Salpico
Brabak 1 (Salpico) (TSA 1013)
Mit einem tiefen Ausatmen schob der Adept die Tür hinter sich ins Schloss und wandte sich dem Raum zu, den er gerade betreten hatte. Die Gästekammer spiegelte auf wenigen Rechtschritt alles wider, was die dunkle Halle der Geister ausmachte. Keine Fensteröffnung durchbrach die massiven, dunklen Steinwände des Raumes. Es war kalt und roch ungesund muffig und nach Schimmel.
Nach einem Augenblick in dem er sich selbst im Stillen für seine klamme Barschaft verfluchte, ließ er die Tasche, die er als Gepäck mit sich führte auf den Boden fallen. Dann entsandte er einen geistigen Befehl in den langen Stab in seiner rechten Hand. Nur den Bruchteil einer Sekunde später war die blaue Kugel an seinem Ende in bläuliche verzehrend flackernde Flammen gehüllt, die unheimlich tanzende Schatten an die Wände warfen.
Aus der tiefen Dunkelheit des Raumes erhoben sich die Umrisse einiger Möbelstücke. Links von der Tür befand sich eine zweiteilige Kommode, deren Holz schon auf diese Distanz aufgeweicht und morsch wirkte. Gleich rechts daneben stand ein Schreibtisch, auf dem sich eine herunter gebrannte Kerze und ein eingetrocknetes Tintenfässchen samt altersschwacher Feder befanden. Die Sitzgelegenheit davor bestand aus einem seltsam geformten Stuhl, dessen größter Teil aus Brabaker Rohr, etwas Holz und viel gutem Glauben zu bestehen schien. Dahinter, gleich in der Ecke des Raumes stand ein winziges Regal, auf dessem obersten Brett eine Blume dahin geschieden war. Für einen Moment fragte Salpico sich, ob das eine Aufforderung zur Wiederbelebung sein sollte oder ob die Geste nicht dem verschrobenen Humor der Magister entsprungen war.
Dann richtete er den Blick nach rechts. Nahe der Tür stand dort ein kurzes Bett, das ebenso wie der Rest des Mobiliars bessere Zeiten gesehen hatte. Daran schloss sich ein Rechtschritt freien Platzes an, auf den ein Stehpult folgte, das bereits direkt an der Wand stand.
Zwischen dem Stehpult und dem Eckregal, gleich an der Stirnseite des Zimmers lag, kalt und vergessen, ein ausladender Kamin. Auf seinem Sims standen einzige Kerzen – ebenfalls schon älter.
Über der Feuerstelle seines Gästezimmers war eine Holzplatte angebracht, die zu ihrer Zeit sicher teuer gewesen und mit einem Schutzkreis beschnitzt worden war. Wie so vieles in den finsteren Tiefen der Akademie. Den krönenden Abschluss bildete ein farblos gewordener Tulamidenteppich auf dem Boden.
Im Licht seines Stabes ließ der Adeptus Minor sein neues Heim auf sich wirken. Der ganze Raum hinterließ den faden Beigeschmack von zuviel Schminke auf einem verlebten Gesicht. Mit einem Schulterzucken durchquerte er das Zimmer und beugte sich vor, um die Flammen seines Stabes in das im Kamin aufgestapelte Holz zu schieben. Der Raum war allemal besser als die Scholarenquartiere, die er hier beinahe ein Jahrzehnt lang bewohnt hatte. Aber etwas Licht und Wärme würden in keinem Fall schaden.
Kurze Zeit später brannten alle Kerzen, die an der Wand oder auf verschiedenen Regalbrettern verstreut zu finden gewesen waren und in der breiten Kaminöffnung leckten unpassend fröhliche Flammen an den Scheiten. Ohne rechte Eile kehrte die Wärme in das Gemäuer zurück.
Der Magier lehnte an dem Kamin und genoss die Wärme, während er den hölzernen Bannkreis betrachtete. Gleich davor auf dem Sims standen zwei Kerzenhalter von jeweils drei Kerzen. Mit der leeren Stelle zwischen ihnen hinterließ die Szenerie den Eindruck eines Schreines, den jemand seines Heiligtumes beraubt hatte.
Ohne weiter über den Grund nachzudenken, wandte Salpico sich um und öffnete die Tasche, die er bei sich getragen und die inzwischen ihren Weg auf den Schreibtisch gefunden hatte. Aus ihren tiefen zog er einen Zierdolch hervor, dessen Scheide mit Blau und Gold verziert war. Kurz unter dem Heft zeigte sie ein Wappen, das ihm weder etwas sagte, noch ihn weiter interessierte. Sobald er die Zeit und das Geld dafür hatte, würde er es gegen das von Brabak oder Gareth austauschen lassen.
Mit ruhiger Hand platzierte er die Waffe zwischen den Kerzenhaltern unter dem Zentrum des Bannkreises und trat einen Schritt zurück. „So“, befand er, „sieht es doch gleich sehr viel weniger, wie ein Greis mit Zahnlücke aus.“
Einen Augenblick sah er in das Feuer hinab. Was sollte er jetzt tun? Er war schon vor einigen Stunden in der Akademie angelangt – am Vormittag, mitten in der Zeit der Studien. Ihre Spektabilität Terbysios – eine Frau um die 50 mit einem Charme, der diesem Zimmer um nichts nachstand – war wider erwarten selbst mit der Unterweisung von Scholaren beschäftigt gewesen und so hatte er warten müssen. Als sie dann schließlich Zeit gefunden hatte mit ihm zu reden, hatte er sich erst einmal dafür rechtfertigen müssen, warum er mit drei Tagen Verspätung eingetroffen war. Und obgleich er argwöhnte, dass seine Ausrede vergleichsweise sparsam gewesen war, hatte ihre Spektabilität nicht weiter nachgehakt, sondern war schlicht auf den Grund seines Daseins zu sprechen gekommen.
Das Wissen und die Macht, die er im Gegenzug für eine Teiltilgung seiner Schulden der Akademie gegenüber angeboten hatte, mochte mehr wert sein, als er vermutete, wenn Demelioë ihn derart leicht vom Haken ließ – aber sei’s drum. Jedenfalls waren nach der Besprechung seine Unterrichtsvorbereitungen einbehalten worden, weil Demilioë sie prüfen wollte. Den Beginn seiner Unterweisungen hatte sie auf den nächsten Tag verschoben. Jetzt war es gegen Mittag – auch wenn die Tageszeit innerhalb der stets finsteren Akademie schwer zu bestimmen war – und er hatte nichts zu tun.
Kurz erwog er in den Konventssaal hinab zu gehen und nachzusehen, ob Kaspar Eulertin – ein alter Klassenkamerad und inzwischen Magister Minor – dort war. Obgleich Kaspar alles, einschließlich nachgezogener Augen, gepuderter Hautblässe und (sicherlich gefärbten) langen schwarzen Haaren, dafür getan hatte wie das abgeschmackte Klischee eines Schwarzmagiers auszusehen, mochte Salpico ihn. Kasper war schon früher stets nett zu ihm gewesen. Und die herzliche Begrüßung am Morgen ließ vermuten, dass sich daran nichts geändert hatte.
Nur, dass dem Magister heute die Blicke der Schülerinnen folgten war wenig erbaulich. Rasch schüttelte der Nekromant den Kopf. Kaspar war nett, aber er sagte und tat immer dieses Quäntchen zu viel. Er konnte von Glück sagen, dass er sich nicht schwerpunktmäßig mit der Alchemie beschäftigte.
Magistra Zeforika, seine ehemalige Mentorin war wesentlich angenehmer. Sie war bekennende Borbaradianerin, offen, konnte gut zuhören – und war sicher im Unterricht. Damit blieb noch Pôlberra, dessen Unterricht er heute Morgen gestört hatte. Der ehemalige Geweihte und Kultist war mit „misanthropisch“ noch zurückhaltend beschrieben. Er bespuckte, kratzte und würgte seine Schüler, legte sich mit jedem, aber auch wirklich jedem an, der sich in seine Belange einmischen wollte und verfluchte Störenfriede mit einer Kunstfertigkeit, die jeden Seemann und Kesselflicker hätte erbleichen lassen. Nein – wenn Salpico so darüber nachdachte, dann war Pôlberra vielleicht auch nicht der Weisheit letzter Schluss.
Als er sich setzte, entlockte er dem Stuhl ein kraftloses Knacken und verharrte einen Moment, um sicherzugehen, dass er nicht im nächsten Augenblick rücklings vom nachgebenden Stuhl rollen würde. Als nichts dergleichen geschah, rutschte er näher an den Schreibtisch und legte das einzige Buch, das er mit sich genommen hatte darauf. Auf seinem nachgedunkelten Ledereinband stand in Kusliker Zeichen geschrieben Die Macht der Elemente. Der Octavo hatte einen Umfang von 350 Seiten und war eine originalgetreue Abschrift des 690 nach Bosparans Fall geschriebenen Buches. Darin hatte der Hesindegeweihte Pheredonis Melenaar von Zorgan die praktischen Grundlagen der Alchemie niedergeschrieben. Laborausstattungen, Vorgehensweisen, Analysen und jede Menge Rezepte. Kurzum: Genau das was Salpico brauchte. Er hatte das Buch mitgenommen, um in den ruhigen Stunden, die ihm zwischen den Unterrichtseinheiten blieben darin zu lesen. Immerhin war es nur eine Leihgabe und er hatte nicht ewig Zeit dazu. So schnell wie nur möglich wollte er es Neferu zurückgeben.
Ehe er es aufschlug hielt er noch einmal inne. Mharba! Sie war eine interessante Gesprächspartnerin – eine Studiosa – aber mit Hesindes Gaben gesegnet wie nur Wenige. Sie zählte 19 Götterläufe und interessierte sich für Temporalmagie, Dämonen, Artefakte und Alchemie. Anders gesagt: Für alles was auch Salpicos akademisches Leben im Augenblick formte. „Eine Schande, dass sie noch Scholarin ist. Das bedeutet, dass sie zu dieser Zeit bei ihren Studien ist.“ Er klappt das Buch vor sich auf dem Tisch auf. Warum sollte er sich grämen? Mharba käme wie verabredet nach ihren Studien zu seiner Kammer und bis dahin konnte er etwas essen und noch ein wenig lesen.
Gareth 8 (Neferu) ( –––)
Die Räumlichkeiten der Smaragdnatter beheizten ihren durchgefrorenen Körper, das ungewöhnliche Bild ihr Herz:
Vereint besetzten Salpico, Zerwas und Phexdan einen der Tische. Phexdan lümmelte halb liegend auf der Bank, während Zerwas sich mit brütender Miene über ein Schriftstück neigte.
Sie wünschte sich, dass es diese Eintracht immer gab, wollte den Anblick noch einen Augenblick länger ungesehen genießen.
Der Schankraum war an diesem Abend nur halbvoll. Sie trat einen Schritt zur Seite in den tiefen Schlagschatten der Ecke einer vorspringenden Wand und blickte stumm und reglos zu den drei Männern hinüber. Salpico neigte sich zu Zerwas, sie unterhielten sich. Der kleine maraskanische Koboldmaki Dajin hatte es sich auf Phexdans Zauskopf gemütlich gemacht, filzte lausend die kurzen Strähnen.
Die drei Männer an einem Tisch, die in ihrem Leben bisher eine Rolle gespielt hatten – bis auf den Rondrageweihten.
Phexdan, Vespers erste große Liebe. Der Mann dem sie hinterhergelaufen war, um nie ganz bei ihm anzukommen. Der in einem umnebelten Geheimnis lebte und sie außen vor ließ. Den sie besser von weitem liebte, damit er sie nicht mit seiner einzelgängerischen Auffassung einer Liebesbeziehung traurig machen konnte oder sie mit seiner stürmischen Gedankenlosigkeit überrumpelte. Er hatte nie ganz verstanden, warum es mit ihnen zweien nicht funktioniert hatte. Trotzdem waren seine offenen Arme immer da gewesen, wenn sie ihn gebraucht hatte.
Salpico.. das offene Buch. Er biederte sich an und bewies gleichermaßen empathielose Frechheit. Aber nicht aus Böswilligkeit, das hatte sie längst eingesehen. Er war ungeschickt mit Menschen, weil ihm die Erfahrung von Nähe fehlte. Er ging eifrig auf ihre Vorschläge ein und hatte mit ihr das Bett geteilt, als sie die körperliche Nähe einer Person benötigt hatte. Er war ein Freund und als einen solchen liebte sie ihn. Ein kleiner Bruder, der in der Welt noch nicht zurechtkam.
Zuletzt Zerwas. Die erhabene Ewigkeit, die wie für sie selbst gemacht schien. Kraftvoll, willensstark und nicht ohne den beißenden Humor, den sie so schätzte. Der Mann, wegen dem Vesper das größte Leid ihrer Existenz erfahren hatte, als sie ihn verloren geglaubt hatte. Das dunkle offene Fenster, das jetzt verheißungsvoll entgegenblickte.
Zerwas sah sie an. Quer durch den Schankraum hatten seine grünen Augen sie gefunden.
Er hatte sie bemerkt und lächelte sein ruhiges, selbstbewusstes Lächeln. Hatte er sie gerochen?
Entdeckt schritt sie auf den Tisch zu.
„Phexdan war endlich einmal nützlich.“ billigte der Vampir dem Genannten zu.
„Seine Fähigkeiten des Handelns haben den Preis ganz ordentlich gedrückt.“ ergänzte der Schwarzmagier.
Der Geweihte des Fuchsgottes hielt es nicht für nötig, sich aufrecht hinzusetzen.
„Und wie viel wird der Bau kosten?“ Neferu hoffte inständig, dass ihre Ersparnisse und das Geld aus der Verhandlung ausreichen würden, um diesen Traum eines eigenen Hauses möglichst zeitnah umzusetzen.
„Zweitausendsechshundertsiebenundsiebzig Dukaten und fünf Silberstücke.“ antwortete Salpico prompt, hoffnungsvolle Erwartung in den schwarz anmutenden Augen.
Die Frau in Rot nickte deutlich. „Dann reicht es. Die Bauarbeiten sollen so schnell wie möglich beginnen. Ich werde in Kürze noch einmal mit dem Baumeister sprechen.“
Als die Stunden weiter vorangeschritten waren, verließ Zerwas die Unterkunft. Er machte sich auf, um durch unbeschienene Gassen zu streifen auf der Suche nach einem Unglücklichen, der seine Nahrung sein würde. Neferu begleitete ihn ein Stück weit. Sie wusste, spätestens nach seinem Verlust an Selbstbeherrschung auf der Boroninsel in Havena, seit dem Tag an dem er sie fast getötet hatte, empfand er es als unangenehm, vielleicht sogar schmerzlich beschämend, in ihrer Gegenwart von seinem Drang des Trinkens zu sprechen. Und umso unbehaglicher war ihm wohl, dass sie mit ihm vor die Tür gekommen war.
Aber es hatte zu schneien begonnen und sie benötigte frische Luft. Außerdem war ihr dringend daran gelegen, den Perainetempel aufzusuchen.
Während Zerwas in Rosskuppel durch die Nacht jagte, gelangte sie zum Tempel von Ackerbau und Heilkunst.
Ein Geweihter war zugegen, ein großer, dürrer Mann namens Rohalides. Er war sehr freundlich, mitfühlend und ließ es an Hingabe an seine Berufung nicht mangeln. Im Gegensatz zum Therbunitenkloster in Trallop, verlangte man hier kein Geld. Das einzige, was es benötigte, ihr Sikaryan zu mehren, war ein zwölftägiger Aufenthalt im Tempel der Göttin selbst.
Und sie spürte von Tag zu Tag, dass es dringend nötig war. Ihre Augenringe zeichneten ihr Gesicht, verliehen ihr ein abgeschlagenes Äußeres. Müdigkeit, Erschöpfung und das Gefühl von Krankheit seit drei Monaten. Sie musste sich der Perainekirche überantworten, um wieder gänzlich zu genesen.
Als sie zurückkam saß lediglich Salpico unten im Tavernenbereich, kritzelte irgendwelche Aufzeichnungen nieder und aß dazu eine dampfende Suppe.
„Willst du auch was?“ Er war guter Laune.
„Nein, danke. Ist Zerwas schon zurück? Oder Phexdan oben?“ Sie fühlte sich mit einem Male ausgelaugter und um Jahre gealtert.
„Beide nicht da! Aber ich komm gerne mit dir hoch!“ beschwingt lupfte er sein Robenröckchen und schlenderte mit ihr nach oben.
Sie war froh, als sie das Talglicht im Dachzimmer entzünden konnte. Ein Docht mit warmer Flamme gab ihr ein anheimelndes Gefühl.
Sie rückte ihr Bett schurrend ein wenig näher an Salpico heran, schlüpfte unter die Decke. Warm war anders. Ihre Zehe waren wie eingefrorene kleine Zapfen und Eisblumen schmückten gläsern das Fenster.
„Wann hat Phexdan denn die Natter verlassen?“ Sorgte sie sich..?
„Ach.. so vor einer Stunde vielleicht.“ Das tulamidische Gesicht ihr Gegenüber zeigte kaum eine Spur von schlechtem Gefühl.
Rastlos linste sie immer wieder zur Tür.
„Am liebsten würde ich nachsehen, wo er sich schon wieder rumtreibt.. Er kennt Gareth kaum. Er weiß nicht wie gefährlich eine Großstadt bei Nacht sein kann..“
Der Brabaker zog einen Schmollmund. „Jetzt bin ich extra mit dir hochgekommen, damit du nicht alleine bist..“
Gerade im Aufstehen begriffen, um den Phexgeweihten irgendwo im Labyrinth Gareths zu suchen, hielt sie inne.
Salpicos Worte versetzten ihr einen zarten Stich ins Herz. Er hatte Recht. Er hatte dafür gesorgt, dass sie nicht alleine war.
Und jetzt wollte sie ihn alleine lassen..? Wegen was? Wegen eines eigenbrödlerischen Herumtreibers, der seinen Kopf ohnehin aus jeder Schlinge zu ziehen vermochte?
Wegen eines Fuchses, der nicht einmal daran dachte die Füchsin zu fragen, ob sie ihm ihre Stadt zeigen konnte. Die geheimen Winkel, die interessantesten Plätze, die vielversprechendsten Ziele.
Er war immer ohne sie, auch wenn er bei ihr war. Und trotzdem hatte dieser Dieb es in Grangor geschafft ihr Herz zu stehlen, wenn auch nicht ihre Unschuld.
Sie lächelte den nekromantischen Freund sanft an. „Ich werde bleiben. Schlafen wir, Picchen.“
Und sie blies das Licht aus, um den Raum in die Finsternis zurück zu werfen.
Gareth 7 (Neferu) ( –––)
Sie fühlte sich befreit, als sie die Überweisung der Summe für den Anwalt hinter sich gebracht hatte. Ihr war bewusst, dass Groterian an ihr beinahe das dreifache eines normalen Verdientes gemacht hatte. Aber das war es wert gewesen.
Der Mittag war klar und kalt. Zerwas an ihrer Seite sprach nicht viel, hielt den Kopf gesenkt. Sie wusste, dass ihm die winterlichen Sonnenstrahlen mehr zu schaffen machten, als er zugab.
Eilig, Lamiadon an ihrer Seite, schritten sie im Dreiergespann zurück zur Smaragdnatter.
Der Tag schien ihr verheißungsvoll. Ihre positive Stimmung war ungewöhnlich, ließ sie kichern und lachen – wenn meiste Zeit auch lediglich innerlich. Sie war lange aus dem Alter und der Verfassung hinaus, sich wie ein Mädchen aufzuführen.
In der Natter erwartete sie eine Nachricht von Gesse. Dem Mann, der seiner Familie im Haus ihrer Eltern ein gutes Leben ermöglichte.
Bitter stellte sie fest, dass in ihren Gedanken leiser Neid mitschwang. Sie verdrängte den Gedanken an diese Erkenntnis, wollte sich nicht die gute Laune verderben lassen.
Gut, in den Seelander. Mit einem völlig Fremden, der zufällig an der gleichen Adresse wohnte, wie sie vor zwanzig Jahren. Was hatte sie sich noch gleich dabei gedacht?
Immerhin sicherten ihr Salpico und Zerwas zu in der Zwischenzeit zu Nerix Sandsteiner zu gehen, einem Hügelzwerg aus Wallgraben, der den Ruf eines ausgezeichneten Architekten hatte.
Neferu nutzte die zwei verblieben Stunden Zeit um zusammen mit Salpico und dessen neuen Bekannten Thamien Langbart, Magister Extraordinatius der Schwert und Stab-Akademie einen Grundriss für das zukünftige Haus zu zeichnen. Doppelstöckig, mit zwei Kaminen und einer kleinen Terrasse. Der alte Magier mit dem klassischen Rauschebart, warf immer wieder Tipps ein, wenn er es für nötig hielt, seine Pfeife aus dem Mund zu nehmen.
Die Schankstube der Smaragdnatter wurde zum Bauzeichnerbüro.
Mit Wohlwollen betrachtete die Hexe die Freude in Salpicos Gesicht. Echte Freude, deren Grundlage sie gelegt hatte. Sie fühlte sich gut dabei, hatte sie in ihrem Groll doch das Wissen ausgenutzt, dass ihm Alleinsein schlimmer war als das, was Menschen im Allgemeinen fürchteten. Sie hatte ihm längst verziehen. Seit Zerwas wieder da war, betrachtete sie Salpico aus anderen Augen. Mit der Zeit reifte in ihr das Gefühl heran, dem Schwarzmagier tatsächlich überlegen zu sein. Er war nur ein ängstlicher schwacher Mann, der Angst vor Einsamkeit und Tod hatte. Jemand, der ihr Mitgefühl verdiente, nicht ihren Zorn.
Zur rechten Zeit traf sie zurechtgemacht am Zwölfgötterplatz ein. Sie umrundete den Springbrunnen, vor dem überlebensgroße Statuen der Zwölfe standen und ringsum auf die Bürger der Stadt hinabsahen. Von diesem einen speziellen Winkel aus, wirkte es, als greife Phex in Firuns Tasche… Sie musste unweigerlich schmunzeln. Diese entzückende Dreistigkeit… Phexdan.
Das Bild des Phexgeweihten mischte sich in ihren Geist. Ein Augenzwinkern, ein keckes Grinsen… Wann verließ der unzuverlässige Narr endlich wieder ihren Kopf? Sie spürte unmittelbar den Umschwung ihrer Laune. Innere Gewitterwolken zogen auf – eine Wut gegen den Halbmaraskaner gerichtet, der nicht einmal etwas dafür konnte.
Vesper hatte einfach zuviele Jahre mit ihm verbracht. Zuviele untätige Jahre in denen sie beide die meiste Zeit in den Kissen gelegen und sich geliebt hatten.
Mit gemischten Gefühlen dachte sie an die Erinnerung zurück.
Sie nahm sich fest vor, dass dieser Mann ihre Gedanken verlassen musste. Und sie hoffte inständig, dass ihr satuarisches Gefühl mitspielte und sich von dem Tunichtgut löste.
Du kannst es so schnell nicht vergessen…
Sie mahnte den Rat ihrer inneren Stimme und hielt rasch auf das protzige Hotel Seelander zu.
Das Essen mit Kordovan Gesse war entspannter als erwartet. Sie fanden schnell Themen, die sie beide ansprachen und unterhielten sich ungezwungen über Die Zwölfe und Dere.
Sie nahm den bunten Gemüseacker mit Rosenknospen an bornschem Kartoffelstampf und zum Nachtisch Karamelisiertes Orangenparfait, dazu Aquenauer Südhang.
Aquenauer Südhang… Wieder blinzelte ihr der Fuchs verschlafen entgegen, ein vertrautes Lächeln auf den Lippen. Eine blasse Erinnerung aus Khunchom, einer der unzähligen sonnigen Morgenden, an denen er neben ihr aufgewacht war.
Sie lenkte das Gespräch auf das Geschäft Gesses. Er war ein Händler von Eisen- und Rüstwaren. Ein Händler… Verpasse keine Gelegenheit, die sich bietet.
„Ich habe in den Dingen meines Vaters ein Papier gefunden, das wohl mit einem Geschäft zusammenhängt, wohlmöglich mit Stoerrebrandt. Ich weiß nicht wie alt es ist, aber es werden die Abkürzungen BO und STB verwendet. Es geht wohl um die Soldliste eines bewachenden Wagenzugs.“, log sie freundlich lächelnd, „Ich hoffe Ihr haltet mich nicht für eine Närrin, aber ich klammere mich so sehr an alles, das ich in die Finger kriegen kann, was meine Eltern hinterlassen haben und vom Feuer übrig ist, versteht Ihr?“
Er verstand. Natürlich verstand er.
Und sie fand Bestätigung in seinen verständnisvollen Ausführungen. BO stand sicherlich für das Bornland, wo der Händler Zeit sparen konnte, so sparte er. Also auch an Buchstaben. Schnell wurde in diesem Metier aus BOR ein BO. Und STB war Stoerrebrandt. Das Fräulein Banokborn hätte da ganz Recht. Diese Abkürzungen für Handelsmänner führte das Handelsregister.
Er nahm an, dass sich die betreffende Handelsabwicklung ob des Alters in einem Archiv befände. Entweder im Zeug- und Lagerhaus von Stoerrebrandt selbst, oder was wahrscheinlicher war: In seinem Kontor im Schlossviertel.
Nach dem Essen zahlte sie weniger als erwartet. 18 Dukaten ließ sie im Seelander.
Ich werde dekadent…
Gemeinsam mit Gesse ging sie durch den Schneeregen nach Nardesheim, zum alten Haus ihrer Eltern. Oder besser. Zu dem Haus, das anschließend auf das Grundstück gebaut worden war.
„Praios zur Ehr‘, den 8 zum Gedenken“ las sie wieder über dem Türsturz und fragte danach. Gesse erzählte ihr von den acht Märthyrern Gareths, die Hela-Horas im Krieg gegen Bosparan hatte verbrennen lassen, zum Zeichen, dass die Zwölfe nicht eingreifen würden, sie zu retten.
Sie wurde überaus herzlich im Hause Gesse empfangen. Die perfekte Familie, hatte Neferu meinen wollen.
Eine Schar fröhliche Kinder, die ihren Vater begrüßten, eine überaus freundliche Ehefrau, die sogleich Tee kochte und die Tochter der alten Eigentümer herumführte.
Duridanya, so ihr Name, war das Verständnis in Person. Sie war so zuvorkommend und gutherzig, dass Neferu eine Weile ein böses Geheimnis vermutete. Oder immenses Schauspieltalent.
Aber selbst nach zwei Stunden noch, längst nachdem sich die zwei Frauen vom Rest der Großfamilie in einen kleinen Salon abgesetzt hatten, erschien nichts an Duridanya, das Misstrauen rechtfertigte. Neferu hatte ein solches Gefühl selten bei Menschen. Es passierte vielleicht alle fünf Jahre einmal, dass ihr jemand begegnete bei dem sie das Gefühl hatte, ihm nach kürzester Zeit das Herz ausschütten zu können. Und so war es bei Duridanya Gesse: Neferu erzählte von Zerwas, von Phexdan, zeigte der Blondbezopften Zeichnungen aus ihrem Tagebuch beider Männer.
Die Gespräche drehten sich großteils um das andere Geschlecht. Und es tat Nef gut mit einer Seele darüber zu sprechen, die außenstehend war und keinerlei Voreingenommenheit zeigte.
Sie betitelte Phexdan als süß und Zerwas als Augenschmaus.
Und Nef fühlte sich eine kurze Weile integriert und Zuhause.
Erst auf dem Weg in der Dunkelheit allein zum Smaragdnatter durch das aufkommende Schneegestöber fand der Stein zurück auf ihr Herz, der da versteckt schon mehrere Jahre weilte, wenngleich er auch kleiner geworden war.
Phexdan süß… Zerwas ein Augenschmaus. Sie bemerkte das jeder mit dem sie über diese zwei Männer – ‚Vespers zwei Männer‘ – sprach, Zerwas als den Begehrenswerteren herausstellte. Und selbst wenn sie das vor Jahren ebenso emsig verteidigt hätte, so gab es mittlerweile eine kleine Stimme die flüsterte, sie solle eine neue Zeichnung von Phexdan festhalten. Ein Bild, das ihn so zeigte, wie er war: Zerwas ebenbürtig.
Gareth 6 (Salpico)
Es war mitten in der Nacht und seine Kerze war schon deutlich herunter gebrannt. Salpico aber war das gleich. Seine Laune war so gut wie schon lange nicht mehr. Die letzten Wochen hatten sein Leben in einer Weise verändert, dass es Hexerei sein musste. In Gedanken beglückwünschte er sich zu diesem gedachten Wortspiel. Immerhin war es tatsächlich das Auftauchen einer Hexe gewesen, dass die Dinge zum Besseren gewendet hatte.
Auf dem Tisch vor ihm lag eine Grundrisszeichnung, die nicht weniger als drei Stockwerke eines Hauses zeigte, das noch nicht existierte. Seines Hauses. Beglückt lehnte er sich nach hinten in die Bank des Schankraumes der Smaragdnatter zurück. Die Taverne hatte schon vor einer – oder zwei, so genau konnte er das nicht sagen – Stunden geschlossen und so war es totenstill im Schankraum, in dem die flackernde Kerze des Adepten die einzige Lichtquelle darstellte. Lamiadon, der langohrige Eigentümer des Etablissements war im Bett und auch Langbart – der Magus mit dem beschränkten Eigennamen – hatte sich brummelnd verabschiedet.
Die langen Finger Salpicos verschränkten sich hinter seinem Kopf und stützten ihn, während er an die Decke sah, die im Dunkel des Raumes zu verschwinden schien. Die drückende Dunkelheit des leeren Raumes scherte ihn nicht. Brabak hatte beim Austreiben irrationaler Ängste ganze Arbeit geleistet. Beinahe jedenfalls, wie er eingestehen musste. Seit seiner Zeit in den fensterlosen Gemäuern der Zitadelle der Toten begleitete ihn die Furcht davor allein zu sein, schlimmer noch, einsam zu sterben. Vergessen von der Welt, ehemaligen Freunden, seinen Eltern und sogar Boron selbst. Um dieser Angst zu begegnen hatte er sich in das ungeliebte Studium gekniet. Ein einsamer Tod – der Tod überhaupt – so hatte er angenommen, ließe sich durch die Herrschaft über den Untod und Dämonen sicherlich verhindern. Und auf die eine oder andere Weise stünde er mit diesen Künsten niemals allein, wenn auch seine Freunde nicht immer atmeten oder auch nur körperliche Gestalt besaßen.
Zwar hatte keiner seiner Studienzweige den entsprechenden Erfolg gebracht, aber dennoch waren sie keine Fehlschläge gewesen. Von den potenten Helfern und Schergen einmal abgesehen, die sich sowohl in denen fanden, die der Ruhe des Todes entrissen waren, als auch in jenen, deren Chaos man in geregelte Bahnen zwingen musste, waren es die Grundlagen der Zeit, des Zerfalls und der Magie an sich gewesen, die ihm wichtige Erkenntnisse über seine Ängste und die Lösung seiner ärgsten Probleme geliefert hatten. Auf dem Weg in die Welt hinein, war er dann auf Neferu getroffen, hatte sich wohl und geborgen gefühlt. Sie selbst hatte erst wenige Jahre zuvor erfahren, dass ihr Leben kein natürliches Ende nehmen würde – und das hatte ihm nicht nur einen Freund oder sogar eine Geliebte für die Ewigkeit direkt auf seine Schwelle gestellt, sondern ihm auch die Sicherheit gebracht, dass Unsterblichkeit zu erringen kein vergebliches Unterfangen war.
Eine Weile hatte er ihre Gesellschaft genossen, bis wenige Worte ihn der neu gewonnenen Wärme beraubt und ihn zurück in die schwarze Kälte der Einsamkeit getrieben hatten.
Trübe blinzelte er in das Zwielicht des Raumes und setzte sich wieder aufrecht an den Tisch, während er an die ersten Tage nach seiner Trennung von Neferu zurück dachte. Jetzt schien ihm alles zu einem einzigen Wirbel verschmolzen zu sein. Einer Abfolge von Handlungen und Erlebnissen, die mit dem Wort „Existieren“ besser beschrieben waren als mit dem Wort „Leben“. Er hatte versucht, sich von seinen Ängsten zu lösen, sich vor ihnen zu verstecken. Zuerst war er mit Raj gereist, nach Al’Anfa, eine Stadt, die er mochte und zugleich mit traditionsreichem Hass strafte. Dort waren viele Menschen gewesen, aber seine Einmischung in die Geschicke einer Grandenfamilie und der magischen Fakultät der Universaluniversität der Stadt hatten das Pflaster wärmer werden lassen, als ihm lieb war. Die Lösung war gewesen, sich von dem verbliebenen Begleiter zu trennen, dem der Geruch dieser Stadt anhaftete. Wieder war er geflohen, hatte irrsinniger Weise versucht sich vor der Einsamkeit zu verstecken, indem er seinen Kleidungsstil änderte und herumreiste. Als er Nacht für Nacht in seinen Herbergszimmern eingeholt und überrumpelt worden war, hatte seine geistige Gesundheit ernsthaft auf dem Spiel gestanden. In dem Versuch vor dem Ertrinken einen rettenden Ast zu fassen zu bekommen, hatte er seine Pläne verworfen und hatte den einzigen Ort angesteuert von dem er annahm, dass es wahrhaft unmöglich sei, dort jemals einsam zu sein: Gareth.
Die Stadt war kein Allheilmittel, das war ihm bewusst. Aber sie war laut, überfüllt und unruhig. Hier pulsierte das Leben und hier wohnte der Tod. Die Ankunft in der Smaragdnatter, einem Ort, an dem sich Wissen zwanglos traf, an dem man ansprechen konnte, wen man wollte und an dem Lamiadon auf ein langes, glückliches Leben zurückblickte, hatte den Nekromanten vom Abgrund zurück gerissen. Zwar hatte es immer noch schwer auf seinen Schultern gelastet, dass er keine Seele auf dem Derenrund seinen Freund nennen konnte, aber wenigstens war die nahende Katastrophe abgewendet worden und er fand in den lärmenden Abendstunden paradoxer Weise die Ruhe, die er dringend benötigt hatte.
Eines Abends dann, nach einem Gespräch mit Langbart, hatte er über seine Suppe gebeugt gesessen, als eine Stimme ihn hatte zusammen fahren lassen. „Salpico!“ hatte er verstanden und war fest davon überzeugt sich verhört zu haben. Außer Langbart hatte er kaum jemandem seinen wahren Namen verraten. Aus dem Schutz seines Eckplatzes heraus hatte er Neferu erspäht, war erschrocken und hatte erst einmal den Mut sammeln müssen, sich an sie zu wenden.
Seitdem war eine Woche vergangen. Neferu hatte ihm vergeben – wenn er sich auch noch immer nicht sicher war, warum oder ob diese Vergebung vollständig war – und ein Grundstück in der Weststadt geerbt. Ohne zu zögern, hatte die freigiebige Hexe ihm angeboten, zusammen mit ihr und ihrem – ja was eigentlich? Ihrem Geliebten? Ihrem Verlobten? Beiläufig kratzte er sich an der Braue und sah noch einmal auf die Zeichnung vor sich zurück. Ihrem Vampir, beschloss er dann. Sie hatte ihm angeboten mit ihr und ihrem Vampir zusammen auf diesem Grundstück zu leben. Mehr noch – nach den ersten Planungen hatte sich herausgestellt, dass Salpicos Haus wesentlich kleiner und damit günstiger werden würde, als das der Hexe und ihres Mannes. Deswegen hatten sie den Entschluss gefasst das Haus – sein Haus – zuerst zu errichten. Die finanziellen Mittel dafür waren vorhanden, das Grundstück auch.
Vergnügt strich er sich über den Bart. Er würde in weniger als einem Götterlauf ein Haus mit eigener Bibliothek und _Glasfenstern_ in der Weststadt Gareths besitzen. Einer Stadt, die sicherer kaum sein konnte und in der niemand einen Nekromanten vermutete. Und besser noch – Neferu hatte einen Bund aufgetan, der sich selbst ‚Zirkel der freien Wissenschaften‘ nannte. Ein loser Zusammenschluss grauer und schwarzer Magier, die ihren Forschungen dort weitestgehend ungestört von moralischen und juristischen Grenzen nachgehen konnten. Er saß mit Freunden und Verbündeten auf einem großen Grundstück in einer der teuersten Gegenden Gareths in seinem eigenen Haus, während eine Forschungseinrichtung mit geringen Einstiegsvoraussetzungen fußläufig zu erreichen war.
Ein weiterer Blick streifte den Grundriss, der vor ihm auf dem Tisch lag. Eine Sache gab es noch, die ihm Sorgen bereitete. Der Vampir und der Phexgeweihte waren sich Spinnefeind, weil sie beide hinter der anziehenden Hexe her waren. Aber obgleich davon auszugehen war, dass dieser Konflikt sich irgendwann sehr handfest äußern würde, war es nicht die vernichtende Gewalt karmaler und vampirischer Kräfte – Untote und Dämonen hatten sich im Laufe der Zeit als hervorragende Leibwächter herausgestellt – vor der er sich fürchtete. Viel eher plagte ihn die Sorge vor seiner Beziehung zur Hexe. Er liebte sie, ja. Und natürlich vermisste er es auch in ihren Leib eindringen zu dürfen, aber ihm war – wenigstens für den Moment – sehr wohl dort wo er war. Die vorsichtige Freundschaft, die zwischen ihnen aufkeimte war etwas, das ihm wichtiger war als jeder gehauchte Liebesschwur und jedes Stelldichein. Ein Mensch, der ihm nahe war, besaß mehr Wert, als das Magnum Opus der Nekromantie. Das war ein unumstößlicher Fakt. Aber – würde die Hexe das auch so sehen? Oder würde sie – ernüchtert von der fehlenden abgöttischen Verehrung, die sie gewohnt war – wieder Abstand von ihm nehmen? Ihn aus seinem Haus, aus der Stadt und zurück in die einzige Dunkelheit treiben, die er fürchtete?
Als er sich seiner Umgebung wieder bewusst wurde, stellte er fest, dass er an seinem Daumennagel kaute und einige Spähne davon auf dem Blatt verteilt hatte. Rasch fegte er sie mit der Handkante beiseite und sah wieder auf den Plan hinab. Vielleicht sollte er sich erklären. Reinen Tisch machen. Nichts war schlimmer als die Ungewissheit darüber, ob ein Unheil oder die Erleichterung vor der Tür stehen. Mit beiden Händen hob er das Pergament vom Tisch und nickte sich selbst zu. Er würde das Gespräch mit der jungen Hexe suchen, sobald ein wenig Ruhe in ihr Leben eingekehrt wäre. Bis dahin – wollte er sich über das freuen, was er im Augenblick hatte.
…und sich diesen Zirkel einmal näher ansehen.
Gareth 4 (Neferu) ( –––)
Kein Tag wie jeder andere.
Es war noch dunkel an diesem Firunsmorgen, als sie sich aus dem Herbergsbett erhob.
Sie hörte Schnarchen, konnte aber nicht ausmachen, ob Phexdan oder Salpico die Ursache war. Jedenfalls fiel Zerwas aufgrund mangelhafter Atmung aus.
Zu viert bewohnten sie dieses winzige Zimmer unter dem Dach der Smaragdnatter, das schwer nach Schlafenden roch. Was musste Zerwas tagtäglich unter all dieser Menschlichkeit in Form von Ausdünstungen leiden. Seine Sinne waren fein wie die eines Tieres.
Sie zog sich an. Bemüht leise, um niemanden unnötig zu wecken.
Zerwas regte sich – sicher war er lange wach, brauchte der Vampir doch nur in den seltensten Fällen überhaupt Schlaf.
Sie wandte den Kopf, sah zu ihm. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt.
„Soll ich mit dir gehen?“ Seine wohlklingende Stimme durchschnitt geflüstert die Stille.
Sie nickte ihm zu.
Draußen lag Raureif auf den Dächern und Straßen Gareths, verwandelte das Herbergsschild Smaragdnatter in ein künstlerisch kaltes Gebilde.
Sie hatte sich warm angezogen – das prachtvolle rote Kleid mit den Stickereien und goldenen Applikationen, dazu der lange passende Wintermantel und ihren blutfarbenen Lederumhang, gefüttert mit hellgrauem Fell.
Neferu schob die Hand in Zerwas‘ Armbeuge – Handschuhe hatte sie keine und ihre dünnen Finger fröstelten. Sie wusste, dass sie keine Wärme an dem Kind der Nacht würde finden können, aber immerhin an seinem wollenen Hemd. Es war weniger still in den Straßen, als man bei der Dunkelheit hätte annehmen können. Obwohl der Tag noch fern war, die Sonne noch tief hinter dem Osthorizont ruhte, war die Zeit keineswegs allzu früh für die arbeitende Bevölkerung.
Ihr Atem stieß in Dunstwolken in die Winterluft – der ihres Begleiters nicht. Er musste lange nicht mehr getrunken haben…
Sie hielten sich weniger lang in den Kaiserthermen auf als gewöhnlich. Die alten Herrschaften, die die gehobene Badeanstalt besuchten, hatten sich mittlerweile an das junge Paar gewöhnt, das in den letzten Tagen immer öfter ihr Badewasser heimsuchte. Es hatte sich wohl unter den Besuchern herumgesprochen, also blieb das neugierig-skeptische Starren wenigstens großteils aus.
Neferu war wesentlich schweigsamer diesen Morgen. Sie verfiel des Öfteren in ein zielloses Stieren und leckte in bissiger Nervosität an ihrer Unterlippe.
Sie musste sich ablenken, ihr Gemüt beruhigen. Dieser offizielle Gerichtstermin machte ihr mehr zu schaffen, als sie zuzugeben bereit war.
Sauber und mit zurechtgemachtem Haar hielt sie anschließend, noch immer am Arm ihres hochgewachsenen Begleiters, auf den Greifenplatz zu.
Neferus verqueres Gemüt forderte es nahezu, dass es ausgerechnet der Bannstrahler vor der Praiossakrale sein musste, den sie nach so etwas Banalem wie dem Weg fragte.
Das geheime Wissen, dass ein Erzvampir und eine Eigebürtige frei und unbelangt hingehen und ansprechen konnte, wen sie wollten, ohne erkannt zu werden, gab ihr ein tiefes, grimmiges Gefühl der Zufriedenheit. Der Bannstrahler – korrekt, deutlich und selbstverständlich im Namen des Götterfürsten grüßend, wies ihnen den Weg. Also drängten sie sich über den schon überlaufenen Eisenmarkt, an der Alten Residenz vorbei durch das Angbarer Tor in die Weststadt und von da aus zum nächstgelegenen Brunnenplatz.
Das Freigericht Weststadt solle sich im Magistratsgebäude befinden, erfuhr sie vor Ort. In dem enormen Bauwerk bosparanischen Stils, das den Platz mit seiner Größe und architektonischen Pracht schmückte.
„Willst du, dass ich mit reinkomme?“ Zerwas war sehr behutsam mit ihr diesen Morgen. Ob er ihr Unbehagen und ihre Furcht vor dem kommenden Prozess wittern konnte? Sie hatte seine animalische Seite gesehen und wusste, dass sie ein tiefsitzender, instinktiver Teil von ihm war.
„Einerseits ja, ich will dich immer dabei haben. Andererseits.. Du weißt, mir ist daran gelegen, dich zu beeindrucken..“, sie grinste versuchsweise, „Und vielleicht macht es mich noch nervöser, wenn ich weiß, deine Augen ruhen auf mir.“ Sie wollte ihn nicht verletzen, ihm nicht das Gefühl geben, unerwünscht zu sein. Dennoch hielt sie es in diesem ernsten Fall für notwendig, ihm die reine Wahrheit zu sagen. Sie wollte ihn beeindrucken und nicht vor ihm verlieren. Und sie hatte keine Ahnung, inwieweit eine Hoffnung auf den Gewinn des Prozesses angemessen war.
„Ich werde hier draußen auf dich warten.“ Er machte es ihr einfach. Diesem Mann wohnte tatsächlich in vielen Belangen die Geduld der Jahrhunderte inne. Nicht in allen, wohlgemerkt.. das wusste sie wohl.
Kaum hatte sie die marmorne Schwelle des Magistrats überschritten, war ihr, als schwebe sie durch einen unwirklichen Traum. Sie werde bereits erwartet, ihr Anwalt sei im Gerichtssaal. Das laute Echo von Schritten auf poliertem Steinboden – ihre eigenen Schritte. Kaum stand sie vor der richtigen Tür, stellte sie in Frage, wie sie sich geben sollte und vor allem, wie sie sich geben konnte. War es üblich, zu klopfen? Schon klopfte sie. Im selben Augenblick hielt sie ihr Tun für unpassend und eilig, den vermeintlichen Faux-Pas überdeckend, öffnete sie die schwere Eichentür unter schmiedeeisernem Geräusch.
Nicht nur ihr Anwalt, der blonde Bolatrius Groterian, genannt „die goldene Zunge“ war anwesend, auch drei Männer, die sich mit Akten beschäftigten und über den Plätzen der Gemeinen auf einer Kanzel thronten. Mittig ein älterer, fast als schluffig zu bezeichnender Mann in Richterornat, daneben jemand, der wie ein Praiospfaffe aussah. Auf der anderen Seite saß ein glatter Typ etwa Ende Zwanzig, der sie an einen Aal mit Scheitel erinnerte. Sein ganzes Gesicht wirkte wächsern und eingefroren, während er durch diverse Papiere blätterte. Außerdem einige Schaulustige auf den Bänken in hinterer Reihe.
Sie wurde nicht gegrüßt, außer von ihrem Advokaten.
Groterian hatte wie immer sein zuversichtlich-breites Lächeln auf dem perfekten Gesicht und erinnerte an einen Prinzen aus Mädchenträumereien. Sie mochte ihn nicht. Trotzdem war er der einzige, der ihr in diesem Augenblick helfen konnte. Er war ihr unliebsamer Verbündeter, ein Streiter des Geldes. Das Unbehagen, das er in ihr auslöste rührte nicht unbedingt von der Tatsache her, dass sie überzeugt war, alles an ihm was gut erschien, sei aufgesetzt. Nein, es war vielmehr, dass man es ihm in keinster Weise anmerkte, dass er ein Söldling in feinem Tuch war. Er war überzeugend, wirkte ehrlich und sein Lächeln schien echt. Ein Mann, dem man jedes Wort glauben wollte, ein Meister, die Massen um den Finger zu wickeln. Doch auch, wenn ihre Menschenkenntnis beinahe versagte und kein Anzeichen für ein Schauspiel zu erkennen war, war da dieses Unwohlsein. Und sie verließ sich auf ihr Gefühl.
Ein wahrlich gefährlicher Mann..
„Ihr wollt Euch sicher noch einmal mit mir beraten!“ Sein Lächeln traf sie und ihre Antwort war ein höfliches Bejahen.
„Wie läuft das Ganze nun eigentlich ab? Ich war noch nie in einem Gericht, müsst Ihr wissen.“ Sie fühlte sich wie ein ausgeliefertes Kind.
Er beschrieb ihr den Ablauf, empfahl auf eine Vereidigung durch den Praiosgeweihten zu bestehen. Außerdem kündigte er einen überraschenden Zeugen an, der das Blatt wohl zu ihren Gunsten würde wenden können.
Ein Zeuge? Wozu? Gedanklich machte sie ihrer Überforderung Luft.
„Und falls es hilft… Ich bin Heldin von Greifenfurt – wegen des Krieges.. und Heldin von Grangor – wir haben vor einigen Jahren einen Kult des Namenlosen aufgedeckt, der sich im Rahjatempel verborgen hatte. Dafür wurden wir Ehrenbürger… Und ich habe ein Waisenheim im Südquartier gestiftet! Das „Lowanger-Greiber-Waisenhaus“. Nur falls es hilft.. Außerdem habe ich für meinen Bürgerbrief ein Leumundsschreiben von Dexter Nemrod vorlegen können!“ Sie packte aus, versuchte all das zu sammeln, was sie im rechten Licht würde erscheinen lassen können.
Groterian stieß eifrige Worte der Zustimmung aus, während er sich die zu verwendenden Fakten notierte.
Ihre Aufmerksamkeit schnellte durch den Saal, als die Tür aufging und ein Mann in feinster Seide eintrat. Sogar seine Schnallenschuhe trugen Samtschleifen. Alles an ihm schrie Horasreich. Er zückte mit blasierter Miene sein Vinsalter Ei und besah sich den Zeitmesser auf eine aristokratisch ungeduldige Weise.
„Wer ist der Mann?“ tuschelte Neferu beunruhigt, die Hände bemüht vornehm im Schoß aufeinandergelegt.
„Der Stadtadvokat Swelin te Guden.“ erhielt sie leise Antwort. Groterian hob eine weiße Perücke auf seinen Blondschopf und richtete die falsche Mähne.
Ein überraschend ohrenbetäubender Laut flutete den Gerichtssaal.
Der unbegeistert und unbeeindruckt dreinschauende Richter erhob das Wort, das hölzerne Hämmerchen mit dem er sich Gehör verschaffte noch in der Rechten.
„Es scheinen alle anwesend… Ich bin Richter Kleehaus im Fall Banokborn gegen die Stadt Gareth. Ich erkläre die Verhandlung hiermit für eröffnet..“, seine monotone Stimme untermalte seine Mimik, „es geht um die Erbschaft auf der Nordlandbank, eine Summe von 3102 Dukaten.“
Der erste Zeuge wurde aufgerufen. Das war sie selber, wie Groterian entschieden hatte. Aufrecht schritt sie nach vorn.
„Hohes Gericht, ich will darum bitten, vereidigt zu werden.“ Sie kam auf den Rat ihres Anwalts zurück. Der Praiot wurde tätig. Sie stand unter Eid.
„Werte Herren des Gerichts. Hoher Richter Kleehaus…“, ein tiefes Durchatmen, dann begann sie ihren aussagenden Monolog, „Als meine Eltern starben war ich drei Jahre alt. Wir hatten ein Haus in Nardesheim und mein Vater war ein wohlbetuchter Handelsmann, der es mir in meiner frühen Kindheit an nichts fehlen ließ. Und sicher hätten meine Eltern mich nicht meinem Onkel anvertraut, wenn es eine Alternative gegeben hätte. Aber leider hatten meine Eltern keine weitere Verwandtschaft und so wurde ich als kleines Kind dem Bruder meines Vaters übergeben, Trakis Banokborn. Er war ein Trinker, der in Wallgraben lebte, ein Soldat. Als ich neun Jahre alt war, begann er sich an mir zu vergehen. Zu der Zeit waren es nur Berührungen.“ Sie machte eine kurze Atempause. Immerhin zitterte ihre Stimme nicht. „Als ich elf Jahre alt war und man die ersten Anzeichen eindeutiger Weiblichkeit an meinem Körper erkennen konnte, versuchte er mich zu ..schänden. Eines abends, als er betrunken war. Glücklicherweise bekam ich den Schürhaken des Kamins zu fassen und schlug auf ihn ein. Ein Treffer am Kopf tötete ihn. Ich war ein Kind und ich hatte Angst. Damals ging ich davon aus, man würde mich dafür hängen, dass ich meinen Onkel um sein Leben gebracht hatte. In der furchtsamen Naivität eines Kindes lief ich fort – tief ins Südquartier. Heute weiß ich, dass eine solche Tat in Notwehr keine Konsequenzen nach sich zieht.
Nachdem ich einige Jahre im Südquartier unter erbärmlichen Umständen existierte, ging ich nach Grangor, deckte dort einen Zirkel des Namenlosen auf, der den dortigen Rahjatempel infiltriert hatte. Ich wurde zum Dank Ehrenbürger der Stadt. Ähnliches passierte in Andergast und der dortigen Königsfamilie. Ich konnte ihnen einen großen Gefallen tun und erhielt ein best ausgebildetes Ross, das ich verkaufte und dafür das „Lowanger-Greiber“-Waisenhaus im Südquartier Gareths errichten ließ…-“
„Einspruch, Euer Ehren!“, mit vor Missgunst triefender Stimme meldete sich der Stadtadvokat zu Wort. „Die Anklägerin, die hier als tatsächliche Aggressorin auftritt, spricht schon lange nicht mehr von den Ereignissen, um die es hier geht. Sie lobpreist lediglich ihre eigenen Heldentaten..!“
Schnell schoss die Antwort aus ihrem Mund: „Ich dachte mir, es wäre vielleicht interessant zu wissen, was ich tat – was in der Zwischenzeit von meiner Kindheit hier in Gareth und meinem heutigen Hiersein die Zeit füllte und zum heutigen Erscheinen meinerseits führte..!“
Der Richter sah einen Augenblick unschlüssig zwischen den beiden gegnerischen Parteien hin und her, ehe er maulig seine Meinung verlauten ließ: „Nun.. Ich denke, dass Ihr fortfahren könnt, Fräulein Banokborn. Vielleicht.. Ja, vielleicht haben diese Ereignisse einen Einfluss auf den Prozess. Damit ist der Einspruch abgewiesen..“
Erleichterung fasste ihr Herz, ein tiefes Durchatmen dehnte ihre Brust, als sie erneut zum Sprechen ansetzte: „Auch als es zum Orkensturm kam, kehrte ich zurück in meine Heimatstadt Gareth. Ich wollte sie verteidigen, es nicht darauf ankommen lassen, dass die Schwarzpelze der Stadt und ihren Bewohnern würden schaden können. Also ging ich zur Armee. Ich kämpfte an der Seite unseres Prinzen Brin auf den Silkwiesen. Wir schlugen die Orken zurück. Ich war dabei als das standhafte Greifenfurt belagert wurde. Wir verteidigten und hielten die Stadt bis zuletzt. Ich wurde zur Heldin von Greifenfurt erklärt. Ich ging einige Jahre nach Trallop und lernte den herzoglichen Inquisitor Calfang Rodebrannt kennen. Wir wurden Freunde und sein Einfluss, die häufigen Gespräche mit ihm, bewogen mich dazu, endlich wieder dahin zurückkehren zu wollen, wo ich herkam. Ich wollte hier in Gareth sesshaft werden, vielleicht sogar das Handwerk meines Vaters wieder aufnehmen. So habe ich dank eines Leumundsschreibens von Dexter Nemrod -Ihr dürftet eine Abschrift von meinem Advokaten Groterian bekommen -ein Grundstück in der Weststadt erwerben können und hoffe das Stückchen Land wieder aufbauen zu können, denn das bisherige Haus wurde in einem Feuer zerstört. Mit dem Geld, das meiner Familie gehört, das mein Vater seinem Bruder vermachte, da ich, sein einziges Kind, noch nicht mündig war und das seit dem unberührt auf der Nordlandbank liegt, auch wenn es nur ein Bruchteil vom Vermögen meines Vaters darstellt, da sein eigener Bruder diese Erbschaft in kürzester Zeit zur Hälfte verhurte und versoff… Ich will wieder in Gareth leben mit der Erbschaft, die mir zusteht. Danke hohes Gericht.“
Sie nickte und strebte ihren Platz an.
„Weitere Zeugen?“ schallte es vom Podest durch den Saal.
„In der Tat! Ich lade vor – Lamiadon, der Vermieter der Klägerin.“ Mit einer weisenden Geste sah die Goldzunge zur Tür.
Und tatsächlich.. federnden Schrittes kam der Elf herein, der Neferu und ihren Begleitern seit vielen Tagen ein gemietetes Zimmer zur Verfügung stellte.
Sie war verwundert – was hatte Lamiadon hier zu suchen?
Gut gelaunt trat das Spitzohr vor den Richter und lobpreiste ausschweifend die Wahrhaftigkeit und Gutherzigkeit seiner Mieterin.
Ich stehe doch unter einem Eidsegen.. wie hätte ich lügen sollen, selbst wenn ich gewollt hätte?
Gleichmütig nickte der Richter ab, der den Eindruck machte, gedanklich schon bei seinem Mittagessen zu sein und die Prozedur nur schnellstmöglich hinter sich bringen wollte.
Nun war te Guden an der Reihe. Die Personifikation des arroganten Horasiers wies in einer feindlich anmutenden Darbietung darauf hin, dass noch die Klärung darüber ausstehe, ob die Klägerin vielleicht die Mörderin ihres Onkels sei. Er stellte ihre Notwehr in Frage, ebenso wie ihre Motive.
Nef wäre am liebsten aufgesprungen und hätte dem Mann einen deftigen Zauber vor den seidenen Latz geknallt. Der Mann ruinierte alles!
Ein Blick zu Groterian ließ sie ruhiger werden, denn der wirkte der Vorwürfe wegen kein bisschen aus der Fassung gebracht.
Auch sie lehnte sich zurück, grub die Fingernägel in die Handballen.
Te Gudens Hauptaugenmerk galt den Verjährungsfristen der Nordlandbank. Zwölf Jahre, dann ging ein Konto an die Stadt über. Er bekräftigte, die zwölf Jahre seien vorüber.
Neferu war sich selbst nicht sicher, ob es nun elfeinhalb oder zwölf waren, tatsächlich hatte sie bisher versäumt, sich ihre Geburtsurkunde und das Geburtsdatum anzusehen.
Der Stadtadvokat spickte seine Aussage mit zwei Zeugen, von denen mindestens der Erste nichts weiter zu sein schien, als eine bezahlte Sockenpuppe: Ein schmutziger Südquartierer, der sich sicher war, der Mord an Banokborn sei zwölf Jahre her und ein schon ernst zu nehmenderer Mann der Stadtwache, der ebenfalls mit großer Sicherheit in der Stimme bezeugte, man habe damals im Schnee vor dem Haus Fußspuren des Mädchens gefunden und das sei ganz sicher auch im Firun gewesen, also zwölf Jahre her. Verjährt.
Weitere Zeugen gab es keine.
Neferu verstand mitnichten, was diese Zeugenaussagen bewirken sollten, beließ es aber kommentarlos dabei.
Beweise wurden ausgepackt. Te Guden wedelte mit den Gesetzmäßigkeiten der Nordlandbank, während Groterian ihre Bürgerschaftsurkunde, das Tagebuch ihrer Mutter, ihr Geständnis zum Töten ihres Onkels der CriminalCammer, das Leumundsschreiben von Dexter Nemrod und auch den Vertrag über das Konto ihres Onkels mit der Bank auspackte.
Ausdruckslos besahen sich die drei auf hohem Posten all die Schriftstücke.
Neferu selbst fühlte für den Augenblick gar nichts. Ihre Gedanken durchdrangen die wertvollen Wandmaterialien, schwebten hinaus auf den Brunnenplatz und suchten die Nähe des Vampirs, der mit einem ruhigen, selbstbewussten Lächeln auf sie wartete und sie in die Arme nahm. Ihr war nach Nähe zu mute, hatte sie doch das Gefühl auf feindlichem Terrain verloren und von allen Seiten eingekreist zu sein.
Endplädoyers?
Siegesgewiss verneinte der Stadtadvokat und winkte herablassend ab.
Die Stunde von Bolatrius Groterian allerdings war gekommen. Er erhob sich mit fürstlicher Ausstrahlung, das morgendliche Sonnenlicht in seinem Rücken, das ihn wie eine glanzvolle Aureole umgab. Und er bewies, dass er seine 1.551 Dukaten wert war.
Er hielt eine Rede, die vor überzeugender, mitreißender Kraft strotzte. Alleine seine Rhetorik war von solcher Brillanz, dass Neferu kurz der Meinung war, er habe die rednerische Macht einen Zerwas dazu zu bewegen, ins Praiosnoviziat einzutreten.
Groterian fasste Neferus Leben zusammen, das Leben einer Frau, die von der Stadt im Stich gelassen worden war, als ihre Eltern starben. Eine Frau, die man ihrem Onkel überließ, der nicht ihr Vormund war, sondern ihr Peiniger. Eine Frau, die floh, aus Angst, die Stadt könne sie für ihr richtiges und notwendiges Verhalten abstrafen. Und eine Frau, die eben zu jener Stadt zurückkehrte, jederzeit ihr Leben für sie zu geben. Die sogar in der Heimatregion des Gegensprechers als Heldin gefeiert wird.
Und zuletzt, als finalen Akt konterte er den Stadtadvokaten vernichtend, indem er den Richter bat einen kleingedruckten Absatz aus den Verträgen der Nordlandbank vorzulesen.
Mürrisch folgte Kleefeld und trug laut vor, dass der Ablauf der zwölf Jahre, die zur Verjährung notwendig sind mit dem Ende eines Jahres beginnen und eben nicht mit dem Tod des Kontoeigentümers!
„Und so.. läuft die Frist Ende Rahja ab und eben nicht im Firun!“ schloss Groterian kraftvoll und schlug entschieden, aber nicht aggressiv seine Mappe zu.
„Damit klagt meine Mandantin fristgerecht das Erbe ihrer Familie ein, das ihr ohnehin von vornherein zustand!“
Die drei von der Empore zogen sich zu einer Beratung zurück, die wenige Minuten dauerte.
Neferu Banokborn sollte die 3102 Dukaten ihrer Familie erhalten.
„Und jetzt gehe ich Mittagessen…“ murmelte der Richter.
Von den 3102 Dukaten blieben ihr immerhin 1551, nachdem Groterian abbezahlt worden war. Der wedelte nach kürzester Zeit mit seinem Formular der Anwaltskosten. Erschreckenderweise tat er sogar das charmant und keineswegs impertinent.
Noch heute wollte sie diese Schuld begleichen.
…Zerwas wartete am Brunnen, genau wie es ihre Gedankenwelt versprochen hatte.
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