Zerwas

Trallop 4 (Zerwas)

Die Dunkelheit hatte sich bereits vor einer Weile wie eine samtene Decke über die Welt der Menschen gebreitet, als der elegant gekleidete Mann mit den langen, schwarzen Haaren auf die Straße trat.
Dieser Abend war der Kultur gewidmet. Das Theater in Altentrallop zeigte ein – wie es hieß – durchaus kritisches Stück. Mochte das allein schon Grund genug sein es sich anzusehen, trat für Zerwas doch ein gänzlich anderer Aspekt in den Vordergrund: Neferu hatte von Phexdan eine Rolle bekommen.
Dass gerade der lästige Fuchsanbeter dieses Stück geschrieben hatte, war der einzige Nachteil dieses Abends. Jedenfalls wenn man von dem Umstand absah, dass er sich gegen Ende des Stücks würde beeilen müssen, die Brücke zurück nach Neuentrallop noch passieren zu dürfen.

Langschrittig und mit selbstbewusster Körperspannung durchquerte er die Stadt. Ging vorüber an Handwerkern, die ihre Läden abschlossen, Tagelöhnern, die in einer Wirtschaft einkehrten und an Praios-Inquisitioren, die ihre Zeit damit verbrachten…an Praios-Inquisitoren? Zerwas wurde langsamer, als er der Gestalt am Zugang zur Herzogenbrücke gewahr wurde.
Calfang Rodebrandt – herzoglicher Inquisitor und exquisite Nervensäge – stand bei den Torwachen und unterhielt sich leise mit ihnen. Passend zu der Aura triefender Arroganz, die ihn umgab war er in Reinweiß mit gelben und roten Applikationen gehüllt und vermied es tunlichst, sich während des Gesprächs an eine Wand zu lehnen.
Ein ungutes Gefühl stieg in dem Vampir auf. Es gab nur wenig Gründe für den Blonden sich auf dieser Seite der Brücke aufzuhalten. Außerdem hatte Neferu erwähnt, dass er die Vorstellung heute Abend ebenso zu besuchen wünschte. Warum also sollte er jetzt – weniger als das Viertel einer Stunde vor Beginn der Aufführung noch hier am Tor aufhalten? Außer natürlich…

„Entschuldigt mich, guter Mann. Mein Besuch ist soeben eingetroffen.“, drang es an sein Ohr, als der Inquisitor sich von der Wache löste und ohne Umwege auf den Vampir zu hielt. „Ihr seid pünktlich. Sehr gut – ich hatte befürchtet Ihr hättet Eure Pläne für den heutigen Abend geändert. Dann wäre ich zu meinem tiefsten Bedauern sicher zu spät gekommen.“
Zerwas‘ Drang das Gesicht angewidert zu verziehen wurde übermenschlich stark, als der Praiot seine Worte mit einem höflichen Lächeln untermalte, das genauso gut eine Ohrfeige hätte sein können.
„Kommt. Ich habe uns Plätze reservieren lassen. Nicht ganz vorne versteht sich – sondern auf der Gallerie – zentral und ruhig. Der perfekte Blick.“, mit diesen Worten zückte der Inquisitor zwei Billets von denen er eins dem dunklen Kontrast seiner selbst entgegen streckte. „Genießen wir den Abend.“

Weniger als 15 Minuten später, saßen beide auf gepolsterten Holzsesseln dicht nebeneinander in einer eigenen Loge. Die Lichter waren gelöscht, das Stück hatte begonnen und die Laune des Vampirs hatte sich seit seinem Aufbruch aus seinem derzeitigem Heim rapide verschlechtert. Der kritische Beigeschmack des Stückes hatte den Pöbel in Massen angelockt, sodass es selbst hier oben nach einer Mischung aus Schweiß, Flatulenz und ungewaschener Kleidung roch. Dazu kam die ungebetene Begleitung durch den Inquisitor, dessen Näschen nicht gut genug war, sein Leid zu teilen, sowie der Umstand, dass er Neferu noch nicht hatte ausmachen können. Sicher – er war davon ausgegangen, dass sie geschminkt oder vielleicht sogar maskiert werden würde, aber bisher passte nicht einmal eine der weiblichen Figuren auf der Bühne zu der seiner Geliebten.
Missgelaunt lehnte er sich nach vorne. Phexdan war leicht auszumachen gewesen. Da es sein Stück war, war er der Held der Geschichte, der alle anderen nach und nach übertrumpfte. Dass es die eine oder andere Parallele zu Menschen gab, die er kannte oder von denen er gehört hatte, machte es nicht besser – zumal er selbst offenbar den Antagonisten in diesem schamlosen Treiben stellte.
Seine Augen fuhren von Darsteller zu Darstellen, von Gesicht zu Gesicht, von Rolle zu Rolle. Aber nirgendwo war Neferu zu sehen. „Gefällt es Euch…?“, drängte der Mann neben ihm sich in seine Wahrnehmung. „Ja…ja. Es ist nicht schlecht. Aber an die großen Meister kommt es nicht heran.“, entgegnete er in der Hoffnung das Gespräch im Keim ersticken zu können. „Oh – Ihr seid ein wirklicher Theaterfreund? Seid ihr mit den Werken Barutollis vertraut…?“

In zwei Stunden um Jahre gealtert hatte der Vampir gerade noch rechtzeitig die Brücke erreicht und war so einer halb erzwungenen Übernachtung im Hause des Inquisitors entkommen. Seufzend hielt er in der Dunkelheit eines Hauses an und ließ den Abend Revue passieren. Dass Calfang ihn beinahe von dem ganzen Stück abgelenkt hatte, war zwar ärgerlich gewesen, aber nicht der Grund für den Knoten in seiner Brust. Das ungute Gefühl, dass ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Trotz aller Bemühungen des Inquisitors, ihn von dem Schauspiel abzulenken, hatte er stets ein Auge auf die Bühne behalten – und Neferu nicht gesehen. Nach der Vorstellung hatten die Schauspieler noch für kurze Gespräche mit den angeseheneren Mitgliedern der Gesellschaft zur Verfügung gestanden. Und obgleich seine Zeit knapp und sein Interesse gering war, war er hinab gegangen. Der Geruch seiner Hexe hatte vollkommen gefehlt. Was, wenn sie nicht dort gewesen war, weil sie in Gefahr, ja weil ihr vielleicht schon etwas passiert war?
Vor seinem inneren Auge stieg das Bild der jungen Hexe auf, die auf einem Stuhl gefesselt, umgeben von Praiosdienern saß und auf den Boden blutete. Unwillkürlich spürte er den Drang nach Gewalt in sich aufsteigen, den Zorn, der ihm eingab jeden auszulöschen, der seiner Liebe Schmerz zufügte. Als seine Fangzähne sich aus seinem Kiefer schoben, schloss er rasch die Augen und atmete tief ein. Zuerst würde er zuhause nachsehen…vielleicht gab es für ihre Abwesenheit eine ganz simple Erklärung. Aber wenn nicht, dann würde schon bald Blut fließen in den Straßen dieser schönen Stadt.

Trallop 3 (Zerwas)

Der Tag war klar und kalt gewesen, ganz wie Zerwas es hasste. Dichte Wolken und Schneefall verbargen die Praiosschreibe manchmal weit genug, dass er das Haus auch am Tage verlassen konnte. Dann erlebte er die Welt in ihren prallen Farben, ehe die Nacht sie ihnen rauben konnte. Natürlich wäre es ihm möglich gewesen, sich wie ein Feigling hinter Hut und Mantel zu verbergen und durch den Tag zu schleichen – aber er hasste es, sich verstecken zu müssen. Heute hatte er nur zählen können, wie viele Schimmelflecken sich hinter der getünchten Wand verbargen.
Mit einem letzten Blick aus dem Fenster, hinaus auf sterbende Farben und eine rot glühende Sonne, schwang er sich aus dem Bett.
Endlich war es dunkel genug, um seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen.

Eilig griff er nach seinem Mantel – weniger weil er sich um die Kälte sorgte, als viel eher der Tarnung wegen – warf ihn über und ging die Stufen aus dem ersten Stock des gemütlichen Bürgerhäuschens hinab ins Erdgeschoss. Dort war es still, erst eine Tür weiter hörte er das Feuer im Kamin ihres Gastgebers knacken und gleichmäßige Atemzüge, die darauf schließen ließen, dass eben jener einmal mehr beim Lesen eingeschlafen war.
Irgendwann würde er mitsamt der ganzen Hauses in Flammen aufgehen, aber das war nicht zu vermeiden. Rasch überbrückte er die Distanz zur Vordertür und trat in die aufziehende Kälte der Nacht hinaus. Wenigstens roch die Luft an Tagen wie diesen einigermaßen frisch. Sein Blick glitt die Straße entlang, die in das Herz der Stadt führte. Zu den guten Gerüchen von Garküchen, Marktständen und menschlichem Blut. Dann aber wandte er sich von diesen Verlockungen ab und einer gänzlich anders gearteten zu. Mit knirschendem Schnee vom Vortag unter seinen Stiefeln umrundete er das Haus zur Hälfte, wo er aus einem alten Schuppen in den letzten Nächten einen Stall gemacht hatte.

Tiere waren ihm in den letzten Jahrhunderten näher gewesen als Menschen. Sie versuchten nicht ihre Angst zu verbergen und sie misstrautem ihm nicht, nur weil er anders war. Tiere waren die einzigen Geschöpfe gewesen, die ihn nicht nur nicht verraten hatten, sondern die noch dazu bedingungslos loyal gewesen waren. Und besonders Pferde waren ihm ans Herz gewachsen. Dass die beiden Fohlen, die nun die mäßige Wärme ihrer provisorischen Wohnstatt genossen, von den Bewohnern Trallops ängstlich gemieden, ja sogar nur ihrer Fellfarbe wegen getötet würden, bewies nur einmal mehr die Engstirnigkeit der Menschen.
Schnell schob er sich durch die Tür, die er rasch hinter sich wieder schloss, damit nicht zu viel Wärme in die Nacht hinaus entwich. Nachtlicht und Elster standen dicht gedrängt aneinander und starrten ängstlich zur Tür.“Keine Sorge ihr beiden. Kaum jemand hat weniger von mir zu beführten als ihr.“, sprach er warm in das Zwielicht des Raumes. Im Vorbeigehen griff er nach einem Heuballen, den er erst gestern Nacht hatte organisieren können und begann ihn vor den Tieren auf dem Boden zu verstreuen. Dann machte er sich daran mit der Mistforke die Exkremente der Schecken zu sammeln und in einen Eimer zu verfrachten. Er mochte den Geruch der Ställe – Pferdemist machte ihm nichts aus. Niemand verurteilte ihn hier drin. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es weniger als drei Monate brauchen würde, bis Nachtlicht und Elster sich an seine Anwesenheit gewöhnt hätten. Dann konnte er mit der eigentlichen Abrichtung beginnen. Oder – könnte beginnen, wären sie nicht auch dann immer noch eine ganze Weile von einem Alter entfernt, in dem man sie einreiten konnte.

Er lehnte sich an die Wand in seinem Rücken und beobachtete die beiden fressenden Pferde nachdenklich. Neferu war unterwegs, um endlich ihre Queste zu Ende zu bringen. Und dann konnten sie endlich fort. Fort aus Trallop und fort von diesem impertinenten Jungspund von einem Inquisitor. Vorsichtig stieß er sich von der Wand ab und schlich auf die Pferde zu. Als er Nachtlicht erreichte, legte er bedächtig einen Finger auf seinen Rücken und ließ ihn über das Fell fahren – in der Richtung, in die es wuchs. Es war wichtig seine Präsenz mit angenehmen Dingen in Verbindung zu bringen. Vollkommen vom Fressen vereinnahmt, schien Nachtlicht den Finger gar nicht zu bemerken. Erst als vier andere dazu kamen und ihn zu kraulen begannen, erstarrte er für einige Momente. Als er wieder zu einer Regung fähig war, sah er unheimlich langsam zu Zerwas auf und schien ihn zu mustern, bis er sicher sein konnte, dass von dort keine Gefahr drohte. Dann begann er wieder zu fressen.

Die Finger des Vampirs zuckten zurück. Für heute sollte das als Fortschritt reichen. Er würde noch bleiben, bis sie fertig waren und dann gehen. Selbst erwachsene Männer brauchten lange, bis sie ihre Angst überwanden – und das hier waren nur junge Tiere. Bei dem Gedanken an junge Tiere sah er zur Decke des Stalls auf, wo eine kleine Laterne gelblichen Lichtschein von sich gab. Drinnen wartete Dajin. Oder wie Zerwas ihn gerne nannte: Das nervtötendste Wesen Deres. Er hatte vorgehabt den Affen, dessen Augen sicher größer waren als sein Hirn, zum Schweigen zu erziehen – vielleicht sogar zum Totstellen, sobald er den Raum betrat. Aber das zweitnervtötendste Wesen Deres – Phexdan – schwirrte immer um das Pelzknäuel herum, als habe er es selbst zur Welt gebracht.
Außerdem war an dem Affen irgendetwas anders. Zwar gewöhnte sich jedes Tier irgendwann an seine Anwesenheit, die Eingewöhnungszeit Dajins war aber wesentlich zu niedrig gewesen. Und selbst die erste Male, bei denen das Äffchen sich noch großäügig an sein Herrchen geklammert hatte, waren wie das Schauspiel eines schlechten Schauspielers gewesen. Rasch schüttelte er den Kopf und damit die Gedanken an den Flohzirkus Phexdans ab. Es gab wichtigeres zu tun und wichtigeres zu denken. Neferu käme bald zurück – und bis dahin wollte er gepackt haben.

Trallop 2 (Zerwas)

Er atmete durch den Mund aus und sah der schwachen Wärmewolke nach, die er dabei erzeugte. Diese Art kleiner Freuden war vergänglich. Überhaupt war es ihm nur möglich, seinen eigenen Atem zu sehen, wenn sein letztes Mahl nicht allzu lange her war. Zu schnell stahl die Wärme sich wieder aus seinen Adern.
Der Vampir verzog die Miene und stieß sich von dem Holzgeländer ab, das den Balkon umgab auf dem er stand um auf die nächtlichen Gassen Trallops hinab zu sehen. Wolfhelm verspätete sich, kein erfolgreicher Anfang für Geschäfte die eine kleine Ewigkeit währen sollten.

Nachdenklich wandte er den Blick von der Straße ab und ließ ihn in den Nachthimmel schweifen. Neferu war mit ihrer Bußqueste beschäftigt. Ein Unterfangen, dass wiedergutmachen sollten, was in der Vergangenheit schief gegangen war. Ein Ansinnen von äußerster Wichtigkeit. Es war nie gut die Vergangenheit unbereinigt zu lassen, lose Fäden von dem Gespinst des eigenen Lebens sorgten nur dafür, dass man sich früher oder später in ihnen verfing. Ja – er unterstützte ihre Bußqueste wirklich und wäre ihr heute wie auch sonst gerne gefolgt. Nur zur Sicherheit.
Aber heute trat er seine ganz eigene Bußqueste an. Auch diese hatte zum Ziel, einen Fehler seiner Vergangenheit zu korrigieren.

Unsichere Schritte unten in der Gasse ließen ihn aufmerken. In den Schatten der kleinen Nebenstraße bewegte sich eine Gestalt vorsichtig vorwärts und sah sich dabei suchend um. Den Hals verdreht, um möglichst in alle Richtungen sehen zu können, rammte sie einen Eimer, der polternd über das Pflaster davonrollte. Erschrocken machte die Gestalt halt und erstarrte – Wolfhelm war angekommen.
Mit einer flinken Bewegung war sein langlebiger Geschäftspartner über das Geländer hinweg und hinab in die Gasse gesprungen. Das Geräusch des Eimers hatte ihn mit Leichtigkeit übertönt, sodass er es unbemerkt in Wolfhelms Rücken geschafft hatte. „Wolfhelm. Du bist zu spät.“, ließ er ihn mit der Ruhe eines Mannes wissen, für den Zeit den Großteil ihrer Bedeutung verloren hat.
Der arme Mann zuckte noch einmal zusammen und wirbelte herum. „Ich…ich…“ brachte er hervor, während Zerwas ihn in Ruhe musterte.
Wolfhelm stammte aus Baliho und war dort Holzfäller gewesen, bis er sich bei der Arbeit mit Esche vergiftet hatte. Das war inzwischen etwas mehr als zwei Wochen her, aber das Gift schwächte ihn zunehmend, sodass er seine Arbeit nicht mehr ausführen konnte. Er hatte in Trallop nach Hilfe gesucht, aber – noch – keine gefunden. Besonders, da er sich bei der Geweihtenschaft Peraines nicht blicken lassen konnte. Um zu überleben hatte er mehrfach Firun freveln müssen – und in einem Fiebertraum einem Angebot Belshirashs zugestimmt. Zwar war er damit lediglich einen Minderpakt eingegangen – aber die Göttern waren weniger großmütig als Zerwas.
„…und dann waren da Wachen, also musste ich…“, stammelte der Mann sich gerade zusammen, während er den Vampir anstarrte. „Jaja. Ich kann meine Euphorie kaum zügeln.“, unterbrach Zerwas ihn. „Kommen wir zum Geschäftlichen. Deine Krankheit lässt dir keine Zeit für ausschweigende Entschuldigungen und mich interessieren sie nicht. Was hat der Medicus gesagt, wie lange du noch hast? Das Geld, das ich dir gab hat gereicht, nehme ich an?“
Ein Rasches Nicken war sein Lohn. „Er sagt, ich habe nicht mehr als 6 Götternamen. Bei den gütigen Schwestern! Ihr müsst mir helfen!“, die geröteten Augen in dem schmutzigen Gesicht mit dem langen, schwarzen Bart füllten sich mit Tränen, als er flehentlich seine Hände rang.

Bei Borons Gnade…hör auf zu wimmern, du Äffchen., schoss es dem Vampir durch den Kopf. „Dein Leben ist gerettet, Wolfhelm. Mehr noch – ich biete dir ein Leben das durch nichts mehr beendet werden kann. Du siehst der Unsterblichkeit entgegen…wenn du tust, was ich dir sage. Betrachte es als – eine Prüfung deiner geistigen Fähigkeiten und deiner Loyalität.“ Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust und ließ seinen stechenden Blick in die Augen Wolfhelms wandern, der nickte, als hinge sein Leben davon ab.
„Es gibt da eine Stadt, die mir, obgleich sie mich behandelt wie einen Aussätzigen, sehr am Herzen liegt. Eine Stadt, die in diesen Tagen allzu sehr von inkompetenten Narren gelenkt wird. Sicher verstehst du, dass ich nicht zulassen kann, dass meine Heimat, meine Stadt wegen einiger törichter Ketzer zugrunde geht?“, langsam legte er seinen Kopf zur Seite und fixierte seinen Gesprächspartner.
Eben jener nickte erneut:“Natürlich, Herr! Was kann ich tun, um mich zu beweisen?“
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Nachtkindes. Die Ideale der Menschen krankten alle an demselben Fehler ihrer Rasse: Der Sterblichkeit. Er kannte nur wenige Menschen, die Golgaris Schwingen hörten und das Angebot auf ein langes, glückliches Leben ausschlugen, nur weil es von einem Vampir kam. „Es ist keine schwere Rolle, die du in dem Stück, das du ‚Leben‘ nennst spielen wirst.“, rasch warf er ihm einen Beutel zu, der mit nicht weniger als 200 Dukaten gefüllt war. „In einer Woche wird Anshag Lichtenfold, seines Zeichens wohlhabender Händler von Bernstein aus unserer wunderschönen Hauptstadt Gareth, in Greifenfurt eintreffen. Dort wird er mit den Geweihten Praios‘ handeln, mit ihnen trinken und versuchen bei ihnen zu nächtigen. Anshag ist ein frommer Mann, dessen Frau viel zu früh verstarb, sodass er sein Töchterlein daheim stets dem Schutze des Götterfürsten anempfiehlt, wenn er sich auf Reisen begibt. Man wird ihm viel erzählen und er wird noch mehr mithören.“

Nach dieser Erklärung verstrichen einige Sekunden, in denen Wolfhelm zwischen dem Beutel in seiner Hand und der hoch aufragenden, dunklen Gestalt des Vampirs hin und her sah. Dann strafften sich seine Schultern und er rückte die Mütze zurecht, die er auf dem Kopf trug. „Und ich nehme an…es ist besonders die Herrschaft und ihre politische Situation, die Euch interessieren?“
„…und die militärische, ja. Ich sehe, wir haben uns verstanden.“, entgegnete der Alterslose. „Ich erwarte deinen Bericht in vier Götternamen. Fällt er zu meiner Zufriedenheit aus, dann erhälst du deinen Lohn und weitere Aufgaben. Jetzt geh – meine Zeit ist nicht weniger kostbar als deine.“
Mit einer scheuchenden Handbewegung veranlasste er den Mann zu gehen und wandte sich dann selbst von der kleinen Gasse ab.
Ein Haus in Aranien wäre sicher eine Sache, wenn Neferu es mit ihm bewohnte. Eine Situation, die viele Menschen einfach genießen würden. Aber der Vampir wusste – er würde dort kein vollkommenes Glück finden. Zu tief saß der Stachel aus seiner eigenen Stadt vertrieben worden zu sein. Sein Reich eingebüßt zu haben, weil ein knabenliebender Schönling getan hatte, was er am besten konnte: Ein Horn zwischen die Lippen nehmen. Ein wütendes Schnauben ließ Luft durch seine Nase schiessen. Greifenfurt war sein, niemand hatte einen älteren Anspruch auf die Stadt als er selbst! Und wenn er erst die Schwächen der Herrschaft kannte, würde seine kalte Hand das Schicksal der Stadt erneut bestimmen. Ein Schicksal, das ein Heim für seine Familie ebenso beinhaltete, wie eine Namensänderung.

Er hielt inne, als er das Haus erreichte, in dem Neferu und er dieser Tage nächtigten. Der Duft der jungen Hexe hing noch schwach in der Luft, würde aber bald Vergangenheit sein. Sie war noch nicht zurückgekehrt – also würde er auf sie warten.

Havena 18 (Zerwas)

Die Dunkelheit des Zimmers im ersten Stock des Heilerhauses war nicht derart vollkommen wie sie es in den Verliesen der Boronsinsel war, aber sie reichte um ihn vor den Blicken eines neugierigen Pflegers zu schützen. Er drang durch das Fenster in das Zimmer ein, in dem die rote Hexe ruhte. Ihr Geruch hing nur schwach in der Luft, beinahe so, als sei ihre Existenz, ihre Lebenskraft auf ein Weniges zusammengeschrumpft.

Schuld krampfte in seiner Brust, als ihm ein wesentlich deutlicherer Geruch in die Nase stieg – der nach Knochenmark und geronnenem Blut. Zwar hatte er ihn erwartet, da Sagarta ihn auf die Verletzung hingewiesen hatte, aber er traf ihn dennoch mit unerwarteter Härte. Nicht, weil er den Geruch schwerer Verletzungen nicht gewohnt gewesen war, sondern weil diese Verletzung von ihm herrührte, obgleich er sie niemals beabsichtigt hatte.

Seine Lippen waren trocken, sodass er darüber lecken musste. Es kam selten vor, dass er in eine Situation mit derart hohem Einsatz und derart ungewissem Ausgang geriet. Ein ungewohnt drückendes Gefühl lastete auf seiner Brust, als er sich lautlos dem Bett näherte – das Gefühl etwas Wunderbares zerstört zu haben. In wenigen Sekunden vernichtet zu haben, was sich über Jahre bewährt hatte. Das bittere Gefühl eines schweren Verlustes, das sich eines Herzens bemächtigte, wenn ein geliebter Mensch zu Boron gefahren war, stieg in ihm auf, als er neben der schlafenden Frau mit den dicken Verbänden um den Schädel auf das Bett sank.

Niemals zuvor war Neferu ihm derart zerbrechlich vorgekommen, wie in diesem einen Moment. Und ihn beschlich das ungute Gefühl, dass der Verband, der eine Hälfte ihres Gesichtes, einschließlich des Auges verbarg, ihm den wahren Schrecken noch vorenthielt.
Das Gefühl eines bevorstehenden Unheils sprang seine Brust hinauf, als die Atemzüge der jungen Frau unregelmäßiger wurden und sich eines ihrer Augen öffnete. Hätte er ein schlagendes Herz gehabt, es wäre dem zerspringen nahe gewesen. Der Moment der Wahrheit war gekommen. Sie würde vor ihm zurückzucken – um Hilfe rufen oder vielleicht sogar versuchen aus dem Bett zu gelangen, nur um ihm zu entkommen, da war er sich sicher.
Er hielt inne, rührte sich nicht – doch nichts geschah. Sie sah ihn einfach nur aus dem einen Auge wach und aufmerksam an, die Miene reglos. Ob sie unter Schock stand?
Ihm wurde klar, dass es an ihm war etwas zu sagen.
Mit brüchtiger Stimme wollte er sie gleich im Vorfeld beruhigen:„Hab keine Angst, ich will dir nichts tun.“
Noch immer war in den Atemzügen der Frau keine Panik auszumachen. Langsam und tief hob und senkte sich ihr Brustkorb.
In vorsichtigen Bewegungen, denn er wollte sie nicht verunsichern, nicht erschrecken, ließ er sich neben ihr auf das Bett sinken. Er musste sie aus der Nähe betrachten.
In die düsteren Misstöne der nagenden Angst mischte sich eine leise, hoffnungsvolle Melodie. Konnte es denn sein, dass ihre Liebe für ihn selbst diesen Angriff unbeschadet überstanden hatte? „Bitte hab‘ keine Angst vor mir…“, bat er sie leise, diesmal selbstsicherer.

Langsam schob er seinen Kopf weit genug vor, um mit seiner Stirn die ihre zu berühren. Kühles Fleisch stieß auf Warmes und blieb dort. Kein Zurückzucken ihrerseits, sie ließ es geschehen.
Zaghaft streckte er seine Rechte aus, um sanft mit einem Finger den Verband ihrer verwundeten Wange zu berühren. Was hatte er ihr nur angetan.. Er hoffte inständig, dass es eine Möglichkeit gab, die Verletzung schneller heilen zu lassen – ihr die Schmerzen zu nehmen.
Noch immer entzog sie sich ihm nicht. Blieb ruhig und nahe bei ihm liegen, machte weder Anstalten zu fliehen, noch zu schreien.
In einem Automatismus, der von vielen gemeinsam verbrachten Tagen und Nächten herrührte, suchte seine Hand unter der Wolldecke nach ihrer. Eine Welle der Erleichterung fuhr durch seinen Körper, als ihre schlanken Finger sich wärmend um seine schlossen und innig zudrückten.
„Bitte hass‘ mich nicht…“, flüsterte der Vampir seiner sterblichen Geliebten leise zu. Noch immer hielt das Gefühl, einer furchtbaren Katastrophe gegenüber zu stehen, sein Herz eng umfangen. Dass sie ihm tatsächlich bereits verziehen hatte, war irreal, lag so weit von seinen Erwartungen entfernt, dass sein Geist diese Möglichkeit nicht als Ergebnis seiner Handlungen einzuschätzen vermochte.

Während er mit seinen Gefühlen haderte, zweifelte und sich grämte, spürte er, wie der schwache, bettwarme Körper sich an seinen schmiegte, während Neferus Hand der seinen entglitt. Ihre Arme schlangen sich um ihn, schienen ihn so fest halten zu wollen, dass er nie wieder fort konnte. Zusammen mit der Wärme des Körpers neben sich, kam die Wärme in seinem Herzen. Obgleich sein schlechtes Gewissen ihn noch immer quälte, konnte er doch nicht anders, als dem Gefühl nachzugeben. Er drückte sie an sich, als könne sie ihm jederzeit wieder entrissen werden.
Obwohl er es nicht für möglich gehalten hatte, spürte er, dass der Kelch aus dem die Hoffnungslosen tranken, an ihm vorübergegangen war. Ein Umstand, für den er die Frau in seinen Armen nur umso mehr liebte.

Havena 13 (Zerwas)

Der spitze Schrei der Frau kam nicht unerwartet, aber ungelegen. Hatte er auf der stillen Insel Aufmerksamkeit erregt?!
Die Beute zu überwältigen war ein Leichtes. Die Rosen, die sie auf ihrem Arm getragen hatte, fielen um ihn und sein Opfer, wie blutiger Regen.
Der nervenzerfetzend schmackhafte Geruch des süßen Hexenblutes schien beinahe in seine Nase zu beißen und heißer Hunger ließ ihn erbeben, als er sich übernatürlich schnell auf sie stürzte.

Auf kürzestem Weg fanden seine Eckzähne in ihre pulsierende, lebend-warme Halsschlagader. Nur den Bruchteil eines Augenblicks später schoss das lebensspendende Nass in seinen Mundraum, ließ seine Sinne verrückt spielen und versetzte ihn in einen Rausch. Die Erfüllung des blutigen Traums eines jeden Vampirs. Das Leben einer Eigeborenen. Sumus eigenes Blut, reinstes Sikaryan.

Unter ihm bewegte sich die panisch zappelnde Hülle, die das Sikaryan umgab. Sie kämpfte um ihre Freiheit, kämpfte darum, dem eisernen Griff zu entkommen, der zu stark für sie war. Sie schrie und schlug mit all der Kraft ihres Körpers, aber blieb chancenlos.
Dann durchschnitt ein stechender Schmerz an seiner rechten Wange das Hochgefühl. Drängte sich in seinen Triumph – und rührte an seinem Zorn. Sie hatte sich in seiner Wange verbissen. Ihre Zähne drangen jetzt ironischerweise in sein Fleisch.
Kraftvoll bäumte er sich auf und wurde so die Kiefer der Hexe los. Die geschlagene Wunde begann bereits sich zu schließen, als er ausholte und einmal kräftig zuschlug, um dem Widersetzen endgültig ein Ende zu bereiten.

Ein befriedigendes Knacken war die Antwort. Ein Knacken, das dieser anmaßenden Neferu sicherlich ihr Genick gebrochen-…Neferu? Nein! Er erstarrte über ihr, sein Angriff hielt inne. Seine Augen wurden klarer, die animalische Gier verflog. Verzweiflung schmeckte bitter in seiner Kehle und begann sie brennend zuzuschnüren. Sie lag still und reglos unter ihm, wehrte sich nicht mehr, schrie nicht mehr. Mit schreckensweiten grünen Augen und leicht geteilten, noch immer triefend blutigen Lippen begriff er das Ausmaß seines wild-hemmungslosen Blutwahns.
Das war unmöglich. Über die letzten Jahre war ihm die Kontrolle niemals derart entglitten. Die Götter kannten keine Gnade, wenn das…

Ehe er den Gedanken zu Ende führen konnte, verlor er den Boden unter den Füßen, spürte, wie er von dem warmen Leib seiner Geliebten fortgerissen wurde und durch die Luft geschleudert an einer nahen Mauer endete. Stein bröckelte und dunkle Punkte tanzten vor seinen Augen, als er sich fauchend, aber durch den Schock geschwächt wieder aufzurichten versuchte. Er musste zurück, musste wieder gut machen, was er angerichtet hatte. Er war der Panik nahe, als sein Blick sich vor Schmerz nicht sofort fokussieren konnte.
Dann traf ihn ein weiterer unerbittlicher Angriff Sagartas. Wieder spürte er, wie er angehoben, aber sofort mit immenser Wucht auf den Boden geschmettert wurde.

Er konnte einen letzten Blick auf den leblosen Körper in Rot neben dem Rhododendronbusch werfen. Er selbst konnte kaum unterscheiden, wo der Stoff endete und das Blut begann. Nein… Nein, nein!
Drang es hoffnungslos und schwach durch seinen Geist, dann raubte ein letzter scharfer Schmerz ihm das Licht des Bewusstseins.

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