein Fuchsritter…
Rituelle Worte wurden gesprochen, es wurde gebetet und die Kaiserfamilie geehrt.
Und anschließend, nachdem die Messe vorüber gegangen waren, richtete der Reichsgroßgeheimrat noch einmal das Wort an die Hexe.
Eine gute, hinterlistige Taktik, die den ‚Gegner‘ in Sicherheit wähnte, war dem Inquisitor nicht unbekannt und er setzte sie ein. Denn erst jetzt – nach dem Phexdienst – sprach er sie auf den Schmähzettel an, den sie vor Jahren in Greifenfurt hinterlassen hatte. Die Frage danach, wer so etwas geschrieben haben könnte, war so stechend formuliert, dass sie nicht anders konnte, als sofort zu gestehen. Sie wusste, ahnte, dass Nemrod einer war, der Lügen riechen konnte. Wie lange hatte sie nicht mehr an den Tag in Greifenfurt gedacht, als sie die Bannstrahler als Hundehurensöhne (was auch immer das sein sollte) bezeichnet hatte. Immerhin hatte sie keinen Geweihten beleidigt. Aber das hier reichte, um die Zunge herausgeschnitten zu bekommen. Sie unterlag Hitzewallungen und flehte die Götter an, für Nemrod als Informationsquelle wichtig genug zu sein, dass er sie nicht beseitigen wollen würde. Denn sie fühlte – jetzt hatte er sie in der Hand. Wie dumm war sie damals nur gewesen, einen Zettel zu hinterlassen!
„Ich erwarte Euch am Praiostag zum Gottesdienst. In der Stadt des Lichts.“
Ihr wurde schwindelig. Sie und Torfstecher blieben zurück, sahen dem Mann mit dem steifen Bein nach, der langsam auf den Gehstock gestützt, den Tempel durch offene Tore verließ und in den Hintergrund des bleigrauen Nieselabends überging.
Sie würde also bestraft werden für ihre Frechheit. Bei einem Praiosgottesdienst. Neferu war ernsthaft in Sorge, was dort mit ihr geschehen würde. Andererseits wusste sie, dass der Großinquisitor es leichter haben könnte, wenn er sie einfach nur vernichten hätte wollen. Er wusste wer sie war – nicht nur, dass sie auf die gefühlsstarke Art der Hexen Magie wirken konnte, er wusste auch, dass sie eine Geweihte der Zwölfe war. Dexter Nemrod war kein Idiot. Er gab sich nicht mit halbherzigen Informationen zufrieden. Er bohrte in jeden wackeligen Stein, bis er am Ende nur das sah, was darunter lag. Und es war ihm auch bekannt, dass sie vor einem Jahr nach Gareth in die Metropole des Praios gekommen war, um sie alle zu warnen. Sie hatte ihre Sicherheit aufgegeben, um die Welt zu warnen, vor dem, was vielleicht kam. Vor dem Weltenverschlinger von dem die Rollen der Beni Rurech sprachen. Selbst wenn es einen Disput ausgelöst hatte und einige der dahergelaufenen Satuarienstochter nicht geglaubt hatten, so war sie das Risiko dennoch eingegangen.
Und dazu kam, dass sie für die KGIA gearbeitet hatte und eine Heldin von Greifenfurt war – offiziell zumindest. Inoffiziell hatte sie sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert, zumindest nicht ausschließlich. Natürlich waren ihre Dienste für die damals belagerte Stadt außerordentlich, ohne Zweifel, aber irgendwann hatte der rote Tod sie zu sich geholt und sie ihm gleich gemacht.
Es schauderte sie, als sie daran zurückdachte.
Der frühe Abend tauchte Gareth in fast gänzliche Dunkelheit – Mada würde ihre Schleier in der heutigen Nacht verbergen, es war Neumond.
Sie schlenderte allein über den Eisenmarkt und ließ die Gedanken um ihre Pläne kreisen. Die meisten Stände der Verkäufer waren schon abgebaut, einige wenige handelten aber noch, ihre Waren anpreisend – wenn auch etwas heiserer, jetzt, wo sich ihr Arbeitstag dem Ende neigte.
Wenigstens wusste sie jetzt etwas mehr über den ominösen Voltan Sprengler und seinen Hintergrund: Bevor sich ihre Wege getrennt hatten, hatte sie Torfstecher nach dem Weibel gefragt. Und er kannte ihn. Sprengler sei ein dicker Junge gewesen, damals in Wallgraben, hatte der Vogtvikar ihr anvertraut. Klein-Voltan wollte mit den anderen Halbstarken spielen, aber sie hatten ihn nicht gelassen. Er hatte damals den Spitznamen ‚Dickfinger‘ bekommen, war auch körperlich angegangen worden. Neferu irritierte diese Neuigkeit. Ein fettleibiger Phexensdiener…? Was steckte dahinter? Waren ihre Vermutungen falsch?
Hatte er Verbindungen zu Eschenrod, die mehr waren als dienstlicher Natur? Oder nicht?
Und überhaupt: Wer kümmerte sich um die Belange von Eschenrod? Die Stadtvogtei wahrscheinlich.. Die Worte des Almadaners gingen ihr nicht aus dem Kopf. Feuerbrunnen.
Genau. Bis zum Sommer wollte sie wenigstens einige errichtet haben. Vielleicht fünf an der Zahl, das sollte vorerst genügen.
Sie konnte Sprengler fragen, ob er ihr half eine solche Idee umzusetzen. Und wenn nur, um seine Reaktion zu sehen und ihn dadurch besser einschätzen zu lernen. Es kam selten vor, dass sich Leute ihrer Menschenkenntnis derart entzogen.
Was bedeutete nur die weiße Feder, die in schmieriger Farbe an ihrer Mauer zurückgelassen worden war? Ein Bandenzeichen?
Wer von diesen verfluchten Almadanern hatte das Mädchen Jelka auf dem Gewissen und warum hatte man sie bei ihr abgelegt?
Da!
Neferu hielt auf einen Mann zu, der nach Feinschmied aussah. Zangen, Sägen und Feilen zeigten sich in seiner Auslage, die er gerade zusammenpackte. Sie kaufte eine feine Feile. Zur Schmuckherstellung gab sie an und ließ das Bürgerfräulein heraushängen. Exquisit. Damit würde sie die Münze, die um ihren Hals hing, anschleifen können, um immer ein Messer bei sich zu haben.
Im Notfall konnte sie damit hantieren, ohne dass jemand ahnte, dass sie einen scharfen Gegenstand bei sich trug.
Die Pflaster Gareths hatten sich verdüstert, seit die Almadaner da waren.
Was Neferu in ‚Rahjas Festung‘ und im Keller ihres Grundstücks gesehen und gehört hatte, war genug gewesen, sich vorzubereiten.
Sie wollte bekämpfen, was nicht im Sinne Phexens war: Gier ohne Maß, Ausbeutung ohne Skrupel und Kriminalität, die Menschen das Leben kostete.
Einst hatte Rychard ihr einen Freundschaftsdienst erwiesen. Oder eine Wiedergutmachung. Was es war, konnte sie nicht sagen, aber was er ihr gebracht hatte, veränderte seit dem ihr Leben: Durch die Magazine der Criminal-Cammer wusste sie, wer ihre Mutter gewesen war. Eine Hexe aus dem tiefsten Süden, die zwei Männer geliebt hatte.
Und sie wusste, wer dafür verantwortlich war, dass sie geboren worden war. Nicht der Ehemann der Kemi, sondern ein Inquisitor des Praios. So hatte es ihre Mutter in ihrem eigenen Tagebuch beschrieben, das in der Cammer jahrelang verwahrt worden war, ehe Rychard es für sie entwendet hatte.
Praionor von Wiesenfeld hatte das Haus ihrer Familie niedergebrannt, als er herausgefunden hatte, dass seine Geliebte eine Hexe war, die ein Echsenei zur Welt gebracht hatte, aus dem ein Kind geboren worden war.
So Neferus Theorie. Möglicherweise war es anders gewesen, aber wie auch immer die Vergangenheit gestrickt war, eines hatte sie daraus gelernt: Die CriminalCammer lagerte Wissen und Beweise.
Sie sah die Stadtmauer des Nordtores hoch über der Stadt aufragen. Sie hielt darauf zu, bog aber kurz vorher rechts ab.
Nach Wallgraben oder Rosskuppel wollte sie nicht.
Das Gebäude, das sie betrat, war groß – ein mehrstöckiger Komplex mit dunklen Schindeln, das einst ein Hotel gewesen war. ‚Tobrischer Hof‘ hatte es geheißen.
Ein Mann saß unten an einem Schreibtisch und blätterte durch Bücher. Er stellte sich als Firnmer Termoil vor. Ein Grangorer.
Sie erklärte ihm ihr Anliegen und mittels eines Glöckchens wurde ein weiterer Mann der Cammer herbeigeklingelt, um sie zum Büro der ‚Exzellenz‘ zu führen.
Neferus Überraschung war nicht klein, als derjenige, der auf das Klingeln reagierte, kein geringerer war als der heitere Eulrich Durenald, der Weißmagier, der gemeinsam mit Meinloh von Gareth in der Smaragdnatter gewesen war. Inspektor Eulrich Durenald von Amt 7, wie sie jetzt herausfand. Der Albernier mit der magischen Ausbildung in Thorwal hatte also durchaus auch seine Geheimnisse.
Die Exzellenz selbst entpuppte sich als noch größere Überraschung: Ihre Gnaden Isenbrook war Nandusgeweihte und die Frau, die ihr vor Tagen die Übernahme zweier Monate für den Unterricht der Kinder zugesagt hatte. Die nach Mohacca riechende Fremde, die sie im Hesindetempel getroffen hatte.
Jetzt ergab sich zumindest ein Sinn hinter dieser Sache, war Nandus doch der Sohn Hesindes und gleichermaßen der Gott, der die Bildung vorantreiben und unterstützen wollte und das überall in Aventurien.
Gerhalla Isenbrook saß in einem kleinen Büro am Ende eines langgezogenen Zimmers voller leerer Schreibtische und blätterte rauchend durch Stapel von Akten. Dicke, graue Schwaden von Mohacca erschwerten die Sicht auf die Leiterin der CriminalCammer und zwangen Neferu zu einem unterdrückten Husten.
Neben Isenbrook stand eine steinerne Schale voll von Resten aufgerauchter Zigarren.
„Euer Exzellenz, mein Name ist Neferu Banokborn. Ich bin Bürgerin der Stadt Gareths und heute morgen wurde eine weibliche Leiche im Keller meines unfertigen Hauses in der Weststadt gefunden. Ich habe das Mädchen untersucht – und war daraufhin in Rahjas Festung in Eschenrod. Ich habe dort Informationen über die Almadaner erfahren, die Euch vielleicht Interessieren.“
~
Gerhalla Isenbrook war an den Hinweisen und Beschreibungen bezüglich der Almadaner brennend interessiert.
Sie ging einen Handel mit Neferu ein, Informationen gegen Geld.
Um ein Inspektor der CriminalCammer zu werden, taugte Neferu zwar nicht – die Nandusgeweihte forderte unabdingbare Loyalität für die Cammer und andere, ältere Verbindungen hätte Nef niemals verraten können (und zudem hätte Isenbrook sie mit Sicherheit auch gar nicht genommen, bei so wankelhaftem Lebenslauf…), aber als Neferu ging, hatte sie das Gefühl, dass da hinter dem Schreibtisch ein Verbündeter mit ähnlichen Idealen saß. Jemand, der Phex nahe war und die Sicherheit der Stadt garantieren wollte.
Mittlerweile war es draußen gänzlich dunkel und Tag war Nacht gewichen.
Neferu war schnell unterwegs, als sie zurück zu Ahlemeyer in die wärmende Stube ging.
Eine Nandusgeweihte.. Mit Sicherheit konnte Gerhalla Isenbrook helfen, wenn es darum ging, einen geeigneten Lehrer für die Waisenkinder Südquartiers zu finden.
~
Mit dem nächsten Morgen brach der Markttag herein und mit ihm zahlreiche Karren und Händler.
Gareth war an diesem Tag der Woche noch überfüllter als sonst und lauter. Es war ein kalter, heller Morgen, ohne Wolken, aber mit viel Wind.
Die Praiosscheibe war deutlich am Himmel, aber dennoch rieben sich die Handelnden fröstelnd die Finger und stießen Atemwolken in die Luft.
Neferu zog die rote Tuchrüstung über ihre Kleidung – nur vorsichtshalber.
Sie bereitete sich darauf vor, Voltan Sprengler wiederzutreffen. Und sie wusste nicht, in welche Winkel Gareths sie die Ermittlungen führen würde.
Das Puniner Tor lag von Ahlemeyers alter Sattlerei aus nicht weit entfernt, so dass Neferu das Aufstehen hatte hinauszögern können.
Frühstück im Bauch und in dicke Lagen Stoff gepackt, schlenderte die Tulamidin zur Grenze Alt-Gareths.
Die Tortürme ragten hoch in den sonnigen Himmel und teilten sich sein Blau mit den vorbeigleitenden Tauben. Hier pfiff der Wind ganz besonders.
Im Tor beginnend ragte die Schlange an Menschen, die nach Gareth wollten weit über Sonngrund. Die Wachmänner hatten gut zu tun, all diese Leute zu kontrollieren und eine Übersicht zu bewahren.
Neferu trat aufs Gelände der Wachmanschaft zu Gareth. Sie durchmaß den Hof zu einem der Tortürme, wo ein Wachmann seinen Dienst tat.
„Entschuldigt, wo finde ich Weibel Sprengler? Ich bin heute morgen mit ihm verabredet.“
Sie wurde zum gegenüberliegenden Turm geschickt, wo eine Rampe hinaufführte, bis hin zu einer Tür.
Der diensthabende Wachmann führte sie hinein – ein Raum von dem mehrere Türen abgingen und in dem sich eine Stiege nach oben befand.
Kisten waren hier aufeinander gestapelt und ein Tisch, der ein wenig an die Seite gedrängt stand, verriet, dass Wachhabende hier Karten spielten.
Zwei Feuerschalen spendeten mattglimmendes Licht und mäßig Wärme.
Für sie ging der Weg nach oben, die Leiter hinauf. Eine hölzerne Luke mit Eisenbeschlägen wurde aufgeklappt.
„Weibel Sprengler? Hier ist eine Frau, die nach Euch fragt.“
Man hatte den Unteroffizier Sprengler in einen Raum quartiert, der eigentlich das Zeughaus war. Die ganze Etage des ersten Stocks war voll von Regalen, Truhen, Kisten und Waffenständern. Es war kalt und zugig – die muffige Luft roch nach Leder und Metall.
Sprengler selbst hatte man an einem Schreibtisch dazwischen drapiert. Neben seinem gab es einen weiteren Tisch, der leer war und als Ablage diente. Ansonsten, neben all dem Kram, den die Männer und Frauen der Garether Wache brauchten, sich auszustatten, gab es nur noch den Kamin, in dem das Feuer aufgescheucht flackerte. Er war vor Kurzem erst geschürt worden.
Voltan Sprengler hockte an seinem Tisch und betrachtete mit verkniffen-konzentrierter Miene ein Schriftstück, das er eben zur Seite legte.
Das dunkelblonde Haar hatte er zurückgebunden und wie sonst stand dieser übernächtige Zug um seine Augen.
Der Wachmann, der sie geführt und begleitet hatte, salutierte, klappte die Luke zu und sie hörte seine schweren Schritte die Stiege hinuntersteigen.
Ihre Augen glitten zu dem Mann, der sie an diesem Morgen herbestellt hatte.
„Ich wusste gar nicht, dass Ihr ein Schreibtischtäter seid.“ Sie lächelte ihn heiter an.
Sein Augenausdruck entspannte sich einen Deut.
„Da sagt Ihr was. Eigentlich ist das auch nicht, was ich gern tue, aber einer muss es tun. Die Wache ist heillos unterbesetzt. Es gibt zu wenig Gardisten verteilt auf zehn Wachstuben in ganz Gareth.“
„Ist der Sold so schlecht?“ Sie schmunzelte, er bot ihr einen Stuhl an, erhob sich und schob die Sitzgelegenheit ans Feuer, ehe er sich wieder setzte.
„Wollt Ihr etwas essen?“ fragte er. Sie verneinte.
Was für ein höflicher Mann… Sicher nur eine Masche, seine phexische Vergangenheit zu Kaschieren…
„Nun, es reicht zum Leben. Trotzdem – es ist mehr zu tun, für weniger Geld als anderswo.“
Neferu nickte sachte, noch immer mit einem neckenden Lächeln auf den Lippen. „Und was sind Eure eigentlichen Aufgaben, Weibel?“
Sie ließ sich von ihm den Aufbau der Wache erklären und ebenso die Aufgaben der einzelnen Ränge. Jede Wachstube hatte ihren eigenen Hauptmann und über ihnen allen stand der Obrist, der sich laut Sprengler wenig aus seiner Villa in Heldenberg hinausbewegte.
So, so.. Neferu hörte halbherzig zu, um dem Gespräch einen Vorlauf zu geben. Der Unteroffizier schien sich gar nicht in seiner Arbeit gestört zu fühlen. Sie hatte beinahe das Gefühl, dass dieser pflichtbewusste Mann froh darüber war, eine Rechtfertigung zu haben, sich eine Pause zu gönnen.
Die kleine Unterbrechung der Arbeit des Mannes wurde zu einer längeren.
Das Gespräch floss dahin, sein Interesse und die damit verbundenen Fragen kosteten beinahe soviel Zeit wie Neferus Ausführungen oder ihre Neugier.
Neferu spürte, dass sie ihm vertrauen wollte. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie misstrauisch bleiben musste.
„Ich bin gestern.. noch in Eschenrod gewesen.“ gab sie irgendwann preis, als sich ihr Dialog endlich der eigentlichen Aufgabe widmete: Dem Tod von Jelka.
Sie erzählte ihm vorsichtig von dem miserablen Versuch in Rahjas Festung an weitere Informationen zu kommen. Sie unterschlug, was auf ihre Phexdienerschaft hindeutete und malte alle satuarischen Gaben aus, die sie zur Flucht angewendet hatte. Der Schalk in ihr kicherte innerlich, als er wieder in dieses abergläubisch-skeptische Starren verfiel. Trotzdem war eher eine kindliche Ängstlichkeit in seinem Blick zu sehen, keine missgünstige Abneigung. Ohnehin, ihr Alleingang in ‚Rahjas Festung‘ erboste ihn nicht, wie sie erwartet hatte. Verwunderlich…
„Habt keine Angst, Sprengler – ich bin völlig harmlos. Das weiß auch die Praioskirche, deshalb habe ich es nicht nötig, ein großes Geheimnis aus meiner Kraft zu machen. Auch wenn die Kirche des Götterfürsten weiterhin davon ausgeht, dass ich keine Zauber mehr anwende. Was ich auch nicht tue, wenn ich nicht gerade in Lebensgefahr bin und mit der Hilfe der Magie zu entkommen versuche.“ Sie ließ etwas weg, übertrieb dafür an anderer Stelle. Die Hexe mühte sich, ihn auf seine Angst hinzuweisen, um sie dann zu zerstreuen. Er musste sich mit seinen bitteren Vorurteilen auseinandersetzen, um sie zu überwinden. Sie wollte ihm helfen.
Er fragte nach, wollte mehr wissen: Eine Hexe offen vor der Praioskirche?
Zuerst war sie unsicher, ob sie ihm anvertrauen konnte, warum sie bei den Garether Praioten einen Stein im Brett hatte.
Aber dann erzählte sie ihm von dem Geheimnis aus den Rollen der Beni Rurech. Dass etwas kommen würde, das die Welt vernichten konnte… Sie vermied den verheißungsvollen Namen Borbarad nicht. Selbst wenn er nur eine Theorie war.
Sprengler war ein Mann der Führungsebene der Wache – vielleicht war es nicht schlecht, wenn er davon wusste. Sie betonte mehrfach, dass es sein konnte, dass es sich um einen Übersetzungsfehler, ein schlicht falsches Gerücht oder ein Ereignis handelte, das noch hundert Jahre in der Zukunft lag.
Aber er.. nahm es ernst.
„Ich muss meine Männer darauf vorbereiten, Untote zu bekämpfen. Ihr kanntet doch einen Schwarzmagier? Macht Ihr mich mit ihm bekannt?“
Sie sah das Unbehagen in seinen Augen, den tiefen Aberglauben. Aber sein Pflichtbewusstsein, das Bedürfnis die Städter zu beschützen übermannte all die Furcht in ihm. Und das bewunderte sie, also versprach sie es ihm.
„Ich bin bei der CriminalCammer gewesen.“ Noch eine Offenbarung. Sie erzählte ihm gerne Dinge, die nicht jeder wissen sollte, aber deren Wissen letztendlich nicht viel mehr war, als ein Test. Gab er weiter, was sie ihm anvertraute?
„Ihr seid doch auch ein Inspektor der Cammer, nicht war?“ Sie riet ins Blaue, wollte einen Verdacht ausschließen oder bestätigt wissen.
„Nein, wir arbeiten uns lediglich zu.“ Antwortete er ruhig. Neferu nickte matt und setzte fort:
„Leider eigne ich mich nicht als Inspektor. Ich bin zu tief in Eschenrod verwurzelt. Ich könnte nie einen Verrat an alten Loyalitäten begehen. Aber ich kann eine Art Informant bleiben. Gutes Geld, gegen gute Informationen. Außerdem sprach Isenbrook vom ‚Stadtwachendienst in spezieller Verwendung‘. Hättet Ihr Verwendung für mich, Sprengler?“
Noch am selben Tag nahm sie von ‚Dickfinger‘ das rote Barett, den blauen Wappenrock und den Fuchsring der Wache entgegen. Sie hatte es wohl geschafft ihn zu beeindrucken.
Sie sollte wiederkommen. Am gleichen Tag. Zur siebten Abendstunde. Ans Puniner Tor.
~
Um die Zeit zu überbrücken, erledigte sie die Aufgaben ihrer Liste.
Bei einem Scheibenmacher im Glaserwinkel von Nardesheim erstand sie etwas Teerpappe. Die würde sie irgendwann für TeGuden brauchen.. Der blasierte Stadtadvokat war noch immer in ihren Gedanken, sie würde ihre Rache bekommen. Der Name des Glasarbeiters war Tsatin Muska. Sie versprach ihm, ihn Nerix Sandsteiner, ihrem Architekten, zu empfehlen.
Auch die Kindervermittlung nahm weiter Gestalt an. Lamiadon – der ein kleines Mädchen namens Wilimay adoptiert hatte, die ebenso gerne Rätsel mochte wie er, half ihr ein Flugblatt zu entwerfen – er bestand auf ein Gedicht darauf. Sie ließ es für einige Münzen von Schreibwilligen in der Smaragdnatter kopieren. Der Traviatempel und auch der Eidechsentempel der jungen Göttin, beteiligten sich daran, diese Information unter das kinderlose Volk zu bringen. Letzterer übernahm zwei Monate Ausbildung für die kleinen Eschenroder, denen der Luxus Eltern zu haben nicht vergönnt war.
Auf dem Eisenmarkt informierte sich die Phex-Hexe, gewandet in bürgerliche Kleidung über die Härte und Geldwerte von Adamanten (zur Schmuckherstellung selbstverständlich, nicht um Glas zu ritzen!) und besorgte sich guten Klebstoff aus backigstem Harz.
Sie traf sich mit Salpico, erzählte ihm von Sprenglers Wunsch, eine Lehreinheit bezüglich untoter Gefahr abzuhalten und aß mit ihm zum Mittag. Er tat geheimnisvoll, als er beteuerte, ihr einen Adamanten besorgen zu können.
Und das Beste: Sie würde am kommenden Tag mit ihm einkaufen, ihn in eine neue Robe stecken!
Mittels eines Ruhe Körper – Ruhe Geist legte der Schwarzmagier die Hexe für zwei Stunden schlafen. Sie sollte für den Abend ausgeruht sein…
~
Es dunkelte bereits, als sich fünfundzwanzig schwer gerüstete Veteranen zusammen mit Unteroffizier Sprengler und einer schwarzhaarigen Frau mit leuchtend blauen Augen namens Korporal Millheimer (das war Neferu mit Hilfe ihres Hexenreifs…), die sie nie zuvor gesehen hatten, am Puniner Tor sammelten, um allesamt durch die Mannluke nach Eschenrod zu marschieren.
Sprengler selbst, der schon ihr Anführer im Orkenkrieg gewesen war, hatte die Frau als „wichtig“ bezeichnet. Sie sollten alle auch dafür Sorge tragen, dass sie nicht abgestochen wurde.
Er selbst ging mit der Fremden vorne weg.
Neferu spürte, wie ihr Blut wallte. Das war das Südquartier nicht gewohnt: Eine ganze Mannschaft bewehrter Krieger, darunter Stadtgardisten. Noch marschierten sie die südliche Reichsstraße hinab.
Sie raunte leise zu Voltan: „Phex wird verkannt, weißt du das?“ Sie machte eine kleine Pause. Warum sprach sie davon? Wollte sie eine Ader bei ihm ansprechen?
„Er wird gesehen, als der Händler, der Dieb… Er ist soviel mehr. Er liebt die Menschen. Deshalb tut er, was er tut. Auf seine Art.“ Sie wollte ihm erklären, warum sie tat, was sie tat. Ihr fiel nicht ein, wie sie es besser formulieren konnte. Aber dann… erinnerte sie sich an eine Geschichte aus dem Vademecum und begann zu rezitieren:
„Phex aber liebte die Menschen aus tiefster Seele und sah, dass jeder Gott Alverans ihnen Gaben schenkte. Phex aber ward nur als listig gescholten. So ging er zu Rahja und Tsa und sah, wie die Menschen sich in Lust vereinten und Leben gebaren. Doch fand sich in der Lust nicht immer auch Freude und Leichtigkeit wieder. Und so sagte Phex voll List: Lasst mich den Menschen Heiterkeit schenken, auf dass sie eure Gaben noch vollkommener spüren. Und sie willigten ein und so brachte Phex uns den Witz.
Weiter ging er zu Ingerimm und Peraine und sah, wie die Menschen Werkzeuge formten und Äcker pflügten. Und er sprach zu ihnen: Seht dort im Norden formen sie Pflugscharen und pflügen die Felder, wissen aber nicht, sich zu verteidigen. Dort im Süden ist der Pflug fremd und sie schmieden Waffen, um sich die Nahrung zu nehmen. Weshalb ist das so? Und sie antworteten, dass jeder das schmiede und aus den Feldern hole, was er sich selbst erarbeite. So schenkte Phex den Menschen den Handel, auf dass sie Waren tauschen können und die Gabe, sich ein Handwerksstück einfach zu nehmen, statt es selbst mit Fleiß zu bauen.
Und als er sah wie Menschen Handel trieben und über Land und Meer reisten, ging er zu Travia und Efferd: Seht, die Menschen sind eurer Gnade unterworfen auf ihren Reisen, sie brauchen die Gastfreundschaft und das wärmende Feuer, kämpfen aber gegen die Gefahren der Meere und stürme. Lasst mich sie beschützen wenn sie auf Handelsreisen Unterkunft suchen und wenn sie ihre Schiffe zum Handel auf die Meere fahren. Und so wurde Phex der Patron der Händler auf ihren Reisen.
Dann sah er die Dunkelheit des Nachthimmels. Er erkannte Boron als den Vater der Dunkelheit und Hesinde als die Mutter Madas. Phex aber wollte Teil dieses wundervollsten Gebildes sein und sprach: Schenkt mir einen winzigen Teil eures Nachthimmels und ich werde ihn schmücken euch zum Gefallen. Und als ihm ein nur verschwind geringer Teil der Nacht zuteil wurde, da verteilte er diesen am hanzen Himmel: Hier ein winziger leuchtender Punkt, dort ein zierlicher Lichtschein, da ein klitzekleiner Schatz. Und so erstrahlen die Sterne heute für jeden sichtbar am ganzen Firmament, obwohl die dunkle Nacht doch den viel größeren Teil des Himmels ausmacht. So wurde Phex der Herr der Sterne.
Voll Bewunderung blickte er zu Firun und Rondra, die sich im Wettstreit maßen. Und er ging zu Firun und sprach: Herr der Jagd, lehre mich, wie auch ich ein Jäger werde, so will ich dir gegen Rondra beistehen. Firun willigte ein und Phex lernte die nächtliche Jagd. Zu Rondra aber ging er und sprach: Herrin des Kampfes, lehre mich, wie auch ich ein Kämpfer werde, so will ich dir gegen Firun beistehen. Rondra willigte ein und Phex lernte den listigen Kampf. Und so lehrte er die Menschen seine Weise zu jagen und zu kämpfen.
Zuletzt ging er zum Göttervater Praios. Er staunte über die göttliche Ordung, doch sah er auch, wie einige sich nicht scherten um Gesetz und Ordnung. So sprach er: Wie kannst du dulden, dass jene, die deine Ordnung nicht anerkennen, sich aufschwingen über die Braven, die dich vergöttern? Und Praios antwortete, er könne nicht jene bestrafen, die die nicht in seinem Licht wandeln, denn er sei die Gerechtigkeit. Phex aber sah sein Meisterstück vor Augen und sprach: Vater Alverans, lass mich für dich in Dunkelheit und mit List erkunden, was die Feinde deiner Ordung planen, lass mich sie betrügen und strafen, wo Unglauben waltet. Praios aber sah, dass Phexens Hilfe nötig war. Und auch wenn er Phex deshalb verachtete griff er von nun an auf den Listigen zurück, um das zu tun, was getan werden musste.
All diese Gaben seiner göttlichen Geschwister brachte er den Menschen, doch eine gab er ihnen von sich aus: Sie selber sollten entscheiden über den Einsatz dieser Gaben. Denn Phex liebte die Menschen. Aus tiefster Seele.“
Voltan Sprengler sah die Sprechende lange an, während die Meute von Bewaffneten gen Eschenrod marschierte. Dann nickte er leicht und seine Mundwinkel hoben sich einen Deut.
„Ich denke auch, dass Phex verkannt wird.“ sagte er nur.
Sie bogen nach Eschenrod ein.
Gestalten huschten in Gassen, starrende Augen verfolgten sie hinter kaputten Fenstern. Niemand wollte bei dieser Art von Razzia bei irgendetwas Illegalem erwischt werden.
Auch der Goblin Knüppel-Golle starrte der Großgruppe mit offenem Mund nach.
„Du solltest expandieren, Golle!“ rief Neferu in ihrer für ihn unbekannten Gestalt. Innerlich lachte sie befreit. Sie fühlte sich gut, in anderem Äußeren unter den Leuten zu sein. Sie hatte ihm schon als Neferu geraten, sein Geschäft zu erweitern, vielleicht half diese ‚Zweitmeinung‘, ihren Wunsch zu unterstreichen.
‚Rahjas Festung‘ lag vor ihnen – erleuchtet und in regem Betrieb.
„Sollen wir Lärm machen, Weibel?“ fragte einer der Armbrustschützen aus Voltans ‚Regiment‘.
Der Angesprochene nickte entschlossen. „Ja, aber umstellt nicht das Haus. Wer fliehen kann, kämpft nicht auf Leben und Tod. Wir wollen Tote vermeiden.“
Die groben Veteranen traten die Tür krachend aus ihren Angeln.
„Razzia! Keiner bewegt sich!“
Trotz des Rufes, warf ein Freier einen Tisch um, versuchte sich in Sicherheit zu bringen. Auch andere reagierten nicht gelassen auf diese Meute Bewaffneter.
Unten stellten die Soldaten die Personen in der Schankstube. Fenster splitterten. Es gab blutige Nasen.
Neferu lief zur Treppe.
„Wo ist di Calmo?!“ rief sie, rannte die Stufen hinauf.
Niemand antwortete ihr aus dem Tumult.
Sie riss die Tür auf von der sie wusste, dass sich keine Hurenkammer dahinter befand.
Drei Männer sprangen auf, die gesessen hatten. Ein Almadaner, zwei heimische Eschenroder.
Geld lag auf dem Tisch, sie hatten sicher gerade um eine Anstellung verhandelt.
Die Schläger hatten noch keinen Vertrag unterzeichnet. Sie wollten sich aus diesem Ärger heraushalten und verpissten sich. Nef ließ sie durch.
Unten wurden Armbrüste gespannt.
Auf der Empore wartete Neferu auf den Almadaner. Sie erkannte ihn: Er war bei ihrem letzten Besuch gestern gewesen – er war es, den sie bewusstlos gewürgt hatte.
Er kam auf sie zu, versuchte sich an einem schmeichelnden Lächeln.
„Ich weiß, wer ihr seid – was ihr seid. Wo ist Di Calmo!?“ spie ihm Nef entgegen.
Der Schwarzhaarige mit dem Federhut grinste schmierig. „Ich weiß nicht, wovon Ihr redet! Dies hier ist ein angesehenes Bordell..!“
„Ich habe gesagt, ich komme zurück. Da bin ich! Ich habe andere mitgebracht! Wie geht es dem Glatzkopf? Haben sich seine Sehstörungen gegeben?“ zischte sie.
Sein Gesicht wurde schlagartig ernst. Er erkannte sie.
„Du bist das, Metze… Du hast keinerlei Beweise gegen uns, du Schlampe. Du wirst bezahlen..“
„Wir haben Beweise. Wir haben einen Magier. Und er befragte Jelkas Geist. Glaubt Ihr immer noch, Ihr kommt davon?“ sie war von der Eisigkeit ihrer Stimme überrascht und log in Vollendung.
Aber es half. Er wurde blasser.
„Ich werde dich töten!“ zischte er schlangengleich und akzentvoll.
„Dann versuch es..!“ forderte Nef ihn kampfbereit auf, mit einem bissigen Lächeln. Sie konzentrierte sich. Gleich würde sie ihn zu Boden hechten…
Der Almadaner zog sein Rapier…
Zwei Bolzen durchbohrten ihn sofort und er sank Blut hustend in sich zusammen, als er starb.
~
Neferu nahm die fünfunddreißig verängstigten Mädchen mit, als das Gebäude geräumt war, die letzten Freier flüchteten. Kehrten die Almadaner zurück, würden sie keine Huren mehr haben, die für sie arbeiteten. Die Hexe untermauerte ihren Plan mit einigen Münzen, die die Verbreitung des Gerüchts gewährleisteten, dass die Südländer ihre Mädchen misshandelten, sie töteten – und schlimmer noch – mit den Nichtzwölfen im Bunde waren und man seine unsterbliche Seele riskierte, wenn man für sie arbeitete.
Von ihren neuen Schützlingen erfuhr ‚Korporal Millheimer‘, dass di Calmo der Vetter des Conde war. Und dass der Conde derjenige mit der roten Feder war… Irgendwann würde sie diesen Mann finden und ihn zur Rechenschaft ziehen! Jelka würde gerächt werden.
Mit Sprenglers Hilfe fand sie eine Unterkunft für die verstörten Frauen: Die Herberge Heldenrast im Schlossviertel. Zu dieser Jahreszeit hatte sie immer leere Betten.
Sie handelte zwei Mahlzeiten am Tag aus und zahlte für einen Monat im voraus.
Als sie die vielen Dirnen untergebracht hatten, begleitete Sprengler sie ein Stück.
„Und?“ Sie drehte ihren Armreif in der Dunkelheit des Neumondes und war wieder sie, „was gefällt dir besser – grün oder blau?“ Sie hielt es für angemessen ein wenig neckisch zu kokettieren, ihn aus der Reserve zu locken.
„Grün.“ sagte er nur, ohne sie anzusehen.
~
Als sie in der Stille ihres Bettes bei Ahlemeyer lag, drehte sich Phexdan zu ihr um.
„Ich bin euch gefolgt.“ raunte er ihr leise zu. „Von den Dächern aus, habe ich euch zugesehen. Und da waren andere. Im Schatten verborgen. Sicher sechs bis acht an der Zahl. Almadaner. Sei vorsichtig…“
Die Almadaner kannten also ihrer aller Gesichter.
Theoretisch.
Wieder einmal war sie froh, dass Luzelin ihr einst diesen Armreif als Belohnung für einen großen Dienst gegeben hatte. Sie berührte das Mondsilberschmuckstück mit dem blauen Stein, atmete tief durch und schmiegte ihren Kopf an Phexdans Schulter.
Kurz bevor Borons seeliger Schlaf sie umfing, dachte sie an Voltan Sprenglers starrend-faszinierten Blick, als sie sich der Huren angenommen hatte. Es war ein erstauntes Innehalten gewesen.
Sie dachte an sein Gesicht. Und an die Almadaner.
Er war in Gefahr.
Gareth 9 (Rahjard) (ING 1013)
Wohlig seufzend legte der Südländer seinen Kopf in den Nacken und versank noch etwas mehr in seinem Zuber. Die letzten Wochen hatten ihm alles abgerungen und er hatte gar das Gefühl, dass er das letzte Bad vor der Belagerung von Greifenfurt genommen hatte. Den Händler hatte er zufriedengestellt und in seinem Geldbeutel fand er wieder Dukaten vor statt Fliegen. Besser noch: Ausnahmsweise musste er diese Münzen nicht für eine Dirnenschar aufbringen. Er konnte wohl, aber es war ihm fad geworden nach Ausreden zu suchen, warum er, der aus seiner Familie herausragende, sich dem Beischlaf ständig verwehrte, gleich wie ansehnlich oder billig, willig seine Gegenüber auch war.
Doch auf ein Rahjawunder brauchte er sicherlich nicht zu hoffen.
Schon bei den Amazonen hatte er behauptet, dass er verheiratet wäre. Sie hatten ihm geglaubt – und zum Glück ebenso wenig Nachfragen gestellt, wie seine Gefährten auf der letzten Reise. Sie, diese Vagabunden, die keinen Sinn ergaben und bei denen er froh war, dass er sie länger nicht würde sehen müssen. Hoffentlich. Ansonsten blieb die vage Hoffnung, dass er dem nächsten König nicht inmitten der eigenen Fäkalien begegnen musste. Fenvarien und Yppolita hatten also etwas gemeinsam, mit Efferdan. Efferdan, dem Herrn über das großartige, reiche, stinkende und langweilige Andergast. Es hatte etwas eigenartiges an sich, dass lediglich der nostrische König sich dieser Auflistung entzog und mit Etikette glänzte.
Der nostrische König.
Einen Augenblick betrachtete er die gegenüber liegende Seite des Zubers. Vielleicht sollte er doch in Nostria sesshaft werden, immerhin war er mit der Königsfamilie vertraut und hatte die Möglichkeit es dort sicherlich bis nach oben zu bringen oder eine andergastsche Armee im Alleingang auseinanderzunehmen. Es würde sicherlich Lieder über ihn geben und man würde ihm in tausend Jahren noch huldigen, der Heilige Richard von Nostria. Ein schöner Gedanke, wenn er nicht mit dem Problem verbunden wäre, dass man anschließend in Nostria säße. In Nostria.
Nostria. Das Land, wo sie hohler waren als die Steineichen, die sie hackten…
Ein weiterer Seufzer verließ seine Lippen.
In Gareth hingegen erwartete ihn dagegen sicherlich nur Arbeit, gesucht oder aufgedrängt. Doch der Vorteil war, dass er sich waschen konnte, ihm die Welt offen stand und er eben nicht in Nostria saß. Allerdings würde er, ehe er sich zu häuslich niederließ, noch einmal zu den Geizhälsen aus dem Bornland müssen, um seine Sachen abzuholen. Elendige, geänderte Bedingungen zur Lagerung seiner Sachen machten es ihm unmöglich, sie länger dort zu behalten. Außer er wollte sich verschulden oder mit ansehen, wie sie es höchstbietend versteigerten, all das, was er in den letzten Jahren an Besitztümern zusammenbekommen hatte.
Vieles war es nicht, aber wertvoll. Nicht alles geeignet, um es dauerhaft bei Asleif zu belassen und bei seiner Schwester schon gar nicht. Die biestige Shantalla scherte sich schließlich nur um eine Person – sich selbst, und vielleicht ihr eigenes Spiegelbild. Einen Moment stockte der vermeintliche Bukanier. Musste es an dem Ort und der größten Stadt Aventuriens, wo es nachweislich eine Paligan gegeben hatte, das wusste er, er hatte sie schließlich bestohlen… musste es dort nicht auch einen Teil der eigenen Familie geben? Immerhin gab es selbst in Mhanadistan einen Onkel.
Falls nicht, wäre das aber auch nicht schlimm, die Herbergen waren schließlich annehmbar und irgendeinen Lagerraum, der in irgendeiner Form bewacht wurde, würde sich schon finden lassen.
Sollte er sich irren oder nicht fündig werden? Nun, so stand ihm doch immer noch Nostria offen …
Nostria.
Beilunker Berge 3 (Garion)
Die Dunkelheit des Hauptgebäudes lastete schwer auf dem Ardariten, während er nachdenklich durch das schmutzige Fenster des Badezimmers im ersten Stock auf den Innenhof der Festung hinab sah. Das war also Kurkum, die sagenumwobene, verborgene Festung der geheimnisvollen Amazonen.
Während ihm der Geruch nach Spinneninnereien in die Nase stieg, runzelte er die Stirn. Er war mit nur drei Verbündeten hier, zwei davon des Kämpfens mächtig, ein Dritter versiert in der Heilkunst – wenn auch nur der profanen. Das war hier – tief in den Beilunker Bergen – die einzige Unterstützung auf die er hoffen konnte. Und dort unten, irgendwo hinter den festen Mauern der Burg warteten mehrere Dutzend brutal pervertierte Amazonen darauf, dass sie einen Fehler machten.
Mit einem leisen Seufzen sah er an sich hinab, um die riechenden Spinnenüberreste zu suchen. Wenn er ehrlich war, dann war der Erfolg dieser Mission mehr als ungewiss. Schon die potentiell feindlich gesinnten Amazonen, die noch innerhalb der Burgmauern weilten, waren ihnen zahlenmäßig deutlich überlegen – und dabei war der Umstand ignoriert, dass einige von ihnen außerhalb der Festungsanlage unterwegs waren und jeder Zeit zurückkehren konnten.
Als seine Augen die Reste einer schleimigen, grünen Substanz am Heft seines Langschwertes erfassten, griff er nach dem Taschentuch in seiner linken Unterarmschiene und befreite die Waffe gedankenvoll von der Verunreinigung. Es war ihm zuwider gewesen, die Burg durch einen Geheimgang zu betreten wie ein Dieb in der Nacht. Wo war die Grenze zwischen taktischem Vorgehen und schlichter Feigheit? Aber hatte er eine Wahl gehabt? Wenn es stimmte, was er während seiner Lehrjahre in Arivor erfahren hatte, dann waren Amazonen furchterregende Kämpfer, deren Waffenfähigkeiten ihres Gleichen suchten. Mit nur drei Gerüsteten und einem Heiler, der sich leidlich seiner Haut erwähren konnte, wäre ein allzu offenes Auftreten wohl ein Garant für ein unabwendbares Scheitern der ihm übertragenen Aufgabe gewesen. Und selbst jetzt, da ihre Ankunft in dem verborgenen Rückzugsort der kämpfenden Rondragläubigen unbemerkt geblieben war, schien der Ausgang der Unternehmung ungewiss.
Wenigstens, so konnte er sich selbst zur Ruhe gemahnen, haben wir für den Notfall einen zentralen und schnellen Ausgang. Erst vor einigen Stunden hatten sie entdeckt, dass der Brunnenschacht, der mittig auf dem Burghof angelegt war, mit dem Gangsystem unter der Festung verbunden war und noch dazu Wasser führte. Im allerschlechtesten Fall würde ein beherzter Sprung ihnen wenigstens etwas Zeit und eine bessere Ausgangsposition gegen Verfolger schaffen.
Eine Bewegung auf dem Hof ließ ihn aufmerken, während seine Gefährten sich leise in einigen der Zimmer in seinem Rücken bewegten. Die Gestalt Vitus‘ – eines der Stallburschen – schälte sich aus dem Schatten der Gebäude. Der Junge hatte ein Bad in der luxuriösen Wanne seiner ehemaligen Königin genommen, als die kleine Einheit den Raum gestürmt hatte. Eine rasche Befragung hatte verschiedenste Einzelheit zutage gefördert und langsam begannen sich die einzelnen Teile des Mosaiks zu einem Bild zusammen zu fügen. Irgendwo dort unten wartete nicht nur die Amazonenkönigin Yppolita auf ihre Befreiung, sondern auch ein verdorbener Illusionist auf seine Erlösung von derischen Banden.
In seiner Kehle stieg Wut auf, als er an die Geschichte des Knechts zurück dachte. Die Machenschaften Xeraans hatten Schwester gegen Schwester aufgehetzt und die Amazonen, von denen in dem Arivorer Tempel zwar nicht immer gut, doch stets ehrfürchtig gesprochen worden war, an den Rand des Ruins geführt. Eine Schmach, die er nicht auf den Seinen sitzen lassen würde – Arivor wollte die Frauen in Sicherheit wissen – und Arivor würde bekommen, wonach es ihm verlangte.
Mit verhärteten Zügen sah er über die Schulter zurück. Die Untersuchungen der Räume waren abgeschlossen. Tarambosch, Raj und Vitus waren bereit sich tiefer in die Burg zu begeben. Ein kurzer Blick glitt über die drei Gestalten. Nach dem Angriff einer Fischerspinne in den niedrigen Tunneln unter der Burg, war keiner von ihnen in bestem Zustand, allerdings auch nicht verletzt. Schimmernde Rüstungen suchte man vergebens und die Rajs wies deutliche Mandibelspuren auf, wo die Beißwerkzeuge der Spinne sich Zugang zu verschaffen versucht hatten. Alles in allem war bisher alles gut gegangen und eine bessere Ausgangslage war unter den gegebenen Umständen nicht möglich.
Mit einem letzten Blick aus dem Fenster hinaus auf die Tempelanlage im Hof, nickte der Bornländer daher. „Nutzen wir die Zeit, die uns noch bleibt, bis sie mit ihrer Anbetung fertig sind.“
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