Neferu

Gareth 17 (Neferu) (TSA 1013)

Neferu saß am Tisch in der Dachkammer in Rosskuppel und brütete über der Karte aus Störrebrandts Archiv. Es war noch früh, gleißend drang die Morgensonne des Wintertages durch das spröde gewordene Fensterglas.
Den Kopf in die Hand gestützt, fuhr sie mit dem Finger die Schlangenlinien nach, die die gemalten Fuchsfährten ergaben, wilde Wege, ein ganzes Labyrinth. Bisher war sie noch nicht hinter das Geheimnis des Rätsels gekommen. Allerdings war sie überzeugt davon, dass sich ein Sinn ergäbe, sobald sie einen der symbolisch bezeichneten Orte gefunden hatte.
Waren die drei abgebildeten Häuser mit dem Fuchskopf der Anfang der Schnitzeljagd oder das Ziel? Sie sahen garethisch aus, waren mehrstöckig und von Fachwerk durchzogen.. Vielleicht fand sie jemanden, der die Konstellation der Gebäude wiedererkennen würde. Sie atmete durch und betrachtete erneut die Ortsymbolik… Ein mächtiger Baum mit stattlicher Krone.. ein zweiter Baum, tot – rußgeschwärzt? Ein Fels wie ein Finger in den Himmel zeigend, ein Weiher im Wald, ein Boronsanger mit verwitterten Steinen, der Schädel eines Raubtieres, das sie nicht einordnen konnte – ein Bär vielleicht? – Schwarz gepunkteter Boden.. möglicherweise schwarze Kiesel… dann eine Hütte aus Knochen, ein Fluss mit drei markanten Felsen und zuletzt ein Pentagramm aus Steinen. Unter allem prangten die drei mehrstöckigen Fachwerkhäuser, hinter ihnen aufragende Bäume. Ein Fuchskopf markierte einen schmalen Durchgang, der die Mauern zweier Häuser trennte.
Unter den Zeichnungen waren je ein überraschter oder grimmiger Totenkopf gemalt, sowie direkt darunter ein Pfeil, der in die eine oder andere Richtung zeigte.
Die Bedeutung der Köpfe erschien ihr leicht – sie nahm sich vor, der Richtungsangabe der grantigen Schädels zu trotzen und sich an den mit ihnen markierten Orten für die gegensätzliche Richtung zu entscheiden.
Aber erstmal die Orte finden, das war leichter gedacht als getan.
Sie faltete das Pergament, steckte es sorgsam in ihre rote Umhängetasche.
Ihr Blick fiel auf die Holzkiste, die mit Erde gefüllt unter dem Fenster stand. Zerwas hatte ihr die Erde besorgt. Sie hätte den gefrorenen Boden sicher nicht herausbrechen können.
Ein beklemmendes Gefühl drückte ihren Hals. Sie hatte den Efeu und die Brunnenkresse von Phexdan eingepflanzt. Sie hatte den Wunsch geäußert, die Pflänzchen nicht absterben zu lassen, hatten sie sich doch bis hierhin gegen den Winter behauptet. Und Nef hatte schon immer eine Schwäche für schwache, benachteiligte Wesen, die sich trotz aller Widrigkeiten durchbissen.
Also war Zerwas ihrer Bitte nachgekommen und hatte ihr den nötigen Grund für die kleinen Wurzeln besorgt, ungeachtet der Tatsache, dass sie Geschenke von Phexdan gewesen waren.

Schnell erhob sie sich, um nicht weiter über diese schräge Dreiecksbeziehung, die da unausgesprochen in der Luft hing, nachzudenken.
Phexdan war Vergangenheit. Zerwas war ihre Zukunft. Nur so machte es Sinn, nur so war es richtig. Die Unsterblichen gehörten zusammen und der Sterbliche würde irgendwann gehen, so furchtbar es auch war. Sie nickte heftig, als ob irgendjemand in der Kammer gewesen wäre, den sie hätte überzeugen müssen. Aber sie war allein.

~

Es dauerte nicht einmal bis zum Mittag, dann hatte sie die drei Häuser gefunden.
Sie hatte sie von der Karte abgezeichnet und einem halben Dutzend Leute gezeigt, ehe ihr überraschenderweise der scharfäugige Wächter der Nordlandbank sagen konnte, dass diese Häuser aussahen wie solche, die er vom Hexenkessel kannte.
„Hexenkessel…?“ Hatte sie nur des Klanges wegen – fast schon zu belustigt – gefragt, als ihr zeitgleich selbst eingefallen war, dass sich hinter dem Namen eine Häuseransammlung in der Südstadt verbarg – nahe der Brache. Die Brache.. Die obskuren Symbole auf der Karte hatten in ihr schon am Morgen die Ahnung heraufbeschworen, dass soviel Unheimlichkeit und soviel Wald auf einmal eigentlich nur die Dämonenbrache meinen konnte. Sie hatte die scheußliche Vorstellung, durch das verfluchte Holz stiefeln zu müssen beim Frühstück beiseite geschoben.
Doch jetzt… Sie sah auf zu den blätternden Fassaden der drei Häuser und wieder hinab zu dem Rätsel in ihrer Hand. Das waren sie ganz gewiss.
Und die Bäumchen hinter der Zeichnung, die ihr vor Stunden noch so harmlos vorgekommen waren, entpuppten sich zu ihrem Unglück als der Waldrand in den verfluchten Forst..

~

Stunden später lief die Frau mit dem roten, fellbesetzten Umhang keuchend durch das Schneegestöber Alt-Gareths. Gehetzt blickte sie sich um, während ihr Atem die weißen Wolken zeigte, wenn Hitze auf Kälte traf. Vor die morgens noch starke Sonne hatte sich unterdessen eine schlierig helle Wand geschoben, die alles verbarg, was Himmel war. Firun zeigte sein Wirken.
Ich bin unschuldig… flüsterte die dunkle Stimme direkt in ihrem Kopf.
Unruhig ruckte ihr Blick umher, die Augen waren gerötet, denn sie schloss sie zu selten.

Sie hatte etwas mitgebracht. Aus der Brache. Wie viele Stunden war sie dort gewesen? Nicht lange.. Es konnte noch nicht weit nach Mittag sein.. Menschen kamen ihr entgegen. Doch dieses Mal nahm sie den steten Strom, der durch Gareth wallte, viel intensiver wahr. Ihr war heiß. Sie spürte wie sie nass unter den Armen schwitzte.
Hatte sie eine Zeitreise gemacht? War das noch das Gareth, das sie kannte? Sie fühlte sich ausgebrannt, jeder Muskel zog, das Skelett in ihrem Leib schien verdreht schmerzend.
Die Menschen starrten sie an, mit gestreng-vernichtendem Blick, mit Beurteilung und mit Augen die sagten du bist schuldig.
Zumindest glaubte sie das, als sie sich ungelenk strauchelnd durch die Massen bewegte. Nur wenige blickten ihr teilnahmslos nach. Die Garether waren es gewohnt zu jeder Tageszeit Betrunkene und Wirrköpfe zu sehen. Das brachte eine Metropole mit sich. So erhielt die Rote höchstens hier einen mitleidigen, da einen desinteressierten und von den jüngeren der Bauern, Händler, Bürger und Besucher vielleicht doch einen neugierigen oder spottenden Blick. Eine Aufmerksamkeit, die darauf abzielte, etwas zu sehen, dass besonders war, damit man morgen etwas spannendes zu erzählen hatte.
Niemand hielt sie auf – kein Büttel, kein Praiosdiener.
Ich bin unschuldig…! säuselte es in ihrem Kopf und sie meinte aus dem Augenwinkel zwischen dem Fluss der Leute eine dunkle Person mit strähnigem Haar zu sehen, die fort war, als sie genauer hinsah.

„Salpico!“ Neferu stürzte mit letzter Kraft an Frau Ahlemeyer vorbei, die ihr verdutzt hinterherblickte. Als die Vermieterin den Mund aufmachen wollte, war die Tulamidin mit den exotischen Zöpfen bereits die Treppe herauf gelaufen. Wenn Frau Ahlemeyer noch Frau Ahlemeyer war.. dann war mit der Zeit alles in Ordnung.
Der Magier war tatsächlich in seiner Kammer und mit gehobenen schwarzen Brauen, ließ er Neferu ein, die ganz entgegen ihrer alltäglichen Gewohnheiten alles andere als gefasst aussah.
„Alles in Ordnung? Du siehst aus als…“
„Ich war in der Brache!“ Sie wedelte mit einem Pergament vor seiner Nase herum. Sah aus wie ein Labyrinthrätsel mit einigen Zeichnungen darauf.
Die Mine des Brabakers zeigte alles andere als Begeisterung, er sah sie lediglich an. Ganz so, als erwarte er, dass sie jeden Augenblick mit einem erklärenden Monolog beginnen würde.
„Da war der Baum! Der Zerstörte von der Karte! Ich habe ihn gefunden, sehr bald sogar. Er war gar nicht weit entfernt vom Zugang..“ sie tippte auf unsicheren Knien schwankend auf das aufgemalte Rätsel. Salpico nahm sie bei den Schultern und setzte sie schweigend auf einen Stuhl. Es war leider ganz und gar nicht ungewöhnlich, dass Menschen die Gefahr von Dämonen, Geistern und wirklich verfluchten Orten (nicht diesen vollkommen ungefährlichen Tempelruinen, die einer schlechten Wirtschaftslage und dem Horn Satinavs zu verdanken waren) deutlich unterschätzten.
„Es gab zwei Wege.. der eine schmal und düster, er führte durch ein Moor. Mir wurde mulmig und ich machte mich lieber vom Acker, obwohl der Totenkopf eigentlich nicht grimmig dreinglotzte, der auf dem Papier und es der richtige Weg hätte sein müssen… so im nachhinein war er das sicher auch! Denn der breitere Weg führte in einen Wald, zu einer alten Zollstation. Auf dem Weg dahin hörte ich es in den Wipfeln flüstern, denn es ist kein Winter in der Brache. Nicht wirklich! Es gibt noch Bäume, belaubte Bäume.. und da hing etwas im Baum, aber ich sah nicht hin. Das Flüstern wurde deutlicher, es war ein Mann..! Er sprach ‚Ich bin unschuldig.‘.. Immer wieder! Und auf der Lichtung bei dem zerfallenen Gebäude der Station dann…kam der andere, durchscheinende Kerl mit dem Tellerhelm und er… er verzog sein Gesicht! Als.. würde er mich verschlingen wollen und als ich wieder die Augen aufmachte, war die Zollstation in gutem Schuss, es war Licht darin und von draußen konnte man die Silhouetten feiernder Menschen erkennen.“
Sie holte pustend Luft.
Salpico nickte langsam, da war er gewesen, der Redeschwall.
Auch wenn er kein Meister darin war, die Gefühlsregungen anderer korrekt einzuschätzen, so war er sich sehr sicher, dass Nef aufgebracht war. Und dass sie in der Brache Kontakt zu einem Geist oder Dämon gehabt hatte.
„Ich hör dir zu, was ist dann passiert?“ gab er ermunternd von sich und zwang sich zu einem pädagogischen Lächeln, das sie beruhigen sollte.
Ihre Wangen hatten wieder ein bisschen Farbe bekommen und sie bestätigte schwer nickend seine Aufforderung.
„Gut.. oder auch nicht.. Ich bin dann.. in diesem … Traum herumgelaufen. Er schien wie die Vergangenheit. 932 nach Bosparans Fall, konnte ich auf einem Stein lesen. Ich konnte sogar mit den Männern in der Station sprechen, Pico! Dieser Gehängte im Baum…Sie erzählten mir, er war am Strang gestorben, ein Kinderschänder! Und dann kam er plötzlich zurück.. Als Untoter! Ins Zollhaus. Und tötete da alle! Als ich wieder zu mir kam und Satinav die Zeit wieder so geregelt hatte, wie sie gehörte, sah ich die Reste der Leichen im Haus. Und mit Blut stand an die bleichen Bretter geschrieben ‚unschuldig‘! Und ich glaube… ich habe ihn mitgebracht! Ich höre ihn auch hier!“ Sie endete leiser, drückte die Lippen aufeinander und starrte Salpico an wie ein Patient, der auf das Urteil des Heilers wartete.
Salpico nickte stoisch.
„Tödliche Unschuld.“ diagnostizierte er mit Kennermine. „Sie sind überzeugt davon, eine Tat, die sie aus dem Diesseits befördert hat, nicht begangen zu haben. Doch das haben sie! Obwohl ich noch nie mit einer gesprochen habe, nehme ich an, dass das so ähnlich wie das Verdrängen bei uns Menschen ist. Der lebende Mensch tut etwas ganz Furchtbares, das eigentlich sogar gegen seine eigenen Grundsätze verstößt und verstirbt kurz darauf, noch während er mit seinem schlechten Gewissen hadert. Kommt zu diesem Hadern noch der Schock eines gewaltsamen Todes, so kann es passieren, dass die Seele keine Ruhe findet und nicht in Borons Hallen eingeht. Sie bleibt dann in der Nähe des Todes- oder Tatortes und versucht durch die Übernahme Lebender seinen Namen reinzuwaschen oder zumindest jene über das Nirgendmeer zu befördern, die seiner Ansicht nach seinen Tod herbeigeführt haben.“
Einen Augenblick schwieg er nachdenklich und ließ seinen Blick aus dem Fenster schweifen, während er seinen Bart kraulte. „Seltsam eigentlich. Ich lese selten von Erwachsenen die das betrifft. Oft sind es eher junge Menschen, die aus Versehen jemanden getötet haben, ein Geschwisterteil das andere vielleicht, oder…“, mit einem Blick in das Gesicht der jungen Hexe brach er ab. Sie hatte wieder an Farbe verloren und starrte ihn mit weit offenen Augen an, ein irgendwie konzentrierter Blick, als würde sie jemandem oder etwas lauschen.
Irgendwo im hintersten Winkel seines Bewusstseins manifestierte sich die Vermutung, dass Nef größere Probleme hatte als seinem akademischem Fachwissen zu lauschen. Sicher war es besser, wenn er die Angelegenheit schlicht auf den Punkt brachte.
„Ich schätze… du bist besessen. Noch ist das nicht weiter schlimm. Die tödliche Unschuld ist eher schwach wenn es darum geht, einen wachen Geist zu übernehmen. Das funktioniert nur bei hirnamputierten Söhnen der Dummheit. Bei dir muss die Unschuld warten, bis du einschläfst, ehe sie mit ihrem Rachefeldzug beginnen kann.“, er setzte ein zufriedenes Lächeln auf und nickte zuversichtlich – was Neferus Gesicht seltsamerweise nicht entspannen konnte.
Einen Augenblick schwieg er verdutzt, ehe er anfügte:“Ich brauche nur ein paar Kleinigkeiten, dann angeln wir diesen Parasiten wieder aus dir heraus und stopfen ihn dorthin zurück, wo er hingehört. Die Brache. Ich bin gleich zurück!“

~

Die Prozedur war weniger schlimm als angenommen.
Tatsächlich hatte die tödliche Unschuld von ihr Besitz ergriffen, sich wie eine Made in den Apfel, in ihren empfänglichen Geist eingenistet. Während ihr kaum mehr zu tun blieb, als auf einem Schemel in Salpicos ‚Arbeitsraum‘ sitzen zu bleiben, hatte dieser sich ungewohnt eifrig und fachkundig daran gemacht, ihre Sitzgelegenheit mit aus Kreidestaub bestehenden Kreisen, Mustern und Glyphen zu umgeben. War das tulamidisch?
„Ein Bannkreis, zwei Schutzkreise.“ dozierte er dabei, ehe er ein recht schlichtes, irgendwie altertümlich wirkendes Kurzschwert offenbarte. Es sah zugegeben ein wenig amüsant aus – wie ein Hund, dessen Nase an einer Fährte klebte -, wie der Schwarzmagier auf dem Boden umher kroch, die Linien peinlich genau prüfte und dann das Schwert – scheinbar recht willkürlich – dazwischen legte, ehe er einige klischeehafte, schwarze Kerzen anzündete.
Bald darauf stand Salpico in einem der Kreise und begann seinen Körper, begleitet von einem seltsam nichtmenschlich anmutenden Singsang hin und her zu biegen. Der Geist der Hexe umwölkte sich, als die Magie des Mannes nach ihm Griff – und als die Schleier sich hoben, blieb nur die Erinnerung an das Gefühl eines unbestimmten Ringens, eines Reißens und Windens, eines kurzen aber heftigen Kampfes. Die Erinnerung daran, dass die Made mit einem unangenehmen Ruck aus dem Apfel entfernt worden war.

~

Keine gute Idee, alleine und unvorbereitet nur mal gucken zu wollen, was denn in der Brache so los war. Sie schalt sich innerlich. Kaum zu glauben, dass sie eine Geweihte des Listenreichen war. So überstürzt wie sie dem Rätselchen nachgejagt war, ganz egal, wohin es sie führte, fühlte sie sich eher wie ein Köter, dem sein Stöckchen in einen unbekannten Wald geschleudert worden war. Doch selbst der Vierbeiner wäre zu schlau gewesen, dieses Stöckchen aus dem dürren Gras der Brache zu zupfen..
Sie schlug sich mehrfach die Handballen gegen die Stirn. Bei allen Dämonen, wie hatte sie nur so stumpfsinnig sein können. Sie füllte ihre Brust mit Luft und hielt sie kurz an.
Erst nachdenken, erst ein Plan. Oder zumindest eine passable Vorbereitung.
Die Brache… was wusste sie darüber?
Ihr Blick schnellte zu Salpico, der wieder am Schreibtisch des Zimmerchens saß und geistesabwesend über einem Buch brütete.
Sie hatte sein Bett zum Meditieren annektiert und saß im Schneidersitz darauf.
„Picchen? Was kannst du mir über die Brache erzählen?“
„Nicht viel, sie ist alt – der Rest einer Dämonenschlacht. Es gibt Geister und Dämonen dort. …und man sollte nicht unvorbereitet hineinspazieren.“ schnarrte der Tulamide, ohne dass er aufsah.
Nef runzelte missfällig die Stirn, die dichten Brauen sanken tief über ihre Mandelaugen.
„Danke,“ murrte ihre tiefe Stimme, „das ist nicht viel.“. Sie rutschte vom Bett, schlüpfte in die Stiefel, „Ich höre mich um.“
An der Tür hielt sie noch einmal inne.
„Wenn ich das nächste Mal – vorbereitet – in die Brache gehe… begleitest du mich?“
Nun hob er endlich den Kopf, sah sie mit seinen seltsamen Augen an, deren Iris komplett schwarz war, als hätte man ihm zwei finstere Perlen in die Glaskörper gedrückt.
„Sicher.“

~

Solange sie sich mit dem Brachenrätsel befasste, mussten alle anderen Baustellen auf ihrer langen Liste von nötigen Handgriffen für ein passendes Leben in Gareth, ruhen.
So kratzte es ihren Stolz auch kaum, dass diese Oberhexe, die im Levthans Horn unter der Obhut eines Angroschim arbeitete, sie seit Tagen ignorierte. Trotz dem sie zwischendurch sogar da gewesen war und nach ihr gefragt hatte, höchstpersönlich! Beim Schlendern durch das heruntergekommene Südquartier fragte sich Neferu, ob es so unüblich in Gareth war, dass diejenigen, die ihre Magie mittels der Erdnähe kanalisierten, sich untereinander bekannt machten. Wie konnte so überhaupt ein Garether Zirkel bestehen?
Sie kuschelte sich in ihren Umhang. Die Flocken, die dick aus den Wolken stoben, wie Federn aus einem zu kräftig geschüttelten Kissen, legten sich sachte auf ihren dunklen Kopf, wie ein flauschiges Eismützchen.
„Da bist du..“ Die tiefe Stimme des Dunkelhaarigen durchschnitt die wattige Stille, die die Laute dämpfte. Zerwas‘ Schritte knirschten, als er über den frischgefallenen Schnee ging.
Er hatte seinen Dienst auf dem Hof wohl zu Ende gebracht, so kurz vor der Abenddämmerung. Sie war ehrlich froh, ihn zu sehen. Der Schock über die Besessenheit saß ihr noch tief in den Gliedern. Mit geneigtem Kopf ging sie ihm die letzten Schritte entgegen und umarmte ihn fest. Zuerst überrascht, dann sanft, nahm er sie an sich.

~

Eine Dämonenschlacht vor einem Jahrtausend, die so übel ausgegangen war, dass das Echo der vor achtzig Jahren am Rand der Brache befindlichen Zollstation noch immer hallte. Damals am Rand der Brache, jetzt darin. Der verfluchte Wald breitete sich aus, immer weiter, Jahr für Jahr. Sie musste furchtbar aufpassen, auch wenn Salpico und Zerwas sie begleiten wollten.
Ein Artefakt gegen Besessenheit in kurzer Zeit aufzutreiben, gestaltete sich als unmöglich. Weder die Schwarzmagier aus dem Südquartier – genannt der Zirkel der freien Wissenschaften – noch der stadtbekannte Artefakturmeister Erpelgrieb, bei dem Salpico eine Art Lehre anfangen wollte, konnten ihr helfen.
Sie kleidete sich in ihre Tuchrüstung, denn das erschien ihr angesichts der Sumpflöcher der Brache als besser. Sollte sie fallen… in einen dieser morastigen Weiher, konnte ihr zuviel des Guten schnell den Tod bringen.
Sie teilten sich auf. Zerwas besorgte Steinsalz, einem alten Aberglauben folgend. Und sie ließ ihre Waffe gegen einen Obolus von zwei Dukaten segnen.
Sie griff nach jedem Halm.
Die grauen Wolken des jungen Abends verpackten den Himmel dick, als befände sich in Alveran eine trübe Suppe, die bis in die Sphäre der Menschen vordrang.
Neferu forschte explizit nach jemandem, der sich in der Brache auskannte.
Im Südquartier hörte sie sich um, denn sie wusste, dass die Ohren und Augen dort nie verschlossen waren.
Sie fand die brauchbare Auskunft: Phygius II. war der Name des Mannes, der einmal die Woche, immer Rondratags, abwechselnd in zwei Gasthäusern am Rande des Quartiers speiste.
Als verschroben galt er und sehr gepflegt, aber was kümmerte sie das, solange sie ihn dazu bringen konnte, ihr zu helfen.
Seine Stammtavernen waren ‚Lieblicher Yaquir‘ und ‚Almada-Stube‘. Es war nur eine Theorie, aber es deutete doch alles darauf hin, dass dieser Phygius ursprünglich Almadaner war.
Die Wirtin der ‚Almada-Stube‘ schwor sogar, dass der seltsame Brachenspezialist in dem pervertierten Wald leben sollte. Wahrlich leben!

Bis zum Rondratag waren es noch zwei Tage…

Gareth 16 (Neferu) (TSA 1013)

Nur noch drei weitere, sich immer aufs Neue wiederholende, endlose Tage!
Es war nicht so, dass sie und Phexdan die Zeit ungenutzt ließen. Neben all dem Düngen und Jäten blieben zum Abend und an einigen Tagen auch zwischendurch einige Stunden zur freien Verfügung und in dieser Zeit fokussierten sich die beiden Phexgetreuen auf den grauen Herrn. Sie beteten und meditierten, übten sich im Wortgefecht und vor allem lachten sie viel. Er sprach über die Liturgie der Seelenprüfung. Einmal war da dieser braungebrannte Perainegeweihte gewesen, gerade als sie eine weitere Lektion in Sachen kluges Verstecken und Ausnutzen der Schatten hinter sich gebracht hatten. Unweigerlich ein Fremder, der sich umsah wie nur Fremde es tun, die zum ersten Mal oder nach langer Zeit erstmals wieder einen Ort aufsuchten. Er badete im heilsamen Rundbecken, einem kleinen Bassin im Tempel, dessen Wasser durchsetzt war von Salzen aus dem Berg und allerhand anderem gesundheitsfördernden Pülverchen, die Nef nicht kannte. Der fremde Geweihte – und er war unweigerlich ein Geweihter, lag doch ganz in seiner Nähe die typische grüne Kutte – planschte also und wusch sich, während Neferu sich den Scherz erlaubte, ihn vom Rand aus nasszuspritzen, ohne dass der Badende den Verursacher des plötzlichen Schwalls Wasser hatte ausmachen können.
Es steckte auch ein beträchtliches Stückchen Schalk in Phex und seinen Jüngern…

Zu behaupten, dass Neferu in diesen zwölf Tagen litt, wäre übertrieben gewesen. Allerdings stellte sie selbst fest, dass ihr die wenig freiheitlichen Aktivitäten im Peraine-Tempel unter den Nägeln brannten, sie unruhig machten, obwohl das Haus der Göttin von Ackerbau und Heilkunst ein Ort der Ruhe und Geborgenheit war, zweifellos.
Doch wie ein kätzischer Straßenstreuner brauchte sie die Möglichkeit, ganz wie es ihr beliebte, mal hierhin und mal dorthin zu stromern. … Und das blieb aus. Also wälzte sie sich schlaflos herum, so energisch, dass sie sogar Phexdan weckte. Trotz dem sie wunderbar umsorgt wurde, war Neferus Laune daher nicht die Beste. Und gerade der Maraskaner wurde Zeuge davon, wenn sie wiedereinmal kratzbürstig bis zum Jähzorn neigend, seine Zuneigung abwies. Er war davon überzeugt gewesen, seine Nef in der Zeit des gemeinsamen Einsitzens im Tempel in kürzester Zeit mit Pauken und Trompeten wieder erobern zu können. Enttäuscht war er trotzdem nicht. Phexdan war nicht der Typ für Enttäuschung, lieferte Phex ihm schließlich diese grandiose Herausforderung. Nicht, dass Nef für ihn nur eine Herausforderung gewesen wäre… Aber dass die unausgeglichene Hexe ihren Launen ausgeliefert alles andere als leicht und langfristig von etwas völlig überzeugt und eingenommen war, stellte einen Nebeneffekt dar, der ihn nicht abschrecken konnte. Trotzdem.. sie zog sich im Laufe ihrer beider Gefangenschaft eher zurück, als dass sie ihm entgegen kam. Den Grund dafür kannte er nicht, so oft er auch versuchte in ihren dunklen Kopf zu gucken, sobald sie neben ihm stand.

Als der friedliche Trott des Tempels, die Ölungen und all das Blumenumsorgen sein Ende fand, spürte Neferu das Gefühl puren Glücks.
Es war der dritte Tsa im Jahre 1013, als Neferu von Rohalides und seiner herbschönen Dimione schon in den frühesten Morgenstunden in die Freiheit entlassen wurde. Es hatte draußen endlich geschneit und die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen.
Rohalides legte den Arm um die Schulter seiner Frau, als er dem seltsamen Gast in Rot nachsah, der durch den Schnee lief wie ein junger, verspielter Hund und den fröstelnden Dunkelhaarigen mit dem Rabennestkopf mit Schneebällen drangsalierte. Der Zyklopäer war ein friedfertiger Kerl, immer gutmütig und geduldig. Aber selbst in ihm gab ein heimliches Stimmchen zu, dass er froh war, die zwei Rabauken, die zweifellos dem heitersten der Zwölfe angehörten, los zu sein.. Immerhin fünf Dukaten hatte die rote Frau gespendet.

~

Zerwas hatte nur für sie beide zwei Zimmer in Rosskuppel gemietet, eine winzige Wohnung im ersten Stock eines niedrigen Bauernhauses auf dessen Reetdach nun der Schnee lag. Die Bauern mit Namen Nella und Storko, gute Garether Landwirte mit einem kleinen Jungen waren schlichte, herzliche Leute, die sich ihr Misstrauen dem blassen Schwarzhaarigen mit dem aristokratischen Gesicht gegenüber nicht anmerken ließen. Höfliche Leute eben, die froh waren, ein zusätzliches Entgelt für den ausgebauten Dachboden zu bekommen und die sich einredeten, schon sehr viel seltsamere Gäste untergebracht zu haben. So ignorierten sie, dass der Herr mit dem Haar einer aranischen Tänzerin stets das Essen verschmähte und immer auswärts zu speisen schien. Er war eben ein feiner Herr, nickten sie verständnisvoll und sagten auch nichts zu den nächtlichen Schritten auf dem knarrenden Holz. Denn Schlaf schien ihr neuer Mieter ebenfalls nicht zu finden – wie sie diesen armen Menschen doch bedauern mussten!

Salpico hingegen war bei einer Sattlerin untergekommen, deren schmales, aber sehr hohes Häuschen im Arenaviertel seinen Platz hatte, eingepfercht in eine Reihe anderer Häuser ähnlicher Bauart. Frau Ahlemeyer hieß die gute Vermieterin, eine früh gealterte Witwe in den Vierzigern, die immer wieder von ihren zwei Söhnen sprach, die sicher irgendwann zu ihr nach Hause kommen würden. Fragte man nach, so hörte man heraus, dass die beiden in die Orkenkriege ausgezogen und nicht wiedergekommen waren… Aber bald, ja bald, wären die Burschen wieder zuhause! – wurde Frau Ahlemeyer nicht müde zu beteuern und lieferte gleich noch eine Beschreibung der Buben, falls die Herrschaften sie einmal zu Gesicht bekommen sollten.
Salpico lächelte verkniffen und kramte mühevoll die Details dessen, was er an sozialen Fertigkeiten aufgeschnappt hatte aus den staubigsten Nischen seines Verstandes. Die beiden Sprösslinge seiner naiven – oder vielleicht geistig am Schicksal ihrer Familie zerbrochenen – Vermieterin waren sicher quicklebendig wie ein Wiesel. Ein altes Wiesel mit Rheuma und Hüftleiden. Blind und vor zwei Wochen von einem Rübenkarren überrollt. Anders ausgedrückt: Sie waren ohne jeden Zweifel so tot wie zahllose junge Männer und Frauen, die in den Krieg gingen und nicht zu ihren Familien zurückkehrten. Aber obwohl Salpico bewusst war, dass die Dunkle Halle der Geister seine sozialen Talente unweigerlich hatte verkümmern lassen, besaß er den Anstand seine Annahme über den Verbleib der Ahlemeyer-Knaben nicht einmal anzudeuten.
„Selbstverständlich kommen Eure von den Göttern zwölfmal gesegneten Söhne zurück an den Herd ihrer liebenden Mutter.“ kam es so überzeugt wie möglich über seine vollen Tulamidenlippen. Erst nach zwei oder drei Augenblicken wurde ihm bewusst, dass echte Überzeugung üblicherweise von einem Lächeln begleitet wurde und so hob er die Mundwinkel zu schnell, zu hoch und zu plötzlich.
Er bemühte sich. Er wollte vermeiden der gutherzigen Sattlerin das Jahr zu vermiesen. Insbesondere, solange er hier noch lebte. Man konnte viel über ihn sagen – dass er Leute verprellte, die ihm halfen gehörte (üblicherweise) nicht dazu. „Aber natürlich werde ich mich umhören! Ich bin bald im Süden des Kontinents und werde mich dort nach ihnen umsehen – vielleicht haben sie eine wichtige Geheimmission. Ihr wisst schon Al’Anfa vielleicht.“
Das mütterliche Nicken und die in den Augen der Frau aufblitzende Hoffnung brach ihm beinahe das Herz. „Sicher bringe ich bald Nachricht von ihnen! unterstrich er – und ging im Geist bereits das Gespräch mit den ruhelosen Seelen der beiden hingeschlachteten Jünglinge durch, in dem er zu klären gedachte, welche Geschichte man der wirren Mutter auftischen konnte, um ihr Leid zu lindern.
Dem Nekromanten war vage bewusste, dass Ahlemeyer immer noch redete. Sich bedankte vielleicht, oder mehr von ihren Söhnen berichtete, damit er sie erkennen würde, wenn er nur erst vor ihnen stünde. Für seine Magie allerdings war es kein Probleme das tote Bruderpaar zu finden, ein größeres Problem war es, nicht mit Boron und seinen Dienern aneinander zu geraten. Während also die Dame des Hauses von Lieblingskuchen und Kinderdecken schwadronierte, trug Salpico sich mit dem Gedanken schwanger Hilfe bei Marbo zu suchen. Ein kleines Zeichen der Zustimmung erleichterte die Angelegenheit ganz erheblich – auch auf weltlicher Ebene. Man wusste nie, wann der Vampir mit den beneidenswerten Haaren (ob gutes Haar einer der Vorteile des frei bestimmten Untodes war?) auf die Idee käme seinen Glauben an den Herrn Boron (Welch Ironie!) handfest zu verteidigen. Nein – darauf konnte er verzichten, entschied er, während die letzten drei nötigen Zutaten für die Lieblingsspeise des einen Bruders zu seinem einen Ohr hinein und zu dem anderen wieder hinaus wanderten. Es war schlimm genug gewesen noch eine letzte Nacht mit dem unangenehm hungrigen Todesboten in der Smaragdnatter verbringen zu müssen. Das Einzige, was sicheren Schutz gegen diesen Kerl bot war Dajinn VII., der…bei Boron und Hesinde! Der Affe! Wie lange hatte er ihn nicht gefüttert? Zwei oder drei…Tage? Eilig wirbelte er herum und ließ Frau Ahlemeyer mitten in einem Monolog über bestickte Kinderkissen stehen.

Am anderen Ende der Stadt, außerhalb ihrer Mauern erbebte im bäuerlichen Rosskuppel ein dürres Bäumchen in einem der feldbegrenzenden Knicks. Seine blattlosen Zweige schlugen gegeneinander, als er seinen festen Halt im kalten Mutterboden verlor und an den Feldrand zu einigen anderen entwurzelten Sträuchern geworfen wurde.
Ohne zu schwitzen, zu frieren, schwer zu atmen – oder auch nur einen irgendwie gearteten Puls – sah Zerwas zu Storko hinüber. Auf der anderen Seite des Feldes mühte der Hausvater sich ebenfalls damit ab, das Feld von allzu sehr überhängenden Zweigen oder Ästen zu befreien.
Eine anfallende Arbeit im Winter – ebenso wie das ganzjährige Füttern der Tiere und das Ausmisten der Ställe.
„Angelegenheiten für Bauern und Knechte.“, hätte er noch vor einigen Jahren gesagt. Aber heute war es eine notwendige Arbeit. Notwendig um den Kopf frei zu bekommen, aber notwendig auch, um zu wachsen. In seiner Zeit bei den Kindern der Nacht, hatte er eine simple Wahrheit erfahren. Wer mächtig ist, ist nicht notwendigerweise auch gefährlich. Gefährlich waren nur die, die Macht und die Überzeugung etwas Besseres zu sein als die weniger Mächtigen in sich vereinten. Simpel ausgedrückt: Wer mächtig und zugleich konstruktiv sein wollte, musste Demut lernen. Und eben das bedeutete die Arbeit, die für diese Familie wichtig war, ebenfalls als wichtig anzunehmen und mit den ihm gegebenen Stärken zu erledigen, während er seine Schwächen in Kauf nahm.
Letzteres war leicht gesagt zu dieser Jahreszeit – war der Himmel doch oft genug verhangen und grau.
Die Strichliste, die er auf der Unterseite eines der Tische in seiner Wohnung führte, hatte ihm verraten, dass Neferu am heutigen Tage aus dem Exil des Peraine-Tempels zu ihm zurück finden würde. So kam es, dass er sich den Schritten auf dem nahen Feldweg mit einem Lächeln zuwandte.

Die Wiederbegegnung mit Zerwas nach fast zwei Wochen verlief seltsam. Noch während ihres Aufenthalts im Tempel hatte sie eine Nachricht von ihm bekommen: Er hatte endlich eine Unterkunft gefunden, die ideal war. Für sie beide. Beide allein. Mit gemischten Gefühlen umarmte sie den Uralten und ließ sich die Kammer im Dach zeigen. Sie hatte gewusst, dass Zerwas die enge Unterbringung in der Smaragdnatter von vorn herein verabscheute hatte. Zu viert in einer Dachkammer war seinem Verständnis von Privatsphäre zuwider gelaufen.
Er hatte dieses animalische Lefzenziehen um den Mund herum, dieses Zittern der Nasenflügel, wenn ihm etwas missfiel. Und das hatte sie da gesehen.
Sie war froh, dass die beiden Tralloper Fohlen, um die Zerwas sich wirklich ausgezeichnet gekümmert hatte, wohlauf waren und endlich mehr Platz hatten, die Hufe zu bewegen.
Auch sonst gefiel ihr der Hof. In seiner naiv-pragmatischen Ländlichkeit wirkte er besinnlich, behütet, wie das Abbild eines geregelten Lebens.
Sie irritierte, dass Zerwas mit den Hofbesitzern ausgemacht hatte, für sie zu arbeiten. Seine kräftige Mithilfe drückte den Preis beachtlich, aber irgendetwas verstörte sie an dem Bild des Vampirs mit von Erde schmutzigen Nägeln. Es passte nicht zu ihm und trotzdem war sie gleichzeitig froh darüber. Erleichtert, dass unter dem Eindruck des perfekten Mannes, der erhabenen Eleganz und der übermenschlichen Anziehungskraft etwas war, das sich nicht scheute, schmutzig zu werden. Von Arbeit schmutzig – nicht vom spritzenden Blut seiner hilflosen Opfer.
Sie erzählte ihm eine Kurzfassung des Tempelaufenthalts und machte sich dann an ihre überfällige Gareth-Runde. Während Zerwas den Bauern zur Hand ging, hegte sie theologische Diskussionen über Tsatuaria im Tsa-Tempel und verunsicherte die dortige Kindergärtnerin mit ihren angedeuteten, ketzerischen Theorien (die sie selbstverständlich so formulierte, dass ihr nichts vorzuwerfen war). Anschließend führte ihr Weg sie zu Alrik Garether, dem Hauptmann der Spießbürger. Sie sicherte sich einen Termin für ihren dreiwöchigen Dienst als Wächterin. Sie bestaunte zum wiederholten Male das Theater ‚Fuchsbau‘ am Brig-Lo-Platz – es war sechsstöckig! – und endete zum Nachmittag im ‚Lowanger-Greiber-Waisenhaus‘ in Eschenrod.
Sie trug ihre, wie sie sie nannte ‚Abenteurerkluft‘, weshalb sie nicht ganz so argwöhnische Blicke auf sich zog, als wenn sie in ihrer Bürgerkleidung erschienen wäre.
Es war auch ganz einfach sicherer, nicht zu hochtrabend durch das Südquartier zu stolzieren. Das wusste sie zu gut.

Nach einigen Worten der Höflichkeit ließ Nef sich von der Heimmutter, einer Traviageweihten mit ehrlichen runden Augen von reinstem Blau, zu den Kindern begleiten. Etwa dreißig von ihnen lebten hier – Waisen der Straße, wie sie selbst vor Jahren eine gewesen war. Ohne eine Gruppe konnte man im Südquartier kaum überleben. Oder man verkam zu einer Mauerpflanze, die vegetierte und nichts anderes mehr verinnerlicht hatte als das bettelnde Heben der verknöcherten Hand wenn jemand vorüberging.
Zwei wertvolle Informationen nahm sie mit aus ihrem kleinen Blumengarten, wo sie ihre vielversprechenden Pflänzchen behüten ließ: Der eine – ein junger Mann namens Pavel war wegen herausragender Fähigkeiten bis in den Seelander vermittelt worden, wo er eine Ausbildung erhielt. Der Küche selbstverständlich nur, aber auch das war ein wahres Wunder – ein Junge aus Eschenrod wusch die Teller der Reichsten. Ob da ein unehelicher Vater mit schlechtem Gewissen seine Finger im Spiel hatte?
Der zweite Sprössling war die vielversprechende kleine Efferdlieb. Mit neun hatte sie angefangen zu nähen und nun war sie elf Jahre alt. Neferu wurde ein ganzer Satz Kleidung ausgehändigt, die das Mädchen genäht hatte. Kindliche Nähte, ein großzügiger Stich, aber so gleichmäßig als hätte das Kind bereits ein Jahrzehnt Erfahrung.
Neferu begutachtete wie eine reiche Gönnerin das blondbezopfte Kind. Efferdlieb war ernst und hatte Augen, die so tief und streng blickten, dass man sie wesentlich älter schätzen konnte, als sie an Jahren zählte.
Während die Phex-Hexe die Kleine begutachtete wie eine Investition in die Zukunft, stand diese ganz ruhig.
Efferdlieb… ging es durch Nefs Kopf. Sie war so genannt worden, weil man sie als Kleinkind herumirrend und schmutzig am Fluss gefunden hatte. Efferdlieb sollte eine Zukunft haben. Und einer von den Beweisen werden, der zeigte, dass auch die, die ganz unten waren, durch Fleiß und Durchhaltevermögen ganz nach oben kommen konnten. Und irgendwann sollten all diese elternlosen Kinder leben wie Hal in Alveran.
Neferu bündelte die kleinen Kleidungsstücke und machte sich auf dem Weg zurück in die Altstadt, es dunkelte schon. Sie musste sowieso zu Störrebrandt. Vielleicht konnte sie so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Aber zuvor holte sie Phexdan vom Brig-Lo-Platz ab.
Mit den Worten „Wenns dunkel wird am Göttermonument!“ war er schon zur frühen Stunde entschwunden und nur die Zwölfe konnten ahnen, wo er sich so dringend herumtrieb. Sie rollte mit den Augen.

~

Schon drei Stunden lag sie im Bett und starrte eine neue, hölzerne Decke an.
Sie hatte es tatsächlich geschafft. Zwar war sie unangenehmerweise beim ersten Anlauf von der Ausstrahlung Störrebrandts im wahrsten Sinne des Wortes aus den Schuhen gehauen worden – eine peinliche Situation, die zwei Leibmagier des Kaufmannes hatten sie untersucht und so die Magie in ihr festgestellt – doch neben diesem Ohnmachtsanfall (schon wieder einer! Und das, obwohl sie die Prozedur Rohalides‘ über sich hatte ergehen lassen!) hatte der Pfeffersack zugestimmt, sich Efferdlieb einmal anzusehen, nachdem er die Arbeit ihrer kleinen Hände vorerst kurz einschätzend überflogen hatte. Und sie war auch in sein Archiv gelangt. Anscheinend interessierte es einen der reichsten Männer Aventuriens selbst, was aus seinem Wagenzug 2098-031 geworden war. Sie hatte nämlich in Erfahrung bringen können, dass dieser Handelszug, begleitet von fünfzehn Personen und einigen Ballen Fellen und Stoffen, in denen Mondsilber und Arkanium transportiert worden war, auf nimmerwiedersehen irgendwo im Bornland verschollen waren. Mit Pferd und Wagen, alles weg – nicht einer hatte ihr Ziel, Norburg, erreicht.
Aber es war nicht einmal die Akte selbst, die sie so aufwühlte, sondern ein Pergament, das in ihr lag. Es passte thematisch und optisch nicht zu Störrebrandts Archiv, sondern es zeigte ein klassisches Rätsel… Symbolisch gezeichnete Orte, eine Fuchsfährte.. und drei Häuser mit einem Fuchskopf. Sie hatte ihren nächsten Hinweis gefunden!
Neferu wandte den Kopf, als Zerwas das Schlafkämmerchen betrat. Unverschwitzt mit kaum zerzaustem Haar, dazu ein undeutliches Lächeln, kam er auf sie zu.

Gareth 15 (Neferu) (TSA 1013)

Die verzaubernde Entdeckung des Sternenhimmels im Blütenkelch, den Phexdans geheimes Gärtchen offenbart hatte, war bereits durch die Routine der darauffolgenden zehn Tage verblasst und soweit in den Hintergrund gerückt, das man kaum mehr daran dachte.
So war es mit besonderen Momenten – sie vergingen und blieben zurück als blasse Erinnerungen. Erinnerungen, an die man in einsamen Augenblicken dachte, in denen man sich nach dem sehnte, was lange her und damit verloren war.
Aber noch war kein melancholischer Zeitpunkt. An derzeit erster Stelle stand die Geduld. Und so dachte Neferu auch nicht an den hübschen Flecken Erde, den Phexdan da gefunden und zum Blumenaufpäppeln annektiert hatte.

Sie lag auf dem Rücken und kniff Augen und Mund zusammen, während das warme Öl über ihre Stirn floss. Sie entspannte sich, als der gleichmäßige Strahl der Flüssigkeit von ihrem Gesicht fortgeführt und über die nackte Haut ihres fröstelnden Leibes gegossen wurde. Trotz des Hypokaustums, das für stetig warme Füße sorgte, war die frische und hier im Tempel außerordentlich reine Morgenluft alles andere als bettwarm. Die Erfindung eines Feuers im Fußboden war faszinierend. Ununterbrochen roch es im Tempel gut, nach glimmender Holzkohle und gebranntem Ton. Neferu wunderte sich, dass diese fremdartige, aber doch zweifellos praktische Erfindung keine weitere Verbreitung erfahren hatte. Aber vielleicht war es dafür zu gefährlich. Immerhin ging es um Ingerimms unberechenbares Element, das da unter den Steinfliesen gefangen und genährt wurde.
Es tat gut, die Lider geschlossen zu halten und sich der salbenden Prozedur zu überlassen. Wie jeden Morgen der letzten Tage war sie so früh geweckt worden, dass sie die Hühner im Stall in Sachen Pünktlichkeit hätte neidisch machen können.
Draußen graute der Morgen, Raureif umfasste Gareth in streng-winterlichem Griff, bis sich die Praiosscheibe müßig über die Hauptstadt erhob und den nächtlichen Frost daran erinnerte, dass die Zeit stur und ohne Halten gen Frühling marschierte.
Das zähe Keimöl stieg literweise und verschloss ihr die Ohren, bis nur noch kleine Inseln ihres Körpers fleischfarben aus der eingelassenen Marmorwanne herausragten und sie den Worten des Gebets nicht weiter folgen konnte. Sie hatte beim ersten Mal befürchtet, wegen ihrer ausladenden Hüften nicht in diese sargförmige Einbuchtung zu passen, die wohl ursprünglich für weitaus zierlichere Damen in den Stein gehauen worden war. Und zugegeben – etwas eng war es. Auch von der Länge war sie zu groß, so dass ihre Knie als die spitzesten aller Hügel aus dem gelblichen Öl ragten. Sie hatte sich unwillkürlich gefragt, wo sehr viel korpulentere Frauen ihren Platz fanden. Aber vielleicht waren die auch zu schlau, sich von Vampiren beißen zu lassen. Oder sie gaben es nicht zu. Oder es gab diese Wannen in verschiedenen Größenordnungen. Sie hatte bisher allerdings in dieser Halle nur zwei davon erblicken können, eine für das starke Geschlecht und eine weitere, größere für die Herren der Schöpfung.

Die rote Hexe kam sich gar nicht mehr so Rot vor und das hatte einen Grund, denn sie war vollkommen nackt. Sie blinzelte in das schummerige Licht über ihr und blickte in das dunkeläugige Gesicht des jungen Geweihten Rohalides. Er und seine Frau Dimione waren beide der gütigen Göttin Peraine verpflichtet, jeder auf seine Art spezialisiert. So hütete sie die Pflanzen, goss, jätete und ließ wachsen, während er Salben anrührte und sich um das Wehe der Altstädter kümmerte. Das Paar stammte von den Zyklopeninseln. Neferu hatte einmal gehört, dass die Häuser auf diesem weit westlichen Eiland weiß waren und fast ein jedes Dach von Säulen getragen wurde. Sie fand, dass das gut passte, denn auch der Perainetempel hatte eine helle Tünchung und einiges an Rundpfeilern.

Der Mund des lockenköpfigen Zyklopäers bewegte sich langsam. Seine ernste, feierliche Miene unterstrich sein Beten zur milden Göttin. Neferu konnte es nicht hören, sie hatte immer noch die Ohren voll Öl. So wie das Bronzegefäß, das leer und präsentierend in Rohalides‘ Händen schwebte, war sie gewesen, nachdem Zerwas auf der Boroninsel mit ihr fertig geworden war.
Eigentlich hätte sie konzentriert sein sollen.
Die ersten Tage hatte sie es auch geschafft, sich zu sammeln, mitzubeten und im Stillen der Göttin dafür zu danken, dass sie sich – trotz ihrer bis zum Horizont reichenden Dummheit – ihrer annahm. Heute aber, machte sie sich nur Gedanken darüber, dass die da über ihr gehaltene Bronzeamphore herunterfallen und ihr ganz sicher einen fiesen blauen Fleck zufügen konnte. Oder sie versuchte aus der Entfernung ihrer liegenden Position die stattlichen Bögen von Rohalides‘ faszinierenden Augenbrauen nachzuverfolgen, die sich in auffächernden Härchen fast in der Mitte trafen. Sie hatten sich im Zusammenwachsen nur knapp verpasst.
Er sah viel älter aus als seine herbe, obgleich irgendwie aufreizende (sie hatte diese schweren Schlafzimmerlider) Frau Dimione, die beeindruckend schönes und volles schwarzes Haar zu einem dicken Zopf geflochten trug. Doch Nef hatte in Erfahrung gebracht, dass beide gerade erst kürzlich das zwanzigste Lebensjahr überschritten hatten.
Noch so jung…

Neferu war außerordentlich dankbar. Nicht nur, dass der Geweihte – entgegen der Therbuniten in Trallop – keine bare Münze für die Regeneration ihrer Lebensenergie verlangte (dass er trotzdem eine Tempelspende in Höhe eines zweistelligen Dukatenwertes erhalten würde, hatte sie beiläufig erwähnt, als sie vorstellig geworden war) und dass obwohl sie zwölf Tage lang das geweihte Gelände nicht verlassen durfte und zweimal täglich – zu Sonnenaufgang und Sonnenuntergang mit dem heiligen Keimöl geölt werden musste, sondern auch über die Tatsache, dass es gestattet worden war, Phexdan als Dauerbesuch zu tolerieren. Spätestens als der von seinen Gärtnertätigkeiten erzählt hatte, war der Tempelvorstand überzeugt gewesen, dass es keine Umstände machte, solange der junge Mann den Tempelalltag nicht behinderte und keinen zusätzlichen Platz kostete.
So war es gekommen, dass sie und Phexdan eine winzige Kemenate in einer Gangnische teilten, die sie nur zur Nachtruhe aufsuchten. Man hätte meinen können, dass das lauschige Zusammensein auf so engem Raum in kürzester Zeit romantische Gefühle und ein körperliches Näherkommen geradezu provozierte, aber so war es zumindest die erste Woche nicht gewesen.
Die Pritsche war einfach zu schmal für zwei Personen, so dass sich keiner von beiden im Schlaf drehen oder wenden konnte und regelmäßig Hüften einschliefen, die sich auf dem holzigen Gestell taub lagen. Außerdem hatte das Hypokaustum den Nachteil, dass es unter einer Wolldecke zu zweit schwitzig warm werden konnte und das nicht auf die rahjaische Art und Weise.
So hatte das nächtliche Gedränge in ihrer beider Kabuff die Wirkung, dass sie eigentlich beide nie ganz ausgeschlafen waren.
Ab und zu verbrachten sie ihre Nacht damit im Flüsterton über Raubzüge, das Wegweisernetz im Untergrund Gareths und die Zinken in der Kanalisation zu sprechen, die da überall an den Wänden verteilt den kundigen Dieb zu einem lohnenden Ziel schickten. Sie malten sich aus, wie sie den Stadtadvokaten te Guden einen überaus derben Dachstuhl errichten würden und kicherten leise dabei wie begeisterte Kinder, die sich eine ganze Fantasiewelt erdacht hatten. Und das mitten im Tempel der friedlichen Göttin.

Phexdan ließ sich in solchen Nächten selbstverständlich zu dem einen oder anderen Witzchen hinreißen, das darauf anspielte, dass sie doch lieber über- statt nebeneinander liegen sollten und sie selbst ertappte sich dabei, seine spaßhaften Andeutungen durch eigenes albernes Kokettieren noch zu befeuern. Nur ineinander liegen wär für diese derb schmale Pritsche Platz genug, hörte sie sich noch sagen und stieß peinlich berührt die Luft aus der Nase, während Rohalides weiterhin ungehört betete.

Und trotzdem… Die Wärme der kleinen Kammer hatte auch etwas für sich: Seit sie so lebensenergiearm war, fror sie bisweilen auch bei angenehmen Temperaturen. So glitt sie hin und her zwischen Schwitzen und Frieren und fühlte sich gerade in der Nacht ganz krank und elend. Aber Phexdan war da und ging mit ihr um wie ein anschmiegsamer Virtuose mit einer Harfe. Fror ihr Körper, kam er nah, drückte sie an sich und bewies ihr, dass sein Leib noch wärmer war, als die Heizung im Boden. Schwitzte sie, tat er sein Bestes auf Abstand zu bleiben – wenn auch halbherzig und sie stets im Auge behaltend, trotz der Düsternis der Kammer. Einmal war er sogar aufgestanden und hatte ihr mit der Decke Luft zugefächelt. Und dann.. an Tag acht hatte er versucht sie zu verlocken. Er küsste sie bei Neumond, erst einmal, dann zweimal. Es waren nur kurze, hitzige Küsse und entgegen ihrer Absicht, machten sie Neferu wütend. Sie hatte versucht sich ihre Wut zu erklären, aber die Antwort hatte sie nicht glücklicher gemacht. Sie spürte diesen unruhigen Zorn, weil sie dem Kuss entgegen gestrebt war. Vielleicht hatte sie Phexdan sogar unbewusst ermutigt. Und obwohl Luzelin und die Hexen vom Blautann ihr jahrelang vermittelt hatten, dass nichts richtiger war, als seine Gefühle auszuleben, dass es in ihrer Natur lag, dass sie nur so die Welt heilen konnte und dass die Konsequenzen belanglos waren, solange sie ein jedes Gefühl nur zuließ – trotz dem schämte sie sich und fühlte sich wie eine Ehefrau, deren unterdurchschnittliche Selbstbeherrschung sie zu einer lüsternen Rahjadienerin gemacht hatte, die sich vor sich selbst fadenscheinig rechtfertigte, dass Küsse bei Neumond gleichwertig waren mit solchen, die niemals passiert waren.
Sie hatte einen halben Tag darauf nicht mit ihm geredet und versucht mürrisch dreinzusehen. Dann aber war sie sich albern vorgekommen und hatte sich Phexdan gestellt. Neferu hatte Phexdan mit aller Intensität aufgefordert, sie aufzugeben. Mit bebenden Lippen hatte sie ihn gebeten, sein eigenes Glück zu suchen, aber er hatte nur gelächelt und sie auf diese warme Art angesehen, die ihr sagten sollte, was er ihr schon so oft gesagt hatte:
Ich weiß, dass du mich liebst, auch wenn du es erst wieder erkennen musst.
Sie liebte und bedauerte diesen Blick gleichermaßen.
Das war auch der Tag gewesen, der anders als alle anderen verlaufen war. Der Tag der Armenspeisung.
Der Tag an dem Neferu Theobald vom Scherbenmarkt kennengelernt hatte. Ein alter Mann, ein Bettler, ein Prophet. Andere hätten wohl gesagt: Ein Wahnsinniger, der schon vor Jahrzehnten durch Armut und Hunger seinen Verstand eingebüßt hatte. Sie hatte dem Alten versprochen, ihn neu einzukleiden, sobald sie den Tempel verlassen durfte. Sie wusste gar nicht mehr, wie es dazu gekommen war, aber sie hatte ihm den knochigen Rücken massiert und Phexdan war ebenfalls bei der Speisung an ein stattliches Bündel Regenbogenstaub gekommen, das ihm irgendwer aus der Menge der Versehrten, die einmal die Woche aus den Elendsvierteln der Stadt zur Speisung in den Perainetempel geleitet wurden, überantwortet hatte. Ein riesiger Batzen Rauschkraut. Sowas von verboten.

Rohalides endete seine morgendlichen Worte zu ihrer Reinwaschung. Eine ganze Stunde dauerte das Ritual. Wenn es vorbei war, drangen die ersten Strahlen durch die beglasten Fenster an denen sich Kondenströpfchen gesammelt hatten, die herunterperlten und so über die Jahre dunkle Stockspuren am Fensterrahmen hatten wachsen lassen.
Die Hände links und rechts von der Steinwanne aufgestützt erhob sie sich vorsichtig, peinlich darauf bedacht, nicht auszurutschen. Rohalides empfing sie mit einem reinweißen Tuch, das mit einer güldenen Ähre bestickt war. Langsam und behutsam tupfte sie ihren bloßen Leib, der vor Gänsehaut ganz stachelig aussehen musste, frei von Öl.

Es folgte das Tagwerk. Bußarbeit und Beten. Sie gingen den Novizen in der Apotheke zur Hand, schleppten Säcke in der Saatkammer und wuschen Geschirr in der Großküche.
Zugegebenermaßen war im Perainetempel auch gar nicht mehr so viel anderes möglich, als sich mit Pflanzen oder Heilkunde in irgendeiner Form zu beschäftigen. Es war eben ein Tempel Peraines. Alles war erst einmal von einer guten, schönen und friedlichen Aura erfüllt.
Sie – und auch Phexdan – halfen den Geweihten beim Hegen der Pflanzen. Sie gediehen wunderbar im Tempelinneren. In den Stein des Boden gehauen waren etliche große mit Muttererde ausgefüllte Beete, die die große Halle des Tempels zu einem sagenhaften, immerblühenden botanischen Garten machten.
Doch trotz dem der göttliche Segen der Mutter von Ackerbau und Heilkunde behütend auf diesen Mauern lag, musste sich ganz klassisch um die Pflänzchen gekümmert werden, denn das Gießen, Auflockern der Erde oder Beschneiden der Zweige übernahm die Göttin nicht.
So lernten sie neben hunderten anderen Pflanzen die unsterbliche und heilige Alveranie kennen, die ihre Farbe monatlich änderte und derzeit bunt war, wie der Tsa, die aber im kommendem Monat grau sein würde, wie der Schatten Alverans – Phex. Nur für zwölfgöttliche Rituale durfte ein Blütenblatt gepflückt werden. Neferu spürte dieses Gefühl in sich, der Drang sich selbst und der Welt zu beweisen, dass ein Leben in den Gassen Gareths keine Kutschenendstation bedeutete.
Kurz gesagt: Sie wollte irgendwann einmal eine Alveranie in ihren eigenen Garten pflanzen, um sagen zu können: Seht her, ich war ganz am Boden und heute blüht auf meinem Grundstück in der wunderschönen Weststadt diese noch wunderschönere Blume!

Gareth 14 (Neferu) (FIR 1013)

Da unten, abgeschieden von der Welt hatten sie noch lange miteinander gesprochen.
Die kleine zylindrische Enklave für diebische Jünger des Nachtrichters war wie eine schützende Globule in deren Dunkelheit Mauern eingerissen worden waren, die sich im Laufe der Jahre aufgebaut worden waren.
Kaum, dass dieses hinderliche Gesträuch zwischen ihnen beiden niedergerissen war, war das freiheitliche Gefühl allpräsent.

Die Hexe fühlte sich in redseliger Stimmung und empfand, ohne viel zu sehen, eine Verbindung zu Phexdan, die Vesper schon so lange gesucht und immer vermisst hatte.
Vielleicht war es nicht einmal nur Phexdan, dem sie alles gesagt hatte, was ihr lastend auf der Seele lag. Vielleicht sprach sie auch mit dem Eigentümer des kleinen Schreins, dessen
munteres Lachen sie wie ein Zeichen in sich zu hören glaubte.
Ja, möglicherweise verließ jedes Wort so leicht die Lippen, weil sie beide da waren, wo sie hingehörten. In den schützenden Schatten, unter dem direkten Blick ihres göttlichen Herrn.

Nefs Zunge sprach von dem Mädchen Efferdlieb und den Bemühungen, ihr eine vielversprechende Zukunft zu garantieren.
Sie erzählte, dass sie das Gefühl hatte, die gesamte Kanalisation sei ein Fingerzeig Phexens und sie auf dem besten Wege, das Rätsel um die Chiffrierung vom Dachstuhl zu lösen – bei Stoerrebrandt.
Und obwohl Neferu erwartet hatte, dass sie erst dann zufrieden sein würde, wenn der Redeanteil von Phexdan dem ihren entsprach, war sie doch im Einklang, wenn er hin und wieder einige Sätze einwarf und ihr zeigte, dass er da war und zuhörte.

Ihre Worte waren stockender gekommen, als sie davon berichtet hatte, wie seltsam das Gefühl war, dass Zerwas plötzlich wieder gegenwärtig in ihrer aller Leben stand. Sie hatte es sich so sehr gewünscht und jetzt, als der kaum zu erhoffende Zustand eingetreten war, musste sie zugeben, mit der Situation weniger gut umgehen zu können, als sie von sich selbst erwartet hatte.
Es wurde nicht leichter dadurch, dass Zerwas zwar bei ihr sein wollte, aber ihre Nähe mied. Er verkümmerte zum wachenden Adlerauge im Hintergrund, zu einem stoischen Beschützer, der sich im Hintergrund hielt. Und wenn sie versuchte, nach ihm zu greifen, wich er aus.

Und dann verstand sie, warum es so wichtig gewesen war, dass sie versucht hatte, den Halbmaraskaner zu begreifen, ihn zum Antworten zu bringen.
„Sobald du die zwei Wochen Perainetempel hinter dir hast, werde ich Gareth verlassen.“ hatte er ihr eröffnet.
Was sie zuerst wie ein Donnerschlag Rondras getroffen hatte, war zur Erleichterung geworden.

Denn nun konnte sie es verhindern.
Bevor sie sich noch über den Umstand Gedanken machte, dass all ihre Handlungen in einer Kettenreaktion Ereignisse auslösen würden, neigte sie sich im Schneidersitz vor und schlang die Arme um ihn.
„Ich will nicht, dass du gehst…“ hatte sie reglos gewispert, ehe sie ihm einen unschuldigen Kuss stahl. Doch sie zog sich zurück. Denn sie wusste, es war falsch.

Als sie aus der Kanalisation hervorkamen, war es dunkel. Der Wind heulte und wirbelte vereinzelte Schneeflocken durch die kalte Luft.
Draußen wartete Zerwas. Er wirkte besorgt, besah sich ihre Gestalt eingehend, als würde er eine Wunde geradezu erwarten.
Sie wusste, er musste den beißenden Gestank nach Unrat und Fäkalien, den Dunst der Kanalisation an ihr riechen.
Ob er auch die Spur des kurzen Kusses auf ihrem Mund roch?
Unwillkürlich schob sie die Fingerspitzen aus der schützend warmen Kleidung und berührte ihre Unterlippe.
Phexdans Worte hallten in ihren Gedanken wider. Ich will dir meinen Garten zeigen, ich wecke dich in der kommenden Nacht.
Nachts? Warum war es so wichtig, dass er ihr sein kleines Gärtchen unterm Sternenhimmel zeigte?
Er hatte geheimniskrämerisch darauf beharrt, also hatte sie zugesagt.
„Ist alles in Ordnung?“ Zerwas maß sie mit besorgt-kontrollierendem Blick. Seine Unruhe war ihm anzumerken.
„Es ist Phexdan. Er… hat einen Garten. Er will ihn mir diese Nacht zeigen.“
Der Vampir runzelte die kalkweiße Stirn. „Einen Garten? Im Winter? Wie soll dort etwas wachsen – es ist viel zu kalt.“
Sie musste schwach schmunzeln.

~
Phexdan hatte sie in der Nacht tatsächlich geweckt, was zu erwarten gewesen war. Er konnte sehr pflichtbewusst und pünktlich sein, wenn es ihm um Dinge ging, die er persönlich spontan dazu auserkoren hatte, wichtig zu sein.
Auch wenn sie es mittlerweile über hatte, dass er aus jeder kleinsten Kleinigkeit ein tiefes, zu ergründendes Geheimnis machen musste, so liebte sie ihn in diesem Augenblick, als er ein Spiel daraus machte, sie zu seiner Blumenoase im Winter zu führen. Sie war gebeten worden, ihre Tuchrüstung anzuziehen und dann hatte er sie über einen Pfad geführt, der nicht über den Boden Gareths führte, sondern über seine vereisten Dächer.
Zwischen drei unscheinbaren Häusern Nardesheims lag ungesehen ein dreieckiges Fleckchen Erde, an dem kaum Schnee lag.
Die Wärme der aneinandergeschmiegten Hauswände und der anheimelnde Schutz der Dächer machte dieses unzugängliche Stück Gareth zu etwas besonderem. Kein Fenster ging in diesen winzigen Hof auf und keine Tür. Man konnte den Garten des Füchschens einzig über den Dachweg erreichen.
Und da waren sie nun. Nef außer Atem, Phexdan in geübter Kondition.
Sie hielt sich die Seite, während Dajin durch den Hof tobte und sich ein paar Tausendfüßler unter einem Blumentopf hervorklaubte, deren Schicksal besiegelt war.

Der Sternenhimmel, das Antlitz der Nacht schickte den Schimmer seiner schmückenden Perlen hinab auf Dere und tauchte die zwei Phexjünger und den wenig in die Szenerie passenden Koboldmaki in milchig kaltes Nachtlicht. Schmatzend verzerrte das großäugige Geschöpf die eiweißhaltige Krabbelkost.
Wie ein Künstler, der ein Stück vorbereitet hatte, präsentierte Phexdan Nef ein Stück noch dampfende Scheiße auf einer Schippe.
Wortlos beobachtete sie ihn, noch immer schnaufend – sie nahm sich vor, sich aktiver körperlich zu betätigen, die Stiche in ihrer Seite unterschrieben diesen Entschluss – ohne einen Gedanken zuviel an den frischen Kot zu verschwenden.
Liebevoll düngte und wärmte der Zottelkopf seine Pflänzchen damit.
Soviele waren es gar nicht, lediglich drei an der Zahl. Er hatte sie in mit Stoff isolierten Töpfchen nah an eine Hausmauer geschoben.
Sie waren zwar ein bisschen mickerig, aber das durften sie auch sein, immerhin hatten sie es geschafft im Winter Triebe zu schlagen.
Neferu hingegen fror. Fast schon sah der nahezu verblassende Hitzedunst der frischen Würste verlockend warm aus…
Sie biss die Zähne zusammen, um nicht zu bibbern und wunderte sich gleichzeitig, dass der sonst so verfrorene Halbmaraskaner, vergnügt seine Pflänzchen pflegte, anstatt sich über beißende Frostfurunkeln zu beschweren.
Die rote Phexgeweihte legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das Glitzern und Leuchten am Gewand der Dunkelheit über ihr. Wie wunderschön Phexens Reich der Nacht war.
Eine Wolkenkette, die dem Mond bisher verwährt hatte, an dem Moment teilzuhaben, löste sich durchwirkt vom Wind auf und erhellte das kleine erdige Dreieck.
„Sieh her…!“ Phexdan stellte die dritte Pflanze rasch direkt in die Mitte, wo ihr geschlossener Blütenkelch beschienen von Mada in Bewegung geriet.
Soetwas hatte die Garetherin ihren Lebtag noch nicht gesehen. Ein schöner dunkelblauer Blütenkelch im Winter. Und dann noch einer, der sich öffnete!
Wo Phexdan solch exotische Flora erstohlen haben mochte…?
„Sieh genau hin! Jetzt gleich ist es soweit!“ Er flüsterte erregt und lächelte sie an wie ein begeisterungsfähiger Junge mit Dreitagebart.
Wie ein winziger Spiegel offenbarte die sonderbare Pflanze ihr Inneres. Nicht nur, dass sie die Farbe des taglosen Himmels trug, die zarten Blütenblättchen zierte ein Teppich aus weißgelben Punkten. Ein eigenes kleinen Sternenzelt zeigte die Blume da…
Unbewusst berührt lächelte Neferu versonnen. Sie wusste nicht warum, aber als sie sich vorbeugte, den Blütenkelch mit seinen Phexdiamanten darauf zu betrachten und dann Phexdan ansah, der sich an der Pracht dieses tapferen Blümchens wie ein Kind staunend erfreute, stiegen ihr Tränen in die Augen, die sie so schnell wegblinzelte, wie es ihr möglich war.
Sie konnte nicht auf ihn verzichten.

Gareth 13 (Feqzjian) (FIR 1013)

Neferu machte es sich auf der alten Wolldecke gemütlich, die wohl schon seit mehreren Götterläufen der kleinen Phexenskammer als Kälteschutz diente.
„Komm..“, forderte sie ihn auf. „Wir müssen reden. Wirklich reden, über alles. Eine Aussprache. Das haben wir noch nie getan.“
Einige Sekunden sah er schweigend zu ihr hinab. Hatten sie das nicht? Hatten sie das? Hatte sie jemals danach gefragt? Einen Augenblick war er mit sich selbst uneins. Ein unerfreuliches, bekanntes Gefühl.
Bevor er sich zu ihr begab, betrachtete der Maraskaner die kleine zylindrische Kammer. Der Blick seiner grünen Augen strich beinahe liebevoll über die Wandnischen mit all ihren hilfreichen Überraschungen für den bedürftigen Phexgetreuen, glitt über die silberne Fuchsstatuette, die ihm auffordernd ihre Schale entgegen hielt, als erwarte sie, er würde sie füllen.
Mit der Eile eines Mannes, der vor versammelter Gemeinde zur Spende an die gerechte Sache aufgefordert worden war, begann er seine Taschen zu durchwühlen, ehe er aus den Tiefen seines Hosenstoffs ein glänzendes Silberstück hervorgekramt und es leise in die Schale hatte gleiten lassen.

Dann sah er zu seiner Begleiterin zurück. Ebenfalls glanzvoll, gebräunte Haut, eine beinahe undefinierbare Haarfarbe irgendwo im nussigsten Braunspektrum, und die schönsten Augen die er je gesehen hatte. Auch wenn ihre Lider geschlossen waren. Den kurzen Moment, den er sich umgewandt hatte, war sie unerwartet eingeschlafen.
Er ließ sich ungewöhnlich langsam und bedächtig auf den unebenen Boden neben die Hexe sinken und rutschte näher, um ihr Gesicht in Augenschein zu nehmen. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen, die Haut war blasser als sonst, wirkte ausgezehrt. Nach dem Vampirangriff in Havena hatte kaum noch Leben in Neferu gesteckt und es kehrte so langsam zurück, als würden die Götter es ihr nicht recht gönnen das Sikaryan zurück zu erhalten, das sie aus eigenem Übermut verloren hatte.
Sie brauchte viel mehr Schlaf als je zuvor und war auch weniger agil und belastbar als sonst. Eigentlich, dachte er, ist es unverantwortlich sie hier überhaupt hinab zu lassen. Die Kanalisation ist schon gefährlich, wenn man im Vollbesitz seiner Kräfte ist. Aber in dem Zustand ist sie hier unten gefundenes Fressen. Wie für die Ghule vorhin.
Behutsam, um sie nicht zu wecken, bettete er den Kopf der Erschöpften auf seinen Schoß. Er wog schwerer, als man annehmen mochte. Andächtig ließ er seine Finger vorsichtig durch ihre welligen Haare fahren, spielte mit den dunklen Strähnen. Es war gut, wenn sie ein wenig Ruhe bekam. Und auch, dass er dadurch welche bekam. Blinder Aktionismus mochte sein charakterliches Aushängeschild sein, aber nicht sein Wesen. Er machte sich schon seit einer Weile Gedanken darüber, was man tun konnte, um der satuarischen Tochter wieder auf die Beine zu helfen. Sie hatte vor Wochen erwähnt, dass die Geweihten der Göttin Peraine eine wundermächtige Liturgie bewahren sollten, deren einziger Sinn es war, einen Sikaryan-Vorrat wieder aufzufüllen. Nüchtern gesprochen. Tatsächlich mochte dieses Ritual ein wenig spiritueller sein, aber Phexdan gefiel das Bild des Geweihten, der Neferu aus einer Kanne befüllte, wie man das mit einem Humpen tat. Er hob gewitzt einen Mundwinkel. Mit wenigen bedachten Bewegungen bettete er ihren Kopf auf das alte Strohkissen und sank selber in die Waagerechte, legte seinen eigenen Körper schützend an sie und zog die staubige Decke bis zu ihren Schultern hoch.
Es war bis auf das Atmen beider vollkommen still, als er seinen sehnigen rechten Arm wie einen haltenden, wärmenden Schild um sie legte.

Es mochte eine Stunde vergangen sein, als die südländische Schönheit verschlafen blinzelte. Feqzjian setzte den unschuldigsten Blick auf, zu dem er fähig war. Nur Sekunden vorher hatte er mit den Fingerkuppen von Mittel- und Zeigefinger immer wieder sanft gegen ihre Oberlippe getippt, um sie allmählich sachte zu wecken. Er wollte nicht länger allein mit seinen Gedanken sein. „Willkommen zurück, Mondschatten.“, wisperte er ihr mit einem leichten Lächeln in das nahe Ohr.
Er lag dicht und warm an sie geschmiegt, stützte seinen zerzausten Kopf in die Linke und betrachtete sie gedankenvoll. Drei Finger der rechten Hand inspizierten fasziniert langsam einen ihrer geschmückten schmalen Zöpfe. Rotglasierte Tonperlen und Spiralen aus Bronze waren dort eingeflochten.
Wie viele Monde waren vergangen, seit er das letzte Mal so nah bei ihr gewesen waren? Vier? Diese ganze Geschichte mit dem Blutegel in Lederhosen war so unnötig wie eine Furunkel am Zeh.
Er war noch immer zuversichtlich und vollkommen überzeugt davon, dass Neferu letzten Endes bei ihm sein würde und nicht bei dem eckzahnigen Anachronismus. Umso überflüssiger und vertaner war all die Zeit, die sie abgegrenzt von ihm mit besagtem Egel verbrachte.
Sie hatte sich im Schlaf zu ihm umgedreht. Ihre Stirn war an seine Brust geschmiegt, sie beide lagen auf der Seite.
Sie seufzte leise, wohlig. Die Erwachende wirkte entspannt und ausgeruht, was auch ihm weitere innere Ruhe verschaffte.
Er wusste, wie sehr sie hier in seiner Gegenwart, angelehnt an seinen Leib die Wärme tankte, die er ihr schenkte. Wie eine Eidechse, die verharrend die Sonnenstrahlen in sich auf nahm.
Wie sehr sie sie vermisste bei dem Immerkalten, dessen Leben schon vor Hunderten von Jahren geendet war und der längst vergessen hätte sein sollen, konnte er gut erahnen. Sie genoss das Leben, das sie bei ihm fand, da war er sich sicher, ebenso wie sehr er die Lebendigkeit in ihren grünen Augen liebte. Ein sichtbares Feuer, das ihm Erfüllung im Größeren Sinne verhieß. Leider brannte es seit dem Attentat des Vampirs nur noch schwach. Es glomm lediglich.
Unzufrieden durch diesen Gedanken, zerbiss er sich die winterlich spröden Lippen.

„Phexdan?“, kroch es bemüht ernsthaft aus der angenehm warmen Schlafstatt hervor. „…das eine war Efeu. Aber was war die andere Pflanze? Ich will es jetzt doch wissen, auch wenn es mir vorhin einerlei gewesen ist.“
Sie versuchte die sachliche Ernsthaftigkeit, die kollegiale Distanziertheit wieder aufzugreifen mit der sie neuerdings ihre Worte an ihn spickte, was nicht dazu passte, dass sie sich wie ein wärmebedürftiges Tierchen an ihn kuschelte.
Einen Augenblick stutzte er, um gleich danach amüsiert auf sie herab zu blicken. Die Frage hatte er nicht nur vorausgesehen, er hatte fest mit ihr gerechnet. Wenn auch nicht gerade hier und jetzt. Auch wenn sie sich selbst von ihrer Gleichgültigkeit zu überzeugen versuchte, bei ihm wirkte dieses Schauspiel nicht.
„Setz dich auf – ich zeig’s dir.“ flüsterte er in die Stille des Einsprengsels. Während Neferu sich aufrichtete, angelte er nach kurzem Gesuche ein kleines Buch aus seiner Tasche hervor. Es war schon älter und sichtbar abgegriffen, aber die Buchstaben auf seinem Einband waren gut lesbar. Manieren für Männer stand dort geschrieben. Vergnügt lachte seine innere Stimme zusammen mit der, die er stets dann hörte, wenn ihm eines seiner Kunststücke gelungen war, als er das Gesicht Neferus sah. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie nicht erwartet hatte, er habe sein Buch hier, hatte sie es doch das letzte Mal gesehen, als sie es ihm bemüht desinteressiert auf sein Bett in der Natter geworfen hatte.
Mit einer Selbstverständlichkeit, die an Provokation grenzte, öffnete er den Buchdeckel und sah unnötigerweise in das Inhaltsverzeichnis, ehe er zu dem Abschnitt mit der Blumensprache blätterte. Das Kichern in seinem Geiste erfüllte ihn mit Frohsinn. Dajin VII., der scharfsinnige Affe, hatte es ihm kurz nach der Landung des Buches auf der Bettstatt, zugesteckt. Die Ausbildung des pelzigen Gauners kam wesentlich schneller voran, als er bekannte – und als er erwartet hatte. Bisweilen waren die Augen des Affen beängstigend klar. Und die Art auf die er selbst komplexere Anweisungen nicht nur verstand, sondern auch befolgte, beunruhigten den Geweihten mehr, als er zuzugeben bereit war. Aber seine Intuition sagte ihm, dass der Affe mehr Freund denn Feind war – und mehr konnte er nicht verlangen.

Mit einer lässigen Geste tippte er auf das Bild der fraglichen Pflanze. „Brunnenkresse. Es war Brunnenkresse.“, antwortete er auf ihre Frage nachdrücklich und zögerte nicht, ihr in die Augen zu sehen. „Es bedeutet, dass du mein künftiges Glück bestimmst.“ Er betonte die Worte so entschieden, dass kurz ein Schweigen in der Luft lag, ein Atemanhalten. Beide sahen sich mit ruhigen, fast ausdruckslosen Gesichtern an. Das eigentlich Wichtige fand im Inneren statt, während ihre Körper still verharrten, wie vergessene Puppen.
Dann umspielte ein fuchsartiges Lächeln seine Mundwinkel, als könnte er den Stillstand nicht länger aushalten, klappte das Buch wieder zu und ließ es in der Tasche verschwinden, als habe er es just für diese zwei Sätze aus dem Limbus herbei gezaubert. Er liebte es, die Fassade des Geheimnisvollen für sie aufrecht zu erhalten. Er garantierte sich selbst, dass das Obskure sie anzog, bis sie es entworren hatte.
Der erhoffte Begeisterungsausbruch auf die blumige Aussage blieb beklagenswerterweise aus. Stattdessen starrte Neferu einen Augenblick erst ihn, dann die Fuchsstatue gedankenversunken an. „Erinnerst du dich an die Zeit in Grangor…“, murmelte sie dann. „In der ich dir geradezu nachgelaufen bin? Ich habe in der ganzen Stadt nach dir gesucht. Ich bin in diese Gardistenschenke gegangen um deinen Freund Peffer aufzusuchen und ihn auszufragen. Ich war im Rahjatempel, denn es hieß, da würdest du schlafen. Ich lief die Brücken ab – besonders die eine auf der ich dich das erste Mal gesehen hatte -, Gassen und Straßen. Ich mischte mich fragend unter Grangors Bettler und Grangors Gaukler, in der Hoffnung, dich zu finden. Aber gefunden habe ich dich nie. Ich konnte damals nur warten, dass du irgendwann mich finden würdest.“
Die Worte Neferus stellten ihm die Nacken- und Armhaare auf. Nicht ihres Inhalts wegen, sondern ob ihres Tonfalls. Die sachliche Distanziertheit war aus ihrer Stimme verschwunden. Weder Trotz noch Wut waren herauszuhören. Nur erschöpfte Traurigkeit oder Resignation, er vermochte es nicht genau zu unterscheiden.
Sie atmete hörbar ein, sah ihn ruhevoll an, dann teilten sich ihre Lippen erneut.
„…und das ging nicht vorbei. Ich dachte früher, dass ich irgendwann bei dir ankommen würde, aber das bin ich nie. Auch all die Monate, mittlerweile Jahre, die wir beieinander waren und das Bett teilten in einer Häufigkeit, als würde Rahja uns dafür bezahlen.. hab ich dich nie ganz gefunden.“ Ein angestrengtes Durchatmen unterbrach sie selbst. „Oh Götter, wie ich hier philosophierend schwadroniere… Aber..“ Neferu gestikulierte mit ihren langen Fingern wortefindend, „ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, dass es nicht klingt, als wäre ich ein melancholischer Bänkelsänger vom Born.. Wir.. wir haben immer nur nebeneinander gelebt Phexdan, nie miteinander. Wir waren beieinander, aber nie zusammen. Ich war nie ein wirklicher Teil deines Lebens. Du hast mir nie wirklich vertraut.“ Diese Worte versetzten ihm einen Stich ins Herz. „Ich habe es wirklich versucht. Lange und immer wieder Phexdan, aber es soll einfach nicht sein. Du hast mich nie am deinem Innersten, deinen Wünschen und Zielen teilhaben lassen. Ich habe immer nur das Lächeln gesehen, das du nach außen trägst. Mir ist bewusst, dass es genau das ist, was Phex von uns erwartet. Und nach außen hin, für die Welt, ist es auch das Richtige. Aber es ist nicht das Richtige, was zwischen einem eingeschworenem …Paar sein sollte.“ Sie hatte wohl vorerst geendet. In der Dunkelheit in der nur eine Fackel tanzte, die im Rundschrein entzündet war, brachen sich schwarze Schatten in ihrem Gesicht. Ihre grünen Tulamidenaugen bohrten sich erwartend und ernst in seinen Blick, spiegelten verzerrt sein eigenes Gesicht.

Er atmete leise aus. „Ich bin dir seit Jahren auf dem Fuß gefolgt, Nef. Habe Grangor verlassen, den Tempel, den ich dort gebaut habe jemand anderem übergeben. Ich habe dich ständig gesucht – selbst als du eine Nacht vor unserer Hochzeit das Schiff bestiegen hast und geflohen bist. Ich habe mich sogar nach Greifenfurt hinein geschlichen. Glaubst du, dass tue ich für jeden? Für Menschen, denen ich nicht traue?“ Er schüttelte seinen Kopf, ehe er ihr noch einmal durch die Haare fuhr und seine Stirn an ihre legte. Einen Augenblick herrschte Stille. „Ich stehe dir vollkommen offen. Alles was ich bin und was ich denke. Frage und ich werde dir antworten. Ehrlich und ohne etwas zu verheimlichen.“

Sie neigte sich in seine Richtung, betrachtete ihn mehrere Augenblicke lang schweigend.
„Du bist auch hier in Gareth ständig fort in der Nacht. Wohin gehst du? Zu einem Freund, einer Frau oder in den Tempel? Begehst du einen Bruch ohne mich? Oder tust du ganz etwas anderes? Ich könnte es nicht sagen, denn ich habe das Gefühl, dass ich dich trotz aller körperlicher Nähe nie wirklich kennen gelernt habe, Phexdan.“
„Ich kann dir verraten, es ist wichtig.“ antwortete er ohne Zögern, „Wichtiger als eine Einbruchsplanung, wichtiger als der Raub der Kronjuwelen und wichtiger als jeder Betrug.“Er beugte sich verschwörerisch vor, um ihr den Eindruck zu vermitteln sie sei Teil seiner eingeschworenen Gemeinschaft. „Ich gehe in meinen Garten. Kaum mehr als ein kleines Stück Erde zwischen einer windschiefen Kate und der Stadtmauer – aber meiner. Nunja…jedenfalls bis ihn jemand anderes findet. Dort habe ich die Kresse und den Efeu gezogen.“ Er lächelte sachte, als ihn ehrlich überraschte Augen verwundert ansahen.
„Aber…wie wächst dort etwas? Es ist Winter und für die Blumen viel zu kalt.“, forderte ihre dunkle Stimme eine weitere Antwort ein. Er blies die Wangen ein wenig auf. Die Antwort würde ihr sicher nicht gefallen…

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