Zerwas

Gareth 19 (Neferu) (TSA 1013)

Gefährlich ist es, im Nebel zu wandern.
Ja. Nein.

Die Kraft des Phexhandschuhs aus der Brache vermochte es zu helfen, Backsteine zu entdecken, die unter den unzähligen Weiteren der gemauerten Kanalisation besonders waren.
Denn dahin hatte der geheime Gang sie geführt: Nach unten. In die düsterfeuchten Wurmlöcher, die seit Jahrhunderten unter der Stadt lagen und von jedem Menschen mit Verstand gemieden wurden.
Sie war schon einmal hier gewesen, es war nicht einmal lange her. Das Gewirr von Gängen war ein Irrgarten und ein gefährlicher dazu, konnte man doch nie sagen, was sich hier unten eingenistet hatte und nur darauf wartete, gesundes Frischfleisch zwischen die Kiefer zu bekommen. Sie dachte an die Ghoule und fröstelte. Und ebenso versuchte sie die Gedanken an all die trippelnden, fiepsenden Ratten zu verdrängen.
Die Mauersteine, die auf den Handschuh reagierten, ließen sich aus dem Verbund der Wand lösen. Auf ihren Rückseiten, waren Worte graviert.
Ja, ist es. Gefährlich im Nebel zu wandern. Antwortete Neferu in Gedanken und ging in die Richtung auf der das ‚Ja‘ verzeichnet war.
Nebel konnte Schutz bedeuten, aber nur der Närrische würde die mögliche Gefahr ignorieren. Ähnlich war es hier unten, in den Gedärmen alter Zeit.
Leise bewegte sie sich vorwärts, immer voran.

Phex hilft dem, der sich selbst hilft.
Ja. Nein.

Eindeutig ja. Sie folgte auch dieser Richtung und leise drangen raue Männerstimmen an ihr Ohr.
Vorsichtig schlich sie in der Dunkelheit des Garether Untergrundes voran. Sie wollte lieber langsam sein, als irgendwelchen Halsabschneidern hier unten in die Finger zu geraten.
Der Zauber der Katzenaugen ließ sie einigermaßen sehen. Tunnel um Tunnel, alle sahen sich so ähnlich. Ihre Orientierung waren nur die Angaben auf den Steinen.

Bei einer falschen Antwort lauert der Tod.
Ja. Nein.

Ja. Sie war sich ziemlich sicher, dass das hier kein Spiel war. Ein Wartungstunnel verband zwei Abschnitte. Die Stimmen wurden lauter. Der Hall der Wände ließ sie näher erscheinen, als sie waren. Vorsichtig spähte Nef um die Ecke und fand drei Männer, die auf einem notdürftig errichtetem Lager ausharrten, auf etwas zu warten schienen. Wie sie aussahen, ungepflegt und abgerissen, gehörten sie sicher nicht zur Alten Gilde. Sie machten zotige Witze, lachten dumpf, aber leise.
Neferu wollte die Kerle nicht verletzen. Aber sie mussten gehen, denn sie saßen mitten in ihrem Weg. Die Hexe riss sich ein Haar aus, band eine Schlaufe und warf den Knoten in einer bedachten Bewegung in die Richtung der Gestalten. Konzentriert separierte sie das Gefühl von Macht, dem Verbreiten von Schrecken und dem Genuss, wenn andere vor einem schreiend flohen. Ihre Gedanken formten das Bild einer Mauer, ließen gepeinigte Seelen schreien, Arme aus Blut und Feuer ausstrecken und den Geruch von Schwefel und Rauch verbreiten.
Die drei Schmuggler sahen die dämonische Wand und suchten ihr Heil in der Flucht. Abergläubisch fluchend stieben sie davon und ließen Decken, einen alten Rucksack und einige leere Flaschen Alkohol zurück.
Die Lauernde im Schatten atmete sachte durch und beglückwünschte sich zum Aberglauben des einfachen Volkes, der ihr selbst normalerweise negativ entgegen schlug, wenn sie sich als das offenbarte, was sie war: Eine Tochter Satuarias. Aus dem Geschäft der drei würde heute wohl nichts mehr werden. Trotzdem musste sie achtsam bleiben.

Es roch muffig und feucht da unten. Irgendwie nach Pilzen. Vom Lärm der Metropole hoch über ihr war nichts zu bemerken.
Sie betete inständig, keinem Ghoul zu begegnen. Oder zumindest nicht die Besinnung zu verlieren, wie das letzte Mal. Dieses Mal war sie allein. Es war kein Phexdan da, der ihr den Arsch retten konnte. Sie hatte dieses drängende, ehrgeizige Gefühl, dass das hier unten ihre Prüfung war und niemandes sonst. Die vormalige Schnitzeljagd hatte sich als etwas viel größeres entpuppt, das konnte sie spüren. Es war ein Test. Und am Ende stand alles oder nichts. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, ihre Sinne blickten scharf in die Gänge, in das Labyrinth Unter-Gareths.

Der Kerker der Stadt ist ausbruchssicher.
Ja. Nein.

stand auf der Rückseite des nächsten Steins geschrieben. „Nein.. sicher nicht..“ flüsterte sie leise in die kühle Luft.
Kaum, dass sie die Kurve genommen hatte, stach ein Schimmer in ihre empfindlichen Augen. Sie bemerkte, wie sich die schmalen Pupillen der Katzenaugen verengten.
Was war das?
Da, am Ende des Ganges leuchtete es Rot. Alles war bedeckt von rotem Moos.
Feuermoos… Sie hatte davon gehört. Von Phygius. Das Zeug war schlimmer als klassische Säure. Es fraß alles Organische. Metall, Stein oder Glas waren vor ihm sicher. Sollte ihr Weg hier zu Ende sein? Das Moos bedeckte den Boden sicher ganze fünfzig Schritt weit, sie konnte kaum das Ende dieser flammenfarbenen Flechte sehen.
Die Tunneldecke allerdings war frei davon. Es hatte sich nur auf dem Boden und an Teilen der Wände ausgebreitet. Sie drückte die Lippen aufeinander, dachte nach.
Und dann hatte sie es! Sie kehrte hastig um, nahm den direkten Weg zurück zu dem dürftigen Lager der immer noch absenten Schmuggler. Sie nahm die zwei leere Flaschen mit.
Auf ihrem Weg sammelte sie vier Backsteine ein, die nicht mehr ganz waren und irgendwann aus den alten Wänden gebrochen waren.
Das war halsbrecherisch. Mal wieder.
Ihre behandschuhten Finger griffen einmal beherzt in ihre Faust. Dann ließ sie es darauf ankommen.
Immer zwei Steine als Trittfläche legte sie vorsichtig auf das Feuermoos. Einen dritten, um den unsicheren Pfad über das Feuer mit ihm fortzuführen. Und einen letzten als Ersatz. Sie ließ ihren Umhang und das meiste Zeug in ihrem Rucksack zurück. Sie wollte nicht fallen. Sie wollte nicht im Moos zu einem Häufchen Nichts vergehen.
Die Flaschen nutzte sie als Stütze links und rechts. Sie flüsterte leise ein Stoßgebet, bat um Glück.
Auf diese Weise quälte sie sich in einer schier unendlichen Zeit über das tödliche Gewächs, das sie in Augenblicken vollständig aufzulösen vermochte.
Der Schweiß stand auf ihrem roten Gesicht. Nicht nur ein Krampf plagte sie. Aber etwas trieb sie an. Zuerst die Neugier und die Gewissheit, dass da am Ende etwas war, das es wert sein würde. Und als sie auf der Mitte war, trieb sie der Willen zu überleben an.
Und dann.. endlich.. hatte sie es geschafft.
Sie fiel keuchend auf den feuchten Kanalisationsboden und wollte den nackten Stein küssen – was sie dann doch besser unterließ. Sie blieb eine gefühlte Stunde liegen, massierte ihre gepeinigten Beine und Arme, ehe ihre angestrengte Muskulatur sich bereit erklärte, sie weiter voran zu tragen. Nur voran..

~

Haarscharf war die Moosakrobatik gewesen. Wie hätte das ausgehen können… Sie wischte den Gedanken fort.
Ein fünfter Stein wartete an einem Gitter in der Mauer auf sie.

Glaubst du, dass es den Mond gibt?
Ja. Nein.

Natürlich gab es ihn. Sie folgte der linken Abzweigung. Eine steinerne Wendeltreppe führte so tief herunter, dass man ihr Ende nicht sehen konnte.
Sie wusste nicht viel, aber dass es den Mond tatsächlich gab, den obersten Erleuchteten der Phexkirche, das zweifelte sie niemals an.
Mit jedem Schritt nach unten wurde es wärmer. Ging sie ins Innere von Sumus Leib? Warum hörte die Treppe nicht auf? Da waren nur ihre Schritte und dann und wann ein Tropfen.
Das seltsame Gemisch an Gefühlen in ihr wallte auf: Hochstimmung und bedrückende Mulmigkeit.
Der Steinzylinder in dem sie sich in die Tiefen schraubte, gab ein weiteres Geräusch preis von dem er irgendwann gänzlich erfüllt war: ein Rauschen. Zuerst war es leise, doch irgendwann, denn ihre Schritte wurden nicht zaghafter, schwoll das Rauschen zu einem regelrechten Getöse an.
Sie betrat den Boden des Zylinders. Ein Gang lag offen vor ihr. Laut brach sich das Geräusch wütenden Wassers tausendfach an gemauerten Wänden.
Neferu trat langsam durch den Durchgang.
Sie kam in einen zweiten Zylinder, in dem es ohrenbetäubend laut war. Und vor allen Dingen war es eine Sackgasse. Ein frei hängender Steg ragte ziegelgemauert über einem Abgrund, einem tosenden Strudel! Und an dem Steg wuchs rotglimmend Feuermoos, nur in der Mitte einen schmalen Grat frei lassend.
Die Geweihte wagte sich wenige Schritte vor, spähte dank ihrer magischen Augen und mittels eines spiegelnden Dolches hinab auf den wirbelnden Strom.
Dort unten schwamm etwas.. Ein großer dunkler Körper kämpfte auf der Stelle, immer gegen die mächtigen Wasser an.
Sie biss die Kiefer zusammen, dass es knirschte. Ein Dämon? War das da unten ein Dämon? Die Kreatur musste monströs groß sein…
Gut, dass sie Erpelgriebs Rädchen dabei hatte. Doch das Windrad blieb still. War es doch keine niederhöllische Kreatur oder funktionierte das alberne Spielzeug schlichtweg nicht..? Hatte Erpelgrieb sie übers Ohr gehauen?
Neferu fühlte sich ratlos. Was sollte sie hier? Was erwartete das Rätsel von ihr? Sie musste irgendeine zündende Idee haben.
Weiter ging es auf keinen Fall, da war sie sich sicher, nachdem sie sich noch einmal gründlich umgesehen hatte.
Da waren nur der Steg und der Strudel…
Da fiel ihr auf, dass ganz am Ende des Steges ein Backstein lag.
Vorsichtig, nach ein paar Wimpernschlägen des Zauderns, näherte sie sich dem gefahrvollen Feuermoos und angelte den Quader mit einer erloschenen Fackel zu sich heran.
Auf seiner Rückseite stand in deutlicher Gravur:

Du denkst, alles ist sinnlos? Geh zurück, sei fleißig, demütig, ängstlich. Du glaubst, alles ist voller Sinn? Stürz dich mit einem Salto vom Feuersteg.
Sie starrte den Stein an.
Es verschlug ihr einen Moment lang gänzlich den Atem.
Fleißig, demütig, ängstlich.. klang es in ihrem Innern wider.
Die Kreatur dort unten schwamm noch immer in einer ewiglichen Aufgabe gegen die Flussrichtung.
Sie haderte mit sich. Sterben wollte sie nicht. Was war, wenn das alles nur eine Finte war?
Aber.. was war, wenn es das nicht war…?
Fühlte es sich wie eine bösartige Falle an?
Nein. Sie hatte das Gefühl, vor etwas ganz Großem zu stehen. Vor der größten Sache ihres bisherigen Lebens.
Phex, was auch immer ich finden werde… Ich werde es dir schenken. Alles davon soll dein sein!
Sie trat zurück, nahm Anlauf … und sprang.

~

Das Rauschen war fort. Da war nur Stille, so dass ihr eigenes Atmen, das glücklicherweise noch immer intakt war, das einzige war, das sie hören konnte.
Dann sprach wie aus dem Nichts heraus eine Stimme zu ihr. Sie wagte die Augen zu öffnen und blickte in eine Höhle gigantischen Ausmaßes. Tropfsteine ragten von der entfernten Decke herab und alles war in ein bläuliches Licht getaucht, das von einer felsigen Empore aus zu scheinen schien.
Wenige Schritt von ihr entfernt stand ein Mann in grauer Robe.
Und überall – auf jedem Flecken des Bodens – befanden sich Hügel und Berge aus Schätzen, Kostbarkeiten! Ein Meer aus Dukaten, Reichtümern und Artefakten.
Sie vergaß das Atmen, während der Graue sie begrüßte.
Er warf die Kapuze zurück. Es war ihr Vogtvikar, der Leiter des Tempels der Schatten. Jereminas Torfstecher.
Lebte sie noch? Sie musste – denn Torfstecher war nicht tot. Auch wenn sie sich so bisher die ewigen Hallen Phexens hätte vorstellen können.
„Wo bin ich?“ war das erste, was ihr einfiel.
„Das hier ist Phexens Silberhort. Und du bist jetzt sein Hüter.“

„Silberhort?“ Es versagte ihr die Sprache.
„Der Großteil aller Opfer an Phex aller Zeiten landete und landet hier – ohne unser Zutun. Es geschieht einfach. Phex selbst tut sein Werk.“
„Was? Hüter?“ Sie war schon einmal ein besserer Gesprächspartner gewesen.
Irgendwo klimperten Dukaten. Ein neuer Gegenstand tauchte auf. Ein kürzlich gespendetes Opfer an den Herrn des Nebels kullerte von einem Geldberg hinab, bis es seinen Platz fand zum Liegen zu kommen.
Staunend wie ein Kind starrte sie die fremde Umgebung an.
„Er hat dich für würdig befunden. „Torfstecher schmunzelte. „Die drei Vogtvikare Gareths gelangen immer hier her. Hüter gibt es nur einen. Du hast ein Jahr Zeit, ein neues Rätsel zu gestalten. Das letzte Mal hat es vier Jahre gedauert, bis das aktuelle Rätsel nun von dir aufgelöst wurde. Ich hatte die Vision, dass du kommen würdest, deshalb bin ich hier.“
„Vier Jahre!“ Noch immer ließ die Faszination und der Schrecken, mit dem Leben davongekommen zu sein nicht nach. „Wer.. war es vor mir? Wer war der Hüter?“
„Talimee Nebelstern war deine Vorgängerin.“
Langsam kam Neferu auf die Beine. Alles klimperte und klirrte, Münzen rollten.
„Es ist dir gestattet, etwas zu nehmen.“ Mit einer anbietenden Geste deutete er auf all den Reichtum, „Nimm dir, was du willst…“ Die letzten Worte waren mahnend. Gier war alles andere als eine Tugend und nichts, was Phex schätzte.
„Und du kannst einen Gast herbringen, der sich genau einen Gegenstand aussuchen darf. Nur einen einzigen. Der Gegenstand wird ihn erkennen, nicht anders herum.“
Neferu nickte stumm, die Flut von Informationen und der Anblick edelster Gegenstände ließ sie glauben, zu träumen. Glücklicherweise war sie nie goldgierig gewesen.
„Und..“ setzte der Vogtvikar an, „Der Mond soll ab und zu hier herkommen, Sprich ihn nicht an! Das bringt Unglück.“
„Wie.. werde ich ihn erkennen?“
„Du wirst ihn erkennen.“
Ich habe Phex seinen eigenen Hort geopfert… kam es ihr in den Sinn. Sie schmunzelte, als sie an ihr Versprechen kurz vor dem Sprung dachte.
Und dann sprach sie es aus: „Ich habe Phex versprochen, was auch immer ich finden würde. Ich kann nichts nehmen.“
„Sei nicht albern, Bescheidenheit ist keine Tugend. Du hast es dir verdient. Du hast Phex seinen Hort geschenkt – ich habe es wohl gesehen: Als du ankamst, verschwand alles für einen Augenblick und war dann wieder da. Und jetzt legt der Graue dir seinen Hort offen. Er belohnt dich.“
Jereminas wandte sich um. Dann zeigte er ihr den Ausgang und beschrieb ihr die Möglichkeit zurück in diese heiligen Grotten kehren zu können.

Nachdem sie mehrere Stunden in dem Hort geruht hatte – tatsächlich wäre sie fast eingeschlafen, der Ort hatte trotz seiner Imposantheit etwas Friedliches – sah sie sich genauer um. Sie ließ Geld zwischen ihren Fingern hindurchrinnen, beguckte sich schöne Kannen und prachtvolle Gemälde. Sie zog Ringe auf die Finger, nur um sie wieder abzulegen. Es war schöner das alles zu bestaunen, anstatt es zu besitzen. Sie fand einen wunderschönen Dolch für Salpico, einen reichbestickten aranischen Teppich und eine Karte, die in einer feingearbeiteten Hülle aus Bosparanienholz steckte für Phexdan, einen Doppelkhunchomer in reicher Scheide, voll von Rubinen und Diamanten für Zerwas.
Das waren ihre Geschenke an die Menschen, die sie liebte.
Sie selbst nahm zwei Bücher und eine Erinnerungskette an sich. Erinnerungsstücke hatten ihr schon immer gut getan. Die Kette sah aus wie eine Phiole an einem Silbergeschmeide, mit eingefassten roten Steinen.
Am Ende zog sie am Seil und stand wie durch Zauberhand mitten in der Nacht im Theater ‚Fuchsbau‘..

~

Am nächsten Morgen war das Wetter schön. Wenige Wolken bedeckten einen klaren Frühlingsmorgen. Mit voranschreitendem Tsa kam der Geruch von Blüten und von frischem Wind.
Es war der Beginn des elften Tsa im Jahre 1013 nach Bosparans Fall.
Und es war der Tag an dem Muamer ibn Hakim, den zu dieser Zeit jeder nur als Zerwas kannte, nach Khunchom ging, in die Stadt, in der seine Ahnen gelebt hatten. Mit dem Doppelkhunchomer, dem letzten Geschenk auf seinem Rücken, verließ er Gareth.
Neferu wusste, sie konnte ihm schreiben, auch wenn Boten teuer waren. Sie wusste, er war nicht ganz aus der Welt.
Sie tröstete sich, dass das nicht das letzte Kapitel ihrer gemeinsamen Zeit sein musste, hatten sie beide doch die Ewigkeit vor sich.
Er hatte ihr zum Abschied gesagt, er wolle ihre letzte Liebe sein.
Ob er sich mit diesem Gedanken selbst Trost schenkte oder ob er es wahrhaftig so meinte, war einerlei. Der Geschmack auf ihrer Zunge war durch diese Worte weniger bitter gewesen, verhießen sie doch, dass es in dieser Sache kein endgültiges Ende gab. Neferu war nicht gut dabei, wenn sie mit endgültigen Enden zu tun hatte. Sie hatte hart mit Abschlüssen zu kämpfen.

Die Phex-Hexe ließ sich durch den Trubel der Stadt treiben, ihren Gedanken nachhängend. Elster war bei ihr. Die junge Stute liebte lange Spaziergänge. Irgendwann waren sie beide noch hinter Rosskuppel auf der Reichsstraße. Gareth und seine ländlichen Vorstädte verblassten in der Entfernung.
Das dunkle Haar wurde von der Frühjahrsbrise verweht und sie ließ sich auf einem Meilenstein nieder, während Elster den Hals bog und das frische, kurze Tsagras zupfte.
Und wie sie da saß fing Neferu an zu weinen, bis ihr Gesicht ganz entstellt, rot und unansehnlich war. Es war befreiend, so weit weg zu sein und einfach die Schleusen zu öffnen.
Sie hockte da eine ganze Weile, Elster kümmerte es nicht, solange sie etwas zu fressen in Aussicht hatte. Den Mittag musste der Tag schon passiert haben, als ein älterer Reisender das Wort an sie richtete. Der Mann war Zyklopäer. Er hieß Mermydion Phyrikos und er entschied zuzuhören. Er war ein guter Mann, stets bemüht, das richtige zu tun und eine helfende Hand zu reichen, wenn er es als notwendig erachtete. Ein freundlicher Ausländer, der nach Wallgraben wollte. Neferu hatte keine Ahnung, wer er war. Aber sie erzählte ihm tränenblind von dem Menschen, der gegangen war und den sie lange Zeit geliebt hatte, aber dann irgendwann nicht mehr.
Irgendwann hatte sie sich soweit gefasst, dass sie ihm den Rennweg zeigte, denn der war sein eigentliches Ziel. Sie verabschiedeten sich und Neferu wusste, dass sie den Fremden wohl nie wieder sehen würde.
Irgendein Fremder…
Auch Zerwas war einst irgendein Fremder gewesen. Und vielleicht würde er es wieder werden. Aber vielleicht auch nicht.
Mit stumpfem Gefühl im Bauch, trottete sie verhangenen Blickes an der Seite der gutgelaunten Elster zu Ahlemeyer. Sie würde von nun an dort wohnen.
Phexdan erwartete sie.
Er schloss sie in die Arme, drückte sie wohlmeinend und gab ihr Wein zu trinken – Aquenauer Südhang… Wie passend das war.
„Du hast Kummer. Lass uns trinken!“ Er lächelte aufmunternd und sie hielt seinen Rat für durchaus befolgenswert. Gemeinsam mit Salpico soffen sie die halbe Nacht und scherten sich nicht um den Kater, der am nächsten Morgen unvermeidbar auf sie lauern würde.

~

Nach den ersten Tagen Herumliegen und die Decke anstarren entschloss Neferu, dass sie vom Nachdenken keine neuen Geistesblitze erringen würde.
Es war seltsam, dass Zerwas gegangen war. Noch seltsamer war, dass er ihr nicht fehlte. Es war vielmehr so, als sei die Wunde, die sein vermeintlicher Tod in Greifenfurt gerissen hatte, endlich verschlossen worden war. Sie hatte auf einem guten Weg abschließen können. Ohne Gewalt und Zwiespalt. Ohne Hinterhalt.
Phexdan und Neferu mieteten die Wohnung des ersten Stocks bei Ahlemeyer. Ein Versorgen von Elster war im Preis inbegriffen, der Stallmeister von gegenüber spielte bei der Vereinbarung mit. Die sechzehn Dukaten im Monat hatten es in sich, aber gemeinsam würden sie die Summe stemmen können.
Sie wollte sich nicht in eine Beziehung mit Phexdan stürzen. Und sie spürte, dass er das genau sowenig im Sinn hatte. Sie wollte nur die Nähe ihres Vertrauten. Und sie wollte ihm Nähe schenken. Nicht zwingend körperliche Nähe, auch wenn das Füchschen des Nachts tat, was es mit am Besten konnte: Sich anschmiegen, trotz dem er jede leidenschaftliche Regung vermissen ließ.
Sie wollte versuchen, mit ihm zusammen zu wachsen, wie Geschwister im Geiste.
Ihre Liebe für Phexdan hatte bis jetzt alles überstanden. Und sie war noch da.
Sie musste ihn nur ansehen und wusste, dass dieser wirre Maraskaner ihr das Liebste auf der Welt war.
Phexdan war ihr Halt – damals wie heute. Gut gelaunt und lächelnd. Auch wenn sie nie ganz bei ihm ankam, wenn er Geheimnisse hatte und dazu neigte, Chaos statt Ruhe zu stiften, so fühlte sie sich in seiner Gegenwart lebendig.
Die folgende Woche übten sie nach Einbruch der Dämmerung stets gemeinsam das Klettern in Tuchrüstung und bespitzelten TeGuden. Zwar hatte Neferu vor, sich mit dem Errichten des Dachstuhls Zeit zu lassen, aber es war nie zu früh, mit den Vorbereitungen zu beginnen. TeGuden verdiente gut. Er hatte ein Haus in Heldenberg, in der Windmühlenstraße. Ein altes Gebäude im bosparanischen Stil. Er kam regelmäßig nach Hause und hatte keine direkten Nachbarn. Soweit, so gut.
Phexdan probierte die Karte aus, die Neferu ihm aus dem Silberhort mitgebracht hatte – mit dem Ergebnis, dass sie magisch war. Sie zeigte einem einen bestimmten Ort oder den Aufenthalt einer Person, wenn man nur danach fragte. Es funktionierte nur mit einer Suche innerhalb Gareths, aber schon das war Gold wert. Nur schien der Geist in der Karte außerordentlich eigensinnig und widerspenstig zu sein, so dass sie wohl letztlich nicht mehr als eine Spielerei war, denn man konnte davon ausgehen, dass das Artefakt streikte, wenn man es wirklich dringend brauchte. Sie spielten mit dem aufsässigen Geist, fragten nach allem, was ihnen einfiel.
„Wo ist Phexdan?“ fragte Neferu zuletzt, die direkt neben ihm lag.
„Wollt ihr mich verarschen, ihr dummen Bälger?“ schrieb die Karte beschimpfend mit dem magischen Sand, der ihr Mittel der Kommunikation war.
Beide Menschen sahen sich an und mussten ehrlich und unwillkürlich lachen.

~

Auch Tage nach Zerwas‘ Fortgehen hatte Phexdan sie nicht angerührt. Ein Teil von ihr verstand ihn. Er brauchte Zeit. Nach allem, was geschehen war. Sie hatten einen Totgeglaubten erhoben und trotz dem er ein Paladin Borons geworden war, blieb er ein Vampir. Ein anderer Teil vermisste Körperlichkeit. Sie dachte wehmütig an die alte Zeit, als sie Phexdan von sich werfen musste, um zu Atem zu kommen. Sie hatte weder von Zerwas, noch von Phexdan aus Begehren gespürt. Keiner hatte sich mit ihr vereint oder es nur darauf ankommen lassen. Sie schämte sich, dass ihr das Gefühl fehlte, sich jemandem ganz hinzugeben und jemanden so zu erleben, wie im innigsten Moment. Sie musste diese lästigen emotionalen Fesseln abwerfen, die ihren Verstand ständig mit Gefühlsduselei und dem Bedürfnis nach Tuchfühlung blockierten.
Sie musste sich auf etwas Greifbares konzentrieren: Ihren eigenen Aufstieg in Gareth.
Mit all ihren Referenzen ging sie zum Magistrat und meldete, ihre Heldenurkunde in Empfang nehmen zu wollen. Es hatte sie gegeben, nach dem Sieg über die Orks, nach dem was sie, Garion, Richard und Tarambosch in Greifenfurt geleistet hatten. Ihr Anliegen würde bearbeitet werden, wurde ihr zugesichert. Sie hasste Ämter.
Im Magistrat begegnete ihr ein schielendes blondes Mädchen. Was für eine merkwürdige Erscheinung sie war – so verloren… Ihre leicht abstehenden Ohren rundeten das Bild ab.
Sie war ganz offensichtlich fremd in der Stadt und wirkte so weltfern und fehl am Platz, dass Nef sich gezwungen sah, sich ihrer anzunehmen.
Die Kleine war eine Schwarzmagierin aus Mirham. Sie sah gar nicht wie eine der dunklen Gilde aus. Neferu musste unwillkürlich über das naive Ding lächeln und gleichzeitig empfand sie den Ansatz von fürsorglicher Zärtlichkeit in der Brust. Sie wollte ihr eine Freundin und eine Anleitung sein.
„Komm mit, ich kenne da eine gute Frau, die Zimmer vermietet…“ Sie nahm den Blondschopf mit zu Ahlemeyer.

Der Tsa wollte nicht vergehen. Jeder Tag war gespickt mit Aufgaben: Dem Rekrutieren von Spitzeln in Eschenrod, dem Einholen von Kostenvoranschlägen für ihre Hauseinrichtung, dem Waschen lassen von Theobaldus (dem Propheten vom Scherbenmarkt), dem mildtätigen Annehmen einiger Bedürftiger (und dem Wissen, daraufhin einen gut zu haben), Gängen zu Ämtern und dem ersten Dienst an die Spießbürger. Die Patrouille in Heldenberg war nicht nur ein Abarbeiten ihrer bürgerlichen Pflichten gegenüber der Stadt, sondern auch eine Möglichkeit, die Villa von TeGuden im Auge zu behalten.
Auch bemühte sich die Hexe, die Kinder im Waisenhaus zu besuchen, herauszufinden, wo die Talente und Neigungen der Kleinen lagen. Sie sah auch bei denen vorbei, die bereits raus waren, aus der dreißigköpfigen Schar von Halbwüchsigen, die eine Anstellung gefunden hatten. Es sollte ihnen gut ergehen, dafür wollte Neferu Sorge tragen. Besser als ihr selbst in früherer Zeit und besser als sie es bisher gehabt hatten. Und irgendwann würden die Waisen es ihr zurückzahlen, sich an sie erinnern und ihr einen Gefallen tun. Sie war trotz allem eine Phexgeweihte.

Isabella Hafergarb, die blonde Magierin, die Nef im Magistrat getroffen hatte, mietete sich ebenfalls bei Ahlemeyer ein, direkt neben dem Zimmer von Salpico.
Sie war in der Lage Kleidung mittels ihrer Kräfte umzunähen, was Nef staunend zur Kenntnis genommen hatte. Und sie führte Selbstgespräche, was immer wieder irritierte.
Alles in allem schien sie ein unsicheres Mädchen zu sein, die aus unerfindlichen Gründen ihre Eltern mied, die ebenfalls in Gareth lebten.

Phexdan war mit seinen eigenen Dingen beschäftigt. Er knüpfte Kontakte zur Alten Gilde und dressierte den Affen. Auch sein Garten bekam eine gute Portion seiner Aufmerksamkeit. Mal war er da, mal nicht. Er tauchte erneut ab in seine eigene Welt.
Neferu versuchte sich nicht mit ihren Gedanken zu beschäftigen. Wenn sie das tat, bekam sie einen Spiegel ihrer eigenen Fehler vorgehalten. Sie hatte keine Lust darauf. Also vermied sie, sich daran zu erinnern, dass ihr der anhängliche, temperamentvolle Phexdan aus Grangor fehlte.
Und dann… eines morgens schien es soweit zu sein, dass etwas von ihm zurückkehren wollte. Klamm und kalt lag Gareth draußen vor dem beschlagenen Fenster. Phexdan herzte sie wie seit Monaten nicht und endlich waren die Küsse wieder da, die sie so erbeben ließen. Fordernde Küsse…
Vielleicht wäre es weiter gegangen, hätte Ahlemeyer nicht geklopft. Ein Bote war gekommen. Mit ihrer Heldenurkunde. Sie musste zahlen, aber wen scherte die Dukate.
Endlich! Sie hielt die Reputation in den Händen und war seltsam stolz auf sich. Sie hatte etwas erreicht. Sie war ein Kriegsheld! Ehrlich zufrieden zeigte sie Phexdan die Auszeichnung.
Guter Laune backte sie an diesem Morgen mit Phexdan in Ahlemeyers Küche Kekse.
Sie wollte sie an die Wachen des Puniner Tors verteilen, um ein Stein im Brett zu haben, wenn es darauf ankam.
Die Wächter sahen furchtbar übernächtigt aus. Die Frage, ob sie nicht genug Schlaf bekämen, begründeten sie mit ihrem Weibel. Die Kekse nahmen sie gerne.

Phexdan und Neferu schlenderten Hand in Hand durch Eschenrod. Wie immer sammelten sich Pilger vor den Toren des jähzornigen Thorn Aisingers, der für heilig gehalten wurde. Man munkelte, Zyklopen hätten ihn ausgebildet und seine Waffen seien besser als die von vielen Ingerimm-Geweihten.
Sie wanderten beschwingt zum Tempel der Schatten, sahen sich an, lächelten. Die Morgensonne erhellte die Gesichter der Menschen.
Die Karren standen den halben Eslamsweg entlang. Es herrschte ein Gedränge, wie es das nur in Gareth gab. Wären sie Taschendiebe auf der Pirsch gewesen, sicher hätten sie reiche Beute gemacht!
Sie stiegen den Geheimgang in den Tempel hinab, die grauen Seidentücher überall im Raum vermittelten den Eindruck von Rauch oder Nebel.
Die Phexgeweihten schritten über das altbekannte Garradanbrett auf dem Fußboden: Weiße und schwarze Kacheln. Und jede gab ein anderes Geräusch von sich. Ein Lachen, ein Würfeln, ein Klopfzeichen, ein Schlossklicken.. Sie opferten im Schrein vor der Holzstatue und erhielten den hellverwaschenen Kiesel, den Phex jedem schenkte, der ihm eine Gabe darbrachte.
Anschließend trennten sich die Wege des Maraskaners und der Tulamidin. Ein bisschen traurig sah sie ihm nach – wie er das Ende des herrlichen Morgens einleitete. Wie er wieder auf seine eigene, geheime Mission ging, wie eine Katze, die ihre geheimen Schleichwege mit niemandem teilen wollte.
Sie selbst blieb noch im Tempel. Sie wechselte ein paar Worte mit Torfstecher und sann über das Rätsel nach, dem sie sich jetzt gegenübersah. Einen Götterlauf hatte sie Zeit..

Als sie durch das Puniner Tor zurück nach Alt-Gareth ging, fiel ihr unter den anderen Wachgardisten ein Mann ins Auge. Er gehörte zur Wache, ein Gefreiter vielleicht. Gab es diesen Rang überhaupt? Blondes zurückgebundenes Haar. Ein nachdenklicher Typ. Sie grüßte ihn lächelnd, er sah sie nur kurz an, als wäre es ihm nicht gelungen, gänzlich Abstand zu seinen einnehmenden Gedanken zu halten.
Sie musste einen Gemmenschleifer finden, der ihr ein Bürgersiegel machte! Ein NB sollte es sein, geschwungen und edel.
Ein paar Süßigkeiten für Phexdan kaufte sie ebenso ein. Sollte das Füchschen sich über etwas Süßes freuen! Sie liebte es, ihn befreit grinsen zu sehen.

~

Ein grauer, bleierner Tag war gekommen. Gemeinsam mit strömendem Regen – beides lockte nicht, das Haus Ahlemeyers zu verlassen. Es war warm und kuschelig drinnen, dank Salpicos Hitzeglyphen. Zu warm, laut der Hauswirtin, die sich darüber beschwerte, dass aus einem ihrer Eier ein Küken geschlüpft war.
Trotzdem musste Neferu diesen fast heimatlichen Ort verlassen. Sie war viele Verpflichtungen eingegangen, auch wenn viele nur moralischer Natur waren.
Die Mängelliste vom Waisenhaus war wichtig – es war ihr überaus ernst, zu wissen, an was es fehlte, welche Kosten gedeckt werden mussten.
Die kleine Isabella – sie wusste nicht, warum sie an sie als „die Kleine“ dachte, war die Magierin doch noch ein Stück größer als sie selbst – konnte gar nicht nicht gut mit Schmutz und hatte ein Auge auf Salpico geworfen. Und allein war sie offensichtlich auch nicht gerne, denn an diesem Morgen klemmte sie sich an Nefs Fersen.
Im Regen nahm die Tulamidin die Blonde mit nach Eschenrod. Bella war alles andere als begeistert von dem ganzen Dreck und Schmutz. Und von den Kindern war sie es noch weniger.
„Diese dreckigen kleinen Hände! Das gibt Handabdrücke! Nimm sie weg!“ Das Zitat hallte in Nefs Geist nach und unwillkürlich musste sie schmunzeln.
Immerhin stellten sie durch das Durcheinander im Waisenhaus fest, dass Kuliff magisch begabt war: Das Kind, das versuchte sich an Isabella festzuhalten, war gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen (selbstverständlich von der Magierin ausgelöst), hatte begonnen zu schreien und der kleine Junge mit dem magischen Potential schaffte um sich herum eine Aureole aus Stille, so dass man das Kleinkind zwar plärren und rotzen sah, es aber nicht hörte.
Nef und Mutter Harika versuchten dem Zirkus Herr zu werden, die Kleinkinder zu beruhigen, die im Chor solidarisch mitheulten, während die Magierin türmte und sich vor den Halbwüchsigen in Sicherheit brachte.
Die Ereignisse im Waisenhaus provozierten einen handfesten Streit mit Salpico. Nefs Idee den kleinen Kuliff in einer weißmagische Akademie in Gareth anzumelden stieß auf taube Ohren und nicht auf Gegenliebe. Selber adoptieren wollte er den Bengel aber auch nicht. Dabei wäre es auf lange Sicht so wunderbar gewesen, einen Verbündeten innerhalb der Weißmagier zu haben.
Akut war das Problem nicht – Kuliff war ohnehin noch vier Jahre zu jung für eine Akademie, aber irgendwann mussten sie darüber entscheiden.
Es waren einfach zu viele Kinder. Zu viel Verantwortung. Und es war nicht einmal das einzige Waisenhaus der Stadt. Zu viele Seelen ohne Perspektive. Nicht, dass die jungen Menschen Eschenrods, die noch Bezugspersonen hatten, es leichter hatten. Doch bei ihnen hatte man keinen Zugriff, keinen Weg einen einfachen Einfluss auf ihr Leben zu nehmen – das war anders bei den Elternlosen.
Im Wind des immernoch graupeligen Tages, der langsam sein Licht verlor, kamen sie zurück zum Puniner Tor.
Ihre kleinen Pflänzchen hatten ein neues Gerücht für sie gehabt: Jemand war ins Gebiet der Alten Gilde eingedrungen.. Eine Information, die vielleicht zu anderer Zeit wichtig werden würde.

Das Tor war noch offen, aber es durfte nicht mehr lange dauern und statt dem weiten Durchgang wäre nur noch die Mannluke zu passieren, für die man gute Gründe haben musste, ehe sie einem dann auch tatsächlich geöffnet wurde.
Ihre Füße waren nass, als sie den kurzen Tortunnel passierte.
Sie blieb stehen. Sie musste Nägel mit Köpfen machen, jede Möglichkeit ergreifen, das Haus der Kinder zu entlasten.
So versuchte es sie am Tor. Neferu erklärte den Gardisten das Schicksal der Kinder und bat um Mithilfe, sie zu vermitteln. Sollten sie mitbekommen, dass sich jemand sehnlichst Nachwuchs wünschte oder selber kinderlos sein und es sich anders erhoffen: Sie hatte die Lösung.
Ein bisschen kam sie sich so vor, als würde sie die Kinder verscherbeln.
Aber sie tat es nur zu ihrem Besten, sie auf diese Weise anzupreisen. Immerhin hörten die Wachen sie an, mehr hatte sie gar nicht erwartet. Sie würden die Augen offen halten, versprachen sie. Sollte sie ein Flugblatt aufhängen wollen, so sollte sie sich an den Befehlshabenden wenden, der nicht zugegen war. Er hieß Voltan Sprengler, wie ihr mitgeteilt wurde und wäre wohl am Besten mit einem Schriftstück zu erreichen, da er diesen Tags die Abend- und Nachtschicht hatte und noch nicht am Posten.
Sie schloss nicht aus, irgendwann noch einmal mit diesem Sprengler wegen des Anliegens, das ihr am Herzen lag, noch einmal zu tun zu haben.

Gareth 18 (Phexdan & Neferu) (TSA 1013)

Niemand hatte damit gerechnet, dass Phexdan so kurz nach einem Aufenthalt im Perainetempel krank werden würde.
Den kälteempfindliche Maraskaner, der den Winter ebenso verabscheute wie sein pelziger Gefährte Dajin es tat, erwischte ein ganz mächtiger Dumpfschädel und er verbrachte zwei Tage leidend und unbrauchbar unter einer dicken Decke in seinem Zimmer bei Ahlemeyer. Und wie er doch litt!
Kaum dass Neferu in die alte Sattlerei gekommen war, um nach ihm zu sehen, bemühte er sich nach Kräften, sein regelrechtes Siechtum überzeugend darzustellen.
Und es half: Sie konnte nicht nein sagen.
Sie konnte nicht ablehnen, als er sie mit leiser Stimme und fiebrig gläsernen Augen fragte, ob sie bei ihm bleiben und sich um ihn sorgen würde.
Salpico erklärte sich murrend bereit, einmal quer durch das winterliche Gareth zu stapfen, um dem Blutsauger bescheid zu geben, dass er vorerst alleine in seiner vermaledeiten Wohnung in Rosskuppel auszuharren hatte. So formulierte es Phexdan in Gedanken.
Ihm gefiel der Gedanke. Nicht, dass er sich nicht wirklich hundeelend fühlte. Aber dieser kleine zusätzliche Triumph gegen den Vampir versüßte ihm die Gliederschmerzen und das Brummen im Schädel.
Der letzte Kampf um seine Frau war noch lange nicht geschlagen. Und das war sie: Seine wankelmütige, weichherzige, vorschnelle Hexenfrau, die für ihn Tee kochte, wenn er krank war. Er hatte schon vor Jahren entschieden, dass er sie haben wollte. Keine andere passte besser zu ihm. Keine andere war so schwer zu halten.
„Bringst du mir Stricken bei? Ich will ein Jäckchen… für Dajin..“ keuchte er kränklich, einem inneren Themawechsel abrupt folgend. Sie bejahte. Er würde stricken lernen!

Seine Finger berührten ihr Haar, als sie diese Nacht bei ihm lag.
Das Fieber ließ ihn frösteln und schwitzen, seine Stirn hämmerte. Aber durch den nebeligen Schleier der Krankheit war sie da.
Er drückte seinen Körper eng an sie und umarmte sie innig. Er gab ihr die Wärme, die sie bei dem Unsterblichen nie bekommen konnte und noch mehr.

~

Am Rondratag dann, kränkelte Neferu selbst. Sie hatte sich angesteckt, als sie Phexdan viel zu nahe gekommen war. Sie schob den Gedanken hastig bei Seite. Sie konnte nicht darüber nachdenken.
Phygius würde an diesem Tag in einer der beiden Tavernen erscheinen und sie musste ihm begegnen! Aber erst gegen Abend…
Es lag kaum mehr Schnee, begann früh zu tauen dieses Jahr. Er blieb zurück als bräunlicher Matsch, der von tausenden Füßen und Hufen in den Boden getreten wurde, bis er verschwand und nur schlammige Straßen zurückließ.
Sie nutzte den Tag, um Verträge zu besiegeln. Phexdan ruhte sich aus, das Fieber war allmählich gesunken.
Zerwas begleitete Neferu, er hatte sie am Eisenmarkt abgepasst.
Zu gerne hätte sie mit ihm gesprochen, ihm Antworten gegeben zu Fragen, die er nie gestellt hatte. Sie wollte ihm mitteilen, dass sie sich schuldig fühlte. Dass sie am Leben hing. Am pulsierenden Leben mit all seinen Facetten. An einem Leben voll Wärme und Chancen und Zerbrechlichkeit. Neferu wollte dem schönen, stattlichen Unsterblichen mitteilen, dass sie nicht bereit war für die Ewigkeit. Aber dazu war sie nicht mutig genug. Sie hatte Angst, ihn so zu verletzten und auch davor, dass sie ihn verlieren würde. Angst aus Egoismus und das es eine solche war, wusste sie. Es machte ihr zu schaffen, doch sie fühlte sich machtlos sich selbst gegenüber.
Neferu nieste. Sie hoffte, dass es bei ihr nicht zu Fieber kommen würde.

Sie unterschrieb ein Abkommen mit dem Alchemisten Grabensalb und erhielt als Vorschuss einen schwachen Astraltrank. Großartig! Im Gegenzug gab er ihr eine Liste von Ingredienzien, die er aus der Brache brauchte.. Meteoreisen, rauchendes Braunöl, Spinnennetze, schwarzer Mohn. Zusätzlich als Beweis, dass sie im Stande war, auch wertvollere und seltenere Dinge zu bekommen, erhielt er als Vorgeschmack ihre Jadesteine, die sie schon seit Jahren in Gareth lagerte.
Sie eilte durch die Stadt, fragte bei Gesses Eisen- und Rüstwaren nach der Herkunft von Meteoreisen und zu guter letzt besuchte sie den Architekten Nerix Sandsteiner in Wallgraben, um mit ihm den Bauvertrag auszuhandeln und ihn beim Magistrat beglaubigen zu lassen. 3221 Dukaten wechselten durch die Festumer Handelsstube den Besitzer.
Ab jetzt war sie arm. Völlig arm!
Ein gutes Gefühl. Seltsamerweise. Ab jetzt konnte sie alles erreichen, denn sie hatte nichts. Bis auf einen funktionierenden Brunnen auf einem leeren, großen Weststadtgrundstück. Sie konnte sich etwas verdienen, von dem sie auch merkte, dass es einen Unterschied machte. Das erste Mal an diesem Tag lächelte sie, denn sie hatte etwas verloren. Es war seltsam, dass es gut tat.

Sie blickte schuldbewusst zu Zerwas, der sie zur Almada-Stube begleitete wie ein dunkler, prachtvoller Leibwächter. Sie sah seine wachsamen Augen auf ihr und der Umgebung, doch sie konnte in seinem Blick keine Liebe erkennen, denn sie war verborgen hinter einem unruhigen Geist, den er nicht nach außen weichen, nicht erkennen ließ. Stoisch schritt er voran, sprach über die Pferde, den Hof auf dem er arbeitete und über die Vergangenheit. Nie kam ihrer beider Zukunft über die Lippen – weder über seine, noch ihre.
Er scherzte auf seine aristokratisch-intellektuelle Art und gab ihr nonverbal zu verstehen, dass er sich gut fühlte, wenn sie bei ihm war – aber es war unverkennbar, dass sich auch unter seiner Oberfläche etwas zusammenbraute.
Phygius II entpuppte sich als junger Mann mit Augenglas, der Oliven liebte und aus dessen Taschen es bellte. Er ließ sich überzeugen, sie in die Brache zu begleiten, sofern man versprach, sich von schwarzen Türmen fern zu halten. Er erzählte, dass sein „Vormieter“ im Brachenturm ein Gildenbruder gewesen war, dem die täglichen Gefahren der Brache dann irgendwann doch den Gar aus gemacht hatten.
Er stellte seine offensichtlich chimärologisch erschaffene Belllilie Hassan vor und wollte Neferu am morgigen Tag am Blitzbaum treffen. Einige Stunden nach Sonnenaufgang.
Die Geschichten, die Phygius zum Besten gab und die Neferu mit Fragen anfachte, um dem Magier Interesse zu suggerieren, waren grotesk: Menschen die ins Wasser gehen wollten und magisch mit einem Hecht verschmolzen wurden, ein Bärwolfhai namens Hadrian, gefährliches Feuermoos und „unnette“ Hexen in der Brache. Der Mann war ganz eindeutig verrückt. Nicht wegen der Themen, die er auf Lager hatte, sondern wegen der Art, wie er sie vortrug. Fast leichtfertig… Eine traurige Kreatur, wie aus einer Tragikkomödie. Und der einzige, der ihr helfen konnte…

~

Den kommenden Morgen verbrachte sie mit letzten Vorbereitungen. Vom Artefaktmagier Erpelgrieb konnte sie ein kleines Windrad erstehen, das sich wild drehen würde, sobald sich etwas Dämonisches näherte. Es funktionierte allerdings nur ein einziges Mal. Ihre Tuchrüstung, um beweglich zu bleiben und nicht im Sumpf zu versinken, eine geweihte Waffe, Mondstaub, Steinsalz, Bannstaub, eine Decke mit einem Pentagramm… Sie ging alles noch einmal durch. Hatte sie etwas vergessen?
Mit Zerwas schritt sie in der aufkommenden Helligkeit zur Brache. Es fühlte sich gefährlich an, aufregend und vollkommen halsbrecherisch!
Neferu unterdrückte ein Zittern durch das Aufbeißen ihrer Kiefer.
An dem alten, gesplitterten Baum fanden sie Phygius, der bereits wartete.
Von überall her drangen Geräusche ohne ersichtliche Quelle auf sie ein, aus dem Augenwinkel schwankte knarrend etwas Baumelndes an einem Ast. Sie vermied genauer hinzusehen.
Ihr Weg führte sie auf einem Pfad entlang zu einem uraltem Boronsanger. Die Steine der Gräber waren bemoost und von Satinav ihrer Festigkeit beraubt worden. Viele bröckelten, andere waren zerbrochen.
Unschuldig. Stand da auf einem Grabstein. Einen Augenblick später etwas anderes: Travihilde 873 nBF.
Neferu gab sich alle Mühe, nichts von dem, was sie hier sah, besondere Bedeutung beizumessen. Innerlich sprach sie wiederholend zu sich selbst: Lass dich nicht täuschen, dir keine Angst machen. Es ist nur eine Illusion, um dir den Verstand zu kosten.
Da war auch ein Grab mit ihrem eigenen Namen… Schnell folgte sie der Richtungsangabe des Papiers, welches das Rätsel aufwies.
Hörner klangen durch den Nebel, Baumwesen griffen mit dürren Fingern nach den Eindringlingen, ein uraltes Pentagramm aus Steinen und Steinpilzen ließ sie sich orientieren.
Die Brache hatte ihre eigenen Gesetze, was die Zeit anging, es dunkelte gegen Mittag.
Ein Rauchfeld, undurchsichtig und beißend, raubte Neferu den Atem und die Sicht. Sie rief nach Zerwas, aber der antwortete nicht. Konnte es nicht. Er rang mit einer Kreatur..
..die urplötzlich verschwand, als sie einen Bärenschädel ertastete.
Der Schädel vom Rätselpergament…
Was war diese Brache nur? Eine Aneinanderreihung von Gefahren und unerklärlichen Phänomenen. Eine Brutstätte von allem, was den Zwölfen fern war.
Sie folgte stur den Richtungsangaben auf der Karte, ließ sich nicht locken und nicht rasten.
Überquerte eine absurd schöne Lichtung, ein Blumenmeer auf dem mitten darin eine goldene Statue des Götterfürsten stand.
„Mit blitzendem Stahle gegen finster Gezücht mit Schwarz gegen Schwarz, die Wahrheit vernichtet jedes Gerücht.“ Stand da in den nachtdunklen Sockel gemeißelt.
Mit Scheuklappen des Willens ausgestattet, ging sie vorüber, nach rechts. Ein Bach rauschte. Sie wurde schneller, als sie die drei Steine in seinem Bett wiedererkannte, die auf das Papier gemalt waren. Es konnte nicht mehr weit sein!
Der Wald wurde dichter, die wirren Äste niedriger. Sie bildeten ein Dach. Die Bäume wurde mit jedem Schritt, den sie zurücklegte bleicher…
Und dann erkannte sie auch diesen Hinweis: Das Knochenhaus!
Eine Tür führte hinaus.
Es war wie im Traum… In einem unnatürlichen Alptraum, in dem sich alles verformte und nichts fest stand.
Hinaus ging es auf eine Wiese blasser Tulpen in Menschengröße, die ihre Köpfe kränklich in den düsteren Himmel ragten.
Der Weg durch das Blumenfeld war lang und beschwerlich. Die absonderlichen Pflanzen wiegten sich, zwangen sich in die Wahrnehmung, wie eine Seuche breiteten sie sich aus. Wo eben noch keine gewesen war, wuchs eine Neue, die einen ohne Arme festzuhalten versuchte!
Phygius, Zerwas und Neferu bissen sich durch. Und irgendwann, außerhalb der bleichen Stauden erwuchs etwas anderes: Ein Felszacken mit silbernen Adern im Gestein.
Mit der Hilfe von Zerwas erkletterte sie den felsigen Finger und überblickte die Büsche. Dort sah sie in einiger Entfernung den See! Sie glich ab. Ja! Er ähnelte sogar der Zeichnung auf der Schatzkarte.
Neferu fühlte das Blut in ihren Ohren, ihre eiligen Füße hielt im Labyrinth aus Hecken in die Richtung, die sie für die Richtige hielt. Hinter ihnen wuchs der Weg zu einer verworrenen Mauer aus Dickicht…Und es wurde immer dunkler.
Bis sie an eine riesengroße Buche gelangten. Außer Atem – bis auf den Vampir – blickte sie in die Baumkrone hinauf. Die Wipfel schienen gesund und voller Leben. Da war sogar ein Rotkehlchen in seinem Geäst! Der mächtige alte Riese passte nicht in dieses verfluchte Land. Seine Blätter rauschten beruhigend in einem lauen Wind.
Und an seinen üppigen Wurzeln stand eine beschlagene Holzkiste.
Das Schloss war verzwickt, aber keine große Herausforderung.
Neferus Herz klopfte in aufgeregter Erwartung, als sie den Deckel aufklappte: Ein sauberes, weiches Handtuch lag darin. Die Stickerei verhieß, dass es sich um eines aus dem Seelander handelte. Darunter lagen eine leere Flasche Aquenauer Südhang und ein Paar schwarze Handschuhe mit dem Symbol des Listenreichen.
Ein sonniges Lächeln dominierte Nefs Mimik, als sie die Schätze begutachtete.
Sie zeigte sie Zerwas und auch er hob schwach einen Mundwinkel.

Als sie gegangen waren und die Hexe zurückblickte, war da nur der vom Blitz zerstörte, uralte Baumstumpf. Vom einstigen Leben in seinem mächtigen, sattgrünen Geäst war nichts mehr zu sehen und auch der Vogel war fort.

~

Salpico analysierte die Gegenstände. Handtuch und Weißweinflasche waren definitiv nicht magisch und lediglich Hinweise auf einen Ort: Den Seelander.
Die Handschuhe hingegen waren anderer Natur. Im dünnen, schwarzen Leder war Magie schwach verwoben. Astrale Spuren, die unter das Hotel führten, das sie ohnehin schon verdächtigt hatte, der nächste Schauplatz der phexischen Schnitzeljagd zu sein.

Bevor sie dem nobelsten der noblen Etablissements einen Besuch abstattete, tauschte sie die Ingredienzien, die sie in der Brache gefunden hatte bei Grabensalb ein.
Sie wollte sich ohnehin Zeit lassen. Die Brache hatte sie ausgelaugt. Neferu entschied, den Seelander gleich um einige Tage zu verschieben.
Wichtiger war ohnehin, sich mit Zerwas auszusprechen. Er war Jahre fort gewesen und sie hatte weitergelebt. Sie war nicht glücklich gewesen, aber das Rad der Zeit hatte sich gedreht.
Den ganzen Tag streunte sie durch Gareth.
Sie zeigte Phexdan die Grundlagen des Strickens, kümmerte sich um das Fohlen Elster, sah bei ihrer Freundin Duridanya vorbei, ließ Phexdan die Seele Dajins prüfen (wider erwarten war der Affe keine Kreatur der Niederhöllen) und nachdem sie den Stadtadvokaten TeGuden bei Sonnenuntergang nach Hause verfolgt und ihn einige Momente bespitzelt hatte, kehrte sie „Zuhause“ in Rosskuppel ein.
Zerwas wartete, starrte aus dem Fenster der Dachwohnung. Er hob den Kopf als sie kam. Ihrer beider Blicke verrieten, dass sie reden mussten.
Bis nach Mitternacht saßen die zwei Alterslosen beisammen.
Sie sprachen über die Bedeutung eines langen Lebens und über ihre Ziele.
Zerwas war die Unsterblichkeit gewöhnt. Er hatte ein Meer von Möglichkeiten und bisher war er an der Küste geblieben und nur deshalb erschien ihm diese unendliche Zeitspanne trist und grau. Neferu hingegen war noch mitten drin im menschlichen Leben. Die Ewigkeit hatte noch keine Spuren an ihrem Gemüt, ihrer Seele hinterlassen. Sie war gewöhnungsbedürftig für ihn in ihrer Menschlichkeit mit ihren menschlichen Gewohnheiten und Bedürfnissen. Er sprach aus, was an ihm nagte. Jahr für Jahr schien alles, was er tat, weniger Freude zu bereiten. In Trallop hatte er Männer (vermutlich großzügig) bezahlt, damit sie seinen Schatz aus dem Versteck in Greifenfurt bargen. Seine Unsummen, die da hinter der unsichtbaren Tür warteten. Er wollte das Geld investieren, für einen Zweck der Boronkirche. Neferu verstand nicht vollständig, was er vor hatte, aber sie war froh, dass er etwas verfolgte, das seiner Existenz einen weiteren Sinn gab. Einen guten Sinn, im Dienste eines der Zwölfgötter. Die Hexe konnte nicht anders. Sie musste in seinen Geist eindringen.
Sie hatte erwartet, dass sie an seinem Willen brechen würde. Dass er sie nicht durchlassen würde.
Aber es ging verhältnismäßig leicht, einen Blick zu erhaschen: Ein Häuschen im Horasreich, am Wasser gelegen. Ein Geldsack war auf dem Schild abgebildet. „Horas d’Or“ konnte sie lesen. Dann änderte sich das Bild und mehrere fein gekleidete Männer saßen in bürokratischer Manier beieinander in einem dunklen Raum. Männer einer Stiftung… Dann brach das Bild ab. Er fixierte sie. Sicher hatte er gemerkt, dass sie in seinen Kopf eingebrochen war. Doch er sagte nichts dazu, vielleicht hatte er es sogar absichtlich zugelassen.
Sein kühler Humor, die ruhige, bodenständige Art beeindruckten sie, wie es auch damals gewesen war.
Wenn er etwas für sie tat, hatte sie nie das Gefühl, dass er eine Gegenleistung erwartete. Und trotzdem.. Diese Art von Gefühlen reichten nicht. Und auch er zweifelte, wie sie feststellte. Ihrer beider Liebe war verjährt. Waren zu einer schönen Erinnerung aus Greifenfurt geworden. Zerwas‘ Ziele waren ein gewisses Maß an Macht und ein Denkzettel für Greifenfurt. Was waren ihre Ziele? Sie wollte sich etwas in Gareth aufbauen.. irgendetwas. Wie sollte sie das spezifizieren?
Es war nicht greifbar. Aber sie wusste, dass ihre Zukunft in Gareth lag. Wenigstens ihre nahe Zukunft.
Und jedes seiner Worte ließen sie erkennen, dass sie seine Stärke überschätzt hatte.
Der Verlust des Schwertes hatte eine tiefere Wunde geschlagen, als dieser stolze Mann preisgegeben hatte. Zurückgelassen hatte Seulasslintan einen unsterblichen Mann, der verunsichert war, der sich selbst nicht traute und sich nicht einmal wagte, sich einer Frau zu nähern, aus Furcht unkontrollierbar und unberechenbar zu werden.
Er hatte sich die letzten Wochen zurückgezogen. Er blieb lieber allein, erstickte im Keim schon jede aufkommende Leidenschaft und jedes forsche Gefühl.
Es tat Neferu weh, diesen einst so starken Mann so zu sehen. Es überkam sie der Wunsch, für ihn da zu sein, ihm zur Seite stehen. Sie wollte ihm helfen, sich selbst wiederzufinden.
Aber als Geschöpf des Gefühls wusste sie, dass sie ihm kein großer Nutzen sein würde und dass sie diese stoische Zurückhaltung wohl nicht lange würde ertragen können.
Und deshalb riss sie sich zusammen und überließ ihn sich selbst. Es war am Besten so.
Er – ursprünglich eine leidenschaftliche Kreatur – musste seine Selbstkontrolle perfektionieren, um die Kraft zu erlangen, wieder zu sich selbst zu finden.
Sie begrub den Gedanken, anknüpfen zu müssen, denn sie hatte verstanden, dass sie ihm die Sicherheit, die er brauchte nur geben konnte, indem sie bald schon getrennte Wege gingen.

~

Das Gespräch mit Zerwas klang in ihren Gedanken nach, als sie Tage später endlich zum Hotel Seelander ging.
Die Hintertür kam ihr Recht. Und ebenso der Fakt, dass Parel sich bis in dieses außergewöhnlich teure Hotel hochgearbeitet hatte.
Vor vier Jahren hatte er noch einige warme Mahlzeiten im Lowanger-Greiber-Waisenhaus bekommen, jetzt war er mit seinen fünfzehn Jahren fast raus aus den Kinderschuhen und steckte in einer geregelten Arbeit.
Und das im Seelander! Sie fühlte Stolz. Er war zwar nur für minderwertige Aufgaben verantwortlich, aber das im Seelander! Ihre Gedanken konnten es nicht oft genug wiederholen. Er war ihre Eintrittskarte. Mit seiner Unterstützung – auch wenn er erst intensiv überredet werden musste – konnte sie unbemerkt in den Keller gelangen.
Zuerst schien der Keller unscheinbar. Er hatte gewaltige Ausmaße und war randvoll mit Wein in Kisten, Fässern, Fässchen und Flaschen.
Die größten Fässer lagen auf ihrer Seite und hätten sicher einer kleinen Familie Platz geboten, wenn sie sich zusammengekauert hätten..
Auf einem der Fässer prangte: Aquenauer Südhang.
Hinter diesem erstaunlich leichten Fass für dieses enorme Ausmaß verbarg sich ein undeutliches Wandrelief im Stein. Einige Symbole waren da in den Backstein graviert, andere standen hervor.
Ein Sichelmond war darunter. Und das Drücken seiner Form öffnete einen schmalen Gang…

Gareth 17 (Neferu) (TSA 1013)

Neferu saß am Tisch in der Dachkammer in Rosskuppel und brütete über der Karte aus Störrebrandts Archiv. Es war noch früh, gleißend drang die Morgensonne des Wintertages durch das spröde gewordene Fensterglas.
Den Kopf in die Hand gestützt, fuhr sie mit dem Finger die Schlangenlinien nach, die die gemalten Fuchsfährten ergaben, wilde Wege, ein ganzes Labyrinth. Bisher war sie noch nicht hinter das Geheimnis des Rätsels gekommen. Allerdings war sie überzeugt davon, dass sich ein Sinn ergäbe, sobald sie einen der symbolisch bezeichneten Orte gefunden hatte.
Waren die drei abgebildeten Häuser mit dem Fuchskopf der Anfang der Schnitzeljagd oder das Ziel? Sie sahen garethisch aus, waren mehrstöckig und von Fachwerk durchzogen.. Vielleicht fand sie jemanden, der die Konstellation der Gebäude wiedererkennen würde. Sie atmete durch und betrachtete erneut die Ortsymbolik… Ein mächtiger Baum mit stattlicher Krone.. ein zweiter Baum, tot – rußgeschwärzt? Ein Fels wie ein Finger in den Himmel zeigend, ein Weiher im Wald, ein Boronsanger mit verwitterten Steinen, der Schädel eines Raubtieres, das sie nicht einordnen konnte – ein Bär vielleicht? – Schwarz gepunkteter Boden.. möglicherweise schwarze Kiesel… dann eine Hütte aus Knochen, ein Fluss mit drei markanten Felsen und zuletzt ein Pentagramm aus Steinen. Unter allem prangten die drei mehrstöckigen Fachwerkhäuser, hinter ihnen aufragende Bäume. Ein Fuchskopf markierte einen schmalen Durchgang, der die Mauern zweier Häuser trennte.
Unter den Zeichnungen waren je ein überraschter oder grimmiger Totenkopf gemalt, sowie direkt darunter ein Pfeil, der in die eine oder andere Richtung zeigte.
Die Bedeutung der Köpfe erschien ihr leicht – sie nahm sich vor, der Richtungsangabe der grantigen Schädels zu trotzen und sich an den mit ihnen markierten Orten für die gegensätzliche Richtung zu entscheiden.
Aber erstmal die Orte finden, das war leichter gedacht als getan.
Sie faltete das Pergament, steckte es sorgsam in ihre rote Umhängetasche.
Ihr Blick fiel auf die Holzkiste, die mit Erde gefüllt unter dem Fenster stand. Zerwas hatte ihr die Erde besorgt. Sie hätte den gefrorenen Boden sicher nicht herausbrechen können.
Ein beklemmendes Gefühl drückte ihren Hals. Sie hatte den Efeu und die Brunnenkresse von Phexdan eingepflanzt. Sie hatte den Wunsch geäußert, die Pflänzchen nicht absterben zu lassen, hatten sie sich doch bis hierhin gegen den Winter behauptet. Und Nef hatte schon immer eine Schwäche für schwache, benachteiligte Wesen, die sich trotz aller Widrigkeiten durchbissen.
Also war Zerwas ihrer Bitte nachgekommen und hatte ihr den nötigen Grund für die kleinen Wurzeln besorgt, ungeachtet der Tatsache, dass sie Geschenke von Phexdan gewesen waren.

Schnell erhob sie sich, um nicht weiter über diese schräge Dreiecksbeziehung, die da unausgesprochen in der Luft hing, nachzudenken.
Phexdan war Vergangenheit. Zerwas war ihre Zukunft. Nur so machte es Sinn, nur so war es richtig. Die Unsterblichen gehörten zusammen und der Sterbliche würde irgendwann gehen, so furchtbar es auch war. Sie nickte heftig, als ob irgendjemand in der Kammer gewesen wäre, den sie hätte überzeugen müssen. Aber sie war allein.

~

Es dauerte nicht einmal bis zum Mittag, dann hatte sie die drei Häuser gefunden.
Sie hatte sie von der Karte abgezeichnet und einem halben Dutzend Leute gezeigt, ehe ihr überraschenderweise der scharfäugige Wächter der Nordlandbank sagen konnte, dass diese Häuser aussahen wie solche, die er vom Hexenkessel kannte.
„Hexenkessel…?“ Hatte sie nur des Klanges wegen – fast schon zu belustigt – gefragt, als ihr zeitgleich selbst eingefallen war, dass sich hinter dem Namen eine Häuseransammlung in der Südstadt verbarg – nahe der Brache. Die Brache.. Die obskuren Symbole auf der Karte hatten in ihr schon am Morgen die Ahnung heraufbeschworen, dass soviel Unheimlichkeit und soviel Wald auf einmal eigentlich nur die Dämonenbrache meinen konnte. Sie hatte die scheußliche Vorstellung, durch das verfluchte Holz stiefeln zu müssen beim Frühstück beiseite geschoben.
Doch jetzt… Sie sah auf zu den blätternden Fassaden der drei Häuser und wieder hinab zu dem Rätsel in ihrer Hand. Das waren sie ganz gewiss.
Und die Bäumchen hinter der Zeichnung, die ihr vor Stunden noch so harmlos vorgekommen waren, entpuppten sich zu ihrem Unglück als der Waldrand in den verfluchten Forst..

~

Stunden später lief die Frau mit dem roten, fellbesetzten Umhang keuchend durch das Schneegestöber Alt-Gareths. Gehetzt blickte sie sich um, während ihr Atem die weißen Wolken zeigte, wenn Hitze auf Kälte traf. Vor die morgens noch starke Sonne hatte sich unterdessen eine schlierig helle Wand geschoben, die alles verbarg, was Himmel war. Firun zeigte sein Wirken.
Ich bin unschuldig… flüsterte die dunkle Stimme direkt in ihrem Kopf.
Unruhig ruckte ihr Blick umher, die Augen waren gerötet, denn sie schloss sie zu selten.

Sie hatte etwas mitgebracht. Aus der Brache. Wie viele Stunden war sie dort gewesen? Nicht lange.. Es konnte noch nicht weit nach Mittag sein.. Menschen kamen ihr entgegen. Doch dieses Mal nahm sie den steten Strom, der durch Gareth wallte, viel intensiver wahr. Ihr war heiß. Sie spürte wie sie nass unter den Armen schwitzte.
Hatte sie eine Zeitreise gemacht? War das noch das Gareth, das sie kannte? Sie fühlte sich ausgebrannt, jeder Muskel zog, das Skelett in ihrem Leib schien verdreht schmerzend.
Die Menschen starrten sie an, mit gestreng-vernichtendem Blick, mit Beurteilung und mit Augen die sagten du bist schuldig.
Zumindest glaubte sie das, als sie sich ungelenk strauchelnd durch die Massen bewegte. Nur wenige blickten ihr teilnahmslos nach. Die Garether waren es gewohnt zu jeder Tageszeit Betrunkene und Wirrköpfe zu sehen. Das brachte eine Metropole mit sich. So erhielt die Rote höchstens hier einen mitleidigen, da einen desinteressierten und von den jüngeren der Bauern, Händler, Bürger und Besucher vielleicht doch einen neugierigen oder spottenden Blick. Eine Aufmerksamkeit, die darauf abzielte, etwas zu sehen, dass besonders war, damit man morgen etwas spannendes zu erzählen hatte.
Niemand hielt sie auf – kein Büttel, kein Praiosdiener.
Ich bin unschuldig…! säuselte es in ihrem Kopf und sie meinte aus dem Augenwinkel zwischen dem Fluss der Leute eine dunkle Person mit strähnigem Haar zu sehen, die fort war, als sie genauer hinsah.

„Salpico!“ Neferu stürzte mit letzter Kraft an Frau Ahlemeyer vorbei, die ihr verdutzt hinterherblickte. Als die Vermieterin den Mund aufmachen wollte, war die Tulamidin mit den exotischen Zöpfen bereits die Treppe herauf gelaufen. Wenn Frau Ahlemeyer noch Frau Ahlemeyer war.. dann war mit der Zeit alles in Ordnung.
Der Magier war tatsächlich in seiner Kammer und mit gehobenen schwarzen Brauen, ließ er Neferu ein, die ganz entgegen ihrer alltäglichen Gewohnheiten alles andere als gefasst aussah.
„Alles in Ordnung? Du siehst aus als…“
„Ich war in der Brache!“ Sie wedelte mit einem Pergament vor seiner Nase herum. Sah aus wie ein Labyrinthrätsel mit einigen Zeichnungen darauf.
Die Mine des Brabakers zeigte alles andere als Begeisterung, er sah sie lediglich an. Ganz so, als erwarte er, dass sie jeden Augenblick mit einem erklärenden Monolog beginnen würde.
„Da war der Baum! Der Zerstörte von der Karte! Ich habe ihn gefunden, sehr bald sogar. Er war gar nicht weit entfernt vom Zugang..“ sie tippte auf unsicheren Knien schwankend auf das aufgemalte Rätsel. Salpico nahm sie bei den Schultern und setzte sie schweigend auf einen Stuhl. Es war leider ganz und gar nicht ungewöhnlich, dass Menschen die Gefahr von Dämonen, Geistern und wirklich verfluchten Orten (nicht diesen vollkommen ungefährlichen Tempelruinen, die einer schlechten Wirtschaftslage und dem Horn Satinavs zu verdanken waren) deutlich unterschätzten.
„Es gab zwei Wege.. der eine schmal und düster, er führte durch ein Moor. Mir wurde mulmig und ich machte mich lieber vom Acker, obwohl der Totenkopf eigentlich nicht grimmig dreinglotzte, der auf dem Papier und es der richtige Weg hätte sein müssen… so im nachhinein war er das sicher auch! Denn der breitere Weg führte in einen Wald, zu einer alten Zollstation. Auf dem Weg dahin hörte ich es in den Wipfeln flüstern, denn es ist kein Winter in der Brache. Nicht wirklich! Es gibt noch Bäume, belaubte Bäume.. und da hing etwas im Baum, aber ich sah nicht hin. Das Flüstern wurde deutlicher, es war ein Mann..! Er sprach ‚Ich bin unschuldig.‘.. Immer wieder! Und auf der Lichtung bei dem zerfallenen Gebäude der Station dann…kam der andere, durchscheinende Kerl mit dem Tellerhelm und er… er verzog sein Gesicht! Als.. würde er mich verschlingen wollen und als ich wieder die Augen aufmachte, war die Zollstation in gutem Schuss, es war Licht darin und von draußen konnte man die Silhouetten feiernder Menschen erkennen.“
Sie holte pustend Luft.
Salpico nickte langsam, da war er gewesen, der Redeschwall.
Auch wenn er kein Meister darin war, die Gefühlsregungen anderer korrekt einzuschätzen, so war er sich sehr sicher, dass Nef aufgebracht war. Und dass sie in der Brache Kontakt zu einem Geist oder Dämon gehabt hatte.
„Ich hör dir zu, was ist dann passiert?“ gab er ermunternd von sich und zwang sich zu einem pädagogischen Lächeln, das sie beruhigen sollte.
Ihre Wangen hatten wieder ein bisschen Farbe bekommen und sie bestätigte schwer nickend seine Aufforderung.
„Gut.. oder auch nicht.. Ich bin dann.. in diesem … Traum herumgelaufen. Er schien wie die Vergangenheit. 932 nach Bosparans Fall, konnte ich auf einem Stein lesen. Ich konnte sogar mit den Männern in der Station sprechen, Pico! Dieser Gehängte im Baum…Sie erzählten mir, er war am Strang gestorben, ein Kinderschänder! Und dann kam er plötzlich zurück.. Als Untoter! Ins Zollhaus. Und tötete da alle! Als ich wieder zu mir kam und Satinav die Zeit wieder so geregelt hatte, wie sie gehörte, sah ich die Reste der Leichen im Haus. Und mit Blut stand an die bleichen Bretter geschrieben ‚unschuldig‘! Und ich glaube… ich habe ihn mitgebracht! Ich höre ihn auch hier!“ Sie endete leiser, drückte die Lippen aufeinander und starrte Salpico an wie ein Patient, der auf das Urteil des Heilers wartete.
Salpico nickte stoisch.
„Tödliche Unschuld.“ diagnostizierte er mit Kennermine. „Sie sind überzeugt davon, eine Tat, die sie aus dem Diesseits befördert hat, nicht begangen zu haben. Doch das haben sie! Obwohl ich noch nie mit einer gesprochen habe, nehme ich an, dass das so ähnlich wie das Verdrängen bei uns Menschen ist. Der lebende Mensch tut etwas ganz Furchtbares, das eigentlich sogar gegen seine eigenen Grundsätze verstößt und verstirbt kurz darauf, noch während er mit seinem schlechten Gewissen hadert. Kommt zu diesem Hadern noch der Schock eines gewaltsamen Todes, so kann es passieren, dass die Seele keine Ruhe findet und nicht in Borons Hallen eingeht. Sie bleibt dann in der Nähe des Todes- oder Tatortes und versucht durch die Übernahme Lebender seinen Namen reinzuwaschen oder zumindest jene über das Nirgendmeer zu befördern, die seiner Ansicht nach seinen Tod herbeigeführt haben.“
Einen Augenblick schwieg er nachdenklich und ließ seinen Blick aus dem Fenster schweifen, während er seinen Bart kraulte. „Seltsam eigentlich. Ich lese selten von Erwachsenen die das betrifft. Oft sind es eher junge Menschen, die aus Versehen jemanden getötet haben, ein Geschwisterteil das andere vielleicht, oder…“, mit einem Blick in das Gesicht der jungen Hexe brach er ab. Sie hatte wieder an Farbe verloren und starrte ihn mit weit offenen Augen an, ein irgendwie konzentrierter Blick, als würde sie jemandem oder etwas lauschen.
Irgendwo im hintersten Winkel seines Bewusstseins manifestierte sich die Vermutung, dass Nef größere Probleme hatte als seinem akademischem Fachwissen zu lauschen. Sicher war es besser, wenn er die Angelegenheit schlicht auf den Punkt brachte.
„Ich schätze… du bist besessen. Noch ist das nicht weiter schlimm. Die tödliche Unschuld ist eher schwach wenn es darum geht, einen wachen Geist zu übernehmen. Das funktioniert nur bei hirnamputierten Söhnen der Dummheit. Bei dir muss die Unschuld warten, bis du einschläfst, ehe sie mit ihrem Rachefeldzug beginnen kann.“, er setzte ein zufriedenes Lächeln auf und nickte zuversichtlich – was Neferus Gesicht seltsamerweise nicht entspannen konnte.
Einen Augenblick schwieg er verdutzt, ehe er anfügte:“Ich brauche nur ein paar Kleinigkeiten, dann angeln wir diesen Parasiten wieder aus dir heraus und stopfen ihn dorthin zurück, wo er hingehört. Die Brache. Ich bin gleich zurück!“

~

Die Prozedur war weniger schlimm als angenommen.
Tatsächlich hatte die tödliche Unschuld von ihr Besitz ergriffen, sich wie eine Made in den Apfel, in ihren empfänglichen Geist eingenistet. Während ihr kaum mehr zu tun blieb, als auf einem Schemel in Salpicos ‚Arbeitsraum‘ sitzen zu bleiben, hatte dieser sich ungewohnt eifrig und fachkundig daran gemacht, ihre Sitzgelegenheit mit aus Kreidestaub bestehenden Kreisen, Mustern und Glyphen zu umgeben. War das tulamidisch?
„Ein Bannkreis, zwei Schutzkreise.“ dozierte er dabei, ehe er ein recht schlichtes, irgendwie altertümlich wirkendes Kurzschwert offenbarte. Es sah zugegeben ein wenig amüsant aus – wie ein Hund, dessen Nase an einer Fährte klebte -, wie der Schwarzmagier auf dem Boden umher kroch, die Linien peinlich genau prüfte und dann das Schwert – scheinbar recht willkürlich – dazwischen legte, ehe er einige klischeehafte, schwarze Kerzen anzündete.
Bald darauf stand Salpico in einem der Kreise und begann seinen Körper, begleitet von einem seltsam nichtmenschlich anmutenden Singsang hin und her zu biegen. Der Geist der Hexe umwölkte sich, als die Magie des Mannes nach ihm Griff – und als die Schleier sich hoben, blieb nur die Erinnerung an das Gefühl eines unbestimmten Ringens, eines Reißens und Windens, eines kurzen aber heftigen Kampfes. Die Erinnerung daran, dass die Made mit einem unangenehmen Ruck aus dem Apfel entfernt worden war.

~

Keine gute Idee, alleine und unvorbereitet nur mal gucken zu wollen, was denn in der Brache so los war. Sie schalt sich innerlich. Kaum zu glauben, dass sie eine Geweihte des Listenreichen war. So überstürzt wie sie dem Rätselchen nachgejagt war, ganz egal, wohin es sie führte, fühlte sie sich eher wie ein Köter, dem sein Stöckchen in einen unbekannten Wald geschleudert worden war. Doch selbst der Vierbeiner wäre zu schlau gewesen, dieses Stöckchen aus dem dürren Gras der Brache zu zupfen..
Sie schlug sich mehrfach die Handballen gegen die Stirn. Bei allen Dämonen, wie hatte sie nur so stumpfsinnig sein können. Sie füllte ihre Brust mit Luft und hielt sie kurz an.
Erst nachdenken, erst ein Plan. Oder zumindest eine passable Vorbereitung.
Die Brache… was wusste sie darüber?
Ihr Blick schnellte zu Salpico, der wieder am Schreibtisch des Zimmerchens saß und geistesabwesend über einem Buch brütete.
Sie hatte sein Bett zum Meditieren annektiert und saß im Schneidersitz darauf.
„Picchen? Was kannst du mir über die Brache erzählen?“
„Nicht viel, sie ist alt – der Rest einer Dämonenschlacht. Es gibt Geister und Dämonen dort. …und man sollte nicht unvorbereitet hineinspazieren.“ schnarrte der Tulamide, ohne dass er aufsah.
Nef runzelte missfällig die Stirn, die dichten Brauen sanken tief über ihre Mandelaugen.
„Danke,“ murrte ihre tiefe Stimme, „das ist nicht viel.“. Sie rutschte vom Bett, schlüpfte in die Stiefel, „Ich höre mich um.“
An der Tür hielt sie noch einmal inne.
„Wenn ich das nächste Mal – vorbereitet – in die Brache gehe… begleitest du mich?“
Nun hob er endlich den Kopf, sah sie mit seinen seltsamen Augen an, deren Iris komplett schwarz war, als hätte man ihm zwei finstere Perlen in die Glaskörper gedrückt.
„Sicher.“

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Solange sie sich mit dem Brachenrätsel befasste, mussten alle anderen Baustellen auf ihrer langen Liste von nötigen Handgriffen für ein passendes Leben in Gareth, ruhen.
So kratzte es ihren Stolz auch kaum, dass diese Oberhexe, die im Levthans Horn unter der Obhut eines Angroschim arbeitete, sie seit Tagen ignorierte. Trotz dem sie zwischendurch sogar da gewesen war und nach ihr gefragt hatte, höchstpersönlich! Beim Schlendern durch das heruntergekommene Südquartier fragte sich Neferu, ob es so unüblich in Gareth war, dass diejenigen, die ihre Magie mittels der Erdnähe kanalisierten, sich untereinander bekannt machten. Wie konnte so überhaupt ein Garether Zirkel bestehen?
Sie kuschelte sich in ihren Umhang. Die Flocken, die dick aus den Wolken stoben, wie Federn aus einem zu kräftig geschüttelten Kissen, legten sich sachte auf ihren dunklen Kopf, wie ein flauschiges Eismützchen.
„Da bist du..“ Die tiefe Stimme des Dunkelhaarigen durchschnitt die wattige Stille, die die Laute dämpfte. Zerwas‘ Schritte knirschten, als er über den frischgefallenen Schnee ging.
Er hatte seinen Dienst auf dem Hof wohl zu Ende gebracht, so kurz vor der Abenddämmerung. Sie war ehrlich froh, ihn zu sehen. Der Schock über die Besessenheit saß ihr noch tief in den Gliedern. Mit geneigtem Kopf ging sie ihm die letzten Schritte entgegen und umarmte ihn fest. Zuerst überrascht, dann sanft, nahm er sie an sich.

~

Eine Dämonenschlacht vor einem Jahrtausend, die so übel ausgegangen war, dass das Echo der vor achtzig Jahren am Rand der Brache befindlichen Zollstation noch immer hallte. Damals am Rand der Brache, jetzt darin. Der verfluchte Wald breitete sich aus, immer weiter, Jahr für Jahr. Sie musste furchtbar aufpassen, auch wenn Salpico und Zerwas sie begleiten wollten.
Ein Artefakt gegen Besessenheit in kurzer Zeit aufzutreiben, gestaltete sich als unmöglich. Weder die Schwarzmagier aus dem Südquartier – genannt der Zirkel der freien Wissenschaften – noch der stadtbekannte Artefakturmeister Erpelgrieb, bei dem Salpico eine Art Lehre anfangen wollte, konnten ihr helfen.
Sie kleidete sich in ihre Tuchrüstung, denn das erschien ihr angesichts der Sumpflöcher der Brache als besser. Sollte sie fallen… in einen dieser morastigen Weiher, konnte ihr zuviel des Guten schnell den Tod bringen.
Sie teilten sich auf. Zerwas besorgte Steinsalz, einem alten Aberglauben folgend. Und sie ließ ihre Waffe gegen einen Obolus von zwei Dukaten segnen.
Sie griff nach jedem Halm.
Die grauen Wolken des jungen Abends verpackten den Himmel dick, als befände sich in Alveran eine trübe Suppe, die bis in die Sphäre der Menschen vordrang.
Neferu forschte explizit nach jemandem, der sich in der Brache auskannte.
Im Südquartier hörte sie sich um, denn sie wusste, dass die Ohren und Augen dort nie verschlossen waren.
Sie fand die brauchbare Auskunft: Phygius II. war der Name des Mannes, der einmal die Woche, immer Rondratags, abwechselnd in zwei Gasthäusern am Rande des Quartiers speiste.
Als verschroben galt er und sehr gepflegt, aber was kümmerte sie das, solange sie ihn dazu bringen konnte, ihr zu helfen.
Seine Stammtavernen waren ‚Lieblicher Yaquir‘ und ‚Almada-Stube‘. Es war nur eine Theorie, aber es deutete doch alles darauf hin, dass dieser Phygius ursprünglich Almadaner war.
Die Wirtin der ‚Almada-Stube‘ schwor sogar, dass der seltsame Brachenspezialist in dem pervertierten Wald leben sollte. Wahrlich leben!

Bis zum Rondratag waren es noch zwei Tage…

Gareth 16 (Neferu) (TSA 1013)

Nur noch drei weitere, sich immer aufs Neue wiederholende, endlose Tage!
Es war nicht so, dass sie und Phexdan die Zeit ungenutzt ließen. Neben all dem Düngen und Jäten blieben zum Abend und an einigen Tagen auch zwischendurch einige Stunden zur freien Verfügung und in dieser Zeit fokussierten sich die beiden Phexgetreuen auf den grauen Herrn. Sie beteten und meditierten, übten sich im Wortgefecht und vor allem lachten sie viel. Er sprach über die Liturgie der Seelenprüfung. Einmal war da dieser braungebrannte Perainegeweihte gewesen, gerade als sie eine weitere Lektion in Sachen kluges Verstecken und Ausnutzen der Schatten hinter sich gebracht hatten. Unweigerlich ein Fremder, der sich umsah wie nur Fremde es tun, die zum ersten Mal oder nach langer Zeit erstmals wieder einen Ort aufsuchten. Er badete im heilsamen Rundbecken, einem kleinen Bassin im Tempel, dessen Wasser durchsetzt war von Salzen aus dem Berg und allerhand anderem gesundheitsfördernden Pülverchen, die Nef nicht kannte. Der fremde Geweihte – und er war unweigerlich ein Geweihter, lag doch ganz in seiner Nähe die typische grüne Kutte – planschte also und wusch sich, während Neferu sich den Scherz erlaubte, ihn vom Rand aus nasszuspritzen, ohne dass der Badende den Verursacher des plötzlichen Schwalls Wasser hatte ausmachen können.
Es steckte auch ein beträchtliches Stückchen Schalk in Phex und seinen Jüngern…

Zu behaupten, dass Neferu in diesen zwölf Tagen litt, wäre übertrieben gewesen. Allerdings stellte sie selbst fest, dass ihr die wenig freiheitlichen Aktivitäten im Peraine-Tempel unter den Nägeln brannten, sie unruhig machten, obwohl das Haus der Göttin von Ackerbau und Heilkunst ein Ort der Ruhe und Geborgenheit war, zweifellos.
Doch wie ein kätzischer Straßenstreuner brauchte sie die Möglichkeit, ganz wie es ihr beliebte, mal hierhin und mal dorthin zu stromern. … Und das blieb aus. Also wälzte sie sich schlaflos herum, so energisch, dass sie sogar Phexdan weckte. Trotz dem sie wunderbar umsorgt wurde, war Neferus Laune daher nicht die Beste. Und gerade der Maraskaner wurde Zeuge davon, wenn sie wiedereinmal kratzbürstig bis zum Jähzorn neigend, seine Zuneigung abwies. Er war davon überzeugt gewesen, seine Nef in der Zeit des gemeinsamen Einsitzens im Tempel in kürzester Zeit mit Pauken und Trompeten wieder erobern zu können. Enttäuscht war er trotzdem nicht. Phexdan war nicht der Typ für Enttäuschung, lieferte Phex ihm schließlich diese grandiose Herausforderung. Nicht, dass Nef für ihn nur eine Herausforderung gewesen wäre… Aber dass die unausgeglichene Hexe ihren Launen ausgeliefert alles andere als leicht und langfristig von etwas völlig überzeugt und eingenommen war, stellte einen Nebeneffekt dar, der ihn nicht abschrecken konnte. Trotzdem.. sie zog sich im Laufe ihrer beider Gefangenschaft eher zurück, als dass sie ihm entgegen kam. Den Grund dafür kannte er nicht, so oft er auch versuchte in ihren dunklen Kopf zu gucken, sobald sie neben ihm stand.

Als der friedliche Trott des Tempels, die Ölungen und all das Blumenumsorgen sein Ende fand, spürte Neferu das Gefühl puren Glücks.
Es war der dritte Tsa im Jahre 1013, als Neferu von Rohalides und seiner herbschönen Dimione schon in den frühesten Morgenstunden in die Freiheit entlassen wurde. Es hatte draußen endlich geschneit und die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen.
Rohalides legte den Arm um die Schulter seiner Frau, als er dem seltsamen Gast in Rot nachsah, der durch den Schnee lief wie ein junger, verspielter Hund und den fröstelnden Dunkelhaarigen mit dem Rabennestkopf mit Schneebällen drangsalierte. Der Zyklopäer war ein friedfertiger Kerl, immer gutmütig und geduldig. Aber selbst in ihm gab ein heimliches Stimmchen zu, dass er froh war, die zwei Rabauken, die zweifellos dem heitersten der Zwölfe angehörten, los zu sein.. Immerhin fünf Dukaten hatte die rote Frau gespendet.

~

Zerwas hatte nur für sie beide zwei Zimmer in Rosskuppel gemietet, eine winzige Wohnung im ersten Stock eines niedrigen Bauernhauses auf dessen Reetdach nun der Schnee lag. Die Bauern mit Namen Nella und Storko, gute Garether Landwirte mit einem kleinen Jungen waren schlichte, herzliche Leute, die sich ihr Misstrauen dem blassen Schwarzhaarigen mit dem aristokratischen Gesicht gegenüber nicht anmerken ließen. Höfliche Leute eben, die froh waren, ein zusätzliches Entgelt für den ausgebauten Dachboden zu bekommen und die sich einredeten, schon sehr viel seltsamere Gäste untergebracht zu haben. So ignorierten sie, dass der Herr mit dem Haar einer aranischen Tänzerin stets das Essen verschmähte und immer auswärts zu speisen schien. Er war eben ein feiner Herr, nickten sie verständnisvoll und sagten auch nichts zu den nächtlichen Schritten auf dem knarrenden Holz. Denn Schlaf schien ihr neuer Mieter ebenfalls nicht zu finden – wie sie diesen armen Menschen doch bedauern mussten!

Salpico hingegen war bei einer Sattlerin untergekommen, deren schmales, aber sehr hohes Häuschen im Arenaviertel seinen Platz hatte, eingepfercht in eine Reihe anderer Häuser ähnlicher Bauart. Frau Ahlemeyer hieß die gute Vermieterin, eine früh gealterte Witwe in den Vierzigern, die immer wieder von ihren zwei Söhnen sprach, die sicher irgendwann zu ihr nach Hause kommen würden. Fragte man nach, so hörte man heraus, dass die beiden in die Orkenkriege ausgezogen und nicht wiedergekommen waren… Aber bald, ja bald, wären die Burschen wieder zuhause! – wurde Frau Ahlemeyer nicht müde zu beteuern und lieferte gleich noch eine Beschreibung der Buben, falls die Herrschaften sie einmal zu Gesicht bekommen sollten.
Salpico lächelte verkniffen und kramte mühevoll die Details dessen, was er an sozialen Fertigkeiten aufgeschnappt hatte aus den staubigsten Nischen seines Verstandes. Die beiden Sprösslinge seiner naiven – oder vielleicht geistig am Schicksal ihrer Familie zerbrochenen – Vermieterin waren sicher quicklebendig wie ein Wiesel. Ein altes Wiesel mit Rheuma und Hüftleiden. Blind und vor zwei Wochen von einem Rübenkarren überrollt. Anders ausgedrückt: Sie waren ohne jeden Zweifel so tot wie zahllose junge Männer und Frauen, die in den Krieg gingen und nicht zu ihren Familien zurückkehrten. Aber obwohl Salpico bewusst war, dass die Dunkle Halle der Geister seine sozialen Talente unweigerlich hatte verkümmern lassen, besaß er den Anstand seine Annahme über den Verbleib der Ahlemeyer-Knaben nicht einmal anzudeuten.
„Selbstverständlich kommen Eure von den Göttern zwölfmal gesegneten Söhne zurück an den Herd ihrer liebenden Mutter.“ kam es so überzeugt wie möglich über seine vollen Tulamidenlippen. Erst nach zwei oder drei Augenblicken wurde ihm bewusst, dass echte Überzeugung üblicherweise von einem Lächeln begleitet wurde und so hob er die Mundwinkel zu schnell, zu hoch und zu plötzlich.
Er bemühte sich. Er wollte vermeiden der gutherzigen Sattlerin das Jahr zu vermiesen. Insbesondere, solange er hier noch lebte. Man konnte viel über ihn sagen – dass er Leute verprellte, die ihm halfen gehörte (üblicherweise) nicht dazu. „Aber natürlich werde ich mich umhören! Ich bin bald im Süden des Kontinents und werde mich dort nach ihnen umsehen – vielleicht haben sie eine wichtige Geheimmission. Ihr wisst schon Al’Anfa vielleicht.“
Das mütterliche Nicken und die in den Augen der Frau aufblitzende Hoffnung brach ihm beinahe das Herz. „Sicher bringe ich bald Nachricht von ihnen! unterstrich er – und ging im Geist bereits das Gespräch mit den ruhelosen Seelen der beiden hingeschlachteten Jünglinge durch, in dem er zu klären gedachte, welche Geschichte man der wirren Mutter auftischen konnte, um ihr Leid zu lindern.
Dem Nekromanten war vage bewusste, dass Ahlemeyer immer noch redete. Sich bedankte vielleicht, oder mehr von ihren Söhnen berichtete, damit er sie erkennen würde, wenn er nur erst vor ihnen stünde. Für seine Magie allerdings war es kein Probleme das tote Bruderpaar zu finden, ein größeres Problem war es, nicht mit Boron und seinen Dienern aneinander zu geraten. Während also die Dame des Hauses von Lieblingskuchen und Kinderdecken schwadronierte, trug Salpico sich mit dem Gedanken schwanger Hilfe bei Marbo zu suchen. Ein kleines Zeichen der Zustimmung erleichterte die Angelegenheit ganz erheblich – auch auf weltlicher Ebene. Man wusste nie, wann der Vampir mit den beneidenswerten Haaren (ob gutes Haar einer der Vorteile des frei bestimmten Untodes war?) auf die Idee käme seinen Glauben an den Herrn Boron (Welch Ironie!) handfest zu verteidigen. Nein – darauf konnte er verzichten, entschied er, während die letzten drei nötigen Zutaten für die Lieblingsspeise des einen Bruders zu seinem einen Ohr hinein und zu dem anderen wieder hinaus wanderten. Es war schlimm genug gewesen noch eine letzte Nacht mit dem unangenehm hungrigen Todesboten in der Smaragdnatter verbringen zu müssen. Das Einzige, was sicheren Schutz gegen diesen Kerl bot war Dajinn VII., der…bei Boron und Hesinde! Der Affe! Wie lange hatte er ihn nicht gefüttert? Zwei oder drei…Tage? Eilig wirbelte er herum und ließ Frau Ahlemeyer mitten in einem Monolog über bestickte Kinderkissen stehen.

Am anderen Ende der Stadt, außerhalb ihrer Mauern erbebte im bäuerlichen Rosskuppel ein dürres Bäumchen in einem der feldbegrenzenden Knicks. Seine blattlosen Zweige schlugen gegeneinander, als er seinen festen Halt im kalten Mutterboden verlor und an den Feldrand zu einigen anderen entwurzelten Sträuchern geworfen wurde.
Ohne zu schwitzen, zu frieren, schwer zu atmen – oder auch nur einen irgendwie gearteten Puls – sah Zerwas zu Storko hinüber. Auf der anderen Seite des Feldes mühte der Hausvater sich ebenfalls damit ab, das Feld von allzu sehr überhängenden Zweigen oder Ästen zu befreien.
Eine anfallende Arbeit im Winter – ebenso wie das ganzjährige Füttern der Tiere und das Ausmisten der Ställe.
„Angelegenheiten für Bauern und Knechte.“, hätte er noch vor einigen Jahren gesagt. Aber heute war es eine notwendige Arbeit. Notwendig um den Kopf frei zu bekommen, aber notwendig auch, um zu wachsen. In seiner Zeit bei den Kindern der Nacht, hatte er eine simple Wahrheit erfahren. Wer mächtig ist, ist nicht notwendigerweise auch gefährlich. Gefährlich waren nur die, die Macht und die Überzeugung etwas Besseres zu sein als die weniger Mächtigen in sich vereinten. Simpel ausgedrückt: Wer mächtig und zugleich konstruktiv sein wollte, musste Demut lernen. Und eben das bedeutete die Arbeit, die für diese Familie wichtig war, ebenfalls als wichtig anzunehmen und mit den ihm gegebenen Stärken zu erledigen, während er seine Schwächen in Kauf nahm.
Letzteres war leicht gesagt zu dieser Jahreszeit – war der Himmel doch oft genug verhangen und grau.
Die Strichliste, die er auf der Unterseite eines der Tische in seiner Wohnung führte, hatte ihm verraten, dass Neferu am heutigen Tage aus dem Exil des Peraine-Tempels zu ihm zurück finden würde. So kam es, dass er sich den Schritten auf dem nahen Feldweg mit einem Lächeln zuwandte.

Die Wiederbegegnung mit Zerwas nach fast zwei Wochen verlief seltsam. Noch während ihres Aufenthalts im Tempel hatte sie eine Nachricht von ihm bekommen: Er hatte endlich eine Unterkunft gefunden, die ideal war. Für sie beide. Beide allein. Mit gemischten Gefühlen umarmte sie den Uralten und ließ sich die Kammer im Dach zeigen. Sie hatte gewusst, dass Zerwas die enge Unterbringung in der Smaragdnatter von vorn herein verabscheute hatte. Zu viert in einer Dachkammer war seinem Verständnis von Privatsphäre zuwider gelaufen.
Er hatte dieses animalische Lefzenziehen um den Mund herum, dieses Zittern der Nasenflügel, wenn ihm etwas missfiel. Und das hatte sie da gesehen.
Sie war froh, dass die beiden Tralloper Fohlen, um die Zerwas sich wirklich ausgezeichnet gekümmert hatte, wohlauf waren und endlich mehr Platz hatten, die Hufe zu bewegen.
Auch sonst gefiel ihr der Hof. In seiner naiv-pragmatischen Ländlichkeit wirkte er besinnlich, behütet, wie das Abbild eines geregelten Lebens.
Sie irritierte, dass Zerwas mit den Hofbesitzern ausgemacht hatte, für sie zu arbeiten. Seine kräftige Mithilfe drückte den Preis beachtlich, aber irgendetwas verstörte sie an dem Bild des Vampirs mit von Erde schmutzigen Nägeln. Es passte nicht zu ihm und trotzdem war sie gleichzeitig froh darüber. Erleichtert, dass unter dem Eindruck des perfekten Mannes, der erhabenen Eleganz und der übermenschlichen Anziehungskraft etwas war, das sich nicht scheute, schmutzig zu werden. Von Arbeit schmutzig – nicht vom spritzenden Blut seiner hilflosen Opfer.
Sie erzählte ihm eine Kurzfassung des Tempelaufenthalts und machte sich dann an ihre überfällige Gareth-Runde. Während Zerwas den Bauern zur Hand ging, hegte sie theologische Diskussionen über Tsatuaria im Tsa-Tempel und verunsicherte die dortige Kindergärtnerin mit ihren angedeuteten, ketzerischen Theorien (die sie selbstverständlich so formulierte, dass ihr nichts vorzuwerfen war). Anschließend führte ihr Weg sie zu Alrik Garether, dem Hauptmann der Spießbürger. Sie sicherte sich einen Termin für ihren dreiwöchigen Dienst als Wächterin. Sie bestaunte zum wiederholten Male das Theater ‚Fuchsbau‘ am Brig-Lo-Platz – es war sechsstöckig! – und endete zum Nachmittag im ‚Lowanger-Greiber-Waisenhaus‘ in Eschenrod.
Sie trug ihre, wie sie sie nannte ‚Abenteurerkluft‘, weshalb sie nicht ganz so argwöhnische Blicke auf sich zog, als wenn sie in ihrer Bürgerkleidung erschienen wäre.
Es war auch ganz einfach sicherer, nicht zu hochtrabend durch das Südquartier zu stolzieren. Das wusste sie zu gut.

Nach einigen Worten der Höflichkeit ließ Nef sich von der Heimmutter, einer Traviageweihten mit ehrlichen runden Augen von reinstem Blau, zu den Kindern begleiten. Etwa dreißig von ihnen lebten hier – Waisen der Straße, wie sie selbst vor Jahren eine gewesen war. Ohne eine Gruppe konnte man im Südquartier kaum überleben. Oder man verkam zu einer Mauerpflanze, die vegetierte und nichts anderes mehr verinnerlicht hatte als das bettelnde Heben der verknöcherten Hand wenn jemand vorüberging.
Zwei wertvolle Informationen nahm sie mit aus ihrem kleinen Blumengarten, wo sie ihre vielversprechenden Pflänzchen behüten ließ: Der eine – ein junger Mann namens Pavel war wegen herausragender Fähigkeiten bis in den Seelander vermittelt worden, wo er eine Ausbildung erhielt. Der Küche selbstverständlich nur, aber auch das war ein wahres Wunder – ein Junge aus Eschenrod wusch die Teller der Reichsten. Ob da ein unehelicher Vater mit schlechtem Gewissen seine Finger im Spiel hatte?
Der zweite Sprössling war die vielversprechende kleine Efferdlieb. Mit neun hatte sie angefangen zu nähen und nun war sie elf Jahre alt. Neferu wurde ein ganzer Satz Kleidung ausgehändigt, die das Mädchen genäht hatte. Kindliche Nähte, ein großzügiger Stich, aber so gleichmäßig als hätte das Kind bereits ein Jahrzehnt Erfahrung.
Neferu begutachtete wie eine reiche Gönnerin das blondbezopfte Kind. Efferdlieb war ernst und hatte Augen, die so tief und streng blickten, dass man sie wesentlich älter schätzen konnte, als sie an Jahren zählte.
Während die Phex-Hexe die Kleine begutachtete wie eine Investition in die Zukunft, stand diese ganz ruhig.
Efferdlieb… ging es durch Nefs Kopf. Sie war so genannt worden, weil man sie als Kleinkind herumirrend und schmutzig am Fluss gefunden hatte. Efferdlieb sollte eine Zukunft haben. Und einer von den Beweisen werden, der zeigte, dass auch die, die ganz unten waren, durch Fleiß und Durchhaltevermögen ganz nach oben kommen konnten. Und irgendwann sollten all diese elternlosen Kinder leben wie Hal in Alveran.
Neferu bündelte die kleinen Kleidungsstücke und machte sich auf dem Weg zurück in die Altstadt, es dunkelte schon. Sie musste sowieso zu Störrebrandt. Vielleicht konnte sie so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Aber zuvor holte sie Phexdan vom Brig-Lo-Platz ab.
Mit den Worten „Wenns dunkel wird am Göttermonument!“ war er schon zur frühen Stunde entschwunden und nur die Zwölfe konnten ahnen, wo er sich so dringend herumtrieb. Sie rollte mit den Augen.

~

Schon drei Stunden lag sie im Bett und starrte eine neue, hölzerne Decke an.
Sie hatte es tatsächlich geschafft. Zwar war sie unangenehmerweise beim ersten Anlauf von der Ausstrahlung Störrebrandts im wahrsten Sinne des Wortes aus den Schuhen gehauen worden – eine peinliche Situation, die zwei Leibmagier des Kaufmannes hatten sie untersucht und so die Magie in ihr festgestellt – doch neben diesem Ohnmachtsanfall (schon wieder einer! Und das, obwohl sie die Prozedur Rohalides‘ über sich hatte ergehen lassen!) hatte der Pfeffersack zugestimmt, sich Efferdlieb einmal anzusehen, nachdem er die Arbeit ihrer kleinen Hände vorerst kurz einschätzend überflogen hatte. Und sie war auch in sein Archiv gelangt. Anscheinend interessierte es einen der reichsten Männer Aventuriens selbst, was aus seinem Wagenzug 2098-031 geworden war. Sie hatte nämlich in Erfahrung bringen können, dass dieser Handelszug, begleitet von fünfzehn Personen und einigen Ballen Fellen und Stoffen, in denen Mondsilber und Arkanium transportiert worden war, auf nimmerwiedersehen irgendwo im Bornland verschollen waren. Mit Pferd und Wagen, alles weg – nicht einer hatte ihr Ziel, Norburg, erreicht.
Aber es war nicht einmal die Akte selbst, die sie so aufwühlte, sondern ein Pergament, das in ihr lag. Es passte thematisch und optisch nicht zu Störrebrandts Archiv, sondern es zeigte ein klassisches Rätsel… Symbolisch gezeichnete Orte, eine Fuchsfährte.. und drei Häuser mit einem Fuchskopf. Sie hatte ihren nächsten Hinweis gefunden!
Neferu wandte den Kopf, als Zerwas das Schlafkämmerchen betrat. Unverschwitzt mit kaum zerzaustem Haar, dazu ein undeutliches Lächeln, kam er auf sie zu.

Gareth 10 (Neferu) (FIR 1013)

Phexdan kam diese Nacht nicht nach Hause.
Dafür aber der Vampir, der seinen unstillbaren Durst in der Dunkelheit an etlichen Garethern gestillt hatte, die sich zu später Stunde aus dem Haus gewagt hatten.
‚Von jedem nur ein Schlückchen‘ war seine neue Devise, um den Schaden für den Einzelnen zu minimieren, auch wenn die Jagd durch diese löbliche Entscheidung in die Länge einer ganzen Nacht gezogen wurde.
Er hatte sich zu ihr gelegt und das neue Blut, das er seinen Opfern entzogen hatte, tat seine kurzfristige Wirkung: Er war warm.
Sie fröstelte dennoch, als sie aus einem traumlosen Schlaf erwachte.
Die Dachkammer in der ‚Smaragdnatter‘, die sie teilten, war wenig gedämmt, aber immerhin waren sie alle zusammen. Zumindest in der Regel. Sie späht widerwillig hinüber, zu Phexdans leerem Bett und erhob sich mit morgendlicher Unbeweglichhkeit.

Ihr erstes Ziel war der Pentagontempel der Hesinde. Er lag gewissermaßen um die Ecke.
Auf den Blutulmen des fünfseitigen Platzes lag der Raureif eines Wintermorgens. Kalt und neblig erschien Gareth auch wenn sich allerorts kleine warme Lichter durch den Dunst brachen. Rohal selbst sollte diese Bäume gepflanzt haben, diese Mär kannte sie als gute Garetherin.
INITIUM SAPENTIAE FIDES HESINDIAE stand da in Silberlettern über dem Torbogen. Hätte Zerwas, der des Bosparano mächtig war, ihr nicht mitgeteilt, wie die Übersetzung lautete, wäre sie voll Unwissenheit über die alte Sprache an der Übersetzung des Sinnspruchs kläglich gescheitert: Der Anfang aller Weisheit – das Vertrauen auf Hesinde.
Neferu blieb mehrere Stunden in den Hallen des Wissens, im Sternensaal der weisen Göttin.
Einerseits hielt sie nach Helke Borgian Ausschau, der Schlangenhexe aus dem Südquartier. Doch von der Frau war nichts zu sehen.
Zum Zweiten suchte sie. Nach Informationen. Bezüglich der Ingredienzien, die sie für den Alchemisten Grabensalb besorgen sollte und ebenso nach solchen, die mit dem Rätsel zu tun haben konnten, das sie und Zerwas im Dachfirst der Weststadt gefunden hatten.

AKTE 2098-031,REG.:BO,
1007 BF (SOLDLST. BEWACH. WAGENZ.) STB

Aber nichts. Zumindest zu Letzterem. Sie hatte eigentlich nichts anderes erwartet, aber das Ausschlussverfahren hatte ihr auch in der Vergangenheit gute Dienste erwiesen. Also half es nichts: Um der Spur zu folgen und zu entschlüsseln, was sie da entdeckt hatte, musste sie wohl oder übel bei Störrebrandt eindringen und in seinen Akten lesen…

Gegen Mittag trugen sie ihre Schritte, wie immer eilig und lang, damit niemand auf die Idee kam, sie aufhalten zu wollen, ins Südquartier.
Ihre größte Investition wartete und reifte da in den Schatten der überhöhen, schiefen Gebäuden der Ärmsten und Gescheiterten.
Das Lowanger-Greiber-Waisenhaus beherbergte über ein Dutzend verlassener Kinder, die vermutlich alle einen diebischen Hintergrund hatten. Denn anders hätten sie so allein in
Eschenrod niemals solange überlebt, bis sie gefunden worden oder selbst gekommen waren.
Dann und wann kehrte Neferu ein und sprach mit Mutter Harina, der Travia-Geweihten, die sich um die Verlorenen sorgte. Neferus Interesse war nicht einzig gutmütiger und selbstloser Natur. Natürlich identifizierte sie sich mit all den schlecht angezogenen und rotznasigen Kindern, die auf der Straße niemanden gehabt hatten, der sich darum scherte, ob sie lebten oder starben.
Gleichermaßen aber brauchte sie ein Netz. Und die phexgeweihte Auelfe Nith Mondklinge, ihre eigene Mentorin aus der Seilerei und der Taverne „Mondklinge“ hatte es in der Vergangenheit vorgemacht: Die formbaren Jüngsten waren die rechten Hände, die Ohrenflüsterer und Türöffner von Morgen.
Sie hatten einen möglichen magischen Siebenjährigen namens Kuliff. Neferu notierte sich das Alter und den Namen nickend, mit dem Vermerk: Salpico
Außerdem war da die elfjährige Efferdlieb. Von gerechter Natur und furchtlosem Wesen, war sie halbtot und ohne Erinnerung gefunden worden. So hatte sie ihren Namen erhalten.
Schlau sollte die kleine Efferdlieb sein und fingerflink. Die rote Hexe unterstrich sich den Namen des Mädchens. Doppelt.

Gedankenvoll und langschrittig führte ihr Weg sie zurück ins Innere der Stadtmauern von Gareth.
Sie musste innerlich gestehen, dass sie – ein Kind der Gosse – sich selbst mittlerweile in Alt-Gareth wohler fühlte, als in den engen, schmutzigen Gassen der Vorstädte.
Der Blick starr und glasig vom kalten Wind, bemerkte sie Phexdan nicht, der ihr zwischen den Häusern hindurch und an ihren Wänden entlang, folgte.
In der Smaragdnatter angelangt, war niemand da. Zumindest niemand, der für sie Bedeutung gehabt hätte.
Das Zimmer sah leer aus mit drei verwaisten Betten.
Aber was war das?
Auf ihrem Bett lag ein Körbchen. Darin dunkle Erde und zwei Gewächse. Das eine erkannte sie: Es war Efeu. Das zweite… kleinstköpfiger Salat?
Neferu runzelte die Stirn, die Pflänzchen auf ihren Schoß hebend.
Darunter lag ein Buch. Es titelte: Manieren für Männer
Ihre Verwunderung wich dem Drang, das Geheimnis einer jeden auf den ersten Anhieb nicht ganz schlüssigen Tat, lüften zu wollen.
Sie blätterte in dem Büchlein, während ihre langen Finger die zweifach geringte Phexkette um ihren Hals ziellos betasteten.
Es standen viele Pflanzen in dem Buch, ebenso wie ihre Bedeutungen.
Ganz unzweifelhaft, wollte Phexdan ihr mit diesen zwei Grünlingen etwas mitteilen. Diese Aktion roch ganz eindeutig nach Phexdan.
Und da war es auch schon.. Efeu.

Efeu als Sinnbild für Liebe, Freundschaft und Treue
Wer eine Efeupflanze verschenkt, der bekräftigt die Verbindung und Freundschaft mit einem anderen Menschen. Kein Wunder also, dass auch Verliebte gerne die Pflanze mit den teils herzförmigen Blättern verschenken, denn Liebe ist stärker als der Tod.

las sie und drückte die Lippen aufeinander. Ihr Gefühl hatte sich noch nicht eingependelt und vermischte in ihrer Brust Missmut und Wohlwollen.
Sie schlug das Buch zu und warf es auf Phexdans zerwühltes Bett, als hätte es sie gebissen. Sie war nicht mehr bei Laune auch das zweite Gewächs nachzuschlagen.
Aus unerfindlichen Gründen wütend, erhob sie sich forsch.
Als ihr Blick zur Tür ruckte, stand da Phexdan. Er lehnte seelenruhig im Türrahmen, als hatte er schon immer da gestanden.
Ein feines, füchsisches Lächeln lag auf seinem jungenhaften Gesicht, dessen Bart in Kraut und Rüben wucherte. Charmant zerzaust stand das Haar in wild-unbändigen Wellen kurz von seinem Kopf ab.
„Na?“ begrüßte sie die mitteltiefe Stimme des Phexgeweihten. Als wäre er nicht die ganze Nacht ohne ein Zeichen auf Leben fort geblieben.
Und obwohl sie dieser Umstand in einer schmerzlichen Art enttäuscht zürnte, überwog die Erleichterung, dass er wohlbehalten und frech wie eh und je vor ihr stand.
„Du wolltest mir immer noch die Seelenprüfung zeigen.“ etwas anderes fiel ihr gerade nicht ein, außer dieser Wunsch, diese spaßhafte Forderung, dass er ihr zu Diensten sein sollte.
„Ich habe im Übrigen etwas entdeckt..“ fügte sie geheimnisvoll hinzu. Sie wollte sich interessant machen, warum, das wusste sie nicht.
Sie fragte ihn nicht, wo er all die Stunden gewesen war, sondern nutzte die Gelegenheit, ihn zu verletzen, wie er sie verletzt hatte.
Ein ewiges Hin und Her.
Sie führte ihn zum Traviatempel, nicht ohne Andeutungen. Phexdans Gesicht blieb schwer einzuschätzen, wie immer. Sicher erwartete er, dass es sich ohnehin nur um einen rachsüchtigen Scherz ihrerseits handelte. Wozu die Rache war, war unerheblich. Es war soviel Ungünstiges zwischen ihnen passiert, dass es mittlerweile für kleine Sticheleien mehr als genug Raum gab.
Der Halbmaraskaner ging an der Seite der Halbtulamidin hinter den Tempel der Göttin der ehelichen Treue, des anheimelnden Herdes und der Familie.
Schnell huschten ihre Augen prüfend umher, ehe sie den Schacht im wenig einsichtigen Hinterhof öffnete.

Den Geheimgang in die Unterstadt, den Weg in die alte Kanalisation…

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